Entspannt Euch! Warum moralische Empörung nicht hilft - Katharina Ceming - E-Book

Entspannt Euch! Warum moralische Empörung nicht hilft E-Book

Katharina Ceming

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Beschreibung

Die offene Gesellschaft gerät nicht nur durch den Rechtspopulismus unter Druck. Auch die vor allem in progressiven Milieus beliebte Methode, den Diskurs zu moralisieren, erschwert die Verständigung miteinander. Statt die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen, werden unliebsame Stimmen herabgesetzt und im schlimmsten Falle empört niedergebrüllt. Katharina Ceming beleuchtet die Quellen, aus denen sich der Hang zum Moralisieren speist, und erklärt, weshalb manche Menschen stärker dazu neigen, Andersdenkende abzuwerten. Mit klarem Blick auf gesellschaftliche Dynamiken rät sie zu mehr Entspannung: Die Streitkultur moralischer Empörung verschärft unsere Probleme, statt sie zu lösen. Wie können wir wieder einen offenen Dialog führen? Ein kluger und tiefgehender Beitrag zum Verständnis unserer polarisierten Gegenwart.

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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kohlhammer Trilogien

Herausgegeben von Jörg Armbruster

Die anderen beiden Bände der Trilogie „Von Hetzern und Empörten“, Benjamin Hindrichs: Rechtspopulisten: Radikale auf dem Weg zur Macht und Christian Masengarb: Make Democracy Sexy Again: In fünf Minuten pro Woche, finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/trilogien

Die Autorin

Katharina Ceming, geboren in Augsburg, ist promovierte Philosophin und Theologin sowie habilitierte Theologin. Von 2003 bis 2010 war sie an den Universitäten Paderborn und Augsburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Professorin tätig. Seit 2011 arbeitet sie als freiberufliche Dozentin und Publizistin. In ihren Veranstaltungen und Publikationen beschäftigt sie sich mit den Themen Spiritualität, Werten und Persönlichkeitsentwicklung. Gesellschaftspolitische Themen bilden den zweiten Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Sie liebt es, gemeinsam mit interessierten Menschen in entspannter Atmosphäre über Fragen nachzudenken, die das gute Leben betreffen.

Katharina Ceming

Entspannt Euch! Warum moralische Empörung nicht hilft

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: © ИринаБатюк – stock.adobe.com

1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 Stuttgart

[email protected]

Print:

ISBN 978-3-17-044977-0

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-044978-7

epub: ISBN 978-3-17-044979-4

Print-Paket der Trilogie „Von Hetzern und Empörten“:

ISBN 978-3-17-045024-0

Inhalt

Cover

Vorwort des Herausgebers

Zum Auftakt

Wer am lautesten schreit, bestimmt den Diskurs

Wohin die Reise geht

Dimensionen des woken Moralismus

Vom Universalismus zur Identitätspolitik

Die vielen Gesichter des Moralismus

Der blinde Fleck des moralischen Fundamentalismus: Wenn aus einer Mücke ein Elefant wird

Ausgeträumt: Warum Thérèse im Verborgenen träumen soll

Ich habe recht, weil mein Ziel moralisch gut ist

Moralisches Schaulaufen oder: Ich empöre mich, also bin ich wichtig

Der Ton macht die Musik

Das Weltbild: Worin gründet Wokeness?

Die verschleierte Wirklichkeit: Wenn alles durch die Brille der Kritischen Theorien betrachtet wird

Das Prinzessin auf der Erbse-Phänomen: Sensibilisierung gegen Unrecht

Die schleichende Ausweitung der Konzepte

Wie Mehrdeutigkeit der Lebensqualität zuträglich ist

Fürsorge versus Loyalität: Für wen schlägt Dein Herz?

Das Ideal der egalitären Gesellschaft

Von der Chancengerechtigkeit zur Gruppengerechtigkeit

Exkurs: Wieso die gleiche Gesellschaft eine Illusion ist: Von der Sozialpsychologie lernen

Diskriminierung im Fokus: Vorurteil oder Statistik?

Der Gender-Pay-Gap: Der Beweis für die Diskriminierung von Frauen?

