Enklave Ost - Stefan Hufschmidt - E-Book

Enklave Ost E-Book

Stefan Hufschmidt

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Beschreibung

Seit dem Zusammenbruch der DDR 1989 ist die Stadt nach wie vor geteilt. Während das gesamte Staatsgebiet der DDR jetzt zur BRD gehört, ist Ostberlin zu einer Enklave geworden, weil die Siegermächte sich nicht mit den Russen darüber einigen konnten. Es lebe die „Freie Republik Berlin“ unter internationalem Protektorat! Selbige dümpelt seitdem zufrieden vor sich hin. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch den Anbau von Marihuana, das im Westen halblegal verkauft wird, sichert sie materiell einigermaßen ab. Aber das Paradies ist gefährdet, weil der immer hemmungsloser werdende „Bockwurst-Kapitalismus“ in Westberlin sich die Enklave einverleiben will. Gleichzeitig wollen immer mehr Menschen von Westberlin in den Osten fliehen. Grund genug für den Chef des alles beherrschenden Fitzmann-Konzerns, die Enklave Ostberlin mit einer Privatarmee anzugreifen. In dieser brenzligen Situation bietet sich plötzlich einer Gruppe von Revolutionären aus Ost und West die Chance, die Stadt für immer glücklich zu vereinen. Der ganz andere Berlin-Roman: Schöner wär’s gewesen, wenn’s anders gekommen wär’ ...

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Enklave Ost

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 9783958942851

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Cover: canva.com/KI-generiert

„Lasst uns einen Eid schwören, im hohen Lotosland zu leben und zu liegen auf den Hügeln wie Götter zusammen.“Alfred Tennyson

„Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.“Heinrich Heine

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer abzureißen.“Volksmund

Inhalt

Vorbemerkung

1990

OST 2023

WEST

WEST 1997

OST 2023

WEST 1998

OST 2023

WEST

OST

OST

WEST

OST

WEST

WEST

OST

WEST

OST

WEST

OST

OST

OST

WEST

WEST

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WEST

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WEST/OST

WEST

WEST/OST

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WEST/OST

WEST

WEST/OST

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WEST

WEST/OST

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OST

OST/WEST

OST

OST

OST/WEST

WEST

WEST

WEST

WEST

WEST

OST

Danksagung

Vorbemerkung

Dies ist die Geschichte, wie es zum sogenannten „glücklich vereinten Berlin“ kam, so wie ich sie aufschreiben konnte. Ich habe versucht, aus allem, was ich erlebt habe und was mir die anderen erzählt haben, das zusammenzufassen, was mir wichtig erschien. Ich spreche dabei von mir in der dritten Person, um meine Rolle nicht größer zu machen, als sie war. Sollte ich hier und da Dinge falsch dargestellt haben, sollen mir die, die es betrifft oder stört, sich melden und sagen, wie es wirklich war. In der Erinnerung mag auch das ein oder andere, das ich selber erlebt habe, anders gewesen sein, als ich es hier beschreibe. Gerne bin ich bereit, auch darüber mit denen zu reden, die zu wissen meinen, wie es wirklich war, vielleicht bei einer guten Flasche Wein oder mit was auch immer sie sich vergnügen wollen.

Besonders die Teile, die in der Enklave Ost spielen, musste ich relativ frei wiedergeben, und ich weiß nicht, ob ich ein adäquates Bild der Zustände dort nach der Wende geben konnte: Ich habe nie dort gelebt und bin nur da gewesen, als sich alles bereits veränderte. Wer glaubte im Osten schon, dass es irgendeinen Wessi gibt, der den Ossis erzählen kann, wie es dort war? Und zwar sowohl zu DDR-Zeiten als auch zu den Zeiten danach, als es die Enklave gab. Trotzdem tue ich es hier und vertraue auf die Freundschaft, die mich mit denen aus dem Osten verbindet, mit denen ich die Ereignisse der zweiten Wende erlebt habe, und darauf, dass sie mir verzeihen und mich, wenn nötig, verteidigen.

Max Mommsen, Berlin

1990

Die Russen hatten es langsam satt. Seit mehr als drei Wochen fuhren sie jetzt täglich in ihrer wackeligen Wolgalimousine nach Berlin-Karlshorst in diese alte Villa. Der Saal, in dem sie verhandelten, war in über vierzig Jahren nicht renoviert worden, Ungeziefer kroch aus allen Wandverkleidungen, die Heizung war kaputt, es roch nach Desinfektionsmittel, aber an so was waren sie von zu Hause ja gewöhnt. Das Schlimmste war: Während der Verhandlungen gab es keinen Alkohol. Nichts mochte die russische Delegation weniger, als wenn es keinen Alkohol gab. Natürlich genehmigten sich die Mitglieder auf der Toilette hier und da ein Schlückchen Wodka aus ihren Flachmännern, aber die von zu Hause mitgebrachten Vorräte gingen allmählich zur Neige, und die westlichen Verhandlungsteilnehmer machten keinerlei Anstalten, für Nachschub zu sorgen.

Die drei Herren in höherem Alter, mit Mänteln samt Pelzbesatz und finsteren Gesichtern, ließen den Fahrer an einem Kiosk neben dem Tierpark anhalten und nach Schnaps fragen. Wie immer vergeblich. Die gesamte Scheiß-DDR schien leergetrunken zu sein.

Bisher waren die Verhandlungen der Alliierten über die künftige Aufteilung Berlins und insbesondere dessen Ostens zäh verlaufen. In den Augen der Sowjets wollten sich Franzosen, Briten und Amerikaner einfach nur unter die Nägel reißen, was ihnen 1945 vorenthalten worden war, ohne dass für sie etwas heraussprang.

Die Sowjetunion war am Ende, das war den Verhandlungsführern aus Moskau klar, auch wenn sie es untereinander natürlich nicht aussprachen. Aber sollten sie deshalb Berlin einfach als Verhandlungsmasse zu allem dazugeben, was der kapitalistische Westen sich bereits eingeheimst hatte? Das kommunistische Ostberlin auch noch widerstandslos aufgeben? Auf keinen Fall.

Die westlichen Verhandlungsführer waren keinesfalls einer Meinung, das hatten die Russen schnell begriffen. Es lag in der Natur des demokratischen Systems, dem sie alle verpflichtet waren. Es gab unter ihnen welche, die einen dritten Weg, wie sie es immer wieder nannten, vorschlugen. Dieser dritte Weg sollte irgendwie eine Mischung aus sozialistischem und kapitalistischem System sein, etwas, was sich die Sowjets genauso wenig vorstellen konnten wie die konservative Seite der Westdelegation. Zu Anfang jedenfalls. Aber je länger sie verhandelten und je weniger Wodka da war, desto mehr interessierten sich die Russen für diesen dritten Weg, egal ob es gegen die Direktiven verstieß, die die beiden Seiten mit auf den Weg bekommen hatten, nämlich in der Berlinfrage keinen Zentimeter zurückzuweichen. Aber es schien keinen anderen Ausweg zu geben. Wenn man etwas zu trinken haben wollte, musste man Zugeständnisse machen. Schließlich platzte Rastow, dem Verhandlungsführer, der am schlechtesten Deutsch konnte und am meisten trank, der Kragen.

