Erdsee - Ursula K. Le Guin - E-Book
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Erdsee E-Book

Ursula K. Le Guin

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Beschreibung

Erdsee – die klassische Trilogie in vollständiger Neuübersetzung Auf einem Eiland der Inselwelt Erdsee lebt der junge Ged. Von allen nur Sperber gerufen, führt er ein einfaches Leben als Sohn eines Bronzeschmieds. Erst als brutale Räuberhorden sein Dorf überfallen, entdeckt er, dass er über geheimnisvolle, übernatürliche Fähigkeiten verfügt. Es gelingt Ged mit Hilfe der Magie, die Banditen abzuwehren, und fortan ist nichts mehr, wie es war. Sperber wird Lehrling an der berühmten Zauberschule von Rok und stellt dort seine Fähigkeiten unter Beweis: Er beschwört die Mächte der Schatten und schafft eine Verbindung zum Totenreich. Dabei erfährt er, dass ein Riss durch dieses Reich geht, der die Welt der Lebenden zu verschlingen droht. Gemeinsam mit der wiedergeborenen Hohepriesterin Tenar stellt sich Ged einem scheinbar aussichtslosen Kampf um die Rettung von Erdsee ... Enthält: ›Ein Magier von Erdsee‹, ›Die Gräber von Atuan‹, ›Das fernste Ufer‹ Für alle LeserInnen von J.R.R. Tolkien, Tad Williams und J. K. Rowling »Absolut brillant – einer der Meilensteine der modernen Fantasy!« Patrick Rothfuss

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Seitenzahl: 967

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Ursula K. Le Guin

Erdsee

Die erste Trilogie

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Nölle

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Erdsee – die klassische Trilogie in vollständiger Neuübersetzung

 

Auf einem Eiland der Inselwelt Erdsee lebt der junge Ged. Von allen nur Sperber gerufen, führt er ein einfaches Leben als Sohn eines Bronzeschmieds. Erst als brutale Räuberhorden sein Dorf überfallen, entdeckt er, dass er über geheimnisvolle, übernatürliche Fähigkeiten verfügt. Es gelingt Ged mit Hilfe der Magie, die Banditen abzuwehren, und fortan ist nichts mehr, wie es war.

Sperber wird Lehrling an der berühmten Zauberschule von Rok und stellt dort seine Fähigkeiten unter Beweis: Er beschwört die Mächte der Schatten und schafft eine Verbindung zum Totenreich. Dabei erfährt er, dass ein Riss durch dieses Reich geht, der die Welt der Lebenden zu verschlingen droht. Gemeinsam mit der wiedergeborenen Hohepriesterin Tenar stellt sich Ged einem scheinbar aussichtslosen Kampf um die Rettung von Erdsee ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ursula K. Le Guin (1929 – 2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Ein Magier von Erdsee

Meinen Brüdern

Clifton, Ted, Karl

Nur in der Stille das Wort,

nur im Dunkel das Licht,

nur im Sterben das Leben

leuchtend der Flug des Sperbers

am leeren Himmel.

 

Die Schöpfung von Ea

1Krieger im Nebel

Die Insel Gont, ein einziger Berg, dessen spitzer Gipfel sich eine Meile über dem sturmgepeitschten Nordostmeer erhebt, ist berühmt für seine Zauberer. Die Ortschaften in den steilen Tälern und die Häfen an den engen, dunklen Buchten der Insel können sich mancher Söhne preisen, die auszogen, den Fürsten des Reichs an ihren Höfen als Zauberer oder Magier zu dienen oder auf der Suche nach Abenteuern von Insel zu Insel zu ziehen, um in ganz Erdsee zu wirken. Von diesen, heißt es, sei der wohl größte, ganz gewiss aber der am weitesten Gereiste ein Mann namens Sperber gewesen, der seinerzeit sowohl Drachenmeister als auch Erzmagier war. Von seinem Leben und seinen Heldentaten berichten das Gedlied und andere Gesänge, doch was hier erzählt werden soll, ist eine Geschichte aus der Zeit, als er noch nicht berühmt war und über die es keine Lieder gibt.

Er wurde in einem einsamen Dorf geboren, Zehn Erlen, am Kopf des Nordertals hoch auf dem Berg gelegen. Unterhalb des Dorfes fallen die Äcker und Weiden des Tals Stufe um Stufe zum Meer hin ab, und an die Schleifen des Flusses Ar schmiegen sich weitere Ortschaften. Oberhalb des Dorfes wächst auf Kamm hinter Kamm bis in die Höhen, wo es nichts mehr gibt als Fels und Schnee, nur Wald.

Als Kind wurde er Duni gerufen. Es war der Name, den ihm seine Mutter gab. Ihr war nicht vergönnt, ihm mehr als diesen Namen und sein Leben zu schenken, denn sie starb noch in seinem ersten Lebensjahr. Sein Vater, der Bronzeschmied des Dorfes, war ein grimmiger, wortkarger Mann, und da Dunis sechs Brüder um einiges älter waren als er und nacheinander von zu Hause weggingen, um Bauer oder Seefahrer zu werden oder sich in anderen Dörfern des Nordertals als Schmied zu verdingen, gab es niemanden, der das Kind mit Liebe großzog. Er wuchs, ein gesundes Kraut, wild heran, zu einem hochgewachsenen, aufgeweckten Jungen mit lauter Stimme, großem Stolz und einem aufbrausenden Temperament. Als er klein war, hütete er zusammen mit den wenigen anderen Kindern aus dem Dorf Ziegen auf den steilen Wiesen über den Flussquellen, und sobald er genug Kraft hatte, den langen Blasebalg in der Schmiede zu bedienen, machte der Vater ihn zu seinem Gehilfen, und er bekam jede Menge Schläge und Peitschenhiebe. Aus Duni war nicht viel an Arbeit herauszuholen. Er lief ständig davon, streunte weit in die Wälder hinein, schwamm in den Flussbecken der Ar, die wie alle Flüsse von Gont flink und kalt dahinströmten, oder kletterte über Felswände auf die Höhen über dem Wald, von denen er das Meer sehen konnte, die weite nördliche See, in der außer Perregal keine Inseln mehr liegen.