Opferkult(ur)

Psychologische Aspekte des Opferstatus

Linker Autoritarismus: Wenn nur noch (m)eine Meinung zählt

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Das Dark-Ego-Vehicle-Prinzip

Der Hass auf den Westen und der Traum von einer herrschafts- und diskriminierungsfreien Gesellschaft

Das herrschaftsfreie Utopia oder verkehrte Welt

Was macht woken Moralismus so attraktiv?

Dabei sein ist alles: Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit

Auf der Suche nach dem Wofür: Die Sehnsucht nach Sinn

Einfach kompliziert: Die Sehnsucht nach Klarheit und Einfachheit

Ich bin klein, mein Herz ist rein: Die Sehnsucht nach Erlösung

Applaus, Applaus! Die Sehnsucht nach Anerkennung

Die Strategien der woken Moralisierung

Sensible Sprache: Worte auf der Goldwaage

Identität im Sprachgewand: Wenn Sprache Kleider macht

Wenn die Sprechpause Unruhe stiftet

Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt

Diskursraum wegen Meinungsverschiedenheiten geschlossen

Diskursraum wegen nicht legitimierter Teilnehmer geschlossen

Mit Quoten zur gerechten Gesellschaft: Fairness per Dekret?

Immer mehr vom Immergleichen, bis es wirkt: Oder warum Aktivisten an wirkungslosen Methoden festhalten

Alles wird schlechter: Der woke Fehlschluss

Wie Moralisierung die Gesellschaft verändert

Bühne frei für die Wokeness

Campus im Aufruhr: Vom Hort des Wissens zum Ort des Protests

Von der Forschung zur Mission: Wenn Wissenschaftler zu Aktivisten werden

Was wir brauchen

Akzeptieren, dass nicht alle progressiv sein können

Die Angst des autoritären Persönlichkeitstypus vor Vielheit reduzieren

Etwas mehr Wertschätzung oder: „Der Haufen der Erbärmlichen“

Moralische Abrüstung

Entspannt Euch!

Literatur

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Es ist der 29. September 2024 am späten Nachmittag. Die Nationalratswahlen in Österreich gehen zu Ende. In der „Stiegl-Ambulanz“, einer auf Tradition bedachten Gastwirtschaft im 9. Wiener-Bezirk, haben sie sich versammelt, die sogenannten Freiheitlichen, die Mitglieder der rechtspopulistischen FPÖ. Feiern wollen sie am Ende eines Wahlkampfes voller Hass und Hetze. Dann, kurz nach 17:00 Uhr, ist es so weit. Die erste Hochrechnung. Der blaue Balken schießt in die Höhe. Bei 29,1 Prozent bleibt er stehen. Großer Jubel. Die anderen Parteien weit abgeschlagen hinter der FPÖ. Ihre Parolen haben also gezündet bei den Wählern. Parolen wie: „Österreich den Österreichern“ oder „Ausländer raus“. Auf „Systemmedien“ und „Einheitsparteien“ schimpfte Spitzenkandidat Herbert Kickl im Wahlkampf, ein „Volkskanzler“ werde er sein. Nazi-Jargon, den er offensichtlich liebt. Von der EU hält er nicht viel, um so mehr von Putin, mit dem die FPÖ ein bis heute noch nicht offiziell aufgekündigter Freundschaftsvertrag verbindet. Hilfe für die Ukraine kommt für ihn nicht in Frage. Glaubt man den demokratischen Parteien wie ÖVP, SPÖ oder den Grünen, dann ist seine Chance, irgendwann einmal tatsächlich „Volkskanzler“ zu werden, allerdings gering. Trotz seines Wahlerfolges. Schon lange vor dem Wahltag hatten sie versprochen, nicht mit diesen weit rechtsstehenden Politpopulisten zu koalieren. Wie ernst ihnen dieser Schwur ist, muss sich noch zeigen.

Die FPÖ und Österreich sind bei weitem keine Einzelfälle in Europa. Im Gegenteil. So gut wie in jedem Land der EU lassen sich inzwischen Parteien mit ähnlich populistischen Programmen und ähnlich aggressiven Politikern ausmachen. Und damit nicht genug: Bei Wahlen sind sie fast überall erfolgreich. Schier unaufhaltsam scheinen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus auf dem Vormarsch zu sein.

