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Katharina Ceming

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Beschreibung

In den letzten Jahren hat sich die gesellschaftliche Debatte rund um das Thema Werte, Menschenrechte und Diskriminierung verschärft. Auch wenn auf der juristischen Ebene die meisten Formen von Ungerechtigkeit beseitigt sind, erleben Menschen, die zu Minderheitengruppen gehören, diese zum Teil immer noch in ihrem Alltag. Das hat dazu geführt, dass die Antidiskriminierungsbemühungen verstärkt wurden. Oftmals sind diese mit Ideen wie der Identitätspolitik, der Mikroaggressionstheorie oder dem Konzept der kulturellen Aneignung verbunden. Daraus ergeben sich aber nicht nur zunehmend kontroverse gesellschaftliche Diskussionen, sondern oftmals ein Schwarz-Weiß-Denken, das Eindeutigkeiten in einer hochkomplexen und globalen Welt und Gesellschaft sucht, die so nicht zu finden und nicht herzustellen sind. Das vorliegende Buch versteht sich daher einerseits als ein Plädoyer für eine offene und tolerante Gesellschaft, die die strukturellen Rahmenbedingungen für das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Ansichten und Haltungen bieten kann und gleichzeitig die Voraussetzung dafür ist, dass ein ehrlicher Diskurs über kontroverse Themen möglich bleibt.

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Seitenzahl: 145

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Katharina Ceming

Grenzwertig

Was in Debatten über Rassismus, Identitätspolitik und kulturelle Aneignung schiefläuft

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023

ISBN 978-3-7365-0487-5

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023

ISBN 978-3-7365-xxxx-x

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt
Zu diesem Buch
Werte, Werte, nichts als Werte
Warum nicht alles, was ich mir wünsche, ein Wert ist und wieso nicht jede Norm mit Werten aufgeladen ist
Gibt es einen Wertehimmel? Oder: Woher kommen Werte?
Meine Werte, deine Werte, unsere Werte: Die Entwicklung kollektiver und individueller Werte
Werte als Antwort auf Bedürfnisse
Was den Wertewandel befeuert
Gleiche Werte für alle
Verlockung Illiberalismus
Vom Universalismus zur Identitätspolitik
Worum es der Identitätspolitik geht
Der Kampf gegen Rassismus
Rassismus und Migration
Warum in der Identitätspolitik nicht jede Diskriminierungserfahrung gleich viel zählt
Was berechtigte Kritik von Hetze unterscheidet
Die Grenzen des Erlaubten
Reicht es, sich verletzt zu fühlen? Die Mikroaggressionstheorie und ihre Folgen
Politische Korrektheit, Cancel Culture und »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«
Der Fall James Damore
Die Idee der kulturellen Aneignung
Leben in einer offenen Gesellschaft
Toleranz: Warum ohne sie nichts geht
Welche Werte braucht eine moderne und offene Gesellschaft?
Dank
Literatur

Zu diesem Buch

Vor einigen Jahren fragte mich eine Veranstalterin, ob ich nicht einmal eine Vortragsreihe zum Thema Werte machen möchte, da dieses Thema sehr kontrovers diskutiert würde. Dabei ging es ihr um die Klärung der Frage, ob denn alle Werte, die aufeinanderprallen, toleriert werden müssten, ob es vielleicht Grenzen der Toleranz gebe und warum die einen Menschen bestimmte Werte freudig begrüßen während andere darin einen Wertverfall sehen würden.

Da ich mich im Rahmen meiner akademischen Tätigkeit vor vielen Jahren intensiv mit dem Thema Menschenrechte beschäftigt hatte – Menschenrechte sind Ausdruck eines modernen Werteparadigmas – und weil mich ihre Fragen selbst beschäftigten, sagte ich zu. Dieser Vortrag zog seine Kreise. Ich wurde immer wieder eingeladen, über dieses Thema zu sprechen, wobei es oftmals um die Frage ging, welche Haltungen und Überzeugungen die offene Gesellschaft tolerieren müsse und was denn bereits rassistisch oder sexistisch sei.

