Erdling - Emma Braslavsky - E-Book

Erdling E-Book

Emma Braslavsky

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Beschreibung

Eine Spurensuche nach verschütteter deutscher Mentalität

Emma Erdling ist notorisch pleite. Nur dank der Unterstützung ihrer kinderlosen Großtante konnte sie sich als Privatdetektivin unter dem Pseudonym »Andreas von Erdling« im teuersten Viertel der Stadt selbstständig machen, auch wenn sie nie vorhatte, echte Fälle zu lösen. Stattdessen inszeniert sie ihr Leben als Soap einer knallharten, linksideologischen Ermittlerin in den sozialen Netzwerken, bis unvorhergesehene Ereignisse ihre gemütlich eingerichtete Existenz erschüttern und ein Shitstorm ihr virtuelles Dasein vernichtet. Doch schon tags darauf soll sie ihren ersten, wenngleich unlösbar scheinenden Auftrag übernehmen: Oskar Lafontaine sucht ihr Büro auf. Seine Frau sei entführt worden, von Außerirdischen, er wolle sie zurück, Geld spiele keine Rolle.

Die Suche nach der entführten Sahra Wagenknecht entpuppt sich bald als Reise in ein verdrängtes Bewusstsein, zu Teilen einer Identität, die Emma Erdling zu Beginn der Geschichte so fern war wie eine Galaxie jenseits der Milchstraße. Zugleich nimmt uns der Roman mit auf eine Odyssee zu den hellen und dunklen Mächten deutscher Geschichte, bis hinaus ins Weltall, alle Grenzen von Zeit und Raum mühelos überschreitend.

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Seitenzahl: 530

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Cover

Titel

Emma Braslavsky

Erdling

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Arbeit am vorliegenden Roman wurde gefördert vomDeutschen Literaturfonds e. V., vom Berliner Senat sowievon der Kulturstiftung Thüringen.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: Nurten Zeren, Berlin

eISBN 978-3-518-77729-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Dem deutschen Heimatministerium gewidmet

Motto

Alles hier ist relativ – auch Klarnamen.

Alles hier auf eigene Gefahr.

Wir armen Deutschen! Einsam sind wir im Grunde, auch wenn wir »berühmt« sind! Niemand mag uns eigentlich …

Thomas Mann

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Reiseroute

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Stufe

1

1

(Ich). Ohne einen Schatten ist auch mein Selbst nicht wirklich

2

(Klara). Logik muss immer dein Munitionslager der Vernunft sein

3

(Cosmo). Deine Wirklichkeit hängt davon ab, wie du sie beobachtest

4

(Armin). Sei vorsichtig, damit du beim Austreiben deines Dämons nicht das Beste in dir austreibst

5

(Ich). Erst die Trümmer gaben meinen Blick frei auf die Sterne

6

(Cosmo). Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur ein hartnäckiger Eindruck

7

(Marx). Ich bin kein Marxist

(Schmidt)

. Unser tüchtiger Hitler hier ist im Grunde Marxist

8

(Hanussen). Das Zeichen Skorpion als Wiedergeburtszeichen wird uns noch ein drittes Reich bescheren

9

(Armin). Versinke, denn ich könnt’ auch sagen: steige!

10

(Cosmo). Natürlich hättest du wissen müssen, dass deine eigene Realität von der Struktur deines Bewusstseins abhängt

11

(Klara). Die wichtigste Redensart im Deutschen ist: Spaß beiseite, jetzt wird’s ernst.

Stufe

2

12

(Klara). Du verlässt die Zone der deutschen Vernunft

13

(Voltaire). Mit Hegels Vereidigung als deutscher Generalgeist haben die Deutschen ihren Anspruch auf den Weltraum vorerst verwirkt

14

(Cosmo). Du brauchst dringend jemanden an deiner Seite

15

(Angelika). Ein rein verstandesmäßiges Weltbild ganz ohne Mystik ist ein Unding

16

(Ich). Ich habe Wirklichkeit verloren und Träume gewonnen

17

(Ich). Wussten die Aliens, wen sie da abgeholt hatten?

18

(Hanussen). Das Medium geht auf in der Psyche seines Beherrschers

19

(Angelika). Real ist nur, was wir beobachten und erkennen können, und nicht, was angeblich da sein soll

20

(Armin). Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt

21

(Aldebaran). Jeder Mensch dient einem Geist, der sich seiner bemächtigt

22

(Angelika). Es gibt kein selbes Jetzt für alle!

23

(Vril). Wahres Verstehen ist glauben

24

(Vril-ya). Vril-ya war bloß ein cooles feeling, es war fashion, future, feathers, and a great fantasy

25

(Friedrich Max Müller). Menschen glauben, dass ihre Vernunft ihre Worte kontrolliert

26

(Vril-Frauen). Maria ist die im Handstand zwischen den gespreizten Beinen von Gudrun, die du da in einer olympiareifen Brücke siehst

27

(Klara). Halte dir diese Dämonen vom Leib

28

(The German Genius). Nur das Übermächtige kann den Menschen als Ganzes herausfordern

29

(Ich). Als wären Zufälle bloß Fallen für den unreifen menschlichen Geist

Stufe

3

30

(H.H. Ewers & Th. Mann). Nur die Kunst kann dem Leben Schwere verleihen

31

(Th. Mann & H.H. Ewers).

Th.:

Deutsche denken doppelgleisig, ein reiches, aber konfuses Volk.

H.H.:

Reich, aber pubertierend.

32

(Angelika). Unsere größte Herausforderung in diesem Universum ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein

33

(Der Halleysche Komet). Die Blausäure, die sie da in winzigen Dosen kostprobten, fand im Unbewussten der Deutschen einen Nährboden

34

(M. Henry & H.H. Ewers). Einer vom Rhein und einer von der Seine! Praktisch dasselbe Schmutzwasser, das durch unsere Zwerchfelle strömt

35

(Meine Mauer). Unsere Utopien sehen von vorn immer besser aus als von hinten

36

(K. Laßwitz). Von der Schwere frei werden heißt das Weltall beherrschen

37

(Angelika). Du bist unendlich wandelbar

38

(Die Nume vom Mars). Bis heute war es uns versagt, diejenigen kennenzulernen, die diesen mächtigen Planeten beherrschen als vernünftige Wesen

39

(Angelika). Materie ist immer im Widerstand zur Raumzeit

40

(H.H. Ewers). Mein Heinrich, das linke Bein schmerzt in Deutschland vor Selbstzerfleischung

41

(Marc Henry). Euer großspuriges Quantenuniversum überfordert euch, die deutsche Metaphysik ist nichts als deutsche Bürokratie

42

(Marc Henry). Das schändliche Recht der rohen Gewalt wird verkündet, das Schwert des Mars muss alle versklaven!

43

(H.H. Ewers). Weg mit der wilhelminischen Körperscham!

44

(P. Scheerbarts Mond). Der wahre Ernst liegt im Komischen

45

(J. Keplers Mond). Jeder Tag auf dem Mond ist neu

46

(D. Trietsch). Ein Volk mit einigem politischem Verständnis hätte sich solche Vorteile schon zu sichern gewusst!

47

(A. Niemanns Mond). Dieser Mond war für uns verloren

48

(H.H. Ewers). Meine Alraune ist eine Gefahr für die neue deutsche Eitelkeit, das Ausland könnte glauben, wir hätten Potenzprobleme

49

(F. Brehmers Andromedagalaxie). Denken war hier ein Gesellschaftsspiel

50

(Yvan Goll). Das deutsche Geld ist aufgebläht wie Blätterteig und alle hier halten Kaffeekränzchen

51

(Der Odemar von der

GESAV

). Die Deutschen ernähren sich im Augenblick von Mystik und Idealen

52

(Angelika). Wir haben nicht nur einen Kopf

53

(L. Antons Venus). Sie kennen zweifellos die Liebe. Also Wesen, die mich narkotisieren, bevor sie mich fressen, sind doch sehr human

54

(A. Einstein). Wir bedürfen nicht des Originellen. Der Individualismus ist beendet, die Kameradschaft in der Masse entscheidet. Das Relative ist futsch.

55

(H. Hörbigers Mond). Eisdunst ist ein symbolischer Auftakt für die Modernisierung der deutschen Seele

Stufe

4

56

(H.H. Ewers). Wir deutschen Rauschisten werden jetzt Großes leisten

57

(O.W. Gails Venusmond). Du bist dir hier im Vertrauten fremd geworden

58

(Die Scheidung des deutsch-jüdischen Kosmos). Wir brauchen einen Gott, der uns liebt

59

(F. Freksas Druso). Die Drusonen haben auf der Erde ganze Städte in Schutt und Asche gelegt, Frauen werden auf Druso als Milchkühe benutzt

60

(H.H. Ewers). Nicht auf die Tatsachen kommt es an, sondern auf den schöpferischen Gedanken des Künstlers

61

(E.J. Hanussen). Der Weltraum antwortet uns nicht mehr

62

(E.J. Hanussen). Wir haben damit die Ehre unseres Zeitalters gerettet

63

(Madame Alba). Die Deutschen lieben Nietzsches Reitpeitsche

64

(H.H. Ewers). Schnell den Löffel durch die Sahne schwenken und den Wurm darin versenken!

65

(Angelika). Er hat sich verrannt, er wird’s nicht mehr lange machen

66

(A. Einstein). Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.