„Wenn is’ nur dritte Weg, dann, verdammich, wir machen diese dritte Weg und dann gut und dann wir gehen Gaststätte!“

Alle sahen ihn groß an. Die Aussicht, die zähen Verhandlungen um Berlin schnell beenden zu können, war verlockend, auch für die konservativen Westteilnehmer, die sich insgeheim auch nach Hause sehnten, weg von den unbequemen Hotelbetten, dem schlechten Essen und den holprigen Straßen, dem Braunkohlegeruch und der ganzen maroden DDR. Drei Wochen zähe Verhandlungen würden vorbei sein, wenn man dem Vorschlag für einen dritten Weg zustimmen würde. Zum Glück hatte man den Russen keinen Alkohol gegeben, und so bewirkte die russische Trinklust zum ersten und letzten Mal in der Geschichte etwas Positives: Der Osten Berlins sollte zu einer selbstverwalteten Enklave werden.

Die Bürgerbewegung, die die Wende in der DDR eingeläutet hatte, deren Einfluss aber ein Jahr danach bereits im Schwinden war, kam, zumindest auf dem Gebiet von Ostberlin, durch diese Entscheidung zu dem, was sie sich immer gewünscht hatte: zu einer sozialistischen Alternative unter ihrer Leitung. Es war die Geburtsstunde der Enklave Ostberlin.

Die Bürgerbewegung der DDR, die Gorbatschow bei seinem Besuch der DDR anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums mit den meisten anderen DDR-Bürgern frenetisch begrüßt und gefeiert hatte, legte die geschenkte politische Freiheit dann viel radikaler aus, als die Russen es sich vorgestellt hatten. Aber Genaues hatten sie sich, ehrlich gesagt, gar nicht vorgestellt.

Zwei Jahre nach der Wende war der Osten Berlins schließlich ein in sich geschlossenes Wirtschaftssystem geworden, durch das man Dinge, die linke Politiker im Westen durchzusetzen oder auch nur zu diskutieren versuchten, mit Belegen unterfüttern konnte. Dinge wie das jahrelang vergeblich diskutierte bedingungslose Grundeinkommen zum Beispiel.

„In Ostberlin funktioniert es ja auch“, wurde damals gerne gesagt, und die politischen Gegner konterten gerne mit: „Dann geh doch rüber“, wie sie es immer getan hatten.

Eigeninitiative, Flexibilität und Beziehungen, Eigenschaften, die man sich in der DDR aneignen musste, waren in der Enklave Ostberlin gefragter denn je. Diese Eigenschaften waren jetzt mehr oder weniger gut organisiert. Aus Eigeninitiativen waren Gemeinschaftsinitiativen und aus Beziehungen Netzwerke geworden, die das Leben in der Stadt einigermaßen gewährleisteten. Die demokratische Leitung am Runden Tisch versuchte die Basisdemokratie so gut wie möglich zu repräsentieren und zu verwalten. Die Freie Republik Ostberlin garantierte in politischer Hinsicht ein freies Leben, das jeder so leben konnte, wie er wollte. Die, für die die Enklave ein Paradies des alternativen Lebens war, lebten ein solches neben denen, die dort schon immer gelebt und sich nie beschwert hatten und nie beschweren würden.

Das reale Leben in der Enklave war nicht frei von Versorgungs- und Infrastrukturproblemen. Die Lebensmittel, die in der DDR knapp gewesen waren, waren auch in der Enklave knapp. Das, was in der DDR nicht funktioniert hatte, funktionierte auch in der Enklave nicht. Aber die Menschen, die dort ihren Traum lebten, schien das überhaupt nicht zu stören.

Der Westen stellte die Enklave gerne als so was wie eine verlauste Gemeinschaft von Drogenabhängigen dar, in der man, wenn man ihr angehörte, unweigerlich dem Tod entgegentaumelte, eine Gemeinschaft, die zu Trunkenheit, offener Sexualität und zersetzendem Müßiggang animierte, sich jeder Ordnung und Disziplin verweigerte und unweigerlich untergehen würde. Das meiste dieser Darstellung war richtig. Nur dass die Menschen im Osten das alles aus vollen Zügen genossen. Es wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr, keiner musste arbeiten, und der Müßiggang war Lebensform.

Die Enklave hatte sich dem Schönen gewidmet, den Künsten, der Literatur und Malerei und dem befreienden Aspekt, den all das für den Menschen hatte, davon war man überzeugt.

Das und eine basisdemokratische Selbstverwaltung waren die Mischung, in der es sich in den Augen vieler Bewohner zu leben lohnte und für die man auf einen gewissen Komfort verzichten konnte.

Man wollte das Leben leichtnehmen, das war die Hauptsache. Und wenn man damit leben konnte, dass Lesen Bürgerpflicht war und in der Warteschleife der Ämter Wolf-Biermann-Lieder liefen, war das hier sehr gut möglich.

Aber natürlich gab es noch viele, die das alte System gestützt hatten, die Mitläufer und Handlanger und Denunzianten und Militaristen und Erbsenzähler und Ordnungsfetischisten. Die ordentlichen Deutschen eben, die ihre Trabbis oder Wartburgs am Wochenende vor dem Haus wuschen und wachsten, die Schrankwanddeutschen, die den Hund spazieren führten, die am Sonntag unter Plastikhauben Kuchen von einem Reihenhaus zum anderen fuhren, beim gegenseitigen Besuch die Schuhe auszogen und auf Socken Filterkaffee tranken.

Die Enklave machte internationale Geschäfte mit Cannabis, das schon lange nicht nur als Rausch-, sondern auch als Heilmittel begehrt war und das in der Form ohne psychedelische Wirkung mittlerweile weltweit gängige Medizin war.

Der Ertrag der Plantagen auf dem Gebiet der Enklave, von denen die im Treptower Park die größte war, brachte der Enklave genug ein, um seinen Bürgern ein Leben ohne Erwerbsdruck zu sichern, aber nicht genug, um zum Beispiel die Infrastruktur zu verbessern. Beziehungsweise hätte die Enklave ihren Bürgern kein so sorgenfreies Leben mehr garantieren können, wenn man den Erlös aus dem Grasverkauf zu etwas anderem als dazu benutzt hätte.

Das Problem dabei war die Lieferung. Im Westen war Cannabiskonsum seit Gründung der BRD verboten. Die demokratische Leitung der Enklave Ostberlin stand auf ihrer Seite vor dem Problem, die Ausfuhr ihrer Grasproduktion durch das Gebiet des Westens zu organisieren. Der Vertriebsweg auf dem Lande ins europäische Ausland war praktisch abgeschnitten.

Zum Glück gab es, ebenfalls aus sowjetischen Beständen, noch ein paar Militärflugzeuge, die man tatsächlich wieder flugtauglich bekommen hatte, und seit einiger Zeit hatten sie so was wie eine Luftbrücke, einen Korridor in alle Himmelsrichtungen, auf der rund um die Uhr die Maschinen hin- und herknatterten.

Sie brachten das begehrte Gras nach Stockholm, London, Paris oder Rom, und im Gegenzug Geld und Waren in die Enklave. Die Waren konnte man dort in Läden kaufen, die man Intershops nannte. Jedenfalls wenn man es sich leisten konnte.

Die Piloten der sogenannten Grasbomber waren in der Enklave Ost Helden, und man verschwieg dabei gerne, dass die eine oder andere Maschine abgestürzt war, weil einer von ihnen so stoned gewesen war, dass er das Ding nicht unter Kontrolle hatte. Aber als hätten sie einen Schutzengel, war bisher keiner von ihnen dabei umgekommen.