Da die Auseinandersetzung um diese Themen und Fragen seit einiger Zeit in der öffentlichen Debatte einen immer größeren Raum einnimmt und ich gesehen habe, dass vielen Menschen die Theorien und Konzepte, die die Diskussion beeinflussen, gar nicht bekannt sind, habe ich mich entschieden, das, was ich in den letzten Jahren zu diesem Thema erarbeitet habe, zu veröffentlichen.

Auf der einen Seite wird es in diesem Buch daher um die Entstehung und Entwicklung von Werten gehen sowie um die Klärung der Frage, warum in modernen Gesellschaften andere Werte wichtig sind als in traditionellen Gesellschaften. So viel vorweg: Moderne Gesellschaften sind durch Funktionalität geprägt und sind durch eine große Ausdifferenziertheit der unterschiedlichsten Bereiche wie Ökonomie, Technologie, Justiz, Bildung, Gesundheit usw. gekennzeichnet, die alle nach unterschiedlichen immanenten Logiken funktionieren. Sie sind daher hochkomplexe Gebilde. Ideengeschichtlich werden sie von Werten wie Gleichberechtigung und Toleranz geprägt, die im Lauf der letzten beiden Jahrhunderte eine immer wichtigere Bedeutung erhielten. Toleranz ermöglichte es, dass unterschiedliche Lebenskonzepte und Weltanschauungen in einem pluraler werdenden Staat nebeneinander bestehen konnten. Gleichberechtigung führte dazu, dass immer mehr gesellschaftliche Gruppen, die bis dato ausgeschlossen waren oder diskriminiert wurden, als gleichberechtigte Akteure galten. Der ideelle Wert der Gleichberechtigung führte zur Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Rechten.

Aktuell stehen wir vor der Situation, dass auf der juristischen Ebene die meisten Formen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung beseitigt sind, Betroffene aber immer noch im Alltag Diskriminierung erleben. Dies hat zu einer Intensivierung der Antidiskriminierungsbemühungen seitens unterschiedlichster Aktivistengruppen geführt. Ihr Kampf gegen Diskriminierung speist sich aus verschiedenen theoretischen Grundlagen und Überzeugungen, die dem akademischen Diskurs der Kultur- und Sozialwissenschaften entstammen.

Mit Ideen wie der Identitätspolitik, der Mikroaggressionstheorie oder dem Konzept der kulturellen Aneignung hat sich der Antidiskriminierungsdiskurs jedoch nicht nur von einem universalistischen Paradigma verabschiedet, sondern die Bewertung dessen, was bereits als Diskriminierung gilt, hat sich sehr verfeinert. Da mehr oder weniger all diese Theorien davon überzeugt sind, dass jede Form von Ungleichbehandlung oder ungleichen Lebensbedingungen Ausdruck rassistischer und diskriminierender Strukturen der Mehrheitsgesellschaft seien, gilt ihr primärer Kampf der Aufdeckung dieser rassistischen und diskriminierenden Strukturen. Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft sei es daher, diese Strukturen zu verändern und ihr eigenes privilegiertes Verhalten zu reflektieren und zu korrigieren. Problematische Verhaltensweisen von Menschen, die zu marginalisierten Gruppierungen gehören, sind in diesem Paradigma die Antwort auf diskriminierende Strukturen der Gesellschaft.

Diese Ideen führen nicht nur zu kontroversen Diskussionen und zu Vorwürfen wie dem, dass eine Gesinnungsdiktatur befördert würde, sondern sie befördern meines Erachtens ein Schwarz-Weiß-Denken, das Eindeutigkeiten in einer hochkomplexen und globalen Welt und Gesellschaft sucht, welche dieser aber nicht gerecht werden.

