Englein, Mord und Christbaumkugel - Manfred Baumann - E-Book

Englein, Mord und Christbaumkugel E-Book

Manfred Baumann

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Beschreibung

Auf diese Weihnachtsüberraschung hätte Kommissar Merana gerne verzichtet. Dabei hatte alles so wunderbar gepasst. Prunkvoll geschmückte Hütten. Wunderbare Bläsermusik. Himmlischer Chorgesang. Und was dann? Ein Toter! Erdolcht. Mitten unter den festlich gestimmten Besuchern beim berühmten Weihnachtsmarkt von Schloss Hellbrunn. Also begibt Merana sich auf weihnachtliche Mörderjagd. Dabei trifft er auf geschwätzige Hirten, mörderische Glöckler und auf völlig unweihnachtliche Chinesen mit mysteriösen Plänen …

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Manfred Baumann

Englein, Mord und Christbaumkugel

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Mörderischer Weihnachtszauber Weihnachtszauber im berühmten Schloss Hellbrunn bei Salzburg.

Glanzvoll geschmückte Hütten, Chorgesang, Bläsermusik, fröhlich gestimmte Besucher aus aller Welt. Doch etwas stört die Idylle, und das gewaltig. Mitten im festlichen Weihnachtstreiben taucht plötzlich ein Toter auf. Brutal ermordet. Und Kommissar Merana, der eigentlich mit seiner Großmutter ein wenig Weihnachtsstimmung genießen wollte, muss den Punschbecher zur Seite stellen und sich auf die Suche nach einem Mörder begeben. Bei dieser überraschungsreichen Jagd stößt er auf sonderbare Gestalten, auf geschwätzige Hirten, mörderische Glöckler und auch auf eine Gruppe Chinesen, die tatsächlich Mysteriöses im Schilde führt …

Manfred Baumann, geboren 1956 in Hallein/Salzburg, war 35 Jahre lang Autor, Redakteur und Abteilungsleiter beim Österreichischen Rundfunk. Heute lebt er als freier Schriftsteller, Kabarettist, Regisseur und Moderator in der Nähe von Salzburg. Der Krimi »Drachenjungfrau« wurde vom ORF für die Reihe »Landkrimi« verfilmt.

Manfred Baumann ist auch bei Facebook.

www.m-baumann.at

Impressum

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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Blickfang / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6684-7

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Süßer die Glocken nie bimmeln

Englein, Mord und Christbaumkugel

Wer klopfet an?

Nachwort

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Süßer die Glocken nie bimmeln

»Wow, du hattest recht, Emil! Das schaut tatsächlich aus wie ein riesengroßer Adventskalender. Was für ein Highlight bei diesem Adventszauber!« Das magische Licht der Scheinwerfer ließ die Mauern erstrahlen, hob die gesamte Schlossfassade mit einladender Wärme aus dem Dunkel der Nacht.

Die Frau mit dem leicht norddeutschen Akzent fasste ihren Begleiter fester am Arm und deutete aufgeregt nach vorn. »Das ist einfach großartig! So wie alles hier.«

Ihre Armbewegung umfasste das gesamte Areal. Die prachtvollen Gebäude des alten Renaissanceschlosses umspannten den weitläufigen Hof. Sie bildeten einen würdigen Rahmen für die vielen reich verzierten, weihnachtlich glänzenden Hütten, Pavillons, Verkaufsstände, die sich, flankiert von verschneiten, lichterbewehrten Weihnachtsbäumen, bis zum Ende der weit ausladenden Schlossauffahrt erstreckten.

»Das freut mich, Mathilde, ich war davon überzeugt, dass dir das gefallen wird.«

Der Mann strich seiner Begleiterin zärtlich über die Wange.

»Was heißt gefallen? Es ist überwältigend!« Die Frau ließ den Mann los, breitete die Arme aus und drehte sich wiegend im Kreis. Der olivgrüne Schal, der sich um ihren Hals schlang, machte die freudig tänzerische Bewegung mit. »Ich kann es gar nicht richtig fassen, Emil. Wir sind tatsächlich im berühmten Schloss Hellbrunn, wo man so gerne durch prächtige Parklandschaften lustwandelt, die großartigen Wasserspiele genießt. Man kennt das vor allem vom Sommer. Aber jetzt zeigt sich dieselbe Anlage in einem ganz anderen Kleid. Sie ist verwandelt in eine weihnachtliche Zauberwelt!«

»Ja, Mathilde. Und wir beide sind mittendrin.«

»Da, schau, Emil!« Erneut wies die Frau zur festlich bestrahlten Fassade. »Da kommen Musiker direkt aus dem Schloss. Sie stellen sich an die Balustrade der großen Treppe.«