OST2023

Ole öffnete die Augen. Wo war er? Seine gute Laune von gestern Abend war wie weggeblasen. Stattdessen machte sich wieder diese allgemeine Sorge breit, die ihn immer überfiel, wenn er aufwachte, diese merkwürdige Sorge um alles, wie er sie immer nannte. Das Gefühl, in einem Meer zu schwimmen und ihm ausgeliefert zu sein. Aber neben dieser allgemeinen Sorge, die in der Regel irgendwann verflog, machte ihm auf einmal etwas Konkretes Sorgen: sein Auto. Er war gestern Abend damit liegen geblieben, die Lichtmaschine war ausgefallen, keine Frage. Irgendwo im Prenzlauer Berg. Aber er war nicht im Prenzlauer Berg, das merkte er schon am Geruch, dem schweren Geruch der großen Marihuanapflanzen, die, überwiegend geordnet angepflanzt, kurz vor der Blüte und Ernte standen. Treptower Park. Da musste er sein. Ganz klar, nirgendwo sonst roch es so.

Ole suchte seine Brille, fand sie schließlich in einem seiner Stiefel und setzte sie auf. Ohne Brille war er so gut wie blind, die Gläser waren so stark, dass sie seine Augen vergrößerten, die dadurch immer ein bisschen ratlos in die Welt blickten.

Graspflanzen soweit sein Auge reichte. Das sowjetische Ehrenmal, das man vor längerer Zeit versucht hatte abzureißen, was mangels des richtigen schweren Werkzeugs misslungen war, lag mittlerweile inmitten einer Marihuanaplantage. Es symbolisierte jetzt den Sieg des alternativen Lebens über die Diktatur. In einen der stolzen Mundwinkel hatte man ihm einen eisernen Joint geschweißt und über den Kopf eine riesige Perücke mit Rastazöpfen gehängt.

Marihuana überall. Das, was wild wuchs, war Allgemeingut, und das, was man geplant anbaute, war für den Verkauf bestimmt. Auf illegalen Wegen gelangte es in den Westen und sicherte das Überleben der Enklave.

Wer Gras wollte, holte es sich im Treptower Park. Oder am besten, man rauchte es direkt dort, langte, im Schneidersitz mit Freunden auf der Wiese sitzend, nur mal schnell über sich, pflückte eine Dolde, trocknete sie an einem kleinen Feuer und rauchte sie dann. Hin und wieder auch gerne in einer sogenannten Erdpfeife, für die man mit der Hand einen kleinen Tunnel in die Wiese grub und den einen Ausgang sozusagen als Mundstück und den anderen als Pfeifenkopf benutzte. Man musste sich kniend über das Loch beugen und kräftig einatmen, und dann taten die Kräfte des Grases und die Kräfte der Erde zusammen ihre betörende Wirkung. Die so Berauschten richteten sich auf und glotzten mit blöde verzückten Gesichtern und roten Augen über die Wiese und waren eins mit sich und der Natur, an der sie bewunderten, dass sie eine solche Wirkung haben konnte.

Auch war es in Mode, in kleinen Zelten eine Faust voll Gras anzukokeln und den aufsteigenden Qualm zu inhalieren. In so einem Zelt war Ole eingeschlafen, jetzt erinnerte er sich wieder. Aber aufgewacht war er draußen.

Ole zog sich seine Stiefel an, hängte sich seine Tasche um und ging in seinem typischen Watschelgang, bei dem er seinen Oberkörper immer leicht hin- und herwippen ließ, in Richtung Parkausgang.

WEST

Max Mommsen war 1976 zum ersten Mal in Berlin gewesen, mit sechzehn, genauer gesagt, in Westberlin, das damals eine Insel in der DDR gewesen war, so wie jetzt die Enklave Ostberlin eine Insel im Westen war. Von Mönchengladbach, seiner Heimatstadt, die man fast ausschließlich durch ihren Fußballverein kannte, war er damals mit der Jugendgruppe seiner evangelischen Gemeinde inklusive des dazugehörigen Pfarrers zum evangelischen Kirchentag gefahren, zu dem Gläubige und auch solche wie Max, die am Glauben zweifelten, auf den ruppigen Transitstrecken über das Staatsgebiet der DDR in den Westteil der geteilten Stadt strömten, um dort zu Tausenden auf Luftmatratzen in Gemeindehäusern und Turnhallen zu nächtigen und eine Zeit zu verbringen, in der einer des anderen Last zu tragen versprach, wie das Motto der Veranstaltung es forderte.

Neben den vielen kirchlichen Veranstaltungen besichtigte er dabei ausgiebig die Stadt. Er fuhr U-Bahn und Bus, immer zusammen mit seiner Gruppe, der unermüdlich gut gelaunte Gemeindepfarrer mit seinem Spazierstock vorneweg. In seiner Erinnerung meinte er, mit ihnen zusammen in der U-Bahn Friedenslieder zur Gitarre gesungen zu haben, wenn er heute daran dachte, errötete er vor Scham. Er konnte Belästigungen in der U-Bahn prinzipiell nicht ertragen.

Er begann das kuriose U- und S-Bahnsystem Berlins kennenzulernen und fuhr durch Geisterbahnhöfe, die im Osten lagen und auf deren Bahnsteigen man hin und wieder Uniformierte mit Maschinenpistolen patrouillieren sah. Er stand albernd mit seinen Freunden auf einem der Gerüste, die am Brandenburger Tor aufgebaut waren, von denen man einen Blick auf den in der Junisonne flirrenden Mauerstreifen werfen konnte, auf dem schon Menschen erschossen worden waren, weil sie ein Leben in Freiheit leben wollten, wie überall und immer wieder zu lesen war.

Bei dieser, seiner ersten Reise nach Berlin, ahnte Max aber auch, welche noch verbotenen Früchte im alternativen Dschungel von Kreuzberg lockten. Denen ging er dann ein Jahr später nach, als er mit seinem Deutsch-Leistungskurs vom Gymnasium erneut und dieses Mal für ein ganze Woche nach Berlin fuhr. Zu dieser Zeit nannte der Westen Westberlin Berlin und der Osten Ostberlin ebenfalls Berlin, während der Osten Westberlin Westberlin nannte und der Westen Ostberlin Ostberlin. So war es nach dem Mauerbau 1961 immer gewesen.

Bildungsreisen nach Berlin wurden zu dieser Zeit im Westen so stark subventioniert, dass der Staat Gruppen für sehr wenig Geld ermöglichte, in einem Hotel auf dem Ku’damm zu wohnen. Doppelzimmer mit Frühstück, 75 D-Mark für die ganze Woche, wenn man dafür ein paar Museen besuchte und zwei Vorträge anhörte, bei denen man viel über deutsche Teilung hörte, was Max’ Klasse aber wesentlich weniger interessierte als die umliegenden Kneipen, in denen es keine Sperrstunde gab. Die Vorträge hatten die meisten verschlafen.

Bei dieser, Max’ zweiter Reise nach Berlin waren sie auch einen halben Tag in den Ostteil der Stadt gefahren. Mit der S-Bahn bis Friedrichstraße, dort im sogenannten Tränenpalast mit Herzklopfen durch die unangenehmen Grenzkontrollen mit den mürrischen grünen Mützengesichtern, die den Blick kritisch zwischen Ausweispapier und Angesicht hin- und herschwenkten und dann ein Tagesvisum einstempelten oder einen, wovon es Gerüchte gab, in andere Zimmer führten und dort bis zur Entwürdigung schikanierten.