67

(F. Werfels Stern der Ungeborenen). Absage an die Utopie

68

(Angelika). Dein Bewusstsein zeigt dir bloß deinen Worst Case, du bist einfach überarbeitet

Danksagung statt einer Bibliografie

Informationen zum Buch

Stufe 1

… auf der meine stabil gedachten Glaubensachsen mitsamt meiner Raumzeit durcheinandergebracht wurden,

… auf der meine hart erarbeitete Scheinrealität einstürzte und das passierte, was ich am wenigsten erwartet habe …

1 (Ich)

Ohne einen Schatten ist auch mein Selbst nicht wirklich

»Bin mit meinem Deutsch am Ende, dears!«, schrieb ich in fetten weißen Buchstaben (diesmal unter spontanem Stirnrunzeln) mit dem Textwerkzeug von Photoshop auf das schwarze Rundhals-T-Shirt in dem Selfie, das ich eben, vorm Spiegel posierend, von mir gemacht hatte. Darauf halte ich mit der linken Hand lässig meinen abgewetzten braunen Ledermantel über der Schulter. Meine Miene ist ernst und mit knallrotem Lipgloss betont. Gleich danach tippte ich noch meine zwei Lieblings-Hashtags in die Bildunterschrift: #MeinHerzSchlägtLinks und #NieWiederDeutschland. Gerade wollte ich den Post abschicken, da hielten mich auf einmal seltsame Bedenken zurück. Eine Sekunde lang durchfuhr mich das Gefühl einer Verschwommenheit, einer Unschärfe. Das Klopfen der Regentropfen draußen am Fenster, die seit geraumer Zeit aus einem düsteren, benebelten Himmel stürzten, machte sich plötzlich als Omen bemerkbar: Sie prasselten und tänzelten nicht, sie zerplatzten bedeutungsschwer und tragisch an meiner Scheibe vorm Schreibtisch. Kam ich auf dem Foto etwa nicht authentisch rüber? Fehlte ein Ausrufezeichen am zweiten Hashtag? So was in der Art postete ich doch immer an solchen Tagen, an denen ich nicht dazu kam, mich mit den Aufregern meiner Gegenwart zu beschäftigen, um sie vereinnahmen und kommentieren zu können. So was in der Art kam mir immer in den Kopf, wenn ich meine inzwischen riesige Audience bei der Stange halten wollte, aber eigentlich gerade nichts Wichtiges zu sagen hatte. Denn so was in der Art hatte bei mir doch immer gut funktioniert. Dann war ich cool, ich war safe und kassierte Tausende hearts, hugs, kisses, thumbs-ups. Also wieso dieses Grummeln im Magen plötzlich?

Lang ignorierte ich diese Gleichgültigkeit, nein, eher diese Verwirrung, die bei mir mit dem Wort links aufkam. Ich ignorierte, dass in mir bei all dieser bundesdeutschen Links-Romantik nichts brannte, ich fühlte nichts. Wie auch? Unter Lebensgefahr war ich aus einem versumpften, selbsternannten »linken« Knast geflohen, wo für mich das einzig Menschliche die Kirche gewesen war, die sich unter der autokratischen Herrschaft des so genannten real existierenden Sozialismus alternativ und cool anfühlte, anders als später in Bayern. Wenn du in der DDR im Widerstand warst, hast du dir ein Kreuz um den Hals gehängt und Jesuslatschen angezogen. Wo rechts immer nur der feindselige Westen war (weil dort noch die Ex-Nazis in leitenden Funktionen seien), der mit seiner »Scheinaufarbeitung« und der »verlogenen Vergangenheitsbewältigungs-Show« das neue deutsche Narrativ an sich zu reißen drohte. Dieser Rechts-und-links-Denkmodus im »Westen« sei pures Ablenkungsmanöver von den Tatsachen. In der BRD gebe es überall Nazis in den Kadern. Im Osten hingegen gebe es nur Linke.

An dem Tag, als ich diesen Post abschicken wollte, aber nicht konnte, war ich schon gute zwanzig Jahre in BRDeutschland, schon mehr als die Hälfte meines Lebens damals. Und weil ich mit Sicherheit nicht rechts fühlte, weil ich jung war und progressiv dachte, war ich natürlich links. Ich reihte mich ein und flog mit dem Schwarm. Mein Verstand war wie betäubt von dieser Unbeschwertheit, die überall wie Frischeduft von Lenor aus den Köpfen dampfte, dabei erschien mir die Welt hohl und seelenlos. Außerdem war ich arm. Jedenfalls arm genug, um mir mit Mitte dreißig noch Ideale leisten zu können. Zu der Zeit war Wohlstandsverwahrlosung auch das Schlimmste, was einer in meinem Alter passiert sein konnte.

Damals wachte ich morgens noch mit diesem beruhigenden Gefühl auf, dass in meinem Leben nichts Weltbewegendes mehr passieren würde. Nichts Krasses. Weltbewegendes oder Krasses, auch Bescheuertes streamte oder mimte ich, mehr nicht. Das Krasseste, was sich damals in meinem Leben ereignete, war ein vernichtender Hashtag, weil ich dachte, das Härteste bereits hinter mir gelassen zu haben. Ich spreche jetzt nicht nur von meiner Flucht aus dem Ostblock oder vom Fall der Mauer und dem scheinbaren Ende des endlos scheinenden Kalten Kriegs, nein, wegen des Schwunds der Ozonschicht hatten wir 1987 in meiner Schule über Nacht auf Haarspray und Deo verzichtet! Auch die Punks unter uns. Es leuchtet ein, warum der Emo-Style in den 1990ern nur eine logische Folge des Ozonlochs sein konnte.

Mein Geist eierte also gut zwei Jahrzehnte lang durch dieses lauwarme bundesdeutsche Wohlfühl-Universum, in dem ich das Deutschsein auf feine linke Art gekonnt hinter englischen Begriffen verschwinden ließ, obwohl ich vom Deutschsein, wie ich heute weiß, nicht mehr verstand als jedes rechte Arschloch hier. Die ganze Zeit über habe ich nicht mal bemerkt, dass ich bei Ausdrücken wie grab her by the pussy eigenartigerweise nichts fühlte. Und das sind gute englische Waffen, sie schaffen bei den Deutschen Abstand zwischen Herz, Magen und Hirn, damit die nichts fühlen müssen. Sie gehen leicht über die Lippen, schmiegen sich an Hashtags. Mir bedeuteten sie nichts, also plapperte ich sie so dahin. Doch wenn jemand Muschigrabschen sagt, sticht es sofort im Magen, als würde das Wort handgreiflich. Plötzlich echte Gefühle zwischen Ekstase, Peinlichkeit und Empörung. Es war eine Zeit mit viel Fake-Geilheit, Fake-Identität, Fake-Abenteuern, manchmal Fake-Empörung, meistens aber Fake-Attitude. Meine Welt war voll von irgendetwas Vorgetäuschtem, das nur real wurde, weil’s jemand nachfragte und dir abkaufte.

Mein Schlaf war in der Regel traumlos und steinhart. Ich flog in meiner Bahn und kannte meinen Weg. Und beseelt von dieser Gelassenheit schlug ich morgens meine Lider auf. Auch da erwartete ich nichts Krasses, weil ich schon mehr als mein halbes Leben lang in der Unschärfe wach wurde. Meine Brille lag genau eine Armlänge von mir entfernt auf einem Stapel Bücher, ich griff danach und setzte sie auf, um richtig anzukommen. Ja, und dann … schaute ich vom Bett aus in Shafts Visage, der mich in Lebensgröße und in Rolli und diesem scheißcoolen braunen Ledermantel von einem Original-1971er-Poster herab anblickte. Das hatte ich einer Händlerin auf dem Flohmarkt für zehn Euro abkaufen müssen, weil sie mir nicht erlaubte, einfach nur den Wahnsinns-Mantel darauf abzufotografieren. Aus Platzmangel an den Wänden hängte ich es an die Decke über mein Bett. Shafts sozial engagierter, kritischer Blick war lange das Letzte, was ich vor dem Lichtlöschen wahrnahm. Und so war ich nach dem Aufwachen auch gleich phänomenal gut drauf! Bei seinem Anblick fühlte ich mich motiviert und ausreichend gesellschaftlich engagiert, mehr Realität brauchte ich nicht. Mein Film war gestartet, Hayes’ Soundtrack zuckte durch meinen Körper. Das waren damals die Schwingungen am Morgen.

Ich wartete auf den dritten Schlag, mit dem die Wohnungstür ins Schloss fiel, alle aus meiner WG waren in den Tag gestartet, und jetzt wurde es auch Zeit für mich. Ich wollte nicht, dass sie mir mein cooles Gefühl am Morgen mit irgendeiner kritischen Bemerkung zu Shaft, von wegen sexistisch und so, kaputtmachten. Ich erhob mich, endlich konnte ich nackt durch die Wohnung laufen, meinen Hintern, die Hüfte im Beat. Vorm Spiegel. In der Küche. Ich stellte den Song an und drehte die Lautstärke hoch. Dazu einen doppelten Espresso und eine Zigarette. Diese viereinhalb Minuten machten mich glücklicher als die Fake-Dollars, die ich damals den Tag über im Las-Vegas-Solitär einspielte. Duschen, rasieren, Zähneputzen – die Morgentoilette folgte. Mein Outfit leger, aber ambitioniert, über alles zog ich meinen abgewetzten, shaftigen Dreiviertel-Ledermantel, nach dem ich lange auf Flohmärkten gesucht hatte. An warmen Tagen warf ich ihn mir über die Schulter. Kunstleder kam nicht in Frage. Ein echter toter Bulle musste es schon sein. So ein bisschen Protest-Image. Dazu verliehen mir einfache schwarze Pullover oder T-Shirts mit Rundhalsausschnitt diese schlichte Wichtigkeit, diese Schlichtheit der Milliardäre und Mächtigen, wenn sie in ihren betont bescheidenen Shirts vor der Kamera stehen und damit sagen wollen: Ich bin zu beschäftigt, es kümmert mich nicht, was du denkst. Genau diese Lässigkeit hatte ich immer angestrebt.