Im Dorf lebte eine Schwester seiner Mutter, die ihn, als er klein war, mit allem Notwendigen versorgte. Doch sie hatte selbst viel zu tun und überließ Duni, kaum dass er halbwegs eigenständig war, sich selbst. Eines Tages jedoch, als er sieben war, noch nicht in die Schule ging und noch keine Ahnung davon hatte, was auf der Welt für Mächte und Kräfte herrschen, hörte er seine Tante mit einer Ziege schimpfen, die auf das Strohdach der Hütte gesprungen war und nicht herunterkommen wollte. Erst als sie etwas rief, das gereimt war, kam das Tier sofort gesprungen. Als er am nächsten Tag die langhaarigen Ziegen auf den Wiesen am Hohen Fall hütete, rief er ihnen die Worte zu, die er gehört hatte, ohne ihren Sinn oder Zweck zu kennen und ohne zu wissen, woher sie stammten:

Noth hierth malk man

hiolk han merth han!

Er rief die Worte laut, und die Ziegen kamen zu ihm. Sie kamen sehr schnell, alle zusammen, ohne jedes Geräusch. Sie sahen ihn aus den dunklen Schlitzen in ihren gelben Augen an.

Duni lachte und rief abermals laut den Vers, der ihm Macht über die Ziegen verlieh. Sie schoben sich näher an ihn heran, schubsten und bedrängten ihn. Da fürchtete er sich plötzlich vor ihren dicken gerippten Hörnern, ihren seltsamen Augen und ihrer sonderbaren Stille. Er versuchte aus ihrer Mitte auszubrechen und davonzulaufen. Die Ziegen liefen mit, umzingelten ihn von allen Seiten und stürmten mit ihm ins Dorf hinunter, so dicht an dicht, als wären sie mit einem Strick vertäut, und mittendrin das weinende, laut schreiende Kind. Die Bewohner kamen aus ihren Häusern gerannt, um die Ziegen zu beschimpfen und den Jungen auszulachen. Unter ihnen war Dunis Tante, und sie lachte nicht. Sie sprach ein Wort zu den Ziegen, und die Tiere begannen wieder zu meckern und umherzustreifen und zu stöbern. Sie waren vom Zauber erlöst.

Zu Duni sagte die Tante: »Komm.«

Sie nahm ihn mit in ihre Hütte, in der sie allein lebte. Gewöhnlich ließ sie keine Kinder hinein, und die Kinder fürchteten sich vor dem Häuschen. Es war klein und dunkel, ohne Fenster, und duftete nach den Kräutern, die zum Trocknen am Dachbalken hingen: Minze und Goldlauch und Thymian, Schafgarbe und Zehrried und Perlkittel, Königshut, Spaltfuß, Rainfarn und Lorbeer. Die Tante hockte sich an die Feuerstelle und fragte den Jungen mit einem Seitenblick durch ihr zerzaustes schwarzes Haar, was er zu den Ziegen gesagt und ob er ahne, was es mit dem Spruch auf sich habe. Als sich herausstellte, dass er gar nichts wusste und dennoch die Ziegen in seinen Bann geschlagen hatte, wurde ihr klar, dass in ihm eine angeborene Macht schlummerte.

Als Sohn der Schwester hatte er ihr nichts bedeutet, doch nun sah sie ihn mit neuen Augen. Sie lobte ihn und erbot sich, ihm Sprüche beizubringen, die ihm besser zusagten, zum Beispiel das Wort, das eine Schnecke aus ihrem Haus lockt, oder den Namen, der einen Falken vom Himmel ruft.

»Ja, den Namen sollst du mir beibringen!«, rief Duni. Die Angst, die ihm die Ziegen eingeflößt hatten, war verflogen, und er platzte förmlich vor Stolz über ihr Lob seiner Tüchtigkeit.

Die Hexe mahnte: »Wenn ich dir das Wort beibringe, darfst du es niemals den anderen Kindern verraten.«

»Das verspreche ich dir.«

Über die Einfalt seiner flinken Antwort lächelte sie. »Das ist gut. Aber ich werde dein Versprechen sichern. Du wirst verstummen, bis ich dir die Zunge wieder löse, und danach wirst du zwar sprechen können, aber kein Wort von dem, was ich dir beibringe, über die Lippen bringen, wenn ein anderer Mensch es hören kann. Wir müssen die Geheimnisse unserer Kunst wahren.«

»Gut«, sagte Duni, weil er gar nicht den Wunsch verspürte, die Spielkameraden in das Geheimnis einzuweihen, und weil es ihm gefiel, Dinge zu wissen und zu können, die sie nicht wussten oder konnten.

Er blieb still sitzen, während seine Tante sich das ungekämmte Haar zurückband, den Gürtel ihres Kleides zuknotete und sich dann wieder ans Feuer hockte, um ein paar Handvoll Blätter hineinzuwerfen. Als diese einen Rauch erzeugten, der sich in der dunklen Hütte ausbreitete, fing sie an zu singen. Dabei wechselte ihre Stimme manchmal von Hoch zu Tief, als würde eine andere Stimme in ihr singen, und sie sang immer weiter, bis der Junge nicht mehr wusste, ob er wach war oder schlief. Neben ihm saß, die Augen rot vom Rauch, die ganze Zeit der alte schwarze Hund der Hexe, der niemals bellte. Dann redete die Hexe mit Duni in einer Sprache, die er nicht verstand, und ließ ihn einige Wörter und Wendungen nachsprechen, bis der Zauber wirkte und ihn mit Stummheit schlug.