»Ja, Mathilde, das sind Bläser aus dem Hellbrunner Hoforchester, so viel mir bekannt ist. Sie werden uns gleich mit zauberhaft festlichen Klängen weihnachtlich einstimmen.« Die Frau klatschte in die Hände wie ein Kind, das sich über ein Geschenk freute. »Einfach himmlisch, Emil. Du hast mir zwar eine Überraschung versprochen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so großartig wird. Und auch noch weihnachtliche Musik vor der Fassade des Schlosses, dessen erleuchtete Fenster wirklich ausschauen wie ein riesiger Adventskalender. Und ich bin überzeugt, Emil …«

Wovon die Dame aus Norddeutschland überzeugt war, ließ sie ihren Begleiter nicht mehr wissen. Sie verstummte im selben Moment, als die Bläser auf der großen Freitreppe ihre Instrumente ansetzten und die ersten feierlichen Klänge durch die Weite des großen Innenhofes schwebten. Und so wie die Dame mit dem olivgrünen Schal beim Erklingen der Musik ihren freudig sprühenden Redefluss einstellte, reagierten auch die meisten anderen Besucher des Weihnachtsmarktes. Sie verstummten, wandten die Gesichter zum Schloss und lauschten der berührenden Musik.

Es waren bereits Tausende Besucher, die sich an diesem Abend im weitläufigen Areal zwischen den prächtig geschmückten Hütten des stattlichen Hellbrunner Weihnachtsmarktes tummelten. Unter ihnen war auch ein Mann, der den Zauber von Hellbrunn besonders liebte, und das zu jeder Jahreszeit. Der Leiter der Salzburger Kriminalpolizei, Kommissar Martin Merana. Er hatte eben noch die Bemerkungen der Dame im olivgrünen Schal mitbekommen. Er verkniff sich, laut auszusprechen, was sich ihm dabei aufdrängte. Auch Merana war beeindruckt von der anmutig beleuchteten Schlossfassade. Fast bei allen der großen Fenster waren die kunstvoll geschnitzten Balken geöffnet und gaben den Blick frei auf die hell erleuchteten Ziffern an den Scheiben. Die Eins erkannte Merana direkt über dem marmorumrahmten Portal. Die 20 entdeckte er auf dem Fenster rechts außen in der darüberliegenden Zeile. Die Scheiben mit der 20 waren erst seit heute zu sehen. Somit blieben vier Fenster verschlossen, ehe am Heiligen Abend alle 24 geöffnet waren. Dieses spielerische Ritual für die Tage der Vorweihnachtszeit kannte man im gesamten deutschsprachigen Raum. Aber wir in Österreich lassen halt bei der Bezeichnung dieses adventlichen Brauchs das S weg, war Merana fast versucht zu sagen. Wir sagen Adventkalender. So wie es bei uns den Adventkranz gibt, und den Adventsonntag. Auch den Adventzauber. Alles ohne S. Vergiss es, Merana!, schalt er sich selbst. Völlig unerheblich, ob man zwischen Advent und Kalender ein S stellt oder nicht. Entscheidend ist doch allein die Freude, die man dabei empfindet. Entscheidend ist die Begeisterung an den adventlichen Bräuchen. Und an vorweihnachtlicher Hochstimmung zeigte die Dame wahrlich genug.

»Es ist so schön, Martin, berührend und stimmungsvoll. Und diese wunderbare Musik. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein.« Die Stimme der kleinen Frau, die neben dem Kommissar stand, war leise, kaum auszumachen. Sie berührte dennoch tief sein Herz. Und er empfand es jedes Mal, wenn er die Großmutter neben sich spürte. Er liebte die kleine, zarte Frau über alles. Er legte ihr den Arm um die Schulter, drückte sie sacht an sich. »Ich freue mich sehr, mit dir hier zu sein, Oma. Ich bin glücklich, dass sich dieser Besuch doch noch ausgegangen ist.« Er war in den vergangenen Jahren mit der Großmutter stets in der Vorweihnachtszeit hierhergekommen. Heuer hatten ihn allerdings seine dienstlichen Verpflichtungen völlig eingedeckt. Erst heute, am vierten Adventsonntag, war es ihm endlich möglich gewesen, seinen ursprünglichen Heimatort im fernen Pinzgau aufzusuchen, um die Großmutter nach Salzburg zu bringen. Auch Kristina Merana ließ sich gerne vom einzigartigen Ambiente in Hellbrunn bezaubern.

»Oh, Martin, schau, jetzt kommt ein Chor!« Merana folgte dem Blick der Großmutter. Die Bläser hatten ihr Spiel vor der Schlossfassade beendet und machten Platz für eine große Schar jugendlicher Sänger und Sängerinnen.