Erst zwei Jahre zuvor, als Langzeit-Studentin, hatte ich herausgefunden, dass die meisten Absolventinnen der Geisteswissenschaften in BRDeutschland entweder Kinder erziehen und den Haushalt schmeißen oder im besten Fall halbtags irgendetwas Geistiges, wenn’s hart auf hart kam, etwas Rationelles in einem Büro machten. Deshalb hatte ich beschlossen, das Studium zu schmeißen und mir anders Bedeutung zu verleihen. Ein Flyer im Jobcenter mit der Überschrift »Alles Wichtige zum Einstiegsgeld« half mir nach meiner Exmatrikulation auf die Sprünge. Er spornte mich an, meine Puzzleteile zu einem neuen synergetischen Ich zusammenzusetzen. Keine drei Monate darauf glänzte mein neues Firmenschild in der Sonne: »Detektivbüro Andreas Emma von Erdling«.

Andreas hätte ich eigentlich heißen sollen, meine Mutter hatte nur einen Jungennamen ausgesucht. Ich kam zwar als Mädchen auf die Welt, aber sie wollte unbedingt einen Sohn nach meinen beiden Schwestern, außerdem sei sie sich sicher gewesen, eine Mutter kenne das Geschlecht, sie habe diesmal einen spitzen Bauch gehabt und keinen breiten wie bei meinen Schwestern. Sie beschuldigte die Geburtshelfer, sie hätten mich im Krankenhaus vertauscht. Als sie auch nach vier Wochen nicht einlenken wollte, trug schließlich ein Amtsschimmel einen gebräuchlichen Mädchennamen in meine Geburtsurkunde ein, woraufhin meine Großmutter empört ihren eigenen Vornamen dazu reklamierte, auf den ich dann auch gegen den Willen meiner Mutter getauft wurde. Dabei hätten sie mir unbedingt auch den Andreas dazugeben sollen. Ich war zwar ein Mädchen, aber meine Eltern erzogen den Andreas in mir. Dem sah ich sogar eine Zeit lang ähnlich. Bis in die Pubertät war ich neidisch auf die Kleider und Röcke der anderen Mädchen. Heute allerdings bin ich dankbar, dass sie mir den Andreas ermöglicht hatten.

Und er machte sich prächtig auf meinem Firmenschild. Meine Großtante Klara, meine einzige Investorin, hatte mich von Andreas überzeugt. Sie sagte, eine Privatdetektivin Emma Erdling habe in diesem Geschäft keine Chance. Auch wenn das für meine Selbstdarstellung und die Soap in den sozialen Netzwerken unerheblich war – wer zahlt, darf eben auch mitreden. Das »von« hat mir mein bester Kumpel Armin eingeredet, der selbst ein »von« in seinem Namen trägt, das sein Vater eigentlich im Kampf für mehr Gleichheit abgelegt hatte und das Armin jetzt zurückhaben wollte. Er meinte, das sei die wertvollste Aktie in meinem Geschäft. Als Andreas Erdling würde ich in hundert Jahren keine Aufträge kriegen. Das wäre mir zwar egal gewesen, aber mit dem »von« bekam ich den Schriftzug sauber untereinander und erzielte eine wertigere Optik.

Mit akribisch geplanten Posts, in denen ich immer auch mir wichtige gesellschaftliche Anliegen einzubetten versuchte, gab ich die geschundene linke Detektivin, stets eine Weisheit von Marx auf den Lippen, im Einsatz für eine gerechtere Welt. Über mein Outfit lenkte ich die Aufmerksamkeit auf die drohende Gefahr, die ich zu bannen versuchte. Mit dieser Soap baute ich mir zwei Jahre lang eine riesige Audience auf. Ich machte mir damals wenig Sorgen, irgendwann einmal mit meiner Detektei ernst genommen und von einem echten Mandanten engagiert zu werden, und solange Klara mich finanziell unterstützte, hatte ich mehr Wirklichkeitssinn gar nicht nötig. Insgeheim hoffte ich darauf, dass ich für eine Kampagne irgendeines coolen jungen Modelabels angeheuert werden und mit meiner Soap in den Netzwerken richtiges Geld verdienen würde. Wenn ich daran denke, dass dieser ganze Wahnsinn, von dem ich euch jetzt erzähle, nur mit dem Shaft-Plakat, nein, eigentlich mit diesem scheißcoolen Ledermantel begonnen hat!

2 (Klara)

Logik muss immer dein Munitionslager der Vernunft sein

Klara war nicht nur meine großzügige Westberliner Großtante, sie war auch meine Schwellenhüterin, die dafür sorgen wollte, dass Logik und Vernunft die Grundfesten meiner geistigen Gesundheit blieben. Früher unterrichtete Prof. Dr. Klara Erdling an der Freien Universität Logik und Sprachphilosophie. Sie hatte sowieso immer recht. Vor allem, weil ihr logisches Denken einem absolut rationalen, will heißen, gefühllosen Geist entsprang, den ich nicht geerbt hatte. Seit zwei Jahren war sie bettlägerig, eine Pflegekraft sah mehrmals täglich nach ihr. Die kinderlose Witwe brauchte Gesellschaft, und ich brauchte finanzielle Unterstützung. Seit dem Tod meiner Eltern war sie meine einzige Familie weit und breit.

Mein Büro lag jetzt in einem der nobelsten Viertel Berlins, in der Grunewalder Koenigsallee, wo Klara vor Jahrzehnten im Erdgeschoss einer alten Villa zu einem lachhaft günstigen Preis eine Wohnung gekauft hatte, in deren vorderem Teil ich mein Büro einrichten durfte. Mein Arbeitstag begann mit dem Quietschen der Gartentür, das hier zum guten Ton gehörte und als Beweis für das »Eingeborensein« angeführt wurde. Überhaupt verzichteten die Leute auf zu viel Modernität. Wenn meine Schuhe morgens über den Steinplattenweg klapperten, der sich durch den Vorgarten schlängelte, dann fühlte ich mich im richtigen Film. Auch die Haustür und alle Zimmertüren quietschten. Das Parkett knarrte. Die Sitzmöbel waren mit einem knisternden Stoff bezogen. Die Tischdecken hatten Glöckchen am Saum. Klara war fast neunzig, sie konnte das Bett nur noch im Geist verlassen, und dieser Geist war anscheinend seit vierzig Jahren keinen Tag älter geworden. Worunter sie litt, durfte ich nicht wissen, sie ertrug kein Mitleid. Mit geschlossenen Augen konnte sie sehen, was sich in ihren Räumen abspielte. Nichts, was ich tat, blieb ihr verborgen.

Wenn ich morgens die Wohnung betrat, rief sie: »Bring Kaffee, du Graf!« Ihre Stimme klang sägend vom Kraftaufwand, den sie jedes Wort kostete. Es war die unterkühlte Stimme des gesunden Menschenverstands, der mein wohltemperiertes Universum ungemütlich machen konnte. Mindestens einmal pro Woche hörte ich: »Was machst du, wenn deine Spinnereien mal wahr werden, wenn du wirklich einen Fall bekommst?«

Ich nahm das inzwischen rhetorisch und sagte nur: »Meine Webseite hat 20 Besucher im Monat, Klara, 15 davon bin ich selbst.«

»Niemand hängt aus Jux so ein Schild an die Straße!«

»Das Schild interessiert doch niemanden. Dafür hab ich Zehntausende Follower, die mich am liebsten nackt sehen wollen. Und das Schild auf den Selfies ist Superpower, Klara. Ich brauch das.«

Natürlich hatte ich mir schon eine Szene zurechtgelegt, wie so ein erster Auftrag aussehen könnte. Ich setzte mich zu Klara, nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss an, sie hasste das. »Alles im grünen Bereich, Tantchen. Du weißt doch, dass ich weiß, wie mein erster Klient an die Tür klopfen wird. Eine Frau, die aussieht, als hätte sie viel zu verlieren, die verzweifelt ist. Emma wird in meinem Vorzimmer sitzen, damit sie das altbewährte, vertrauenstiftende und solide Firmenbild bedienen kann, und die Dame bitten, Platz zu nehmen. Dann wird sie ins Nebenzimmer verschwinden, ihre Bluse gegen ein Shirt und ein Sakko tauschen, ihr Haar streng nach hinten binden, ein paar Tropfen vom herben Eau de Toilette auf die Wangen reiben und durch die hintere Tür in mein Büro gehen. Andreas wird die Dame hereinbitten, und sie wird ihn in mir erkennen. Ungeschminkt könnte ich locker mein Bruder sein, da komme ich ganz nach dir. Sie wird sagen: ›Sie sind also der Profi, der meine Probleme lösen kann?‹ Dann zünde ich ihr die Zigarette an und sage: ›Sie wären nicht hier, wenn Sie daran Zweifel hätten. Welches Ihrer Probleme hat Sie denn zu mir geführt?‹ … Siehst du? Bin bestens vorbereitet.« Ich wollte aufstehen.