»Sprich!«, sagte die Hexe, um den Bann zu prüfen.

Der Junge konnte nicht sprechen, aber er lachte.

Seine Tante bekam ein wenig Angst vor seiner Kraft, denn der eben gewirkte Zauber war der stärkste, den sie beherrschte: Sie hatte nicht nur versucht, sich zur Herrin über sein Reden und Schweigen zu machen, sondern auch, ihn zu zwingen, seine Zauberkraft in ihren Dienst zu stellen. Und er hatte, als er in den Bann geschlagen wurde, gelacht. Sie sagte darauf nichts, sondern spritzte Wasser auf die Flammen, damit sich der Rauch verzog, und gab dem Jungen Wasser zu trinken. Als die Luft klar war und Duni wieder sprechen konnte, verriet sie ihm den wahren Namen des Falken, dem der Falke gehorchen musste.

Es war Dunis erster Schritt auf dem Weg, dem er fortan sein Leben widmete, der erste auf dem Weg der Magie, der ihn eines Tages, während er einen Schatten verfolgte, über Land und Meer bis an die lichtlosen Ufer des Totenreichs führen sollte. Doch bei diesen ersten Schritten erschien er ihm als breite, helle Straße.

Als er merkte, dass die wilden Falken, wenn er sie mit Namen rief, aus dem Wind zu ihm niederstießen und mit lautem Flügelschlag auf seinem Handgelenk landeten wie die fürstlichen Jagdvögel, weckte das in ihm den Wunsch, weitere Namen zu lernen. Er lief zu seiner Tante und bat sie, ihn die Namen des Sperbers, des Fischadlers und des Steinadlers zu lehren. Für diese Worte der Macht tat er alles, was die Hexe verlangte, und lernte alles, was sie ihm beibrachte, auch wenn ihm das Aufgetragene längst nicht immer passte. Auf Gont gibt es eine Redewendung »schwach wie Frauenzauber« und eine andere »böse wie Frauenzauber«. Und die Hexe von Zehn Erlen hatte zwar weder etwas mit schwarzer Magie zu tun, noch hätte sie sich je an den hohen Künsten vergriffen oder mit den Alten Mächten herumgepfuscht, aber als Unwissende inmitten von Unwissenden nutzte sie ihr Können häufig zu törichten und zweifelhaften Zwecken. Sie hatte keinerlei Ahnung vom Gleichgewicht oder dem Gefüge des Ganzen, mit dem sich jeder wahre Magier auskennt und in dessen Dienst er sich stellt, so dass er nur zu seiner Kunst greift, wenn echte Not es gebietet. Die Tante hingegen hatte für jeden Umstand einen Zauber und murmelte ständig Formeln vor sich hin. Viele waren vollkommen wirkungslos, da sie die falschen nicht von den echten zu unterscheiden verstand. Auch kannte sie viele Verwünschungen und besaß wohl eher das Talent, Krankheiten zu verursachen als zu heilen. Wie alle Dorfhexen konnte sie Liebestränke mischen, aber auch andere, üblere Gebräue, die Eifersucht und Hass schürten. Doch diese Fähigkeiten verbarg sie vor ihrem kleinen Lehrling und führte ihn, soweit sie es vermochte, in ehrliche Künste ein.

Seine Freude an der Zauberkunst beschränkte sich anfangs, kindgemäß, auf die Macht, die sie ihm über die Tiere verlieh, und die Kenntnis, die er dadurch gewann. Und das hielt sich sein Leben lang. Weil die anderen Kinder ihn auf den Almwiesen oft mit einem Greif zusammen sahen, nannten sie ihn Sperber. So kam er zu dem Namen, den er später überall, wo man seinen wahren Namen nicht kannte, als Rufname behielt.

Das ständige Gerede der Hexe von Ruhm und Reichtum und der großen Macht, die ein Zauberer über die Menschen erlangen könne, spornte ihn dazu an, nützlichere Kenntnisse zu erwerben. Er lernte sehr schnell. Die Hexe lobte ihn, die Kinder im Dorf begannen sich vor ihm zu fürchten, und er lebte in dem Gefühl, dass sein Ruf sich schon bald unter den Menschen verbreiten würde. Unter Anleitung der Hexe schritt er von einem Wort zum anderen und einer Formel zur nächsten fort, bis er zwölf war und einen großen Teil von dem gelernt hatte, was sie wusste: nicht viel, aber genug für ein Hexenweib in einem kleinen Dorf und mehr als genug für einen zwölfjährigen Jungen. Sie hatte ihn ihr gesamtes Kräuter- und Heilwissen und alles gelehrt, was sie über das Finden, Fesseln, Flicken, Öffnen und Entbergen wusste. Sie hatte ihm sämtliche Lieder und Heldengesänge vorgesungen, die sie kannte, und alle Wörter der Wahren Sprache an ihn weitergegeben, die sie von dem Zauberer gelernt hatte, der ihr Lehrer gewesen war. Und Duni hatte sich darüber hinaus eine Reihe von Kunststücken, Scherzen und Illusionen von den Wettermachern und Gauklern abgeguckt, die im Nordertal und im Ostwald von Ort zu Ort zogen. Mit einem dieser schlichten Kunststücke bewies er zum ersten Mal, welch große Macht in ihm wohnte.