»Ja, Oma. Soviel ich weiß, singt gleich der Chor des Musischen Gymnasiums.«

Unwillkürlich suchten Meranas Augen in der ringsum gedrängten Besuchermenge die Dame mit dem olivgrünen Schal. Hielt die Begeisterung der Frau aus Norddeutschland an? Er entdeckte sie dicht an einem der schneebedeckten Christbäume, die in stattlicher Anzahl den Innenhof und die lang gezogene Schlosszufahrt zierten. Sie ließ sich eben von ihrem Begleiter fotografieren, während sie mit den Fingern über eine der großen roten Kugeln strich. Davon gab es viele. Sie zierten mit ihrer augenfälligen Pracht alle Hellbrunner Weihnachtsbäume und auch viele der malerischen Hütten. Und das schon seit vielen Jahren. Sie waren ein begehrtes Fotomotiv bei den Besuchern des Marktes und – wie Merana auch bekannt war – ein begehrtes Beutegut von diebisch orientierten Zeitgenossen. Noch etwas bemerkte Merana. Ihm fiel eine Gruppe asiatischer Besucher auf. Sie bewunderten ebenfalls die schmuckvollen roten Christbaumkugeln und versuchten, deren prachtvolle Erscheinung mit ihren Videokameras festzuhalten. Noch etwas fiel ihm auf. Er kannte den stattlichen Mann mit Trachtenhut und dunklem Mantel, der zusammen mit anderen dicht gedrängt in der Nähe der Glühweinhütte stand. Das war Wolfram Kegler, der oberste Tourismuschef der Stadt. Auch dessen Aufmerksamkeit galt der Gruppe der filmenden Asiaten. Die machten ein paar Aufnahmen von den prunkvoll dekorierten Bäumen. Dann wandten alle ihren Blick nach vorne zur Fassade des Schlosses. Der Chordirigent hob die Hände, gab den Einsatz. Gleich darauf wurde das festliche Ambiente erfüllt vom berührenden Klang jugendlicher Stimmen. Die junge Sängerschar begann leise, wählte anfangs einen geheimnisverkündenden Tonfall. Aber mit jedem Wort, mit jedem Bild, das sie schufen, brachten die jungen Leute schon im Laufe der ersten Strophe den Klang ihres Vortrags zur vollen, wohltönenden, alles beglückenden Entfaltung.

Süßer die Glocken nie klingen

als zu der Weihnachtszeit,

grad als ob Engelein singen,

wieder von Frieden und Freud.

Die Großmutter lehnte ihren Kopf an Meranas Seite. Er sah, wie sich die Lippen der weißhaarigen Frau langsam bewegten. Kein Zweifel, die Großmutter sang mit. Sie kannte eine Menge an Weihnachtsliedern, aus unterschiedlichen Gegenden und vielen Epochen. Das wusste er. Und er, Kommissar Martin Merana, oberster polizeilicher Ermittler, unermüdlicher Verbrechensaufklärer und Mörderjäger, ertappte sich dabei, wie auch seine Lippen anfingen, sich mitzubewegen. Ich bin garantiert nicht als ständig einsatzbereiter Kripochef hier, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Offenbar will das Kind in mir sich von diesem weihnachtlichen Zauber ringsum berühren lassen. Wunderbar, es möge geschehen. Auch ihm waren viele Weihnachtslieder vertraut. Die Großmutter hatte sie ihm beigebracht, in seiner Kindheit. Wie oft hatte er mit der Oma vor dem geschmückten Christbaum in der kleinen Stube gestanden und mit ihr gesungen. Er war bei der Großmutter aufgewachsen. Nach dem Tod seiner Mutter hatte die Oma ganz alleine für ihn gesorgt.

Klinget mit lieblichem Schalle

über die Meere noch weit,

dass sich erfreuen doch alle

seliger Weihnachtszeit.

Die Besucher im Hof verabschiedeten die jungen Sängerinnen und Sänger nach gut 20 Minuten mit begeistertem Applaus. Dann bemerkte Merana, dass sich in die Stimmung ringsum ein sanft anschwellendes Aufgeregtsein schlich. Ja, es war gleich so weit, jetzt würden sie zu erleben sein. Auch Merana verspürte ein leichtes Kribbeln.

»Kommen sie tatsächlich, Martin?«

»Ja, Oma, zumindest verspricht es das Programmheft.«

Ein fernes Geräusch war zu vernehmen, ein sonderbarer Klang, dunkel, mit fast archaischer Anmutung. Was da heranzog, war das Hallen tiefer Glocken. Der düstere Schall schwoll immer mehr an, wurde lauter, kam näher. Die Asiaten, die sich nahe an den Christbäumen positioniert hielten, rissen aufgeregt die Filmkameras in die Höhe. Die Dame mit dem olivgrünen Schal quietschte, klatschte vergnügt in die Hände. Auch das bekam Merana mit. Und dann war er zu sehen, der erste lichtumflutete Träger, geschmückt mit einer riesigen, strahlenden Kappe. Er tauchte aus dem Areal der Wasserspiele auf, betrat im Laufschritt den schmalen Steg, den man extra für diese Darbietung angelegt hatte. Dicht dahinter folgten die anderen.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dies ist ein einmaliges Gastspiel, hier und heute nur für Sie zu erleben, eine Ausnahme für die Besucher unseres Adventzaubers!«