Dann nochmal mit der S-Bahn zum Alexanderplatz, auf dessen weitläufig betoniertem Terrain man von DDR-Bürgern darauf angesprochen wurde, Devisen zu tauschen. Aber es war schon schwer genug, das Geld aus dem Zwangsumtausch auszugeben, das man in Form dieser kleinen Scheine und federleichten Alumünzen in der Tasche hatte, und wenn man aus Geldgier dazu noch schwarz und günstig tauschte, wusste man hinterher im wahrsten Sinne des Wortes nicht, wohin mit dem Geld. Max und seine Freunde kauften daraufhin in den repräsentativen Buchhandlungen alles, was an Büchern und Schallplatten halbwegs brauchbar war, von Brecht bis zu Gorki, Gesamtausgaben von Stanislawski, Werke von Heiner Müller oder Anna Seghers oder sogar die Amigapressung einer Westplatte, nur weil sie so billig war. Das, was sie davon in den Westen verschleppten, schimmelte dann ungelesen in den Ikearegalen neben alten Fußballbüchern und Fix-und-Foxi-Heften, während man im Osten zusehen konnte, was man las, weil die Regale leergekauft waren.

Aber trotz dieser zum Teil ernüchternden Erfahrungen in zeitweise berauschtem Zustand konnte sich Max nach seinem Abi nicht vorstellen, Germanistik an einem anderen Ort zu studieren als da, wo man sich mit dem Thema hautnah auseinandersetzen konnte: in Berlin.

1981 war es dann soweit.

WEST1997

Karlheinz Dräger hatte einen guten Tag gehabt. Er hatte seit einiger Zeit aber eigentlich nur noch gute Tage. Man musste sich im Subventionsparadies Westberlin als Geschäftsmann allerdings schon wirklich blöde anstellen, um keinen Erfolg zu haben. Sicher, seine Versuche im Rotlichtmilieu waren gescheitert, der Laden, den er in der Nähe des Ku’damms aufgemacht hatte, war pleite, ihm egal, er hatte längst das Geschäftsfeld gewechselt.

Nach der sogenannten Wende und der Verwandlung Ostberlins in eine freie Enklave hatte sich in Westberlin wenig verändert, was die Subventionierung betraf. Noch immer wurde blindwütig alles gefördert, was auch nur entfernt nach Stadtentwicklung roch, die Verträge aus den Zeiten, in denen Westberlin eine kapitalistische Insel im Sozialismus gewesen war, galten immer noch und wurden weidlich ausgenutzt.

Alle Revolten aus der Vergangenheit waren erstickt, alle Revolutionäre hatten sich zurückgezogen, die berühmte alternative Berliner Szene wurde erfolgreich in Schach gehalten, keiner wusste mehr, wer Rudi Dutschke war, aber alle kannten Günter Pfitzmann. Seit 1989 war es auch nicht mehr möglich, sich durch einen Umzug nach Berlin der Wehrpflicht zu entziehen, sodass die Stadt an Attraktivität verlor, was die Subkultur betraf. Die fand jetzt sowieso im Osten statt. Was aber nicht hieß, dass im Westen nicht mehr gefeiert wurde. Noch immer gab es keine Sperrstunde, noch immer knallten in den einschlägigen Lokalen die Sektkorken, es wurde getanzt und gelacht, barbusige Tänzerinnen beugten sich über Halbgreise mit blonden Toupets oder fuhren mit ihnen in teuren Cabrios über den Ku’damm. Der alte Berliner Mief lag jetzt überwiegend über der einen Hälfte der Stadt, diese Mischung aus Schweißfußgeruch, Döner, Molle und Parfum, die über den Duft von Freiheit und die Selbstverwirklichung für Künstler, Spontis, Musiker und Ökos gesiegt hatte, die sich jetzt in der Enklave Ostberlin zu verwirklichen versuchten.

Das Geld in Westberlin saß nach wie vor locker, sowohl beim Senat als auch bei denen, die es ihm abgeluchst hatten, indem sie Bauprojekte vorgaukelten, die sie nie realisierten oder nur anfingen zu realisieren und dann nicht weiterverfolgten, aber die bewilligten Gelder einstrichen, indem sie die Lokalpolitiker schmierten, wie es in Westberlin schon immer üblich gewesen war. Der Senat war nach wie vor der Goldesel der Stadt.

Die Westberliner Spaßgesellschaft beherrschte die Stadt und war entschlossen, sich zu Tode zu amüsieren, während das Stadtbild sich veränderte. Das war jetzt neben den nach wie vor zahlreichen Kriegsruinen aus dem Zweiten Weltkrieg von Bauruinen der Nachkriegszeit geprägt, tausende Projekte, die mal angefangen und nie vollendet, sondern buchstäblich versumpft waren und deren traurige Betonanfänge überall in die Gegend ragten.

Dräger war immer noch ein kleiner Fisch. Aber immerhin hatte er sich vom Türsteher zum Bordellbetreiber hochgearbeitet, auch wenn sein Laden jetzt pleite war. Und es war ihm gelungen, sich in diesem Zusammenhang Zutritt zu den Kreisen zu verschaffen, die sich professionell mit der Privatisierung staatlicher Mittel beschäftigten, wie man es untereinander gerne schmunzelnd nannte. Er hatte seinen Teil vom Kuchen in Form eines Wohnblocks abbekommen, der nie gebaut worden war, für den er aber zum Bauunternehmer geworden war und die Fördergelder kassiert hatte. Seit heute morgen war klar, dass er um 100.000 D-Mark reicher war, ohne sich groß angestrengt zu haben. Grund zum Feiern.

Er stand an der Theke der Paris Bar in der Kantstraße, eine Legende unter den Westberliner Lokalen, hier traf man die Promis, und heute schienen sie alle da zu sein. Links neben ihm stand ein bekannter Theaterschauspieler, vor dem, wie bei anderen Stammgästen, ein Metallschildchen mit seinem Namen angeschraubt war, und schwieg in sein Rotweinglas, in der Ecke klampfte unter den missbilligenden Blicken des Barkeepers der unvermeidliche Gunter Gabriel auf einer verstimmten Gitarre rum, Harald Juhnke erzählte zu jedem Schnaps einen Witz, um sich herum lachende Verehrer, und an einem kleinen Tisch saß tatsächlich Günter Pfitzmann, Drägers Idol, als käme er geradewegs aus seiner Praxis Bülowbogen, über eine BZ gebeugt, die er nach Nachrichten über sich selber durchforstete, die er noch nicht kannte.

Dräger war stolz, dass man ihn reingelassen hatte und dass er dazugehörte. Er trank Margarita, Tequila mit Zitronensaft, Likör und Salzrand, es war schon der vierte, er hob das Glas und prostete mit gläsernem Blick einem Mann zu, der mit einem Glas Bourbon auf Eis neben ihm stand.

„Ich bin der Karlheinz“, sagte er.

Der Mann sah ihn an, nahm dann langsam sein Whiskeyglas in die Hand und stieß mit Dräger an.

„Hello. I’m Jeff“, sagte der.

Eine halbe Stunde später waren sie in ein Gespräch vertieft, oder in das, was man ein Gespräch nennen kann, wenn der eine nur schlecht Englisch und der andere nur schlecht Deutsch spricht.