Zu jener Zeit war das Reich Kargad mächtig und stark. Es liegt zwischen den Nord- und den Ostmarken und erstreckt sich über vier große Inseln: Karego-At, Atuan, Hur-at-Hur und Atnini. Man spricht dort eine andere Sprache als im Archipel und den übrigen Marken, und das dort lebende Volk ist wild, weißhäutig, hellhaarig und kriegerisch; es ist blutrünstig und liebt den Geruch brennender Städte. Im Jahr zuvor waren die Karger mit einer großen rotbesegelten Schiffsflotte über die Torikeln und die wehrhafte Insel Torheven hergefallen. Die Nachricht war nach Gont gelangt, aber die Fürsten von Gont scherten sich nur um ihre Seeräuberei und schenkten den Nöten anderer Inseln wenig Beachtung. Dann fiel Spevey an die Karger und wurde geplündert und verwüstet, und da die Bewohner in die Sklaverei verschleppt wurden, liegt die Insel bis heute in Trümmern. Als Nächstes kamen die Karger nach Gont und landeten mit einer Flotte von dreißig großen Langschiffen in Osthafen. Sie sagten der Stadt den Kampf an, nahmen sie ein und brannten sie nieder. Ihre Schiffe ließen sie gut bewacht an der Mündung der Ar zurück und zogen plündernd durch das Tal, verwüsteten Felder und Häuser und metzelten Menschen und Vieh. Unterwegs schwärmten sie aus und machten Beute, wo sie wollten. Flüchtende alarmierten die höher gelegenen Dörfer. Bald sah man auch in Zehn Erlen Rauch am östlichen Himmel, und am Abend blickten alle, die zum Hohen Fall aufstiegen, in das dunsterfüllte, von rotem Feuerschein durchzogene Tal hinunter, wo erntereife Felder und Obstwiesen brannten, die Früchte an den lodernden Zweigen brieten und die Reste der Bauernhäuser schwelten.

Einige Dorfbewohner flohen durch die Schluchten bergan und versteckten sich im Wald, einige machten sich bereit, um ihr Leben zu kämpfen, und einige taten weder das eine noch das andere, sondern standen herum und jammerten. Die Hexe gehörte zu denen, die flüchteten. Sie versteckte sich allein in einer Höhle am Kapperdingfels und verschloss den Eingang mit Hilfe einer Zauberformel. Dunis Vater, der Bronzeschmied, wollte die Schmiedegrube und die Esse, an denen er fünfzig Jahre gearbeitet hatte, nicht verlassen und blieb im Dorf. Er mühte sich die Nacht hindurch, aus sämtlichem Metall, das verfügbar war, Speerspitzen zu hämmern, während andere sie an Hacken- und Harkenstielen festschnürten, weil keine Zeit blieb, sie richtig in Fassungen zu verankern. Im Dorf hatte man bis dahin außer Jagdbögen und kurzen Messern keine Waffen gehabt, da das Bergvolk von Gont nicht kriegerisch ist; es ist nicht für seine Krieger bekannt, sondern für seine Ziegendiebe, Seeräuber und Zauberer.

Bei Sonnenaufgang bildete sich ein dichter weißer Nebel, wie an vielen Herbstmorgen auf den Höhen der Insel. Die Dorfleute standen mit ihren Jagdbögen und frischgeschmiedeten Speeren zwischen ihren Hütten und Häusern an der gewundenen Straße von Zehn Erlen und wussten nicht, ob die Karger noch weit oder schon ganz nahe waren. Sie starrten stumm in den Nebel, der alle Umrisse und Gefahren, alles, was fern war, vor ihnen verbarg.

Unter ihnen war auch Duni. Er hatte die ganze Nacht am Blasebalg geschuftet und unermüdlich die beiden langen Ziegenlederbälge, mit denen das Feuer geschürt wurde, zusammengedrückt und wieder auseinandergezogen. Jetzt zitterten und schmerzten seine Arme so, dass er den Speer, den er sich ausgesucht hatte, nicht heben konnte. Er wusste nicht, wie er kämpfen sollte oder was er tun konnte, um sich und den Dorfbewohnern zu helfen. Es wurmte ihn, dass er schon als Kind durch eine kargische Lanze den Tod finden würde; dass er ins dunkle Land aufbrechen sollte, ohne je den eigenen Namen, seinen wahren Mannesnamen erfahren zu haben. Er betrachtete seine dünnen, nebelfeuchten Arme und verfluchte seine Schwäche, denn er wusste um seine Stärke. Er hatte Macht in sich, wenn er sie denn zu benutzen verstand. Verzweifelt ging er alle Zauberformeln, die er kannte, danach durch, ob sie geeignet wären, ihm und seinem Dorf einen Vorteil oder wenigstens eine Chance zu verschaffen. Doch Not allein reicht nicht, um Macht zu entfesseln: Es gehört auch Wissen dazu.

Durch die Hitze der Sonne, die über dem Gipfel am wolkenlosen Himmel schien, wurde der Nebel lichter. Als sich die dichten Felder aufzulösen begannen und nur stellenweise rauchgraue Fähnchen übrig blieben, sahen die Dorfleute einen Trupp Krieger auf sie zukommen. Mit Bronzehelmen und Beinschienen und Brustpanzern aus dickem Leder bewehrt, mit Schwertern und den langen kargischen Lanzen bewaffnet, marschierte eine gefiederte, rasselnde, weit gestreute Schlange am steilen Ufer der Ar bergauf und war schon so nahe, dass man die weißen Gesichter sah und die Worte ihrer Sprache hörte, wenn sie sich etwas zuriefen. Die einfallende Horde zählte um die hundert Mann; das ist nicht viel. Aber im Dorf befanden sich gerade mal achtzehn Männer und Knaben.

Die Not rief, und nun kam das Wissen. Während Duni zusah, wie der Nebel auf dem Weg vor den Kargern verwehte, fiel ihm plötzlich ein Zauber ein, der sie womöglich retten konnte. Ein alter Wettermacher aus dem Tal hatte dem Jungen, um ihn als Lehrling zu gewinnen, ein paar Wetterformeln beigebracht. Eine davon, das Nebelweben, war eine Bindeformel, mit der man an jedem beliebigen Ort einen Nebel erzeugen konnte. Wer mit Illusionen geübt ist, kann damit Nebelfetzen zu gespenstischen Erscheinungen verdichten, die sich eine Zeitlang halten und dann wieder auflösen. Diese Fähigkeit besaß der Junge nicht, aber sein Ziel war ein anderes, und er hatte die Kraft, den Zauber an die eigenen Zwecke anzupassen. Schnell und laut rief er die Orte und Ränder des Dorfes auf. Dann sprach er die Formel des Nebelwebens, verstärkte sie noch, indem er die Worte einer Verhüllungsformel hineinmischte, und rief zuletzt das Wort, das den Zauber in Gang setzte.