»Spinner!« Sie hielt meine Hand fest, ließ mich nicht gehen. Mit diesem Blick aus ihren blaugrauen Augen versuchte sie mich zu ernüchtern. »Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache. Warum schreibst du nicht Gedichte oder Romane?«

Ich stand auf und zwang mich zu einem Grinsen. »Dafür habe ich kein Sitzfleisch. Weißt du doch.« Ich tätschelte noch einmal ihre Hand und verließ den Raum.

Kaum saß ich an meinem Schreibtisch, zündete ich mir eine Zigarette an, drehte mich ein paar Mal im Bürosessel um die eigene Achse, öffnete mein Mailprogramm und vergewisserte mich, dass nichts Weltbewegendes auf mich wartete. Niemand hatte auf meine Annoncen reagiert. Blick aus dem Fenster. Die Straßen wie ausgestorben. Puh! Ich war safe!

Die Menschen schienen zu der Zeit keine handfesten Sorgen zu haben, kein echtes Leben mehr, in dem es Konsequenzen gab. Wegen Cybersex bist du vielleicht sauer, lässt aber niemanden beschatten. Das nannte ich Wohlstandsgesellschaft. Haben wir das nicht immer angestrebt? Ich mochte meine Routine, ich bildete mir ein, einen Traum zu leben, den ich über meine Netzwerke verbreiten und damit meine Audience unterhalten konnte. Ich war die Hauptfigur in den stabilen Gut-Böse-Achsen meiner Geschichte, die, wo sie nur konnte, gesellschaftspolitisch Position bezog und sich einbildete, so die Wirklichkeit für viele andere noch besser machen zu können.

Ich klickte auf den offenen Tab, der meine Profilseite anzeigte, und starrte auf meinen ungesendeten Post von gestern. Nein, eigentlich starrte ich innerlich auf mein Bauchgefühl, das meine Wahrnehmung in diesem Moment verwaschen hatte. Ich starrte auf das dumpfe Ziehen in der Leere und wusste nicht, was tun. Was war nur mit mir passiert?

»Was hat dir dieser Spinner am Kiosk heute wieder eingeredet?«, rief Klara aus dem Nebenzimmer.

Ich hörte, wie die Pflegekraft das Essen auf die Teller verteilte. Ein bittersüßer Geruch zog schon seit einigen Minuten durch die Wohnung. Es war offenbar gleich Punkt dreizehn Uhr. Wegen Klara hatte ich begonnen, gekochtes Gemüse zu essen. Ich profitierte von ihrer strengen Schonkostdiät, die mittags immerhin dreigängig war. Ihre Frage ersparte mir eine weitere Beschäftigung mit dem Schatten aus meinem Unbewussten. Ich verschob den Post einstweilen ins Archiv und leistete ihr wieder Gesellschaft.

Mit Spinner meinte sie Cosmo, einen Freund, der ein besonderes Antiquariat betrieb, an dem ich seit einem halben Jahr auf dem Weg hierher vorbeiging. Manchmal log ich mir irgendwas zusammen, weil ich keine Lust auf einen Streit mit ihr hatte. Es gab ja kaum etwas, das mit ihrer Auffassung von Logik vereinbar war. Aber mit den alten Griechen konnte sie immer etwas anfangen.

»Was zu Aristoteles.«

»Was von dem?«, fragte sie.

»Nach seiner peripatetischen Methode, Klara, verbindet sich ein Gedanke mit dem Ort, an dem er sich einem Menschen darstellt.«

»Na und?«

»Na ja, das heißt dann wohl, dass sich ein Gedanke an unterschiedlichen Orten unterschiedlich darstellen kann.«

»Wen juckt das schon.«

»Na, dich vielleicht? Nach dieser Lehre sind dein Geist und deine Gedanken quasi gefangen, weil der Geist mit deinem Körper im Bett liegen muss und nicht mehr umherwandeln kann. Deshalb kreist du gedanklich nur noch um dich selbst.«

Sie warf ihre Gabel nach mir.

Ich hatte sie gekränkt und wusste nicht, wie ich aus der Nummer wieder herauskommen sollte. Dann richtete sie den »Schweren Gustav« ihrer sprachphilosophischen Logik auf mich und feuerte Umkehrschlüsse und Bedeutungswechsel ab, bis sie müde wurde und einschlief.

Was an Kaiserschmarrn Schonkost sein sollte, wusste ich nicht, aber er lag wie eine angetaute Schneedecke in meinem Magen. Zwischen Versuchen, lautlos zu rülpsen, und Gähnanfällen loggte ich mich in die vergessene Cyberwelt Second Life ein. Ich lungerte dort gern bei Cosmos Cyber-Blumenladen herum. Zwar gab ich mich dort als Shaft zu erkennen, glaubte aber nicht, einen Klienten aufzutreiben. In abgeschriebenen Welten bleiben nur die robusten Typen zurück. Überall Underdogs, die ihre Probleme auf ihre Art lösen und erst erscheinen, wenn die Umgebung schon am Ausdörren ist.

Ab sechzehn Uhr schaute ich mir die populärsten Hashtags des Tages an. Ich suchte mir einen zur deutschen Teilnahme am Eurovision Song Contest aus und scrollte durch den Thread, um abzuschätzen, wie ich mich links davon zu verhalten hatte. Um siebzehn Uhr zwanzig herzte und repostete ich den ranghöchsten meinungsstärksten Post, teilte anschließend aber noch einen aus der gegnerischen Ecke, um ihn mit einem ironischen Zitat auf Englisch zu kommentieren: Opinion is the medium between knowledge and ignorance. Sanfte Gehässigkeit brachte mir immer die meisten Reaktionen. Menschen sehnen sich nach Aufwertung. Meinen Post von gestern löschte ich, fast unbewusst.

Punkt siebzehn Uhr dreißig gab es Tee, da hatte Klara unsere kleinen Streitereien vom Mittag schon vergessen. Und wenn gegen neunzehn Uhr die Nachtschicht des Pflegedienstes kam, war mein Arbeitstag zu Ende.

3 (Cosmo)

Deine Wirklichkeit hängt davon ab, wie du sie beobachtest

Cosmo betrieb das einzige Antiquariat, das sich in der Gegend meines Büros noch über Wasser halten konnte. Seit er alle möglichen magischen Rauchwaren über einen Blumenladen in Second Life versilberte, machte er endlich Umsatz. Jetzt hatte er ausreichend Krypto für ein ungewöhnliches Drucksachen-Sortiment: seltene internationale Fachmagazine und antiquarische Bücher und Zeitschriften der gefühlt letzten dreitausend Jahre europäischer Geistesgeschichte.

Als ich Cosmo vor einem halben Jahr zufällig auf der Straße begegnete, war ich verkatert von einer Party bei Armin am Abend zuvor und mein Bewusstsein noch erweitert von irgendeinem Wirkstoff, der dem Wein zugesetzt worden war. Kurz: Ich musste gefasst sein auf schräge Erscheinungen. Schon aus einiger Entfernung nahm ich Cosmo wahr, als hätte ihn jemand angeleuchtet und ausgestellt. Ein androgynes Wesen, nicht viel größer als ich, schritt mir in einem hautengen orangefarbenen Overall entgegen und fixierte mich dabei mit einem hypnotischen Blick, Augen wie nachtblaue Fenster, dasselbe Dunkelblau wie seine Turnschuhe. Mit seiner makellosen cappuccinofarbenen Haut und dem glatten Profil war er auf eine utopische Weise schön. Er lief wortlos an mir vorbei, um einige Meter hinter mir seinen Laden zu betreten. Ich folgte ihm nach ein paar Minuten, meine Immungene hatten sich wohl alles Mögliche zusammengerechnet. Im Laden empfing mich dann einer in weitem Hoodie, dessen Kapuze sein halbes Gesicht bedeckte. Erst dachte ich, da stünde so ein Nachahmer-Mönchsverschnitt aus Der Name der Rose, deshalb sprach ich ihn vorsichtshalber mit »Bruder« an und wollte gerade nach dem Typ von eben fragen, als ich bei näherem Hinsehen erkannte, dass er es selbst war. Schnell tippte ich auf den nächstbesten Buchrücken vor meiner Nase, einen Band tschetschenischer Lyrik eines gewissen Apti Bisultanov, und gab vor, mich dafür zu interessieren. Ich speicherte kein Wort von dem, was Cosmo mir über ihn erzählte. Ich schaute nur auf seine Zähne, seine Lippen und in seine Augen. Schließlich kaufte ich das Buch und arrangierte ein cooles Selfie, das ich mit »heute ein Tag ungewöhnlicher Ermittlungen« untertitelte.

Von da an ging ich täglich dort vorbei, weil ich den Laden gut als Kulisse verwerten konnte, vor der ich in Selfies und Clips für meine Audience gebildet und wichtig erschien und die auch super ankam. Ich blätterte mit ernster Miene in literaturwissenschaftlichen Fachmagazinen oder schlug demonstrativ einen alten Band über Zukunftstechnologien auf, in denen heute fossil anmutende stromlinienförmige Autos dieses trendige Gefühl von Morgen und Aufbruch vermittelten. Mit flüchtigem Blick zu Cosmo fragte ich routinemäßig: »Was liegt heute an, Bruder?«

»Was zum Einfluss der Akmeisten auf das kollektive Unbewusste am Beispiel lyrischer Codes in der Dichtung Zwetajewas.« So was in der Art kam dann. Er drückte mir immer das entsprechende Heft in die Hand.