Dräger verstand zunächst nicht, was der Fremde mit den Worten „the web“ meinte, und erst als sie Gunter Gabriel dazuholten, der zwar auch nicht gut, aber besser als Dräger Englisch konnte und versuchte zu dolmetschen, verstand er, dass es sich um dieses Internet handeln musste, von dem jetzt überall die Rede war. Von dem wusste er aber nicht viel mehr, als dass man einen Telefonhörer auf ein Gerät legen musste, woraufhin merkwürdige Geräusche zu hören waren, mit denen man angeblich mit der ganzen Welt verbunden wurde. Aber Dräger tat so, als kenne er sich aus.

„All right, Sir. Internet, I understands“, lallte er und bat Gunter, dem Mann zu erzählen, er habe auch einen Computer und auch Internet, das sei ja eine dolle Sache, dabei besaß er nur eine Schreibmaschine, auf der er Anträge auszufüllen pflegte.

„Is future“, sagte er dann wieder selber. Gunter Gabriel hatte irgendwann keine Lust mehr auf die Dolmetscherei gehabt und war wieder seine verstimmte Gitarre spielen gegangen, und Jeff und Dräger radebrechten weiter zu zweit, und je mehr sie tranken, desto besser verstanden sie sich, wenn sie auch alles mit Händen und Füßen und immer wieder von vorne bis hinten erklären mussten.

Dräger prahlte vor dem Fremden, von dem er glaubte, ihn nie wiederzusehen, wenn er zurück nach Amerika abgereist war, damit, dass er „many money“ gemacht hätte, weil er wüsste, wie das in Berlin lief, „how the Hase runs here“, dass er „knows people and gives them money and they do what I want“.

„I’m king of Berlin!“, grölte er später übermütig und stieß mit seinem neuen Freund wieder an.

Von Jeff kriegte Dräger mit, dass er irgendwie Bücher verkaufte in diesem Internet und dass das in Amerika schon ganz gut lief. Dräger verstand nicht viel von Büchern, aber etwas vom Verkaufen. Er hörte das Wort Astragon an diesem Abend zum ersten Mal. Als Jeff eine Stunde später zu ihm sagte „Koolheins, I think you are my man!“, verstand er nicht gleich.

Und als der Amerikaner ihm dann (sie hatten jetzt schon etwas Übung, was die Unterhaltung betraf, Betrunkene lernen schnell) erklärte, dass er auf der Suche nach jemandem sei, der für ihn das Geschäft in Berlin ankurbelte, war er zunächst nur mäßig interessiert. Was konnte man im Buchhandel schon groß verdienen? Berlin sollte das Testgebiet werden, und wenn es funktionierte, wolle man in Deutschland expandieren. Bei „expandieren“ war Dräger schon interessierter und schließlich sagte er sich: Warum nicht? Wenn dieses Internet wirklich die Zukunft ist? Wer weiß, was daraus wird?

An diesem Abend entschied sich in gewisser Weise das Schicksal von Westberlin.

Am nächsten Morgen, für Drägers Verhältnisse und besonders nach dem Besäufnis in der Nacht zuvor ziemlich früh, wollten sie sich in Jeffs Hotel treffen. Als der Wecker klingelte, überlegte Dräger kurz, sich einfach umzudrehen, weiterzuschlafen und die Sache auf sich beruhen zu lassen, nachher war er der Trottel, der in der Hotelhalle stand, während Jeff seinen Rausch ausschlief und sich an nichts mehr erinnerte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er da hinfahren sollte. Er setzte sich also in sein weißes Mercedescabrio und fuhr mit reichlich Restalkohol und Kopfschmerzen los.

Jeff saß schon in der Lobby, war bestens gelaunt, so als hätte er den Abend vorher nur Kamillentee getrunken, und er hatte eine umwerfend aussehende Assistentin mitgebracht. Dräger stierte sie reflexartig an, als wäre sie eine der Animierdamen im Big Eden, der man ungestraft den Hintern tätscheln durfte, und zwinkerte ihr zu. Sie blickte vernichtend zurück. Dann begann sie, Jeffs Ausführungen in perfektem Deutsch mit charmantem amerikanischen Akzent zu übersetzen.

„Jeff ist der Ansicht, dass Sie angesichts der politischen Erfahrungen und Ihren Möglichkeiten der Einflussnahme der Richtige wären, die Firma Astragon in Westberlin anzusiedeln. Wenn der Modellversuch erfolgreich ist, werden wir bundesweit expandieren.“

Das hört sich nach ziemlich viel Buchhandel an, dachte Dräger, dafür dass ich eigentlich null an Büchern interessiert bin. Vielleicht sollte ich mal aufs Ganze gehen.

„Was springt dabei für mich raus?“, fragte er ziemlich direkt.

Jeff lächelte und sagte etwas.

„Jeff meint, dass sein Unternehmen in wenigen Jahren zu den bedeutendsten der Welt gehören wird“, übersetzte die Assistentin und nickte wie zur Bestätigung ein paarmal.

Das denken alle, dachte Dräger. Er beschloss, eine hohe Forderung zu stellen, wenn sie nicht darauf eingingen, dann zum Teufel mit dem blöden Buchhandel.

„Ich will die Hälfte des Gewinns“, sagte er knapp.

„He wants half of the profit“, übersetzte die Assistentin.

„I got it“, sagte Jeff.

Er schien nachzudenken.

„Ok“, sagte er dann. „It’s only the test run.“

„Er ist einverstanden. Es handelt sich ja nur um den Testlauf.“

„Hab’ schon verstanden“, meinte Dräger. Es wurde besser mit seinem Englisch.

OST2023

Ole stand an der 96a, Höhe Treptower Park, und hielt den Daumen raus. Er sehnte sich nach einem Kaffee, auch wenn der im Osten in der Regel entsetzlich schmeckte.

Nach kurzer Zeit hielt ein seltsames Gefährt auf drei Rädern an, so etwas wie eine Mischung aus Chopper und Trabbi, von Letzterem stammte offensichtlich die Hinterachse und das, was man bei einem Trabbi so Armatur nannte, sowie die Lichter, die links und rechts an die Fahrradgabel montiert waren, die das einzelne Vorderrad hielten. Mit dem Trabbilenkrad konnte der Fahrer das Rad lenken, mit dem daran befestigten Griff der Fahrradbremse zum Stehen bringen. Mehr oder weniger. Ole hatte im Osten schon waghalsigere Gefährte gesehen.

Das mit den Autos, oder, besser, das mit sämtlichen fahrbaren Untersätzen war in der Enklave ein Problem, das aus Mangel entstanden war, wie so vieles. Aber es setzte auch Kreativität frei, so wie der Mangel auch schon im real existierenden Sozialismus kreativ gemacht hatte. Nur dass man sich früher auf das beschränken musste, was es gab, in Bezug auf Autos also auf Trabbis, Wartburgs und ältere russische Modelle, die man am Laufen halten musste, wenn man dann endlich einen bekommen hatte, und für die man Ersatzteile brauchte, an die nur schwer ranzukommen war.

Es gab aber aus der Nachwendezeit und von dem, was man im Westen erbeutete, relativ viele Westautos oder zumindest Teile davon, wenn auch nicht die neuesten. Der relativ neue Golf, den Ole aus dem Westen mitgebracht hatte, war eine Sensation, eine Kostbarkeit, von der die meisten nur träumen konnten.