Er war kaum fertig, als sein Vater ihm von hinten eine Ohrfeige verpasste, die ihn zu Boden schlug. »Sei still, du Narr! Halt dein dummes Maul und versteck dich, wenn du zum Kämpfen zu schwach bist.«

Duni stand auf. Er konnte die Karger jetzt am unteren Dorfende hören. Sie mussten bereits die große Eibe im Hof des Gerbers erreicht haben. Ihre Stimmen und das Klirren und Quietschen ihrer Rüstungen und Waffen waren deutlich, aber zu sehen waren sie nicht. Der Nebel hatte sich um das Dorf geschlossen, so dicht, dass alles grau wurde und man die Hand nicht mehr vor Augen sah.

»Ich habe uns alle versteckt«, sagte Duni matt, denn ihm brummte der Schädel vom Schlag seines Vaters, und die zwiefache Beschwörung hatte ihn seine letzte Kraft gekostet. »Ich werde den Nebel halten, solange ich kann. Sag den anderen, sie sollen die Krieger zum Hohen Fall hinaufführen.«

Der Schmied starrte seinen Sohn an, der wie ein Spuk in dem unheimlichen nasskalten Nebel stand. Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, was Duni gesagt hatte, doch dann rannte er – vollkommen lautlos, weil er jeden Zaun und jeden Winkel des Dorfes kannte – los, um die anderen zu suchen und ihnen aufzutragen, was sie tun sollten. Durch den grauen Nebel schimmerte verschwommenes Rot, als die Karger ein Strohdach anzündeten. Aber sie kamen noch immer nicht ins Dorf, sondern warteten am unteren Ende darauf, dass der Nebel sich verzog und ihre Beute enthüllte.

Der Gerber, dessen Haus es war, das brannte, schickte ein paar Jungen aus, damit sie den Kargern direkt vor der Nase herumsprangen. Sie verhöhnten sie laut und verschwanden wieder wie Rauch, der sich in Rauch auflöst. Unterdessen huschten die älteren Männer von Haus zu Haus und hinter Zäunen entlang in die Nähe der Krieger, die mittlerweile einen dichten Pulk bildeten, und beschossen sie mit Pfeilen und Speeren. Ein Karger fiel durch einen Speer, der ihn, noch warm vom Schmieden, ganz durchdrungen hatte. Andere wurden von Pfeilen geritzt, und alle rasten vor Wut. Sie stürmten los, um ihre kümmerlichen Angreifer zu vernichten, aber fanden nichts als Nebel, der von Stimmen widerhallte. Sie folgten den Stimmen und stießen mit ihren langen gefiederten, blutbefleckten Lanzen vor sich in das Grau. So liefen sie brüllend durch die Straße bergan, ohne mitzubekommen, dass sie mit den leeren Hütten und Häusern, die im wogenden Nebel auftauchten und wieder verschwanden, das ganze Dorf hinter sich ließen. Die Bewohner stoben davon. Die meisten liefen weit voraus, weil sie das Gelände kannten; aber einige, kleine Jungen oder alte Männer, waren langsam. Wenn die Karger sie fanden, stießen sie ihren Schlachtruf aus und töteten sie mit ihren Lanzen oder ihren Schwertern. Dazu riefen sie die Namen der weißen Göttlichen Brüder von Atuan:

»Wuluah! Atwah!«

Einige Soldaten zögerten, als sie spürten, dass der Boden unter ihren Füßen uneben wurde, doch die anderen suchten einfach weiter das Phantomdorf und folgten den verschwommenen Gestalten, die eben außer Reichweite vor ihnen herhuschten. Diese flüchtigen Formen geisterten nun überall durch den Nebel wie unstete, rasch wieder verblassende Schatten. Ein Trupp der Karger jagte den Spuk bis hinauf zum Hohen Fall, an den Felsrand über den Quellen der Ar, wo die Schemen, denen sie nachliefen, in die Luft hinausschwebten und sich in lichterem Nebel auflösten, während die Verfolger von jähem Sonnenlicht geblendet schreiend aus großer Höhe in die Tiefe stürzten und in den seichten Wasserbecken unter den Felsen zu Tode kamen. Die Männer in der zweiten Reihe blieben am Felsrand stehen und lauschten ins Grau hinunter.

Nun wurden die Karger von Angst ergriffen und begannen in dem unheimlichen Nebel nicht mehr die Dorfbewohner, sondern ihre Kameraden zu suchen. Doch auch als sie sich am Berghang zusammenscharten, mischten sich unter sie noch immer Geister und Gespenster und andere Schatten, die hinterrücks mit Speeren oder Messern auf sie einstachen und wieder verschwanden. Daher flüchteten sie allesamt den Berg hinunter, stumm und mit unsicheren Schritten, bis die dunkle Nebelwand auf einmal hinter ihnen zurückblieb und sie den Fluss und die Schluchten unterhalb des Dorfes hell und klar in der Morgensonne liegen sahen. Wie ein Mann blieben sie stehen und sahen sich um. Über dem Weg lag eine graue wogende Wand, die alles, was dahinterlag, verbarg. Aus ihr stürzten noch zwei, drei versprengte Karger hervor, auf den Schultern die langen schwankenden Lanzen. Keiner der Karger schaute ein zweites Mal zurück. Alle liefen, so schnell ihre Füße sie trugen, von dem verzauberten Ort fort.