So ist das vorliegende Buch auf der einen Seite ein Plädoyer für eine größere Ambiguitätstoleranz und auf der anderen Seite ein Plädoyer für eine offene Gesellschaft, welche die strukturellen Rahmenbedingungen für das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Ansichten und Haltungen bieten muss, so diese die Grundlagen der offenen Gesellschaft nicht infrage stellen und gleichzeitig Angriffe auf diese unterbindet.

Noch ein Satz zur Verwendung des grammatikalischen Geschlechts im Text. Da ich aus Leseflussgründen keine Anhängerin des Gendersternchens bin, versuche ich beide Formen zu verwenden oder bei Beispielen die Geschlechter abzuwechseln. Die bei Beispielen verwendete Geschlechtszuordnung ist dabei willkürlich gewählt. Die Verwendung des männlichen Geschlechts gilt in der Regel für alle Geschlechter.

Werte, Werte, nichts als Werte

Warum nicht alles, was ich mir wünsche, ein Wert ist und wieso nicht jede Norm mit Werten aufgeladen ist

Werte haben etwas mit Bewertung zu tun. Wenn wir etwas bewerten, dann folgen wir unseren Vorlieben oder Abneigungen. Da sich diese in der Regel nicht ständig verändern, werden wir immer wieder relativ ähnliche Dinge positiv oder negativ bewerten. Andreas Urs Sommer vertrat in seinem 2016 erschienenen Buch »Werte. Weshalb es sie nicht gibt und wir sie dennoch brauchen« deshalb die Ansicht, dass Werte und Bewerten zusammenhängen. Für Sommer führt eine metaphysisch aufgeladene Rede um Werte als »außersprachliche und außergeistige Wesenheiten«1 zu nichts. Allerdings ist nicht alles, was ich mag oder nicht mag, ein Wert. Eiscreme kann ich mögen, sie selbst ist kein Wert. Der Wert ist der mit ihrem Verzehr verbundene Genuss.

Zur Bewertung kommt noch ein Abwägen hinzu. Etwas, das mir wichtig ist, kann bedeutender sein als etwas anderes, das ich mag. Mein Schlafpensum ist mir sehr wichtig. Für einen tollen Ausflug in die Natur bin ich jedoch bereit, früh aufzustehen und auf Schlaf zu verzichten, weil die Freude, dort zu sein und etwas Schönes zu erleben für mich wichtiger ist, als an diesem Tag acht Stunden zu schlafen. Der Wert, der mich in diesem Fall leitet, hat mit Genuss, Lebensqualität und vielleicht mit Freiheit zu tun.

Ich kann mich sogar dafür entscheiden, etwas zu tun, das mir im Moment gar nicht guttut, weil mir etwas anderes wichtiger erscheint, also einen höheren Wert für mich besitzt: Ich helfe einer Freundin am Wochenende beim Umzug, statt in die Berge zu fahren, obwohl ich weiß, dass ich am Montag vor Rückenschmerzen kaum gerade gehen werden kann, weil das Kistenschleppen anstrengend ist. Unsere Freundschaft ist mir in diesem Fall jedoch wichtiger als der Genuss des Bergabenteuers.

Was leitet mein Abwägen? Wieso entscheide ich mich für die Arbeit bei meiner Freundin und nicht für meinen Genuss? Hier dürfte ein Bündel von Faktoren den Ausschlag geben, zum Beispiel, dass mir die Freundschaft mehr bedeutet als ein kurzfristiger Genuss, dass es sich um eine einmalige Aktion handelt – denn würde meine Freundin jedes Wochenende meine Hilfe anfordern, würde ich vermutlich irgendwann den Bergen den Vorzug geben –, dass meine Eltern mir den Wert der Hilfsbereitschaft als etwas Wichtiges vermittelt haben, dass ich nicht Nein sagen kann oder dass ich von meiner Persönlichkeitsstruktur her sehr prosozial veranlagt bin ... Die Liste der Gründe ließe sich beliebig erweitern.2

Vielleicht können wir Werte mit einem Kompass vergleichen, mit dessen Hilfe wir versuchen, unser Leben nach Präferenzen zu gestalten, die uns wirklich wichtig sind. Der deutsche Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas, der sich unter anderem mit dem Thema Werte beschäftigte, sprach von Werten als »stark emotional besetzte[n] Vorstellungen darüber, was eigentlich wahrhaftig des Wünschens wert ist«.3 Er betont etwas, das ich für sehr wichtig erachte, wenn wir von Werten reden: Werte haben eine emotionale Dimension – etwas berührt uns, weil etwas in uns angesprochen wird.