Die Sicherheitsbestimmungen im Straßenverkehr in der Enklave waren, gelinde gesagt, lax, de facto nicht vorhanden. Die alten galten nicht mehr, neue waren zwar beabsichtigt, aber in dem allgemeinen Chaos der Selbstverwaltung nie umfassend in Kraft getreten. Und Verkehrskontrollen gab es praktisch keine. Man konnte fahren, wie und vor allem womit man wollte. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, deshalb gab es neben den normalen Autos die wildesten zusammengeschweißten Vehikel.

Gelernte Mechaniker, Autoschlosser und Schrauber aller Art machten sich selbstständig und nutzten ihre Werkstätten, um Autos zu bauen und nicht nur zu reparieren. Ein Traum für jeden, der sich für Autos interessierte, ein Schweißgerät bedienen oder einen Motor aus- und wieder einbauen konnte.

Jedes Auto ein Unikat, wobei man, wenn man sich auskannte, sehen konnte, aus welcher Werkstatt es kam, jede hatte ihren eigenen Stil, die eine baute schnittige Flitzer, die andere rundliche Asphalteier, oder eine dritte beispielsweise lastentaugliche Dreiräder, von zwei Rasenmähermotoren angetrieben, aber auch Rasenmähermofas, Rafas genannt, der kleine Motor brachte es auf immerhin 20 km/h, und Motorräder, gemischt aus alten DDR-Simsons und Yamahas.

Es passierten leider viele Unfälle, natürlich brach die ein oder andere gewagte Konstruktion schon mal mitten auf der Straße zusammen oder die Bremsen versagten, hin und wieder sah man Fahrer in voller Fahrt abspringen, und ihr Gefährt rauschte dann führerlos gegen irgendeine der alten, aber zumeist bunt angemalten Mauern der Enklave Ost.

Jetzt saß Ole neben dem Fahrer, der einen alten Schutzhelm „Perfekt“ auf dem Kopf hatte, darüber eine Schweißerbrille, weshalb Ole sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie knatterten an der Mauer Richtung Strausberger Platz. An ein Gespräch war bei dem Zweitaktmotorlärm nicht zu denken, selbst wenn Ole danach gewesen wäre. Als sie am Alex waren, schrie Ole:

„Bis hier!! Danke!!“

Der Fahrer reagierte nicht. Ole schrie dasselbe nochmal, nur wesentlich lauter. Wieder keine Reaktion. Erst jetzt sah er, dass der Fahrer kleine Ohrhörer trug, deren Kabel links neben ihm in einem Kassettenrekorder Marke Sonett verschwand, der da an eine Metallschiene geschraubt war. Wie laut musste die Musik sein, wenn er sie bei dem Motorenlärm noch hören konnte? Jedenfalls verstand Ole jetzt, warum der Fahrer die ganze Fahrt immer so idiotisch mit dem Kopf gewippt hatte. Er stieß ihn an und machte ihm Handzeichen. Der Fahrer nickte zustimmend, fuhr rechts ran, hielt zum Abschied seinen Daumen hoch und fuhr dann knatternd und wippend weiter. Kurz darauf stand Ole am Alex und sah sich nach einem Kaffee um. Fehlanzeige. Also machte er sich auf den Weg Richtung Schönhauser Allee.

WEST1998

Ein paar Wochen später war Karlheinz Dräger Leiter des Modellversuchs von Astragon in Westberlin. Den Schriftkram bekam er aus den USA auf einer Diskette zugeschickt und musste ihn nur noch ausdrucken. Wahnsinn! Dräger besaß jetzt einen Computer mit einem dickbäuchigen Monitor und einem Klotz unterm Schreibtisch, der die Beinfreiheit ein wenig einengte.

Es war kinderleicht für ihn, die Unterschriften, die Astragon brauchte, bei den verantwortlichen Politikern oder Beamten mithilfe des einen oder anderen Bündels von Hundertmarkscheinen zu bekommen. Sein Rechtsanwalt, in Sachen Berliner Wirtschaftsfragen mit allen schmutzigen Wassern gewaschen, schaffte es, die Lizenzrechte von Astragon für Berlin unmittelbar an Dräger zu koppeln. Was de facto bedeutete, dass in der Zukunft ohne Dräger in Berlin für Astragon gar nichts ging.

Es dauerte nicht lange – und Dräger hatte mit Astragon jede Menge zu tun. Er, der nichts für Bücher übrighatte, war damit beschäftigt, Bücher zu verkaufen. Es gab jetzt eine Bestellseite in diesem Internet, und obwohl in Berlin Ende der Neunziger nur ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung „im Internet“ waren, mussten die Bestellungen irgendwie ausgeliefert werden. Nachdem Dräger zwei Monate lang Büchersendungen von Zentrallagern zu Privathaushalten gefahren hatte und der Gewinn verschwindend gering war, begann er, sich fast darüber zu ärgern, sich auf die Sache eingelassen zu haben.

Als er dann ein halbes Jahr später drei Leute mit Autos einstellen musste, um die Aufträge abzuarbeiten, war von Gewinn immer noch nicht die Rede, aber wenigstens musste er jetzt nicht mehr so oft selber ran, verbrachte immer mehr Zeit am Computer und begann, sich neben Videospielen und Sexvideos auch mit dem Werdegang Astragons in den USA zu beschäftigen. Die Firma wuchs und Dräger saß da und sah beim Wachsen zu, und allmählich verwandelte sich sein Ärger in helle Freude. Astragon verkaufte im Internet jetzt auch andere Sachen, Kühlschränke und Fernseher und Kleidung und Kochtöpfe und Kloschüsseln ... eigentlich alles. Der Modellversuch Berlin war erfolgreich und Astragon fing an, sich im Rest Deutschlands auszubreiten und auch dort das Warenangebot auszuweiten und Logistikzentren zu bauen und Menschen einzustellen und den Gewinn nicht dort zu versteuern, wo er gemacht wurde, sondern da, wo es am günstigsten war.

Auch Dräger expandierte. Er mietete Hallen an, stellte Leute ein, kaufte Autos, und allmählich stimmte das mit dem Gewinn auch. Natürlich war Astragon seine durch juristische Geschicklichkeit erreichte Selbstständigkeit nicht verborgen geblieben. Sein Verhältnis zu Jeff hatte sich abgekühlt, die Gewinnspanne für ihn aber betrug nach wie vor 50 Prozent. Das sollte auch so bleiben, und zwar bei allem, was Astragon in Berlin verkaufte.

Zu diesem Zeitpunkt war ihm in einem emotionalen Moment der Gedanke gekommen, die angeblich aufstrebende amerikanische Firma umzubenennen. Es musste berlinerischer klingen, nicht so futuristisch. Lokalkolorit musste her. Der Berliner sollte sich fühlen, als kaufe er um die Ecke bei Freunden ein. In seiner Verehrung des gleichnamigen Schauspielers nannte er seinen Bereich der wachsenden Firma Astragon von da in leichter Abwandlung „Fitzmann“. Das klang wie eine Fleischerei um die Ecke, sprach den Berliner an und verschleierte schön folkloristisch, dass es sich dabei um eine Profitmühle handelte. Wenn man die Internetseite aufrief, leuchtete einem der Spruch entgegen, den Dräger erfunden hatte und auf den er stolz war: „Koof nich doof, koof bei Fitzmann!“

Drägers Reichtum und Einfluss in Westberlin stieg rasant und er war der Sache nur bedingt gewachsen. Seine notdürftig zusammengestoppelte Infrastruktur war personell unterbesetzt und von der explosionsartigen Ausbreitung Fitzmanns überfordert. Er musste noch mehr Leute einstellen, viele mit zweifelhafter Qualifikation, aber er musste nehmen, was er kriegen konnte, um die Bestellflut irgendwie zu bewältigen. Und er schaffte es. Fitzmann wurde eine buntscheckige, riesige Firma, die in ihren Strukturen dem organisierten Verbrechen nicht unähnlich war, was die Geschäftspraktiken betraf. Nicht dass das bei Astragon international viel anders war, aber die Provinzialität der Westberliner Version war einzigartig.