Die Stimme des Mannes, der voll Begeisterung auf der Balustrade der Freitreppe laut in ein Mikrofon sprach, klang aufgeregt. »Wir heißen Sie herzlich willkommen, die Abordnung der berühmten Glöckler aus dem Salzkammergut!«

Der Jubel der Besucher, der aufbrandende Applaus übertönten sogar das Getöse der großen Glocken. Merana war vertraut, dass in einigen Orten des Salzkammergutes, aber auch in angrenzenden Gebieten viele Gruppen existierten, die mit ihren prunkvollen, weithin leuchtenden Glöcklerkappen diesen alten Brauch mit viel Leben erfüllten. Die Glöckler präsentierten sich immer am Tag der letzten Raunacht, also am 5. Jänner. Dass die Lichterträger aus dem Salzkammergut schon heute, vier Tage vor dem Heiligen Abend und somit weit vor der traditionell angesetzten Zeit, eine kleine Abordnung zum Hellbrunner Adventzauber schickten, war garantiert eine absolute Ausnahme. Merana zählte insgesamt zwölf Läufer. Er sah die Männer in weißem Outfit, das ihn an die Kleidung von Bergknappen erinnerte. Sie waren versehen mit großen Gurten, an denen die urtümlichen Schellen hingen. Das Auffälligste an den Läufern waren natürlich die riesigen, nahezu überdimensionalen Kappen. Getragen wurden sie auf den Schultern. Die Köpfe der Männer waren für die Besucher nicht sichtbar, sie steckten in den bunten, lichterfüllten riesigen Kappenkonstruktionen. Jedes Gebilde war prachtvoll ausgeführt, reich verziert, mit allerlei Motiven versehen, Sterne, Sonnen, biblische Szenen, Blumen, arabeske Muster und vieles mehr. Manche der Kappen waren kreisförmig geformt, wiesen große Zacken auf. Andere erinnerten Merana eher an große Boote in fantastischer Aufmachung. An allen Kappen war zusätzlich eine Fülle herabhängender weißer Papierstreifen auszumachen. Man nannte sie im Dialekt »Franserl«, wenn Merana sich richtig erinnerte. Und in allen Kappen waren außerdem Gestelle angebracht, in denen brennende Kerzen steckten. Dadurch umgab die prächtigen Gebilde ein wunderbarer Glanz, der von innen nach außen die Muster, Symbole, Bilder und Figuren zum Leuchten brachte. Dieses besondere Strahlen war in der Nacht aus weiter Entfernung zu erkennen. Die Besucher des Hellbrunner Adventzaubers waren begeistert. Die zwölf Glöckler, die sich in einer Reihe vor der Schlossfassade in ihrer prachtvollen Ausstattung präsentierten, ergaben ein beeindruckendes Bild. Die leidenschaftlich klatschenden Zuschauer verdeutlichten zudem durch ihre jubelnden Zurufe, dass sie sich gerne lange an diesem prächtigen Anblick erfreuen wollten. Und vielleicht hätte das Spektakel noch einige Zeit gedauert. Doch da passierte es. Ganz plötzlich war dieser Schrei zu hören. Und der änderte alles. Er gellte laut und schrill über die Köpfe der im Innenhof Versammelten hinweg. Hier schrie offenbar jemand aus tiefster Furcht, aus riesiger Angst. Merana riss den Kopf herum, starrte nach hinten. Dem erfahrenen Kriminalisten war sofort bewusst, dass etwas Schreckliches passiert war.

»Lauf hin, Martin.« Die Großmutter löste sich rasch von ihm, gab seinen Arm frei. »Ich komme alleine zurecht! Mach schnell!«

Er startete los, drängte sich durch die dicht gestaffelte Besuchermenge, hielt direkt auf das schrille Geschrei zu. Das Brüllen kam aus dem hinteren Bereich des Innenhofes, von dort, wo sich das Tor befand, durch das man in den Park mit dem großen Wasserparterre gelangte. Die meisten im dichten Besucherknäuel folgten augenblicklich Meranas gerufener Aufforderung. »Zur Seite bitte, Polizei! Attention please, police!«

Nur wenige Sekunden später hatte er die Stelle erreicht, ortete augenblicklich die Quelle des Geschreis. Es war eine junge Frau im Kellnerinnendress. Sie befand sich vor der offenen Tür der Orangerie. Sie wimmerte verständnisloses Zeug, fuchtelte mit einem der Arme hinter sich in Richtung Tür. Zwei Frauen, offenbar aus einer der Verkaufshütten, versuchten sie zu beruhigen. Da näherten sich im Laufschritt zwei Männer in Security-Montur.