Werte haben zudem eine identitäts- und sinnstiftende Funktion. Dieser Faktor spielt im Streit um Werte eine sehr wichtige Rolle. Weil sie so wichtig für unsere Orientierung und so eng mit unserer Persönlichkeit verknüpft sind, verteidigen wir sie so militant und reagieren aversiv, wenn jemand unsere Werte infrage stellt, denn damit werden wir selbst infrage gestellt. Unsere Werte bilden unsere moralische Identität. Um diese zu schützen, blenden wir zur Not auch Fakten, die unsere Überzeugungen infrage stellen, aus oder deuten sie um.4

Unsere Werte prägen unser Handeln. Sie sind regulative Ideen, die für etwas stehen, von dem wir möchten, dass es sein sollte. Wie sie entstehen, werde ich im nächsten Kapitel zu klären versuchen. Die Idee, dass Werte unser Handeln prägen, ist nicht neu. Bereits in der griechischen Antike beschäftigten sich Philosophen mit der Frage, woran der Mensch sein Tun orientieren könne und solle. Neu war allerdings, diesen Ordnungsmaßstab mit dem Begriff »Wert« zu versehen: Der Begriff taucht im philosophischen Diskurs erst im 19. Jahrhundert auf.

In der Antike sprach man von Tugenden. Für Aristoteles war die Tugend eine Haltung, die unser Handeln steuert. Sie ist mit der Vernunft verbunden und kann durch Erziehung vermittelt werden. Er unterschied zwischen den Tugenden des Verstandes wie Klugheit, Weisheit, Wissenschaftlichkeit, und ethischen Tugenden wie Tapferkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, um nur einige zu nennen.

Ganz nebenbei: Unser Wort »Tugend« hängt mit »taugen« zusammen, so wie das griechische Wort für Tugend, arete, wörtlich übersetzt »Vortrefflichkeit, Tauglichkeit« bedeutet. Aristoteles verstand diese Tauglichkeit als eine Haltung zwischen zwei Extremen, in die sich der Mensch einüben muss. Die richtige Mitte kann er nur durch den Gebrauch seiner Vernunft erkennen.5 Eine immer gültige und festgesetzte Mitte gibt es nämlich nicht. Sie muss stets neu ausgelotet werden. So ist nach Aristoteles zum Beispiel Freigiebigkeit die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz. Was in einem Kontext noch freigiebig war, kann in einem anderen schon wieder geizig oder verschwenderisch sein.

Mit der Notwendigkeit des permanenten Auslotens der rechten Mitte verwies Aristoteles auf etwas sehr Wichtiges: Werte sind in Kontexte eingebunden und werden durch diese bestimmt. Das betrifft nicht nur die Freigiebigkeit, sondern auch die Hilfsbereitschaft, Klugheit, Gerechtigkeit, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Einfühlsamkeit. Um zu erkennen, was in der jeweiligen Situation tatsächlich gerecht oder höflich ist, braucht es nach Aristoteles Weisheit. Sie ist für ihn daher die höchste Tugend und wohl die einzige, bei der es kein Zuviel gibt beziehungsweise bei der das Übermaß nicht schädlich ist.

Werte sind jedoch nicht nur etwas Individuelles, sie haben auch eine soziale oder kollektive Dimension. Wir begegnen ihnen in der Familie, in Unternehmen, im Staat, in einer Religionsgemeinschaft, um nur einige dieser Systeme zu nennen. Ähnlich wie beim Einzelnen haben sie für die jeweilige Gemeinschaft eine Orientierungsfunktion. Doch woher kommen diese Werte?