Bereits 2006 war die Firma so groß, dass keiner mehr an ihr vorbeikam, weder die Westberliner Bevölkerung noch die Politik, die eigentlich für deren Wohlbefinden zuständig war, aber immer mehr in die Abhängigkeit von Fitzmann geriet.

Dräger saß wie die Made im Speck und kontrollierte praktisch die Geschicke der Stadt. Seit er die Sache mit dem Versand im Griff hatte, ging alles wie von selber, Astragons Internetbestellseite in der Fitzmann-Version lief wie geschmiert, und mit den wenigen in der Stadt, die noch bereit zu Protest und Revolte waren, würde er auch noch fertig werden. Ja, das Internet war die Zukunft. Jeff hatte Recht behalten.

OST2023

Unter denen, die die Gefährte, die ungehindert knatternd ihre Kreise mitten durch die Enklave Ostberlin zogen, bauten und mit Ersatzteilen handelten, war Zilinski der König. Zilinski, dessen Vater schon zu DDR-Zeiten ein Genie im Organisieren gewesen war, als es noch um ganz andere Sachen als um Ersatzteile für alte West- oder auch Ostautos ging. Er regierte Ostberlins Autoersatzteilszene wie ein kleiner König, und wenn man mal, wie Ole, eine Lichtmaschine brauchte, ging ohne ihn nichts. Zilinski, die langen grauen Haare mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz gebändigt, ein Mann wie ein Bär, nicht nur weil er so groß wie einer war, sondern auch, weil er oft nur zu brummen schien statt zu reden.

Er hatte sein Hauptlager in der Nähe des Kollwitzplatzes, auf einem der vielen brachen Gelände im Prenzlauer Berg. Bei gutem Wetter thronte er da in dem abgeschnittenen Vorderteil eines alten Mercedes, rauchte Joints und kubanische Zigarren und hielt Hof. Er lachte gut gelaunt über jeden, dessen Auto liegen geblieben war und der sich zu Fuß oder mit den unregelmäßig fahrenden öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit einem Privattaxi von wer weiß woher zu ihm aufmachen musste, um zu Kreuze zu kriechen und sich eine möglichst gute Verhandlungsposition zu schaffen, um an die ersehnte Zylinderkopfdichtung oder den Keilriemen zu kommen, oder was auch immer an diesen altersschwachen Westkisten oder zusammengezimmerten Ostkisten kaputtgegangen war.

Also betrat auch Ole, weil sein Golf in Pankow mit defekter Lichtmaschine liegen geblieben war, den Hof des Ersatzteilkönigs Eberhard Zilinski. Von Weitem roch er schon die Zigarre und erinnerte sich an das letzte Mal, als ihn Zilinski genötigt hatte, mit ihm vor den geschäftlichen Verhandlungen einen großen Joint zu rauchen, als Friedenspfeife sozusagen, und Ole danach nicht mehr wusste, warum er hergekommen war beziehungsweise zeitweilig gar nicht mehr gewusst hatte, wo er überhaupt war. Es gehörte eben zum guten Ton im Osten Berlins mitzurauchen, und es auszuschlagen, war ein Affront und hätte sein Ziel, die Lichtmaschine, in unerreichbare Ferne gerückt, selbst wenn es erst neun Uhr morgens war.

So war es auch diesmal. Ole saß auf einem Stapel Autoreifen neben Zilinski und der baute wieder so ein Gerät, und schon beim Anblick der Grasmenge, die er reinbröselte, wurde Ole übel. Der Tag würde gelaufen sein. Zilinski entfachte das Ding mit einem flammenwerferähnlichen Feuerzeug. Er nahm zwei tiefe Züge, griff dann mit der anderen Hand wieder die Zigarre, und kurze Zeit hielt er beide Hände, die mit dem Joint und die mit der Zigarre, vor sich hin, pustete gewaltige Mengen Rauch aus und grunzte so was wie ein unverständliches Mantra in die Morgenluft. Dann reichte er den Joint Ole.

„Hier, nimm einen Zug, mein Freund, dann sieht das Leben schon ganz anders aus!“

Ole nahm das Ding vorsichtig, zog kurz dran und hustete den Rauch direkt wieder aus.

„Nein, du musst richtig tief inhalieren, sonst wird das nichts! Nicht wie so’n Mädchen, richtig ziehen!“

Ole lächelte gequält, aber höflich, und zog nochmal und inhalierte tapfer und bekam jetzt einen regelrechten Hustenanfall. Zilinski lachte. Der ist eigentlich immer gut gelaunt, vielleicht weil er so viel Gras raucht, dachte Ole. Wenn er wüsste, dass er dann immer gut drauf kommt, würde er auch die ganze Zeit Gras rauchen. Leider war das nicht so.

„Die Westsofties! Immer schön aufpassen, dass sie die Kontrolle behalten, was?“, meinte Zilinski, obwohl Ole ja nun schon länger im Osten wohnte.

Ole kriegte nur noch „Kontrolle“ mit, als er seine verlor. Sein Hirn schien in kürzester Zeit anzuschwellen, ihm wurde heiß, sein Herz fing an zu rasen, und ihn überkam sofort eine mittelschwere Depression, ein wie eine düstere Gewitterfront auftauchender Zweifel an all seinen Lebensentscheidungen, bei dem er sich unter anderem fragte, ob das alles so richtig gewesen war: einfach abzuhauen von Zuhause damals, alles stehen und liegen zu lassen, seine Freundin, Elternhaus, alles, nur, um im Osten mutmaßlich freier zu leben, ohne Zwänge. Im Osten sei immer Party, hatte man damals immer in seinen Freundeskreisen gesagt, und so war es dann auch, die ersten Wochen waren tatsächlich Party gewesen, jeden Tag eine andere, auf alten Fabrikgeländen, in dubiosen Kellern, romantischen Hinterhöfen, tagelang, nächtelang. Irgendwann hatte er davon genug gehabt, irgendwann regte sich sein alter Westehrgeiz, irgendwann wollte er einfach mal wieder was machen, seinem Leben einen Sinn geben, einen anderen Sinn als Party, oder doch vorübergehend oder vielleicht auch mal nur so zwischendurch einen anderen Sinn als Party. Es wäre schön, den Kopf mal wieder frei zu haben von Drogen und Alkohol, dachte Ole. Aber hier im Osten musste man den Kopf gar nicht frei haben, dachte er dann wieder, es gab ja gar keinen Grund, den Kopf freihaben zu müssen, daran konnte sich er bis heute nicht gewöhnen.