In den Niederlanden zieht der lange mitleidig belächelte Rechtsextremist und Islamhasser Geert Wilders als Graue Eminenz die Strippen der rechtskonservativen Koalitionsregierung. Einmal im Amt ist es sehr schwer, diese Demokratieverächter wieder loszuwerden. Denn gewählte Rechtspopulisten wie Italiens Giorgia Meloni, bekennende Postfaschistin und erklärter Mussolini-Fan, und Ungarns Autokrat Viktor Orbán bauen systematisch – auch mit zweifelhaften Methoden – ihre Machtbasen aus, um ihre Ämter als Staats- oder Ministerpräsidenten möglichst abzusichern. Sie versuchen die Presse gleichzuschalten, greifen in die eigentlich unabhängige Justiz ein oder beschneiden die Rechte der Opposition. Ähnliches kann man vermutlich auch von Frankreichs bekanntester Rechtsaußenpolitikerin und EU-Verächterin Marine Le Pen erwarten, sollte sie eines vielleicht nicht allzu fernen Tages in den Élysée-Palast gewählt werden. Sogar im angeblich so liberalen Skandinavien regieren inzwischen rechtsextreme Parteien mit, in Schweden die sogenannten „Schwedendemokraten“, in Finnland nennen sie sich „Die wahren Finnen“.

Auch in Deutschland freunden sich immer mehr Bürger mit dem Gedanken an, die in Teilen gesichert rechtsextremen Populisten der AfD zu wählen, bei den Landtagswahlen 2024 im Osten bis zu 30 Prozent. Bei der Sonntagsfrage überflügelt sie inzwischen sogar bundesweit die Kanzlerpartei SPD und liegt hinter Spitzenreiter CDU. Sie alle wollen eines: weniger Demokratie mehr Autokratie.

Warum aber gehen Wähler, von denen die meisten bislang demokratische Parteien gewählt hatten, solchen Hasspredigern auf den Leim? Was macht sie stark, was machen die demokratischen Parteien falsch? Warum sind sie europaweit so erfolgreich? Diesen und weiteren Fragen geht Benjamin Hindrichs nach im ersten Band dieser Trilogie, Rechtspopulisten: Radikale auf dem Weg zur Macht. Seine Antworten sind nicht erfreulich, eher beunruhigend, ja alarmierend.

Entspannt Euch, empfiehlt dagegen Katharina Ceming und warnt vor inzwischen allzu beliebten Empörungsritualen und Hypermoralismen, wenn es in Diskussionen um Gerechtigkeitsfragen, Antidiskriminierung oder Rassismus geht. Für eine Gesellschaft zweifellos wichtige, wenn nicht gar entscheidende Themen. Und natürlich müssen sich Demokraten gegen die menschenverachtenden Ideologien von ganz rechts zur Wehr setzen. Das ist überlebenswichtig für unsere Gesellschaft. Wenn auch moralische Empörung über Rechtshetzer vom Schlage Höcke und Co. nur zu verständlich ist, läuft doch vieles nicht gut bei diesen Debatten. Zu dogmatisch. Zu rechthaberisch. Zu wenig zuhörend. Warum moralische Empörungnicht hilft, erklärt Ceming in zweiten Band dieser Trilogie.

Heute kann schon eine Frisur ausreichen, sich den Vorwurf angeblich illegitimen kulturellen Diebstahls einzuhandeln. So geschehen im März 2022 in Hannover. Eine von Fridays for Future eingeladene weiße Reggaemusikerin wollte bei einem Klimastreik mit Dreadlocks auftreten. Als die Veranstalter von deren verfilzter Haartracht erfuhren, luden sie sie postwendend wieder aus. Der Vorwurf: kulturelle Aneignung. Ein solcher Auftritt sei „aus antikolonialistischer und antirassistischer Sicht“ nicht vertretbar, teilte FFF mit. Einer Weißen stehe ein solcher, an Rastafari-Vorbildern angelehnter Kopfschmuck nicht zu.