Gibt es einen Wertehimmel? Oder: Woher kommen Werte?

Wenn wir einen kleinen Blick in die Geschichte der Philosophie werfen, begegnen uns vereinfacht gesagt zwei Vorstellungen bezüglich der Entstehung von Werten. Der Ersten begegnen wir, wenn wir uns auf die abendländische Philosophietradition beschränken, bei Platon. Er war davon überzeugt, dass es etwas Ewiges und Ungeschaffenes gibt, das unabhängig von menschlichen Vorstellungen, Wünschen und Meinungen existiert. Er nennt das die Ideen. Die höchste Idee ist die des Guten. Ideen sind für Platon geistige Größen, die der materiellen Wirklichkeit vorausgehen und diese strukturieren. Eine Idee existiert nach Platon unabhängig von der konkreten Sache, deren Idee sie ist. Die der Schönheit existiert zum Beispiel unabhängig von schönen Einzeldingen. Sie ist der Grund, weshalb etwas Konkretes überhaupt als schön wahrgenommen wird. Ideen kann man nur mit der Vernunft und nicht mit den Sinnen erfassen.

Die wichtigste Idee für Platon war die des Guten. Aus ihr gehen alle anderen Ideen hervor. Sie ist das alles entscheidende Regulativ. Wer sie erkannt hat, hat nach Platons Überzeugung die Richtschnur für all sein Handeln in der Welt. Die Idee des Guten ist der innere Kompass, der dafür sorgt, dass der Mensch gut handelt. In ihr wurzelt alles, was zum guten Leben führt, zum Beispiel die Tugenden. Platon spricht im Gegensatz zu Aristoteles nur von vier Tugenden: Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit. Sie sind eine Art Handwerkszeug, die der Mensch braucht, um gut und richtig handeln zu können.

So wie Platon die Ideen als unabhängige ewige Größen dachte, gab es in der Wertelehre Denker, die davon überzeugt waren, dass Werte ewig existierten und nur entdeckt werden müssten. Platons Lehre von den Ideen und insbesondere von der Idee des Guten als eigenständige geistige Gehalte, die allen materiellen Erscheinungsformen vorgeordnet sind, hat diesen Strang der Wertelehre beeinflusst. Ähnlich wie die platonischen Ideen, die als von konkreten Einzeldingen unabhängige Größen gedacht wurden, wurden Werte als unabhängige Größen gesehen, die nicht durch Raum und Zeit, nicht durch Umstände usw. bedingt sind, die sich nicht wechselseitig beeinflussen oder verdrängen. Sie existieren diesem Paradigma entsprechend unabhängig davon, ob sie gerade verwirklicht werden oder nicht.

Die andere Vorstellung hinsichtlich des Entstehens von Werten ist vor allem mit Friedrich Nietzsche verbunden. Er verwies auf die Bedingtheit und Gemachtheit aller menschlichen Ideen und Überzeugungen. Werte waren seiner Ansicht nach ausschließlich relativ und standen immer in Bezug zur herrschenden Ideologie, die sie einforderte. Für die Moderne wurde Nietzsches Verständnis der Entstehung von Werten wegweisend. Allerdings war er in der Geschichte der abendländischen Philosophie nicht der Erste, der ernste Zweifel daran hatte, dass Werte oder Ideen irgendeine objektive Realität im Hintergrund hätten. Berühmt ist die Aussage des griechischen Sophisten Protagoras: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge – der Seienden, dass sie sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind.«6

Nietzsche verwies nicht nur darauf, dass Werte keine vom Menschen losgelöste objektive Realität haben, sondern er hielt die meisten, insbesondere die der christlichen Tradition, für eine Perversion ursprünglich aristokratisch-ritterlicher Werte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Frage nach dem Ursprung des Bösen, die sich kaum von der Frage trennen lässt, was das Gute ist. Die Beschäftigung mit dem Guten, also dem, was sein soll, finden wir in nahezu allen großen Moralsystemen, auch im jüdisch-christlichen. Dieses prägte zu Nietzsches Zeit immer noch stark die gesellschaftliche Wertedebatte.