Weiter unten im Nordertal jedoch kamen die Krieger kämpferisch auf ihre Kosten. Von Ovark bis an die Küste hatten alle Ortschaften des Ostwaldes ihre Männer zu den Waffen gerufen und schickten sie nun gegen die Eindringlinge in die Schlacht. Schlag auf Schlag stürmten sie aus den Bergen hinab und trieben die Feinde binnen zwei Tagen bis hinunter an die Küste oberhalb von Osthafen, wo sie entdeckten, dass man ihre Schiffe verbrannt hatte. Sie kämpften mit dem Rücken zum Meer, bis der letzte Mann getötet und der Sand der Armündung braun von Blut war und erst von der nächsten Flut wieder reingewaschen wurde.

In Zehn Erlen und am Hohen Fall hielt sich der undurchdringliche Nebel an jenem Morgen noch eine Weile. Dann riss er plötzlich auf und verwehte. Überall am Hang standen Männer im strahlenden Licht des windigen Morgens und rieben sich staunend die Augen. An einer Stelle lag blutend ein toter Karger mit langen, offenen gelben Haaren, an einer anderen der Dorfgerber, in der Schlacht gefallen wie ein König.

Unten im Dorf brannte noch das Haus, das die Karger angezündet hatten. Die Dorfbewohner liefen hin und löschten das Feuer, da ihre Schlacht gewonnen war. Auf der Straße an der großen Eibe fanden sie Duni, des Bronzeschmieds Sohn. Er stand allein dort, unverletzt, aber sprachlos und stumm und wie betäubt. Alle wussten, was er getan hatte. Sie führten ihn zum Haus des Vaters und holten die Hexe aus ihrer Höhle, damit sie den Jungen heile, der ihnen Leben und Besitz gerettet hatte – allen außer den vieren, die von den Kargern getötet worden waren, und dem einen Haus, das niedergebrannt war.

Der Junge war nicht durch eine Waffe verletzt worden, konnte aber weder essen noch schlafen; er schien nicht zu hören, was man zu ihm sagte, und die ihn besuchten nicht zu sehen. Es gab weit und breit keinen Zauberer, dessen Macht ausreichte, um ihn von seinem Leiden zu heilen. Seine Tante sagte: »Er hat sich übernommen«, aber sie kannte kein Mittel, das ihm hätte helfen können.

Während er stumm und unansprechbar dalag, verbreitete sich die Kunde von dem Knaben, der den Nebel gewebt und die kargischen Krieger durch wimmelnde Schatten verschreckt hatte, im ganzen Nordertal – und im Ostwald und auf der anderen Seite des Bergs bis hinunter in den Großhafen von Gont. Am fünften Tag nach dem Gemetzel an der Armündung kam ein Fremder nach Zehn Erlen, ein barhäuptiger Mann von unbestimmbarem Alter, mit einem Umhang bekleidet und mit einem schweren, mannshohen Eichenstab in der Hand, an dem er überhaupt nicht schwer zu tragen schien. Er stieg nicht am Lauf der Ar empor wie die meisten anderen Besucher des Dorfs, sondern kam von oben, aus dem Wald unter dem Gipfel des Gontbergs. Die Dorffrauen erkannten ihn sofort als Magier, und als er ihnen mitteilte, dass er ein Allheiler sei, führten sie ihn gleich zum Haus des Schmieds. Dort schickte der Fremde alle bis auf den Vater und die Tante des Jungen fort. Dann beugte er sich über das Bett, in dem Duni lag und in die Dunkelheit starrte. Er legte ihm nur die Hand auf die Stirn und berührte einmal seine Lippen.

Langsam richtete Duni sich auf und sah sich um. Es dauerte nicht lange, dann konnte er wieder sprechen und verspürte auch ein wenig Kraft und Appetit. Man gab ihm zu essen und zu trinken. Dann legte er sich wieder auf sein Bett und beobachtete den Fremden mit dunklen, fragenden Augen.

Der Bronzeschmied sagte zu dem Fremden: »Du bist kein gewöhnlicher Mann.«

»Auch dieser Knabe wird kein gewöhnlicher Mann sein«, erwiderte der Fremde. »Die Kunde von dem Nebel, den er gewirkt hat, ist bis nach Re Albi gedrungen, wo ich wohne. Ich bin gekommen, ihm seinen Namen zu geben, falls, wie man mir berichtet, sein Mannesfest noch bevorsteht.«

Die Hexe flüsterte dem Schmied zu: »Bruder, das muss der Magier von Re Albi sein, Ogion der Schweigsame, der damals das Erdbeben bezwungen …«

»Herr«, sagte der Bronzeschmied, der von einem großen Namen nicht zu schrecken war, »mein Sohn wird nächsten Monat dreizehn, aber wir möchten seine Namensgebung im Winter feiern, beim Fest der Sonnenwiederkehr.«

»Feiert seine Taufe so bald wie möglich«, sagte der Magier, »denn er braucht seinen Namen. Ich habe jetzt anderes zu tun, aber ich werde an dem von euch gewählten Tag zurückkommen. Wenn es euch recht ist, werde ich ihn hinterher mit zu mir nehmen. Und wenn er sich als fähig erweist, werde ich ihn als Lehrling behalten oder dafür sorgen, dass er seiner Gabe entsprechend unterwiesen wird. Denn es ist gefährlich, den Geist eines geborenen Magiers ungeschult zu lassen.«

Ogion sprach sehr sanft, aber so bestimmt, dass selbst der starrköpfige Schmied zu allem sein Einverständnis gab.