Zilinski in seinem halben Mercedes sah für Ole auf einmal aus wie ein alter Indianerhäuptling, Häuptling Große Zylinderkopfdichtung, dachte Ole und lachte kurz blöde auf, und da fiel ihm auch wieder ein, weshalb er gekommen war, richtig, Auto, das war es gewesen, irgendwas mit Auto, klar, aber was nochmal? Wie aus Versehen zog Ole jetzt nochmal selbstvergessen am Joint, oder vielmehr hatte er sich selbst vergessen, oder sein Selbst hatte ihn vergessen, wie auch immer, was war es jetzt denn nochmal? Lichtmaschine, genau, Lichtmaschine.

„Lichtmaschine“, sagte er dann bedeutungsvoll in die Stille, als könnte das Wort den Platz beleuchten.

Pause.

„Wofür?“, fragte Zilinski. Wofür, ja, wofür, dachte auch Ole. Wofür brauchte man eine Lichtmaschine, vielleicht, um Licht ins Dunkel zu bringen, da, wo kein Licht war …

„Für was für’n Auto?“, fragte Zilinski, schon ungeduldiger, ihm schien der Joint überhaupt nichts auszumachen, so was gibt’s, dachte Ole, Leute, die in riesigen Mengen Gras rauchen konnten und dazu literweise Bier tranken und alles schien bei denen in einen tiefen Brunnen zu fallen und dort wirkungslos zu versickern. Zum Glück wusste Ole, dass das mit der Krise vorbeiging. Es hatte mit dem Kreislauf zu tun, wenn es ganz schlimm wurde, musste man nur aufstehen und ein bisschen rumlaufen, und dann ging es besser. Drei Dinge musste man beim Kiffen beachten, hatte er mal gehört. Welche waren das noch mal gewesen? Richtig: Kiffen geht auf’s Kurzzeitgedächtnis, auf den Kreislauf und ... äh, auf’s Kurzzeitgedächtnis, genau.

„Welches Auto?“, fragt Zilinski wieder.

„Äh, Golf“, stammelte Ole.

„Welche Reihe?“

„Weiß ich nicht.“ War er Automechaniker oder was?

„Na, dann das Baujahr.“

„Äh, so 2003.“

„Hab’ ich da“, knurrte Zilinski und lehnte sich in die Mercedespolster zurück, um die Zeitung zu lesen.

„Ach, du hast auch so’n Golf?“, fragte Ole überrascht.

„Nein, die Lichtmaschine für einen Dreier-Golf von 2003 hab’ ich da, was sonst?“

„Oh ja, super“, stammelte Ole.

Zilinski sagte nichts, und Ole vergaß, was zu sagen, weil ihm jetzt schon im Sitzen schwindelig wurde. Richtig, jetzt musste er fragen, was sie kosten würde, das sollte er jetzt mal langsam machen.

„Und, äh, was soll die dann so kosten?“, fragte er dann tatsächlich.

„180“, sagte Zilinski, und das war natürlich viel zu viel. Aber Ole hatte nicht die Nerven, irgendwas anderes zu sagen als: „Ok.“

Das war dann der Deal, und Ole ärgerte sich, jedes Mal machte der das so, mit allen, und durch das Ärgern ging es ihm gleich ein bisschen besser, als ob das Adrenalin mildernd wirkte.

„Kann ich sie dann gleich mitnehmen und das Geld morgen bringen?“

„Kannst du“, grunzte Zilinski, und es schien so, als wolle er jetzt auf keinen Fall mehr weiter beim Zeitunglesen gestört werden.

„Äh, und wo ist sie, die Lichtmaschine?“

„Hinten im Schuppen. Ist leider noch am Motor dran.“

WEST

Eigentlich wollte Max damals nach der Wende von dem Zeitpunkt an, an dem darüber gesprochen wurde, so schnell wie möglich rüber in den Osten gehen, um an dem entstehenden „Projekt mit Modellcharakter“, wie man die Enklave immer häufiger zu nennen begann, teilzunehmen und Genosse im „Romantischen Sozialismus“, wie er es in seinen Gedanken nannte, zu werden.

Was er im Westen dafür hätte zurücklassen müssen, war nicht gerade wenig gewesen. Immerhin eine geräumige Altbauwohnung am Stuttgarter Platz, die er 1985 günstig vom Erbe seiner Eltern, hauptsächlich dem Haus, in dem er aufgewachsen war, gekauft hatte, und eine Beziehung, aus der es eine Tochter gab und die zu verlassen das größte Problem darstellte. Max war jedoch zu all dem bereit, nur um seinem Ideal eines besseren Lebens näher zu kommen.

Aber genauso wie der Enthusiasmus der Wendezeit nachließ, fing Max’ anfänglicher Enthusiasmus, in den Osten zu gehen, allmählich zu bröckeln an. Täglich wurde er ein bisschen weniger. Bei den Besuchen drüben fiel ihm auf, dass es in vielen Häusern nicht mal fließendes Wasser gab, im Winter Öfen zu befeuern waren, der Strom ziemlich oft ausfiel und der einzige Rotwein ungenießbar war.

Also revidierte Max seinen Entschluss, zu gehen. Letztlich ausschlaggebend dafür war am Ende ein Abend mit Frau und Tochter, an dem es zu einer melodramatischen Szene gekommen war, in denen diese den Mann und Vater zu überreden versucht hatten, bei ihnen zu bleiben, was Letzteren gerührt hatte, wobei das nichts daran änderte, dass die Beziehung zur Frau sechs Monate danach beendet und das Verhältnis zur Tochter heute nachhaltig gestört war. Beide waren kurz darauf nach Westdeutschland gegangen.

Max bereute seinen Entschluss, im Westen zu bleiben, spätestens, als die ersten Anzeichen auftauchten, dass die Zukunft im Westen wahrscheinlich alle schlimmen Befürchtungen übertraf, die er je gehabt hatte. Bis heute hatte er trotzdem nie wieder versucht rüberzumachen, obwohl es angesichts der von der Westseite nur schlecht bewachten Grenze immer eine Möglichkeit dazu gegeben hätte.

Berliner, egal ob zugezogen oder gebürtig, sind eigentlich Provinzmenschen, sie gehen selten in andere Bezirke und wenn mal, kommen sie sich fremd vor und sind froh, wenn sie wieder zu Hause sind. Viele Westberliner sind nie in Ostberlin gewesen, nicht zur Wendezeit und vorher schon gar nicht. Aber genauso wenige Reinickendorfer waren in ihrem Leben in Kreuzberg, und umgekehrt. Beide Stadtteile sind dem jeweils anderen in der Regel dankbar dafür.

Aus dem Max, der mal den Romantischen Sozialismus mit aufzubauen gewollt hatte, war schließlich eine Art Charlottenburger Eremit mit Kordjackett und weißem Bart geworden, der seine Wohnung nur verließ, wenn es unbedingt nötig war. Er versuchte das, was sich um ihn herum entfaltete, auszublenden und, immer ein Glas Rotwein gefährlich nahe an der Tastatur, den Romantischen Sozialismus in der digitalen Welt am Computer zu dokumentieren. Dabei war er zu einem echten Experten geworden, was Geschichte und Realität der Enklave Ostberlin betraf. Er sammelte alles, was darüber erschien, sowohl die legalen als auch die illegalen Veröffentlichungen, die ganze Propaganda, die der Westen und insbesondere Fitzmann verbreiteten, das Wahre und das Falsche. Als es dann das Internet gab, legte er einen gut versteckten Blog an, in dem man vieles nachlesen konnte, was sonst verborgen war, wenn man wusste, wie man ihn fand. Und er hatte noch ganz andere Ideen.

OST