»Genau die Sorte Information, die ich wollte«, murmelte ich betont beiläufig und stoppte die Aufnahme. Darunter textete ich für die Audience: »Handfeste Mitteilungen, mit denen sich jemand wie ich den Tag über angemessen beschäftigen kann.«

Diese surreale Sachlichkeit zwischen Cosmo und mir hielt uns auf Abstand, als hätte ich nicht ausreichend Schwerkraft zu bieten, um diesen schmalen Jüngling in meinen Orbit zu ziehen. Ich musste dann auch bald akzeptieren: Cosmo war asexuell, ein kühler Körper unter einem heißen Kopf, was ich intellektuell beruhigend, aber aus hormoneller Sicht enttäuschend fand. Er blieb mein Herold, der mir aus den abgelegensten Raumzeiten Botschaften überbrachte und (eine Absicht sah ich da noch nicht) mich allmählich zu verunsichern begann.

An einem Morgen war ich aus einem Traum aufgewacht, der ein Gefühl der totalen Verlassenheit in mir zurückließ und ein einziges Bild in meinem Bewusstsein abgelegt hatte: Mein nackter Hintern klemmte zwischen Abertausenden anderer nackter Hintern, die sich dicht aneinanderdrängten. Ich fror, denn es waren durchweg kalte Ärsche, Klamotten trugen wir alle nicht. Als ich die Augen aufschlug und vage Shafts Visage ausmachte, hätte ich mir wenigstens ein paar tröstende Worte von ihm gewünscht. Ich wartete an diesem Morgen nicht ab, bis die anderen aus meiner WG in den Tag verschwunden waren, ich brauchte Nähe und Wärme. So nackt, wie ich aus dem Bett aufstand, schlurfte ich in die Gemeinschaftsküche, um uns ein Frühstück zu machen, erntete aber bloß genervte Blicke. Sie flohen geradezu vor mir.

Als ich später am Tag in Cosmos Laden ankam, trug er keinen Hoodie, sondern wieder seinen hautengen orangefarbenen Overall. Er blickte mir vollmondig in die Augen, grinste mich an und ließ mir im nächsten Moment offenbar eine Art Stammgast-Gratulation angedeihen, mit Küsschen links-rechts-links.

»Mich interessiert dein Interesse, Schwester«, sagte er. »Wenn du willst, können wir uns auch mal über unsere Lektüren austauschen.«

»Klar«, sagte ich und wollte das natürlich rhetorisch verstanden haben.

»So hier, nach Ladenschluss.«

»Klar.« Und verstand, dass er das sachlich gemeint hatte.

Er überreichte mir zwei Erstausgaben eines deutschen Autors vom Beginn des 20. Jahrhunderts, dessen Namen ich noch nie gehört hatte.

Von dem Tag an betrat ich seinen Laden nicht mehr nur zur Tarnung. Ich fing an, ihm zuzuhören und tatsächlich zu lesen, was Cosmo mir empfahl. Hier öffneten sich mir Tore zu den unterschiedlichsten Raumzeiten, hier begann mein Aufstieg mit meinem Abstieg in die Tiefe, in die Schwerkraftfelder Cosmischer Materie. Und hätte er nicht unbedingt in größere Räume umziehen müssen, hätte ich bestimmt noch viel länger nichts bemerkt.

Eine Woche lang sollte sein Geschäft »wegen Umzug in die Münzstraße 11 geschlossen« bleiben. Keine Ahnung, wie er sich mit dem ganzen Kram in dieser kurzen Zeit neu einrichten wollte, aber der liebe Gott soll unsere Welt ja auch in nur sieben Tagen erschaffen haben. Zur Überbrückung hatte mir Cosmo am letzten Tag an der alten Adresse noch einen Karton mit Büchern in die Hand gedrückt, nachdem wir uns über Positionen von links und rechts in die Haare geraten waren. Er meinte, die Lektüre würde das Gespräch wieder in Schwung bringen. Darunter ein Band unbekannter Artikel von Marx und einer mit Erläuterungen zur Münchner Zeitgeschichte von 1919.

In dieser Woche lief ich trotzdem noch täglich am alten Laden vorbei, um davor mit der ledergebundenen Aufsatzsammlung von Marx Selfies zu machen. Ich positionierte mich so, dass meine Audience das Umzugsdatum und die neue Adresse neben mir sehen konnte. Ich wollte Werbung für Cosmo machen, aber in den Kommentaren ging es bloß darum, wie ich dabei rübergekommen war. Diese Reaktionen waren nicht neu, nur plötzlich nervten sie mich. Es sind immer die leisen Dämonen, die sich unbemerkt an einen Menschen heften, um zu der Haut zu werden, mit der du dann heil aus einer blöden Sache wieder herauskommen musst. Aber wenn du Glück hast, wenn du’s richtig anstellst, kämpfen diese Dämonen wenigstens an deiner Seite.

4 (Armin)

Sei vorsichtig, damit du beim Austreiben deines Dämons nicht das Beste in dir austreibst

Unsere Freundschaft verdankten wir unserer Armut, sie war im Grunde alles, was wir hatten und teilen konnten. Wir hatten uns vor einigen Jahren bei Shin’s Karaoke getroffen, wo ein Schnaps nur einen Euro kostete und du ab drei Schnäpsen ein koreanisches Liebeslied nachsingen musstest. Damals versuchte ich mich noch als Studentin und er sich als Schlagersänger. Ich wollte schlau werden und er reich. Als ich damals die Kneipe betrat, sang er gerade eine Schnulze auf Deutsch, die er selbst komponiert hatte. Fünf, sechs Euro hatte er da aber mit Sicherheit schon in Hochprozentigen investiert. Ich fand (und sagte es ihm irgendwann auch), dass diesem Goldjungen, wie er sich als zukünftige Schlagerlegende nennen wollte, für eine entsprechende Karriere definitiv die Optik fehlte: Armin von Grumbach hatte eine hohe Stirn, spärliches, fusseliges Haar und mit seinen spargeligen zwei Metern und dunklen Augenrändern einen beunruhigenden Heroin-Chic. Er kam mir vor wie jemand, der den Tag mit Grübeln und Zweifeln verbrachte und seine Gedanken gerne in Daktylen und Trochäen fassen wollte. So jemand kann einem den Sonntagsbraten versalzen. Diese Armut sei seiner unwürdig, meinte er. Das »von« hatte er da gerade wieder, noch ungenehmigt, vor seinen Familiennamen geschoben, er wollte es zurück, dafür brauchte er viel Schotter. Er hasste seinen Vater, dessen Idealismus schuld sei an dieser »linken Armut« seiner Familie, wie Armin sie nannte. Für Armin waren alle Linken arm und alle Armen links, er litt unter dem Schwerkraftverlust, der ihn das Gefühl der Erhabenheit gekostet und ihn zur Machtlosigkeit, zum Spielball der Plutarchie degradiert hatte, von der er selbst so viel verstand und an die er so fest glaubte.

Diesen Abend hatte ich ihm versprochen. Er wohnte in einer Musiker-WG, die vor zwei Jahren in einem Gewerbehaus im Süden der Stadt eine Etage gemietet hatte. Nachdem die Nachtschicht des Pflegedienstes am Abend bei Klara eingetroffen war und ich das Büro verlassen konnte, um mich auf den Weg zu Armin zu machen, fühlte ich mich auf einmal nicht mehr im richtigen Film. Wieder bemerkte ich diese Unbestimmtheit im Magen, die sich jetzt noch mit einem Gefühl der Schwermut solidarisierte. Wo hatte ich meine Leichtigkeit, meinen lässigen Shaft-Schritt gelassen? Ich zog mir den Ledermantel über, aber fühlte mich darin wie das Opfer einer molekularen Störung, eines Terrors der Erdanziehung, von irgendetwas … Übermächtigem. Bei Einbruch der Dunkelheit mutiert meine Wirklichkeit normalerweise zur Lichtershow, vor meinen Augen verschwimmen die Konturen. So verlor ich regelmäßig die Kontrolle und redete mir ein, die Nacht habe die Führung übernommen. Ich lieferte mich ihr aus, fand das geil und kosmisch und wusste nie, was sie mit mir anstellen würde. Aber an diesem Abend sah ich plötzlich trotz oder wegen aller Verschwommenheit im Magen scharf, die Schatten in den Gesichtern unter den Stadtlichtern schnitten asymmetrisch in die dunklen Visagen. Alle sahen krank aus, abgefuckt, entlaufen und getürmt. Auch ohne meine Brille, es half nicht.

Ich nahm den Bus, stieg aber auf halber Strecke bei Shin’s Karaoke wieder aus. So nüchtern wollte ich bei Armin nicht aufkreuzen. Das hätte ich nicht durchgestanden. Zwei Euro hatte ich heute Morgen im Geldbeutel gefunden, zu wenig für eine herkömmliche Kneipe. Zum Glück vertrage ich nur wenig Alkohol, schon nach einem Schnaps ist »jakku nuni gane hayan geu eolgure« kein Ding mehr für mich. »Meine Augen hingen an diesem weißen Gesicht« stand auf dem Bildschirm in deutscher Übersetzung. Meine Augen hofften, niemanden zwischen den Gesichtern im Lokal zu erkennen. Immerhin hatte eine Unschärfe meine Welt endlich wieder an sich gerissen, ich war locker. Ich konnte weiter.