Die christlichen Werte wurzelten Nietzsches Ansicht nach nur im Ressentiment der Schwachen den Starken gegenüber. Um die Starken im Zaum zu halten, wurden seiner Überzeugung nach Mitleid und Askese zu Tugenden, welche die vitalistischen Energien der Starken unterdrücken sollten. Womit er das Ressentiment, also den heimlichen Groll der Unterlegenen den Privilegierten gegenüber, zur Quelle der christlichen Werte erklärte. Ob das tatsächlich die Quelle christlicher Werte ist, sei einmal dahingestellt.

Nietzsches Wertekritik führte ihn zur Idee der Umwertung aller Werte, die vom Willen zur Macht getragen ist. Der Starke will und soll herrschen, weshalb er Werte wie Mitleid oder Nächstenliebe beseitigen muss, da sie ihn nur behindern. Natürlich ist die Umwertung aller Werte selbst eine Wertung, die in einem bestimmten Wertesetting gründet – in Nietzsches Fall in einer ausgeprägten Aversion gegen die jüdisch-christliche Religionstradition. Wie eine Gesellschaft aussieht, in der dieser Wertekanon des Übermenschen gilt, davon konnten wir uns in der jüngeren deutschen Geschichte bereits ein Bild machen. Allerdings müssen wir zur Ehrerrettung Nietzsches sagen, dass er keine stringente und in sich geschlossene Konzeption einer Gesellschaft entworfen hatte. Ihm ging es immer wieder um das Hinterfragen scheinbar unumstößlicher Werte, die den gesellschaftlichen Status Quo als absolute Norm stützten und somit die Entfaltung des Künstlerischen und Kreativen behinderten.

Was im Kontext unserer Frage nach der Entstehung von Werten bei Nietzsche relevant ist, ist der Verweis auf ihre Relativität, also ihre Bedingtheit. Werte entstehen demnach durch eine Wechselwirkung verschiedenster Faktoren und hängen voneinander ab. Sie durchdringen sich wechselseitig, dominieren einander und können einander verdrängen. Sie sind kontingent, das heißt zufällig, und folgen keinem höheren Plan. Die meisten Denker der Moderne, insbesondere der Postmoderne, folgen Nietzsches Überzeugung, dass es keine ewigen Werte gibt, die man nur erkennen müsse. Sie teilten seine Ansicht, dass sich Werte entwickeln und verändern. Ihre Geltung erhalten Werte dadurch, dass Menschen an sie glauben und danach handeln.

Der israelische Historiker Yuval Harari spricht in diesem Kontext von einer »erfundenen Ordnung«, die im Gegensatz zu einer natürlichen Ordnung wie zum Beispiel die der Naturgesetze deutlich instabiler ist: »Die Schwerkraft wird nicht mit einem Mal aufhören zu existieren, nur weil wir nicht mehr an sie glauben. Im Gegensatz dazu läuft eine erfundene Ordnung ständig Gefahr, in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus, weil sie auf Mythen gebaut ist, und weil Mythen verschwinden, wenn niemand mehr an sie glaubt. Um eine erfundene Ordnung aufrechtzuerhalten, sind konstant große Anstrengungen erforderlich.«7

Auch wenn die »erfundene« Ordnung nicht auf Naturgesetzen basiert, ist sie für das Zusammenleben einer Gemeinschaft unverzichtbar. Keine Gemeinschaft kommt ohne eine solche Ordnung aus. Nur muss diese kontinuierlich an die sich verändernden Lebensumstände angepasst werden, und darin liegen ihre Instabilität und Fragilität.

Meine Werte, deine Werte, unsere Werte: Die Entwicklung kollektiver und individueller Werte