Tatsächlich haben Dreadlocks eine koloniale Vorgeschichte. Entstanden in den Armenvierteln der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, wollten sich die Rastafari durch ihr Erscheinungsbild von den weißen Eliten der Insel abgrenzen, um so gegen Sklaverei, Diskriminierung und koloniale Unterdrückung zu protestieren. Berechtigte Anliegen also, die man unterstützen sollte. Nur wenn solche Solidarität dazu führt, dass gutmeinende Aktivisten andere Gutmeinende einzig wegen einer Frisur canceln, weil sie glauben, das Anliegen der People of Color besonders krass schützen zu müssen, dann schießen sie weit über das Ziel hinaus. Auch übersehen sie dabei: Sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen, sich mit ihnen auszutauschen, sich auch an ihnen zu reiben und am Ende Elemente der anderen zu übernehmen oder – hoffentlich – auch eigene an sie abzugeben, all das sind wichtige Voraussetzungen, dass Kulturen sich entwickeln können. Kulturelle Aneignung ist also durchaus begrüßenswert und nicht pauschal zu verdammen.

Als Folge solch kompromissloser Engstirnigkeit sieht Ceming letztendlich den allmählichen Verfall von Toleranz. Statt lebendiger Vielseitigkeit starres Schwarz-Weiß-Denken, statt Pluralismus störrische Einseitigkeit, vielleicht sogar so etwas wie Beihilfe zur Errichtung einer Gesinnungsdiktatur, kurz eine erhebliche Gefahr für die offene Gesellschaft. Gutgemeintes, so Ceming, laufe Gefahr Gutdurchdachtes außer Kraft zu setzen.

Dabei sind die zugrunde liegenden Theorien sogar progressiv gemeint und versprechen beispielsweise den benachteiligten Afroamerikaner mehr Gerechtigkeit. Die Critical Race Theory etwa geht davon aus, dass Rassismus nicht nur ein Haltungsproblem einzelner Menschen, sondern strukturell tief in den Gesellschaften verwurzelt ist, bewusst oder unbewusst. Auf dieser strukturellen Ebene sei jeder Weiße letztendlich ein Rassist, selbst dann, wenn er persönlich Menschen mit anderer Hautfarbe ausdrücklich achtet. Die strukturelle Diskriminierung sei leicht im Alltag der Benachteiligten erkennbar, so auf dem Arbeitsmarkt (bessere Jobs für Weiße), bei der Wohnungssuche (Bildung von Ghettos nach Hautfarbe) oder bei der Polizei (Racial Profiling). Wenn aber dieser sicherlich sehr nachdenkenswerte Ansatz zu Bildersturm und neuer Diskriminierung verkommt, wird er zu einem gesellschaftlichen Rückschritt. Moralisch hoch aufgeladen zwar, aber keine Lösung gesellschaftlicher Probleme.

Solcher Hypermoralismus, den Ceming eher in einem progressiven und linken Milieu verortet, führt zu Intoleranz und autoritären Strukturen in einer Gesellschaft, nicht aber zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Daher schlägt sie vor, moralisch abzurüsten. Außerdem, dem anderen mit mehr Wertschätzung zu begegnen, auch wenn der ganz anders tickt als man selbst. Kurz, sie empfiehlt: Entspannt Euch – moralische Empörung hilft nicht!

Ist also die Demokratie in Gefahr, gar am Ende? Zerrieben zwischen rechten Populisten und linken Moralisten? Wie viel Sorgen muss man sich um die offene Gesellschaft machen? Warum verlieren Menschen die Lust an dieser sicherlich anspruchsvollen und mit vielen Fehlern behafteten, aber dennoch besten aller Politikformen? Warum gehen sie gerade in schwierigen Zeiten den kurzen und bequemen Weg zu Allesversprechern, Fanatikern und anderen Eiferern? Und wie kann man sie zurückgewinnen, sie wieder für Demokratie begeistern, sie überzeugen, dass Populisten oder Moralisten nichts als politische Hohlschwätzer sind, die Bürger entmündigen wollen? Gar nicht so schwer, meint Christian Masengarb im dritten Band dieser Trilogie, Make Democracy Sexy Again. Wir erreichen die Menschen nur selten auf einer bloß rationalen Ebene. Also weniger Kopf, mehr Bauch. Demokratie müsse wieder attraktiv und aufregend, schlicht unwiderstehlich gemacht werden. Sexy eben. Etwas, wofür sich die Bevölkerung begeistert.