»Kümmern Sie sich bitte um die Frau«, rief ihnen Merana zu. »Ich bin von der Polizei.«

Sofort schnellte einem der Männer die rechte Hand an die Stirn, als salutierte er.

»Wird gemacht, Herr Kommissar.« Dieser Security-Mitarbeiter kannte ihn. Mit drei schnellen Schritten war Merana an der Gebäudemauer und hastete durch die offen stehende Tür. Das Bild, das sich ihm im Inneren bot, ließ ihn augenblicklich stoppen. Ihm bot sich ein zugleich prächtiger wie grauenvoller Anblick. Einerseits großartig, weil durch die hohen Fenster der Orangerie ein Teil des nächtlich erhellten, weihnachtlich geschmückten Parks auszumachen war, zugleich makaber, weil in der Mitte des Raumes ein gekrümmter Körper lag. Es war ein Mann, mit Blut überströmt. In seinem Hals steckte etwas Dunkles, Längliches. Merana trat rasch näher, ging in die Hocke, überprüfte Pulsschlag und Pupillen. Es bestand kein Zweifel. Hier lag eine Leiche. Langsam richtete sich der Kommissar auf. Wieder fiel sein Blick unwillkürlich nach draußen. Aus der Ferne, etwas oberhalb des Parks, war das malerisch anmutende Gebäude zu erkennen. Seit Jahrhunderten begrüßte es von dort die Besucher der wunderbaren Anlage. Mit seinen beiden Türmchen wirkte das sogenannte Monatsschlössel wie ein malerisches Schaustück, das wunderbar zur märchenhaften Aura des gesamten Areals passte. Keine Märchen mehr! Den Kommissar hatte die Realität eingeholt. Brutaler und schneller, als er gedacht hätte. Vor zwei Stunden war er zusammen mit der Großmutter hier angekommen. Doch die weihnachtliche Zauberstimmung war mit einem Mal zerstoben. Nun hatte er als Polizist zu funktionieren. Professionell und präzise. Schnell wandte er sich um und verließ das Gebäude.

Draußen bot sich ihm ein seltsamer Anblick. An den beiden nächstgelegenen Hütten hingen Teddybären, Kasperlfiguren, golden glänzende Christbaumkugeln, Engel mit Silberflügeln, wie es sich für das Angebot einer weihnachtlichen Verkaufshütte gehört. Daneben stand, dicht aneinandergedrängt ein Knäuel Besucher. Mitten unter ihnen waren zwei aus der Glöcklergruppe zu erkennen. Sie hatten die riesigen, immer noch hell strahlenden Kappen abgenommen. Und nicht einmal zwei Meter vor Merana hatte sich die Gruppe an Asiaten in Stellung gebracht, die er zuvor beim Filmen des roten Weihnachtsbaumschmuckes beobachtet hatte. Sie redeten wild durcheinander, deuteten auf ihn und zugleich auf den Eingang zur Orangerie.

»Was ist mit meinem Bruder?« Der junge Mann, der plötzlich aus der Gruppe auf ihn zustürmte, war offensichtlich kein Chinese. »Ist mein Bruder da drinnen? Ist ihm etwas zugestoßen?«

Merana hinderte den Mann daran, in die Orangerie zu stürmen. Er versuchte, ihn zu beruhigen. Gleichzeitig fiel der Blick des Kommissars auf das eigentümliche Ambiente, das ihn umgab. Da standen lichterbekränzte Glöckler aus dem Salzkammergut direkt neben händeringenden Gästen aus Fernost. Weihnachtlich gestimmte Besucher hatten sich an Chormusik erfreut, an Silberengeln in festlich geschmückten Weihnachtshütten, an wunderbar ergreifender Bläsermusik. Was bis vor wenigen Minuten zur märchenhaften Stimmung beigetragen hatte, war vorüber. Endgültig. Denn das gesamte Areal des Schlosses Hellbrunn mit all seinem Adventzauber war vorwiegend eines geworden: Schauplatz eines schauerlichen Verbrechens. Hier war ein Tatort, für dessen gründliche Erschließung er augenblicklich zu sorgen hatte.