An Dunis dreizehntem Geburtstag, einem Tag in der herrlichen Zeit des Frühherbstes, wenn die Bäume noch buntbelaubt sind, kehrte Ogion von seinen Wanderungen über den Gontberg in das Dorf zurück, und sie vollzogen das Übergangsritual. Die Hexe nahm dem Jungen den Namen Duni, den er als Säugling von seiner Mutter erhalten hatte. Namenlos und nackt stieg er in die kalte Quelle der Ar, wo sie unter der hohen Felswand aus dem Stein entspringt. Als er ins Wasser trat, zog eine Wolke vor das Gesicht der Sonne und warf große Schatten auf das Becken, die ihn im Wasser umspielten. Er schritt, wie es sich gehörte, langsam und aufrecht zum anderen Ufer, obwohl er im eisigen, sprudelnden Wasser vor Kälte zitterte. Als er ans Ufer kam, reichte ihm der wartende Ogion die Hand, nahm ihn beim Arm und flüsterte ihm leise seinen wahren Namen ins Ohr: Ged.

So bekam er seinen Namen von einem Mann, der äußerst weise mit Macht umzugehen verstand.

Das Fest war noch längst nicht zu Ende, alle Dorfbewohner saßen fröhlich an den mit Speisen und Bier reichbeladenen Tischen, und ein Barde aus dem Tal trug gerade Der Drachenmeister Taten vor, als der Magier mit seiner sanften Stimme zu Ged sprach: »Komm, Junge. Sag deinen Leuten Lebewohl und lass sie weiter feiern.«

Ged holte, was er mitzunehmen hatte, das gute Bronzemesser, das sein Vater für ihn geschmiedet hatte, einen Ledermantel, den die Witwe des Gerbers ihm kleiner gemacht hatte, und einen Erlenstock, den seine Tante für ihn verzaubert hatte: Das war alles, was er außer Hemd und Hose besaß. Er verabschiedete sich von den Gästen – allen Menschen, die er auf der Welt kannte – und sah sich noch einmal in seinem Dorf unter den Felsen über der Flussquelle um. Dann machte er sich mit seinem neuen Meister auf in die steilen Wälder der Berginsel, durch das Laub und die Schatten des goldenen Herbstes.

2Der Schatten

Ged hatte sich vorgestellt, dass er als Lehrling eines großen Magiers unverzüglich in die Geheimnisse der Macht eingeweiht und diese alsbald zu beherrschen lernen würde. Er hatte gedacht, dass er die Sprache der Tiere und der Blätter im Wald verstehen und über die Winde gebieten und sich in jede Gestalt verwandeln könnte, die er sich wünschte. Vielleicht, hatte er gedacht, würden sein Meister und er als Hirsche zusammen über den Berg preschen oder auf Adlerschwingen nach Re Albi fliegen.

Aber so war es ganz und gar nicht. Sie gingen zu Fuß. Zuerst ins Tal hinunter und dann im Süden und Westen langsam um den Berg herum, fanden Unterschlupf in kleinen Dörfern oder übernachteten draußen im Freien wie arme Wanderzauberer oder wie Trödler und Hausierer. Nirgends geschah etwas Geheimnisvolles. Es passierte überhaupt nichts. Der Eichenstab des Magiers, den Ged anfangs ängstlich und voll Neugier beäugt hatte, war nichts als ein kräftiger Wanderstock. Drei Tage vergingen und dann der vierte, ohne dass Ogion in Geds Gegenwart auch nur ein einziges Zauberwort gesprochen oder ihn auch nur einen Namen, eine Rune oder eine einzige Formel gelehrt hatte.

Ogion war ein sehr schweigsamer Mann, aber dabei so sanft und ruhig, dass Ged bald jede Scheu vor ihm verlor. Und nach weiteren ein oder zwei Tagen fand er den Mut, ihn zu fragen: »Wann wird meine Lehre beginnen, Meister?«

»Sie hat begonnen«, sagte Ogion.

Darauf schwieg Ged, obwohl es schien, als hielte er etwas zurück. Schließlich sagte er: »Aber ich habe noch nichts gelernt!«

»Weil du noch nicht heraushast, was ich lehre«, erwiderte der Magier und schritt auf seinen langen Beinen stetig weiter die Straße entlang, die über den hohen Pass zwischen Ovark und Wiss führte. Er war so dunkelhäutig wie die meisten Gonter, dunkelkupferbraun, grauhaarig, hager und ausdauernd wie ein Jagdhund, zäh. Er sprach selten, aß wenig, schlief noch weniger. Seine Augen waren scharf, sein Gehör fein, und man sah seiner Miene oft an, dass er lauschte.

Ged gab keine Antwort. Es ist nicht immer leicht, einem Magier zu antworten.

»Du willst Zauber wirken«, sagte Ogion nach einer Weile, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. »Aus dem Brunnen hast du schon zu viel Wasser geschöpft. Warte. Mann sein heißt Geduld üben. Meisterschaft heißt neunmal Geduld üben. Wie lautet der Name der Pflanze dort am Weg?«

»Strohblume.«

»Und wie heißt die?«

»Weiß ich nicht.«

»Das ist das Vierblatt.« Weil Ogion nun stehen blieb und mit dem kupferbeschlagenen Fuß seines Stabs auf die kleine Pflanze deutete, sah Ged sie sich näher an, pflückte eine trockene Samenkapsel und fragte, da Ogion nichts weiter sagte, schließlich: »Welchen Nutzen hat sie, Meister?«

»Keinen, von dem ich wüsste.«

Ged behielt die Samenkapsel im Weitergehen noch eine Weile in der Hand und warf sie dann weg.