Aber wer soll das bitte schön machen und wie? Masengarbs Antwort: Wir alle, denn seiner Meinung nach liegt es allein an uns, also an jedem Einzelnen, ob diese für alle offene Regierungsform die Angriffe von rechts wie links erfolgreich abwehren kann. Überväter oder Übermütter, die uns in salbungsvollen Sonntagsreden erklären wollen, welche Vorteile wir von der Demokratie haben, helfen nicht. Genauso wenig lebensferne Staatsphilosophien oder komplizierte Demokratiemodelle. Schwätzer und Prediger schaden diesem großen Projekt nur. Wichtig sei, so Masengarb, dass die Demokratiefreunde ihre Zufriedenheit mit unserer Gesellschaftsform im Alltag nach außen tragen. Wichtig sei außerdem klares und nüchternes Denken, die eigenen Argumente abzuwägen, Irrtümer einzugestehen und anderen zuzuhören und Respekt zu zollen. Einander nicht das Schlechteste unterstellen. Das sind notwendige Tugenden, die eine demokratische Gesellschaft am Leben erhalten. Fanatismus erstickt sie, genauso Rechthaberei oder Einseitigkeit. Anders als autokratische Systeme leben Demokratien von Diskurs und Debatten und vom Glauben, dass allein lebendige Diskussionen eine Gesellschaft weiterbringen.

Der wichtigste Appell Masengarbs an seine Leser ist: Alle vier Jahre wählen gehen reicht nicht. Demokratie muss im Alltag gelebt werden. Von jedem Bürger. Und das jeden Tag.

Stuttgart, im Dezember 2024 Jörg Armbruster

Zum Auftakt

„Shut up and listen!“ – „Shame on you!“ – Eine Einladung zum Diskurs sind diese Aussagen nicht. Doch das sollen sie auch nicht sein. Mit diesen und ähnlichen Parolen brüllten am 10. Februar 2024 propalästinensische Aktivisten bei einer Kunstperformance im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin Veranstalter, Beteiligte und das Publikum nieder. Ihr Ziel war es nicht, über den Gazakrieg zu diskutieren. Sie wollten ihre Sichtweise als einzig gültige im öffentlichen Raum behaupten. Ihre Position: Israel ist ein kolonialistisches Projekt und ein Apartheitsstaat ohne Existenzrecht. In Gaza begeht Israel Völkermord.

Zur Performance hatte die kubanische Künstlerin Tania Bruguera eingeladen. Einhundert Stunden lang sollten Gäste aus Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft lesen, u. a. Mirjam Wenzel, Leiterin des Jüdischen Museums Frankfurt. Kurz nach Beginn von Wenzels Lesung sprangen die Aktivisten auf und skandierten ihre Parolen: „No more silence, no more fear, genocide is crystal clear“, „From the river to the sea, Palestine will be free“ oder „Five, six, seven, eight, Israel is a terrorist state, five, six, seven, eight, Germany ist a fascist state“. Also, Israel sei ein Terrorstaat, der Völkermord begehe. Palästina solle vom Jordan bis zum Meer bestehen (Israel also aufhören, zu existieren). Und Deutschland sei faschistisch, weil es Israel unterstützt.

Wenzel und Braguera wurden als Zionistinnen beschimpft, der Zionismus als faschistisch gebrandmarkt. Als einzelne Rufe aus dem Publikum nach einem Dialog erklangen, wurden diese mit „Shame, Shame!“ beantwortet oder noch drastischer mit „Get out of my fucking face!“ Eine Teilnehmerin, die erklärte, das Anliegen der Protestierer zu unterstützen, bekam zu hören: „Wärst du inhaltlich auf unserer Seite, wärst du still.“

Als Braguera darauf verwies, was sie schon alles für die Sache der Palästinenser getan habe, wurde sie angeschrien, dass sie „immer noch eine weiße Person“ sei, die „durch ihr Weißsein privilegiert sei“. Der libanesischstämmige Co-Direktor des Museums, Sam Bardaouil, versuchte die Aktivisten zum Gespräch einzuladen, doch auch er wurde als „Rassist“ und „Araber mit weißer Haut“ beschimpft.