Kommissar Merana unternahm, was möglich war. Er sah sich einer unfassbar riesigen Menschenmenge gegenüber, allein Hunderten von Weihnachtsmarktmitarbeitern, ganz zu schweigen von den Tausenden Besuchern. Jeder einzelne von ihnen konnte ein potenzieller Zeuge sein. In den ersten Minuten versuchte das knappe Dutzend an Security-Mitarbeitern unermüdlich, das Chaos einigermaßen zu ordnen. Sie wurden dabei unterstützt vom Mann mit dem Mikrofon, der von der Schlosstreppe aus Anweisungen über die Lautsprecheranlage weitergab. Sieben Minuten nach Meranas Anruf trafen bereits die ersten Streifenwagen ein. Bald darauf folgten die Techniker der Spurensuche. Zum Glück lag die Bundespolizeidirektion nur wenige Kilometer von Hellbrunn entfernt. Wer immer dort Journaldienst hatte, wer immer aus welchem fachlichen Bereich Bereitschaftsdienst versah, wer immer von den Mitarbeitern am Telefon erreicht werden konnte, hatte sich augenblicklich an den Hellbrunner Tatort zu begeben, aus der Zentrale genauso wie aus allen verfügbaren Polizeiinspektionen. Die Anweisungen des Kommissars waren unmissverständlich und wurden rasch weitergegeben. Dass hinter dem zehnten Streifenwagen bereits die ersten Satellitenwagen eines TV-Senders, gefolgt von weiteren Journalistenautos, eintrudelten, ließ sich in der Eile nicht verhindern. Das rasant anwachsende Aufgebot an Presseleuten, die sich ungestüm unter die Anwesenden mengten, Kameras, Fotoapparate und Mikrofone zückten, trug wahrlich nicht dazu bei, das Tohuwabohu zu beschwichtigen. Im Gegenteil, das Chaos drohte überhandzunehmen. Es bedurfte eines gänzlich strikten Vorgehens aller verfügbaren Polizeikräfte mit klaren Anweisungen, verbunden mit deutlichen Strafandrohungen, um das heillose Wirrwarr in wenigstens halbwegs überschaubare Bahnen zu lenken. Es dauerte über zwei Stunden, bis Merana einigermaßen den Eindruck gewann, das alarmierte Aufgebot seiner Kollegen bekäme das Durcheinander langsam in den Griff. Der Kommissar konnte sich also seiner eigentlichen Aufgabe als Ermittler zuwenden. Er musste sich rasch jenen Menschen widmen, die zumindest aus jetziger Sicht in engerer Verbindung zum Toten standen. Dazu gehörte zweifellos der junge Mann, den er daran gehindert hatte, in den Tatort der Orangerie zu stürmen. Zu den Menschen mit Verbindung zum Toten gehörte zu Meranas Verwunderung auch die Gruppe der Asiaten. Die wichtigsten Details hatte Merana vom jungen Mann an Ort und Stelle erfahren. Größere Klarheit hoffte er aus der anstehenden Befragung zu gewinnen. Der Wirt hatte ihm dazu zwei seiner Extrazimmer des Schlossrestaurants zur Verfügung gestellt. Der Kommissar gab über Funk ein paar Anweisungen an die verteilten Einsatzkräfte, dann betrat er die Gaststätte. Gleich darauf sah sich Merana dem jungen Mann gegenüber. Die anderen aus der Gruppe waren im zweiten Raum versammelt. Restaurantchef Mario Samalla, zugleich der Mann mit dem Mikrofon, wie Merana feststellte, hatte dafür gesorgt, dass man den zu befragenden Zeugen je nach Wunsch mit Essen und Trinken aufwartete, um die lange Wartezeit erträglicher zu gestalten. Der junge Mann hieß Jakob Polz. Das hatte Merana bei der Begegnung vor der Orangerie erfahren. Er war 28 Jahre alt, stammte aus der Stadt Salzburg. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Toten tatsächlich um Jakobs älteren Bruder Sylvester. Beiden gehörte die Agentur »Global Glory«, ein Unternehmen, das touristische Dienstleistungen anbot.

»Und das ist der Grund, warum Sie und Ihr Bruder heute mit Ihren chinesischen Gästen den Hellbrunner Adventmarkt aufsuchten?«

Der junge Mann hatte auf einem Stuhl hinter dem Tisch Platz genommen. Er nickte, versuchte zu antworten, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Offensichtlich kämpfte er mit den Tränen. Merana ließ dem jungen Mann Zeit. Immerhin hatte er erst vor wenigen Stunden seinen Bruder auf grausame Weise verloren. Der Kommissar stellte seine Fragen vorsichtig, vermied jede drängend wirkende Haltung. Er warf nur hin und wieder einen prüfenden Blick auf die Skala an seinem Smartphone, mit dem er die Befragung aufzeichnete. Und nach und nach, mit viel Geduld und gelegentlichem behutsamem Nachfragen, wurde für Merana das Bild etwas klarer. Die asiatische Gruppe war vor vier Tagen in München eingetroffen. Der Kontakt zwischen den Polz-Brüdern und den Chinesen bestand seit einem halben Jahr. »Global Glory« hatte den chinesischen Verantwortlichen ein ganz bestimmtes Projekt vorgeschlagen und dadurch sofort deren Interesse geweckt. Man bot ihnen an, Eindrücke vom unvergleichlichen Weihnachtsmarkt im weltweit bekannten Schloss Hellbrunn zu sammeln. Daraus ließe sich gewiss eine Initiative entwickeln, den Weihnachtsmarkt samt Schloss und Umgebung in China nachzubauen.