Armins Etage lag unterm Dach des Gebäudes. Noch auf der Straße erreichten mich die Latin-Akkorde, die er seit neuestem übte, durch ein geöffnetes Fenster. Die Etagen darunter schliefen, waren Büros. Erst ab acht Uhr abends durften sie spielen, bis acht Uhr morgens. Tagsüber Nachtruhe. Kaum hatte ich den Fahrstuhl betreten und auf den Knopf mit der Acht gedrückt, fragte ich mich, warum ich mir Abende mit Armin noch antat. Wie immer reichte die Zeit gerade für drei Gedanken: Er war mir fremd und vertraut zugleich. Ich gefiel mir darin, heimlich mit jemandem wie ihm abzuhängen. Ich genoss dabei meine eigene Großzügigkeit.

Als ich in die Wohnung kam, rannte eine Zweijährige mit Trommelstöcken auf mich zu und haute mir damit zur Begrüßung aufs Schienbein. Die Enthemmung durch meinen Schwips war nicht hilfreich. Ich hob die Kleine hoch und blickte ihr ernst in die Augen. »So solltest du Fremde nicht begrüßen. Wenn ich ein Alien wäre, hätte ich dich mit meinem Röntgenblick vernichten können.«

»Spinnst du?« Armin kroch hinter einer großen Trommel hervor. »Hanna versteht’s halt noch nicht!« Er nahm ihr die Schlägel aus der Hand. Er hörte sich schon an wie der Spießer, der er einmal werden wollte. Natürlich hatte er recht.

Ich ließ Hanna runter und strich ihr lieb übers Haar. Fremde, Alien, Röntgenblick oder vernichten waren doch bedeutungslose Silbenketten in dem Alter! »Wollten wir nicht kochen und reden?«

Armin hatte spontan zugesagt, auf die Tochter eines Freundes aufzupassen, der eine Spätschicht als Portier übernehmen musste. Hanna griff sich zwei Löffel, stürmte damit durchs Tonstudio und knallte sie gegen alles, was metallisch glänzte. Wir schmierten Brote und wussten nicht, wie wir sie davon abbringen sollten. Immerhin hemmte Hanna Armins üblichen Redeschwall, er sorgte sich um die Ausrüstung, die ihr auf den Kopf fallen könnte. Mit Taschenlampen und Decken gingen wir schließlich mit ihr auf den gegenüberliegenden Tierfriedhof und machten neben Pony Freddy und Kater Blitz ein Abendpicknick, während Armin in seinen stark verschachtelten Sätzen Graf Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Vision als pseudolinke Verschwörung verunglimpfte. Durch fremdes Blut vermansche er die europäischen Völker nur zu einem Einheitsbrei und vernichte die Vielfalt, anstatt sie zu fördern.

Ich hatte vor einigen Jahren aufgehört, auf seine Theorien emotional zu reagieren, und meinte bloß: »Armin, du spuckst.«

Hanna lachte deswegen wie verrückt, ihr Brot krümelte aus dem Mund auf den Pullover. »Außerdem verwechselst du kulturelle Vielfalt mit völkischer. Volk hat mit Blut nichts zu tun.«

»Ja, sicherlich hat Blut nichts damit zu tun! Das war ein metaphorischer Kommentar im Stil des 19. Jahrhunderts. Kalergi hatte eine Vision: Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein.« Armin sammelte die Krumen von Hannas Pullover.

»Der Mensch war schon immer Mischling, das ist evolutionäre Logik und keine Vision.«

»Du nervst! Du kennst mich doch inzwischen! Kannst du nicht mal kontextbezogen denken? Das wusste damals niemand. Genomics war noch keine Leitwissenschaft.«

»Ach so, das jetzt wieder, sorry.« Damit Armin sich entspannen konnte, drehte ich uns einen Joint. »Es fällt mir leichter, mich in einen Primaten hineinzuversetzen«, murmelte ich eher beiläufig.

»Du bist schon derart von dieser pseudolinken Sprach-Ideologie vereinnahmt, dass du nur noch reflexartig reagieren und nicht mehr selbst denken kannst! Du bist total verkrampft.«

»Ach, und du orthodoxer Plutarch rennst nicht bloß deinen kaputten Träumen hinterher?« Ich leckte am Zigarettenpapier und starrte ihn an. »Kann es sein, dass wir beide gerade so am Arsch sind, weil wir irgendwie nicht ins 21. Jahrhundert passen wollen?« Mit solchen rhetorischen Dämmen versuchte ich immer, seine Sermone zu bremsen. Die Flamme des Feuerzeugs hätte mir fast die Nasenspitze angesengt.

Armin grinste. »Irgendwie sind wir uns doch einig.«

Für einen Moment hatte ich Schiss, er könnte versuchen, mich zu küssen. Ich nahm einen tiefen Zug vom Joint und hielt ihn auf Abstand. Geschlagene dreißig Sekunden peinliche Stille. Auch Hanna kaute leise vor sich hin.

»Was passiert eigentlich, wenn du dein ›von‹ wiederhast?« Auf diesen drei Buchstaben, wie auf einem Gewinner-Treppchen stehend, konnte der Wind sich jedenfalls besser in Armins dünnem Haar verfangen. Ich reichte ihm den Joint und pustete ihm Rauch ins Gesicht. Der Joint war zwar lang, aber nicht unendlich. Ich gähnte, weil ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte. Damals, bei Shin, hatte mir Armins altmodische Normalität imponiert, um die er zu kämpfen schien. Nur kam meine Sympathie wohl eher aus inaktiven Bereichen meines Bewusstseins. Wir hatten sogar gevögelt, ein einziges Mal. Für mich war es bloß die Gelegenheit, die sich aus einer nächtlichen Begegnung ergab, für ihn blöderweise mehr. Wir klärten das bald mit Sätzen wie: Ich liebe dich als Freund, oder: Du bist mir zu wichtig für eine schnöde Beziehung. Mit solchen Ausdrücken nahmen wir eine Abkürzung in die sexfreie Kumpelphase, die, wenn es gut gelaufen ist, sowieso am Ende der meisten Beziehungen wartet. Ich mochte Armin, weil ich mich neben seiner offensichtlichen Miserabilität überlegen fühlte, in dem Glauben, meine eigene ein wenig zum Glänzen zu bringen. Ich mochte ihn wie einen Teddybären, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, doch vor allem mochte ich ihn, weil ich einen Teil von mir in ihm wiedererkannte und froh war, dass ich ihn dort erleben durfte und nicht an mir selbst ertragen musste.

Hanna begann zu quengeln, dann weinte sie los wie eine Warnanlage und stapfte mit den Füßen auf. Ich reichte Armin den Stummel und nahm das müde Mädchen auf den Schoß, dabei fiel die Thermoskanne um, und der Tee verwandelte den Boden vor uns in einen Minisumpf. Bevor Armin deswegen meckern konnte, klatschte ich meine Hand in den Matsch und malte mir damit Striche ins Gesicht. Jetzt hatte die Kleine eine kreative Ablenkung, und wir mussten unser Gespräch fortsetzen.

»Erscheint es dir plausibel«, begann er wieder, »dass einfache Bauern einen Teil ihres erarbeiteten Lohns freiwillig und aus eigenem Antrieb in die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft investiert hätten?«

Zum Glück begann da Hanna wieder zu wimmern und schlug mit den Händen gegen meine Brust. Ich nahm Armin den Joint wieder ab und zog ein letztes Mal daran. Das Gespräch verlief in den gewohnten Bahnen, aber vergleichsweise milde. Ich war matt vom Gras und hatte keine Lust auf weitere Ausflüge in deutsche Geschichte. Ohne viel nachzudenken, steckte ich Hanna den ausgegangenen Stummel in den Mund. Da war sie plötzlich ruhig.

Armin schüttelte den Kopf. »Dein Gesicht ist voller Modder«, meinte er nur.

Ja, Matsch vom Ponygrab, der schon um den Mund herum getrocknet war. Armin fotografierte uns: mich mit Schlammmaske und zwangsweise ernster Miene und Hanna lachend mit Kippe auf der Lippe.

»Würdest du mich zu einem Empfang nächste Woche begleiten?«

Jetzt verstand ich, warum er sich an dem Abend so viel versöhnlicher gab als sonst. Er brauchte eine Braut mit Potential, die ein Büro im nobelsten Viertel der Stadt hatte. Um seinen Adelstitel zurückzukaufen, fehlte ihm Kapital. Nun suchte er Koalitionäre aus der alten Seilschaft, mit der seine Familie vor langer Zeit verbunden gewesen war, auch weil sein Vater nicht mehr mit ihm sprach. Und ich war die optische Täuschung.

5 (Ich)

Erst die Trümmer gaben meinen Blick frei auf die Sterne

Eine ungeschriebene Dreier-Regel für Social-Media-Werktätige lautet: Poste nie, wenn du besoffen und/oder bekifft und/oder todmüde bist. Im Bus in Richtung meines Bettes lud ich das Schönste der Matsch-Fotos von mir und Hanna hoch. Darunter textete ich in 55 unschuldigen Zeichen: Emma, nein, Andreas, nein, Shaft und Assistentin sind Tag und Nacht bei der Arbeit. Ich fand’s lustig. Sonst verkniff ich mir den Shaft, aber optisch schien er hier besser zu passen. Hanna sah cool aus, ich sah mit Matschgesicht in meinem Mantel cool aus, ein fröhliches Foto als Abendgruß für meine Audience.