Was wie eine Realsatire klingt – die britische Komikertruppe Monty Python hätte in den siebziger Jahren ein solches Setting filmisch vermutlich so inszeniert, wie man es auf von den Aktivisten hochgeladenen Videos sehen kann –, ist heute oft zu erleben, wenn linke Aktivisten in Erscheinung treten.

Im Juni 2024 brachten propalästinensische Sympathisanten ein Banner am Haus der Direktorin des Brooklyn Museums, Anne Pasternak, an, auf dem zu lesen war: „Anne Pasternak. Brooklyn Museum. White supremacist zionist.“ Die Fassade wurde mit Farbe und roten Dreiecken beschmiert, wie sie die Hamas zur Kennzeichnung ihrer Feinde verwendet. Pasternak ist nicht nur Direktorin eines Kunstmuseums, sondern versteht sich selbst als linke Aktivistin. Mit ihrer Arbeit setzt sie sich seit Jahren für Minderheiten ein, wofür sie die Rechten in den USA hassen. Doch auch sie zog sich den Zorn links-woker Aktivisten zu.

Ich habe den Eklat im Hamburger Bahnhof und den Vandalismus gegen Pasternaks Haus nicht wegen des Israel-Palästina-Konflikts gewählt, der seit dem 7. Oktober 2023 zu einer massiven Diskursverschärfung geführt hat, sondern weil hinter den wütend hinausgebrüllten Parolen, Beleidigungen und Anschuldigungen Theorien und Überzeugungen stehen, die das Fundament für den woken Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit darstellen. In beiden Fällen zeigt sich zudem, wie stark die Emotionen sind, die diese Bewegungen antreiben.

Wer am lautesten schreit, bestimmt den Diskurs

Bei dieser Form des Aktivismus geht es primär darum, die eigene Perspektive als die einzig moralisch vertretbare Position im öffentlichen Diskurs durchzusetzen. Doch dadurch trägt der woke Aktivismus zur Erhitzung des gesellschaftlichen Klimas bei. Zwar ist Deutschland nicht so gespalten, wie es oft dargestellt wird, aber die Ränder radikalisieren sich schneller und werden lauter, während die Mitte zunehmend verstummt. Das zeigen die Untersuchungen der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser.

Die Mitte der Gesellschaft schweigt aus mehreren Gründen. Menschen mit extremeren Meinungen oder Positionen äußern sich tendenziell lauter und öfter als Menschen mit gemäßigteren Positionen, da sie ihre Ansichten verbreiten möchten. Aktivisten schließen sich eher in Gruppen zusammen, da sie etwas verändern möchten. Die Mitte hingegen hat weniger Veränderungsbedarf, weniger Sendungsbewusstsein und organisiert sich deshalb seltener.

Das Paradox der Mitte besteht darin, dass sie die Mehrheit darstellt, aber kaum wahrnehmbar ist. Menschen, die sich der Mitte zugehörig fühlen, (er)kennen einander nicht. Deshalb lässt die Zugehörigkeit zur Mitte kein Gruppengefühl entstehen. Ohne uns einer Gruppe zugehörig zu fühlen, verhalten wir uns vorsichtiger und zurückhaltender. Die Mitte schweigt aber auch, weil immer mehr Menschen glauben, nicht mehr alles sagen zu können, was sie denken.

Laut einer Umfrage von Allensbach und Media Tenor haben fast 60 Prozent der Bevölkerung das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen mit dem, was sie sagen. Sie befürchten keine staatlichen Repressionen, sondern soziale: den Abbruch von Beziehungen, das An-den-Pranger-gestellt-werden, berufliche Nachteile usw. Die Themen, über die sie schweigen, sind die Kernanliegen progressiver Gruppen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Umfrage auch gezeigt hat, dass Menschen mit höherer Bildung eher glauben, frei sprechen zu können. Über 50 Prozent dieser Gruppe haben keine Bedenken, ihre Meinung zu äußern. Bei den Grünen-Wählern sind es sogar 75 Prozent.