»Und Sylvester hat sich sehr um das Wohl unserer chinesischen Partner bemüht. Alle am Projekt Interessierten haben sich bisher mit großem Engagement eingebracht. Restaurantchef Mario Samalla hat extra für uns gleich zu Beginn einen speziellen Empfang in der Orangerie mit ausgewählten Weihnachtsleckerbissen vorbereitet. Und dann … dann …« Wieder brach seine Stimme, die Schultern begannen haltlos zu zucken, wie schon einige Mal davor im Laufe des Gesprächs. Merana wartete geduldig, bis sein Gegenüber sich gefasster zeigte.

»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann waren Sie und Ihr Bruder anfangs mit Ihren chinesischen Gästen in der Orangerie. Wie lange blieben Sie dort?«

Noch immer schniefte Jakob Polz leise. Dann räusperte er sich, versuchte, seiner Stimme Klarheit zu verleihen, was einigermaßen gelang.

»Kurz bevor die Bläser auf der Schlosstreppe mit ihrem Vortrag begannen, verließen wir die Orangerie.«

»Und alle gingen mit hinaus?«

»Leider nicht.« Erneut kämpfte er mit der Fassung, schaffte es aber weiterzusprechen.

»Sylvester blieb zurück. Es war auch eher meine Aufgabe, unsere Partner herumzuführen. Das war von vornherein so ausgemacht. Mein Bruder wollte bald dazustoßen. Spätestens beim Erscheinen der Glöckler aus dem Salzkammergut. Ihm war sehr daran gelegen, zu beobachten, wie unsere chinesischen Freunde auf diesen Auftritt reagierten.«

Merana gab dem Befragten Zeit. Sorgsam wählte er die nächsten Worte.

»Hat es Sie nicht irritiert, dass Ihr Bruder beim Auftritt der Glöckler nicht zu Ihrer Gruppe stieß?«

Dieses Mal kam das Kopfschütteln des jungen Mannes schneller als bei den zögerlichen Versuchen davor.

»Nein. Ich nahm an, dass Sylvester unsere asiatischen Partner wohl aus größerer Entfernung beobachtete. Ich habe mich zwar beim Auftritt der Glöckler mehrmals unter den Besuchern umgesehen, aber es waren zu viele Leute, und alle standen sehr dicht.«

Wieder ließ sich Merana Zeit, überlegte die Formulierung für seine nächste Frage. »Was machte Ihr Bruder für einen Eindruck, als Sie mit den chinesischen Gästen die Orangerie verließen?«

Statt einer Antwort folgte erneut ein heftiges Schulterzucken. Der junge Mann riss die Hände hoch, verbarg das Gesicht darin. Nach einer Weile löste er aber die Hände, sah den Kommissar direkt an.

»Einen wunderbaren«, flüsterte er. »Sylvester wirkte so glücklich. Und er lächelte. Ganz so, als würde er sich die fröhliche Miene abschauen, sich ein Beispiel nehmen an den kleinen Figuren im Prunkgewand auf dem Tablett am Nebentisch. Er winkte mir zum Abschied zu, hob sogar den Daumen in die Höhe. Alles schien bestens, und dann …«

Jakob Polz verbarg schnell das Gesicht in den Händen. Merana vernahm tiefes Schluchzen. Wieder wartete er lange mit der nächsten Frage.

»Herr Polz, haben Sie irgendeine Erklärung, was zu dieser furchtbaren Bluttat geführt haben könnte? Hatte Ihr Bruder Feinde?«

Es dauerte eine Weile, bis der Angesprochene sich aufrichtete, die Hände vom Gesicht löste.

»Nein, ich glaube nicht. Zumindest nicht direkt. Es gibt ein paar Neider, die einem Übles wollen.«

»Denken Sie dabei an jemand Bestimmten?«

Der junge Mann zögerte.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich nicht damit befassen, was Ihre Antwort eventuell auslösen könnte.« Merana bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden und zugleich ermunternden Ausdruck zu verleihen. »Überlassen Sie die Bewertung möglicher Konsequenzen mir. Sprechen Sie unvoreingenommen aus, was Sie gerade denken.«

»Na ja, unsere Agentur war in letzter Zeit unzweifelhaft viel unterwegs. So ein Erfolg kommt natürlich nicht bei allen gut an. Ich denke da an Kilian Hartgold. Er leitet ein Unternehmen, das bestimmte touristische Packages anbietet, die Agentur ›Silberschein‹. Herr Hartgold ist uns alles andere als wohlgesonnen. Das werden Ihnen sicher einige aus der Branche bezeugen.«

»War Herr Hartgold heute hier bei der Veranstaltung?«

»Das weiß ich nicht. Es waren so viele Menschen hier. Aber das können Sie gewiss herausfinden.« Die verzweifelte Miene des jungen Mannes machte Platz für ein Lächeln. Ein Zeichen der Zuversicht, dachte Merana. Irgendwie erinnerte ihn das Lächeln an das Mienenspiel einer bestimmten Comicfigur. Er kam nicht darauf, um welche es sich handeln könnte. Eines war gewiss. Er würde zweifellos überprüfen, ob dieser Kilian Hartgold am heutigen Abend beim Hellbrunner Adventzauber anwesend war. Er hatte zumindest einen Namen. Die Spur erschien ihm sehr dürftig, aber irgendwo musste er anfangen. Er bedankte sich bei dem jungen Mann und wechselte hinüber in den nächsten Raum.