Endlich im Bett, wollte ich gerade meine Brille auf dem Bücherstapel ablegen und das Licht ausmachen, als ich aus lauter Eitelkeit mein oberstes Prinzip missachtete, das mir verbot, vor dem Einschlafen einen Blick auf meine Netzwerkseiten zu werfen. Heute nenne ich diesen Moment den Untergang meiner ersten Welt, denn mit nur 55 Zeichen hatte ich meine virtuelle Existenz vernichtet. Anstelle der üblichen Herzchen und Likes brach ein Tsunami aus Hass, Vorwürfen, Erniedrigungen und Drohungen über mich herein, aber nicht, weil die kleine Hanna einen Joint im Mund hatte, das war in der Tat unverantwortlich von mir gewesen, sondern weil ich mich des Blackfacings schuldig gemacht hatte und damit auch noch einen Sexisten wie Shaft darstellen wollte. Den Post zu löschen, brachte nichts mehr, weil er bereits tausendfach geteilt worden war. Ich scrollte durch die Kommentare, niemand war auf meiner Seite. Ich hatte keine Ahnung, wer meine Audience war. Wie hatte ich es geschafft, so lange ohne Shitstorm zu überleben?

Die Nacht über versuchte ich durch Beschwichtigungen, Entschuldigungen und Aufklärung zu retten, was nicht mehr zu retten war. Mit dem dritten Schlag der Wohnungstür, als die letzte Mitbewohnerin in den Tag startete, hatte ich den Großteil meiner Follower verloren. Ich lag auf dem Rücken und starrte in Shafts Visage. Seine Wirklichkeit war meine Wirklichkeit, sein Lebensgefühl war meins gewesen. Als wäre ich bisher durch die Zeiten gerutscht. Für meine Audience war ich nun gestorben. So wie Shaft für seine. Emma und Andreas von Erdling trieben haltlos im Universum, doch davon wusste die nichtvirtuelle Welt nichts. Nur meine Welt war kleiner geworden. Oder größer? Oder einfach anders? Meine Transformation hatte jedenfalls begonnen.

Ich musste kurz eingeschlafen sein, als Klara mich anrief und fragte, wo ich bliebe. »Ich bin krank, Klara. Ich glaube, ich muss heute im Bett bleiben.«

»Krank sein kannst du auch hier. Wir sehen uns zum Kaffee.« Sie legte auf. Diese mitleidlose Muhme!

Den Mantel ließ ich zu Hause. Das erste Mal seit 730 Tagen. Ich kreuzte in Jogginghose und Hoodie auf, was Klara fast die Sprache verschlug. Ich sagte an dem Tag keine zehn Worte. Der Kaffee schmeckte sauer vom Selbstmitleid, aber ich verkniff mir jede Erklärung. Auf keinen Fall sollte meine Großtante von dieser peinlichen Wendung erfahren. Sie könnte den letzten Funken Glauben an mich verlieren und mir den Geldhahn zudrehen. Klara schlürfte ihren Kaffee und starrte mich an. So still war es hier wohl seit zwei Jahren nicht mehr gewesen.

Am Schreibtisch legte ich die Arme übereinander und stützte meinen bleiernen Kopf darauf ab. Schlafen konnte ich nicht, nur träumen mit offenen Augen. Ich dachte an Staub, einfach nur an Staub. So glanzlos und gedemütigt kam ich mir vor. Erste Entzugserscheinungen machten sich als Reflexe bemerkbar, die mich im Abstand von Minuten nach dem Smartphone greifen ließen. Eine leichte Depression äußerte sich in den Gedankenschleifen, in denen ich diesen verdammten Moment im Bus analysierte. Mein Tagesablauf war sinnlos geworden, ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Bis gestern war ich noch auf der guten Seite, sah mich als Vorbild für progressive Kräfte.

»Macht heute nicht dieser Spinner vom Kiosk seinen neuen Laden auf?«, krächzte Klara plötzlich aus dem Schlafzimmer.

Mit einem Satz stand ich neben ihrem Bett. Sie sah mir an, dass ich Cosmos Neueröffnung vergessen hatte. »Steht er auf diesen …«, ihre Mundwinkel hoben sich leicht, »Fummel, den du da am Körper trägst?«

Ich seufzte. Mein Outfit, das seit einer Woche auf der Kommode bereitlag, hatte ich zu Hause vergessen. Klara bat mich, ihren Kleiderschrank zu öffnen. Mein Das-ist-jetzt-nicht-dein-Ernst-Blick bezog sich nicht auf ihre Garderobe, sondern auf die Hoffnung, dass sie mir etwas aus ihrem Vintage-Koffer anbieten könnte, den sie hinter den Mützen versteckte. Doch prinzipiell war klar: Bei dieser Eröffnung konnte ich auch meinen stinkenden Hoodie tragen, denn Cosmo war egal, wie ich aussah, ich konnte als Andreas oder Emma oder sogar als Shaft teilnehmen, solange ich nur geistreich und wortgewandt war. Trotzdem wählte ich ein Kostüm von Klaras Mutter, das sie in den 1920ern oder 1930ern getragen haben muss. Ein weißes Hemd mit Krawatte, dazu Rock und Sakko in bescheidenem, leicht glänzendem Anthrazit. In der rechten Tasche fand ich ein paar alte Geldscheine. Meine Haare kämmte ich mit Gel streng nach hinten und verbarg sie in einem Zopf. Ich war ungeschminkt, trug weder Schmuck noch Seidenstrümpfe. Statt einer Handtasche wählte ich die ledergebundene Aufsatzsammlung von Marx, in der ich bislang nur geblättert hatte. Das Bändchen über Münchner Zeitgeschichte von 1919 quetschte ich so in meine linke Brusttasche, dass der Titel noch lesbar war. Klara machte sehr schöne Fotos von mir. Nur wusste ich nicht, wo ich die hätte veröffentlichen sollen. Sie sagte, die Zeitreisende, die ich jetzt war, hätte ihre Mutter sein können. Sogar etwas Taschengeld spendierte sie mir noch.

6 (Cosmo)

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur ein hartnäckiger Eindruck

Auf dem Weg in die Münzstraße 11 textete mir Armin, dass er sich gestern erkältet habe und nicht zur Eröffnung kommen könne. Ich schickte ihm daraufhin stolz eines von Klaras Fotos. Und er darauf: »Alles klar! Die intellektuelle Linke im Einsatz. Kann ich für unseren Empfang vielleicht um Haute Couture und weniger Proletarierchic bitten?« Die Nachricht kränkte mich, weil er nicht, wie er vom Rest der Welt verlangte, kontextbezogen denken wollte. Ich antwortete ihm: »FCK YOU«. Natürlich wollte er sofort weiterdiskutieren, aber ich blockierte ihn für eine Weile und vertiefte mich bis zur Ankunft in meine Lektüre.

Cosmos neuer Laden lag in einem Plattenbau. Unten auf der Straße drückte mir jemand einen Flyer in die Hand. Die sieben Ausgänge, las ich da, die das ursprüngliche Gebäude vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg hatte, sind noch in der Grundstruktur erhalten, wenngleich sie eigentlich nicht mehr existieren. Was bedeutet das für mich als Orientierungsnull?, fragte ich mich, als ich die Treppe in den ersten Stock hochstieg. Den Eingang zum Laden fand ich ohne Probleme. Vielleicht einhundert Menschen verbreiteten leises Gemurmel auf der riesigen Fläche. Die Decke hatte Cosmo mit Spiegeln verkleidet, damit der Raum höher wirkte und eine Halle simulierte. Er war ein geschmeidiger Gastgeber, der wusste, wie er Menschen interessierte, aber nicht überforderte. Im Gegensatz zu Armin dozierte er nicht ununterbrochen oder gab seine Ansichten ungefragt preis, er war aufmerksam und antwortete, egal zu welchem Thema, in knappen, klugen Kommentaren, als wäre er dieser weise alte Ozean aus Solaris, der uns endlich erhört hatte.

Zuerst stand ich etwas verloren herum, Cosmo war im Gespräch mit ein paar Gästen und hatte mich noch nicht bemerkt. Ich griff nach einem Glas Wasser und schlenderte die Regale entlang. Selfies oder Clips verkniff ich mir. Wozu auch? Wer wollte die noch sehen? Nach einem dritten Rundgang durch den Laden stellte ich mich neben Cosmo. Ich erwartete nicht, dass er mich vorstellte, hoffte aber, vielleicht über ihn mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Leider hatte ich nichts zu frühen Raketenantriebsentwürfen von einem Hermann Oberth oder einem Hermann Noordung gelesen. Die Originalausgaben mit ausgeklappten technischen Zeichnungen aus den 1920ern schienen Cosmos Gesprächspartner derart zu begeistern, dass keiner von ihnen mein Erscheinen wahrgenommen hatte. Ich fürchtete sogar, dass mein Outfit zu überzeugend sein könnte und mich die nach ihrer Zeit riechenden Bücher vollständig in eine Zeitkapsel einhüllen würden. Als einer der beiden Gäste den Mantel auszog, dachte ich, er wollte ihn gleich über meinen Kopf werfen. So authentisch aus den 1920ern musste ich ihm erscheinen, dass ich Gefahr lief, mit einer Kleiderpuppe verwechselt zu werden. Allerdings legte er sich seinen Mantel dann doch nur über den Unterarm. Mit einem freundlichen Lächeln sagte er zu mir: »Die Emporhebung einer solchen Feuerwerksrakete erfolgt durch eine mitgeführte Pulverladung, auch Treibsatz genannt.«

Unbeholfen hielt ich ihm mein leicht geschundenes Buch vor die Nase und entgegnete: »Unbekannte Artikel von Marx«, woraufhin er mich ungläubig anblickte, sich aber leider kein Gespräch entspann. Cosmo legte mir eine Hand in den Nacken und wendete seinen Blick wieder den beiden Gästen zu, wohl um das Gespräch noch zum Geschäft zu machen. Er nickte und ergänzte: »Nun, eine Rakete, die als Fahrzeug für den Weltraum dienen soll, würde allerdings wesentlich anders aussehen müssen als eine einfache Feuerwerksrakete.«

Mein Leben hatte bis dahin mehrheitlich aus Selbstgesprächen, Small Talk auf Partys oder Posts mit begrenzter Zeichenanzahl bestanden, ich hatte keine Ahnung, wie ich mit solchen Bücherwürmern ein Gespräch anfangen sollte. Die meisten von denen waren derart spezialisiert und in von mir noch unentdeckten Raum-Zeit-Kontinuen ansässig, dass sie, nach ihrer kleinkindlichen Faszination für Raketen-Bücher zu urteilen, womöglich noch nicht auf dem Schirm hatten, dass die bemannte Raumfahrt keine Theorie mehr war. Aber was wusste ich schon? Nachgeprüft hatte ich die Fakten schließlich nicht. Nur Bilder gesehen und Berichte gelesen. Informationen aus zweiter Hand. Noch hatte ich nicht selbst in einem Raumschiff gesessen und mich vergewissert, dass es abheben und mich heil in den Orbit befördern konnte. Selbst Cosmo schien nicht die Absicht zu haben, die Herren, die auch äußerlich irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein schienen, über den aktuellen Stand der Raumfahrttechnik zu unterrichten. Er sprach mit ihnen, als wäre er in ihre Zeitkapsel gestiegen. Im Fachgebiet des kontextbezogenen Denkens hatte ich ja nun meinen ersten Seminarschein erworben. Ich hatte erlebt, wie sich ein erwachsener Mensch den Geistesströmungen der Gegenwart verwehren und in anderen Zeiträumen und Zusammenhängen existieren konnte, aber trotzdem hier und heute sichtbar wurde.

Als die Herren schließlich mit fünf Büchern zur Kasse gingen, drehte Cosmo sich plötzlich zu mir. Er blickte mich an, als erwartete er Text von mir. Ich nahm den Laden in Augenschein und sagte: »Das sind heilige Hallen, Bruder. Herzlichen Glückwunsch!«

»Kommst du voran mit der Lektüre?«

»Habe mir gerade diese beiden Bände vorgenommen.«

Er nickte. »Und?«

»Alles cool bislang.«

»Echt jetzt?«

Ich meine, wo Marx draufsteht, sollte er auch drin sein. Alles, was mir in dem Moment dazu einfiel, war ein Zitat, das ich neulich noch von einer Zitate-Webseite kopiert und mir über den Schreibtisch geklebt hatte: »Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.« Er sollte nicht denken, dass Marx nur ein cooles Label für mich war. Immerhin hatte ich mit ihm quasi in der Wiege gelegen.

»Der Mensch hätte ohne seine Illusionen kein Zuhause«, sagte Cosmo mit dem Blick von Winnetou. »Bist du sicher, dass du in den Band schon reingelesen hast?«

Keine Ahnung, was da drinstand, aber er hatte mich durchschaut. »Ich fange gerade erst an, bin noch nicht weit gekommen.« Cosmo war nicht Armin, auf keinen Fall wollte ich ungereimten Blödsinn erzählen. Außerdem sorgte der Schlafmangel von letzter Nacht dafür, dass ich mich wie ein tonnenschweres Nilpferd fühlte. Ich wollte den Abend nicht in die Länge ziehen. »Danke für die Leihgabe.«

Seine Miene irritierte mich. Er wirkte unschlüssig, als hätte er bereits eine Ahnung von dem, was mir anschließend passieren würde. Ich strich ihm über den Oberarm und verabschiedete mich, auch weil andere Gäste das Gespräch mit ihm suchten. Während ich mein Glas leerte, sah ich, dass einige der Anwesenden sogar Schriften kauften, die sie schon fast ausgelesen hatten. Glücklicherweise hatte ich mich nicht meinem Selbstmitleid überlassen und mich extra nicht betrunken. Ich war bei allem, was anschließend passierte, bei vollem Bewusstsein.

7 (Marx)

Ich bin kein Marxist

(Schmidt)

Unser tüchtiger Hitler hier ist im Grunde Marxist

Ich verließ Cosmos Laden und lief gedankenverloren den Flur entlang, bog ab und öffnete einige Türen in der Annahme, gleich auf die Treppe zu stoßen, die nach unten zum Ausgang führte. Doch bald hatte ich das Gefühl, im falschen Korridor zu sein, der Weg zog sich seltsam lange hin. Ich drehte um und wollte wieder zurück zum Laden, um mich noch einmal neu zu orientieren, denn es war typisch für mich, dass ich erst eine Weile in die falsche Richtung lief. Entweder hatte ich vergessen, nach einer Zwischentür abzubiegen, oder ich hätte gar nicht erst durch eine dieser Türen gehen sollen. Ich konnte mich auch nicht erinnern, vorhin durch eine gegangen zu sein. Der Korridor führte jedenfalls nicht zurück zum Laden, den konnte ich einfach nicht mehr finden, auch weil plötzlich so eine verdammte Stille herrschte. Ich versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das aufkommende Panikgefühl war albern und eines von Erdlings nicht würdig. Es musste eine einfache und logische Erklärung für das alles geben. Wahrscheinlich war ich unvorsichtigerweise ins Nebengebäude geraten. Ich lehnte mich an die Wand und rutschte auf den Boden, um nachzudenken. Links und rechts von mir waren Türen, so weit, so gut. Dann ging das Licht aus. Dieser feuchte Kohleofengeruch war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Für einen Neubau erschien er mir ungewöhnlich. Ratlos saß ich im Dunkeln, ganz allmählich verstärkte sich ein Lärm hinter der Wohnungstür schräg gegenüber. Jemand öffnete sie von innen. Ich sprang hoch. Er ignorierte mich und verschwand im Dunkeln. Im letzten Moment konnte ich die Tür davon abhalten, ins Schloss zu fallen. Spärlich beleuchtet und vom Zigarrenrauch verqualmt, drängten sich Menschen eng aneinander, sie jubelten, klatschten, schrien. Mehrheitlich Männer, teilweise in miserable Lumpen gekleidet, einige einbeinig oder einarmig, dass ich sofort daran denken musste, wie wenig Armin von Proletarierchic verstand.

»Jeder Tyrann wird von einem Juden unterstützt«, tönte eine sonore Männerstimme, »ebenso wie jeder Papst von einem Jesuiten.«

Die Leute klatschten. Offenbar war ich in die Versammlung einer rechtsradikalen Zelle gestolpert. Ich wollte herausfinden, wer da sprach, quetschte mich durch die Menge und tastete nach meinem Handy, um Beweisfotos zu machen. Ich reckte den Kopf und schob mich so lange nach vorn, bis ich das Hetzschwein endlich sehen konnte. Da stand Marx! Zumindest sah er den Bildern, die ich von ihm im Kopf hatte, verdammt ähnlich.

»Nehmen wir zum Beispiel Amsterdam, eine Stadt, die viele der schlimmsten Nachkommen der Juden beherbergt, die von Ferdinand und Isabella aus Spanien vertrieben wurden und die, nachdem sie sich eine Weile in Portugal aufgehalten hatten, auch von dort vertrieben wurden und schließlich einen Rückzugsort in Holland fanden …«

Ich starrte diesen Mann ungläubig an, den ich bis eben noch vorbehaltlos als moralisch überlegenen Gottvater verehrt und bestimmt dreimal wöchentlich auf meiner Netzwerkseite zitiert hatte.

»Hier und da und überall, wo ein wenig Kapital investiert wird, findet sich immer einer dieser kleinen Juden, der bereit ist, einen kleinen Vorschlag zu machen oder ein kleines Darlehen zu gewähren.«

Plötzlich erinnerte ich mich an Cosmos Gesichtsausdruck eben beim Abschied. Okay, hier wollte er wohl meine Welt verrühren. Links und rechts durcheinanderbringen.

»… Diese kleinen jüdischen Agenten beziehen ihre Vorräte aus den großen jüdischen Häusern … und üben eine große vorgebliche Hingabe an die Religion ihrer Rasse.«

Ich wünschte, Armin wäre jetzt hier, seinen Sermon dazu hätte ich wirklich gerne gehört. Konnte ich hier kontextbezogen irgendetwas zu Marx’ Verteidigung vorbringen? Schmälerte diese Erfahrung sein Genie in meinen Augen? Um ehrlich zu sein, hatte ich in letzter Zeit wenig Übung in der Auseinandersetzung mit unliebsamen Fakten, so was Krasses zappte ich weg und Schluss! Warum sollte ich mir das weiter antun? Also beschloss ich, dem Ereignis einfach auszuweichen, bis mir jemand sagen konnte, wie ich das beurteilen sollte. Dieser Marx hier hatte jedenfalls nicht in meiner Wiege gelegen. Ich floh regelrecht, drängelte mich mithilfe rabiater Ellenbogenstöße aus der Menschenmasse und verließ die Wohnung.

Ich lehnte mich wieder an die Wand und rutschte auf den Boden, um nachzudenken. Das Licht verlöschte. Ratlos saß ich im Dunkeln, bis gleich darauf hinter der Tür links am Ende des Korridors Licht anging. Jemand stand dort! Ich konnte die Schatten seiner Schuhe erkennen. Ich erhob mich, ging die paar Schritte und öffnete die Tür. Ein Mann mit Mütze in schäbigem Sakko zu geflickter Hose blickte mich an.

»Bringst du mir endlich die Sore?«, fragte er mich in bayerischem Dialekt.