Nun waren die Mitglieder der chinesischen Gruppe an der Reihe. Die Personalien hatte längst einer seiner Beamten aufgenommen. Eine junge Dame aus der Gruppe war ihm mit den Übersetzungen behilflich. Sie hieß Chen Lu. Das bedeutet Morgentau, wie er erfuhr. Sie war sehr attraktiv. Im Grunde bestätigten alle, was Merana aus dem Gespräch mit Jakob Polz erfahren hatte. Ihn interessierte noch, ob immer alle beisammen waren oder ob der eine oder andere sich aus der Gruppe gelöst hatte. Dazu bekam er keine befriedigende Antwort. Die Besuchermenge sei zu dicht gewesen. Das Gedränge war zu groß. Besonders beim fulminanten Erscheinen der Glöckler zeigten sich alle sehr aufgebracht.

»Die Leute waren total enthusiasmiert!«, zirpte der Morgentau aufgeregt.

Sie waren völlig aus dem Häuschen, interpretierte Merana den Ausdruck »enthusiasmiert«. Niemand aus der Gruppe konnte oder wollte bestätigen, dass tatsächlich immer alle beisammen waren. Das heißt im Klartext, resümierte der Kommissar für sich, wenn der eine oder andere sich im Gedränge verdrückt hatte und später dazustieß, wäre es keinem aufgefallen.

Plötzlich musste er an die Großmutter denken. Einer der äußerst hilfsbereiten Security-Männer hatte dafür gesorgt, dass die alte Dame schnell zu einem Taxi kam. Das brachte sie zu Meranas Wohnung. Hoffentlich hat sie sich nicht zu sehr aufgeregt und schläft längst, wünschte er sich insgeheim. Er bedankte sich bei der chinesischen Gruppe für deren Aussagen und verließ das Zimmer.

Amelie Trautner war der Name der jungen Frau, die den hysterischen Anfall erlitten hatte, nachdem sie den Toten in der Orangerie fand. Sie war eine der Bediensteten des Schlossrestaurants. Zum Glück gehörte zu den Sicherheitsvorkehrungen am Hellbrunner Weihnachtsmarkt, dass sich stets ein Rot-Kreuz-Wagen im weitläufigen Gelände in Bereitschaft befand. Die professionellen Helfer waren in kürzester Zeit zur Stelle gewesen, um sich der völlig entnervten jungen Frau anzunehmen. Merana war froh, dass Amelie Trautner inzwischen in weitaus besserer Verfassung war, wie man ihm bestätigte.

»Sie können jederzeit mit ihr reden, Herr Kommissar. Wir mussten die junge Dame nicht einmal ins Krankenhaus bringen. Wir konnten sie schnell beruhigen. Sie wartet in ihrem Zimmer auf Sie.« Der Notarzt aus dem Krisenteam wies ihm den Weg. Amelie Trautner machte tatsächlich einen weitaus besseren Eindruck, als er erwartet hatte. Sie war 22 Jahre alt und seit drei Jahren im Schlossrestaurant als Servierkraft tätig.

»Ich hatte die Gruppe kennengelernt, als sie in der Orangerie eintraf. Wir haben oft Gäste, die in der Orangerie speziell empfangen werden. Nicht wenige davon kommen aus dem Ausland, manche von sehr weit her. Und für spezielle Gäste lässt sich unser Chef eine besondere Überraschung einfallen. Das war auch heute so. Es war geplant, dass die Gruppe nach der Darbietung der Glöckler in der Orangerie zur Verabschiedung zusammenkommt. Dabei wollte unser Chef jeden aus der Gruppe mit einer kleinen Markus-Sittikus-Figur beschenken, als ganz besondere Erinnerung an Hellbrunn. Mich beauftragte er, das Tablett mit den Figuren in die Orangerie zu bringen.«

»Wann war das?«

»Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht mehr, aber der Jugendchor hatte gerade mit dem ersten Lied begonnen.«

»Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit« – Merana konnte sich gut an das erste Lied erinnern. Und auch an das Mitsingen der Großmutter. Wieder musste er an die kleine Frau denken. Hoffentlich hat sie die Aufregung einigermaßen verkraftet und schläft schon.

»Haben Sie jemanden in der Orangerie gesehen?«