»Wenn du das Vierblatt in allen Jahreszeiten erkennst, an Wurzel, Blatt und Blüte, an Aussehen, Duft und Samen, dann wirst du, da du sein Wesen kennst und also mehr als seinen Nutzen, möglicherweise seinen wahren Namen erfahren. Denn welchen Nutzen hast du letztlich? Oder ich? Ist der Gontberg zu etwas nütze oder das Offene Meer?« Ogion ging eine gute halbe Meile weiter und sagte schließlich. »Wer hören will, muss still sein.«

Der Junge war unzufrieden. Es gefiel ihm nicht, wie ein Narr behandelt zu werden. Er schluckte seinen Groll hinunter, versuchte seine Ungeduld zu zügeln, zeigte sich möglichst gehorsam und hoffte, Ogion würde sich bald bereitfinden, ihm etwas beizubringen. Denn er gierte nach Wissen und Macht. Sein Eindruck war allerdings, dass er bei jedem Ausflug mit einem Kräutersammler oder Dorfzauberer mehr gelernt hätte. Und als sie um die Westseite des Bergs schritten, durch die einsamen Wälder hinter Wiss, fragte er sich mehr und mehr, worin denn wohl die Größe und die Magie des großen Ogion bestehen mochte. Denn wenn es regnete, sprach Ogion nicht einmal die Formel zur Abwendung von Stürmen, die jeder Wettermacher kannte. In Gegenden mit einer Fülle von Zauberern wie Gont oder den Enladen kann es sein, dass man eine Regenwolke ständig von Ort zu Ort irren sieht, weil sie von Zauber um Zauber verschoben wird, bis sie endlich aufs Meer hinaus flieht, wo sie in Frieden regnen kann. Ogion hingegen ließ es regnen, wo es wollte. Er suchte sich eine dicke Tanne und legte sich darunter. Ged hockte sich nass und missmutig zwischen die tropfenden Büsche und fragte sich, wozu man überhaupt Macht besaß, wenn man zu weise war, sie anzuwenden, und wünschte sich, er wäre zu dem alten Wettermacher im Tal in die Lehre gegangen, wo er wenigstens im Trockenen geschlafen hätte. Diese Gedanken sprach er nicht laut aus. Er sagte kein Wort. Sein Meister lächelte und schlief im Regen ein.

Kurz vor Sonnenwiederkehr, als auf den Höhen von Gont schon die ersten schweren Schneefälle einsetzten, erreichten sie Re Albi, wo Ogion zu Hause war. Das Dorf liegt an der Oberkante der hohen Wand von Obernfels, und sein Name bedeutet Falkenhorst. Man kann von dort fernab die tiefe Bucht und die Türme von Gonthafen sehen, die Schiffe, die zwischen den Trutzklippen am Eingang der Bucht ein- und ausfahren, und über das Meer im Westen die blauen Hügel von Oranea, der östlichsten der Inneren Inseln.

Das Haus des Magiers war zwar groß und solide aus Holz gebaut, mit einem Kamin und einem Schornstein anstelle der Feuergrube, aber hatte wie die Hütten von Zehn Erlen nur einen einzigen Raum und einen angebauten Ziegenstall. In die Westwand des Zimmers war eine Art Alkoven eingelassen. Dort schlief Ged. Über seinem Strohsack gab es ein Fenster, das zum Meer hinausging, doch wegen des starken Windes, der den ganzen Winter aus Nord und West wehte, mussten die Läden meistens geschlossen bleiben. Ged verbrachte den Winter in der dunklen Wärme des Hauses, lauschte dem Rauschen von Regen und Wind oder der Stille von rieselndem Schnee und lernte die sechshundert hardischen Runen lesen und schreiben. Er tat es mit freudigem Eifer, weil er wusste, dass bloßes Auswendiglernen von Sprüchen und Formeln nicht reichte, um wahre Meisterschaft zu erlangen. Die hardische Sprache des Inselreichs besitzt zwar nicht mehr Zauberkraft als andere Menschensprachen, aber sie hat ihre Wurzeln in der Alten Sprache, in der man die Dinge mit ihrem wahren Namen nennt. Und der Weg zum Verstehen dieser Sprache beginnt mit den Runen, die aufgeschrieben wurden, als die Inseln der Welt einst aus dem Meer gehoben wurden.

Noch immer ließen Wunder und Zauberwerke auf sich warten. Den ganzen Winter gab es nichts als das Umblättern der schweren Seiten des Runenbuchs, als Regen und Schnee – und Ogion, der von seinen Wanderungen durch die vereisten Wälder oder dem Füttern seiner Ziegen hereinkam, den Schnee von den Stiefeln klopfte und sich schweigend ans Feuer setzte. Das lange, lauschende Schweigen des Magiers breitete sich im Zimmer und in Geds Kopf aus, so dass es ihm manchmal schien, als habe er vergessen, wie Wörter klangen. Wenn Ogion dann endlich etwas sagte, war es, als hätte er in dem Moment und zum ersten Mal die Sprache erfunden. Dabei handelten seine Worte nie von wichtigen Dingen, sondern nur von Alltäglichkeiten wie Brot und Wasser und Wetter und Schlaf.

Als der Frühling kam, mit seinem hellen, klaren Licht, schickte Ogion Ged oft auf die Wiesen oberhalb von Re Albi zum Kräutersammeln und erlaubte ihm, so lange fortzubleiben, wie er wollte, so dass er die Freiheit hatte, sich den ganzen Tag an randvollen Bächen, im Wald und auf nassen, grünen, sonnigen Feldern zu vertreiben. Ged zog jedes Mal mit Freuden los und kehrte erst abends zurück; die Kräuter vergaß er dabei nicht völlig. Er hielt beim Klettern und Streunen und Baden und bei seinen Erkundungen nach ihnen Ausschau und brachte stets welche mit nach Hause. Zwischen zwei Bachläufen entdeckte er eine Wiese, auf der das Weiße Weihkraut reichlich wuchs, und da seine Blüten selten sind und von Heilern sehr geschätzt werden, kehrte er am nächsten Tag dahin zurück. Als er ankam, war dort ein junges Mädchen, das er vom Sehen kannte. Es war die Tochter des alten Fürsten von Re Albi. Er hätte nicht mit ihr gesprochen, wenn sie ihn nicht freundlich begrüßt hätte: »Ich kenne dich, du bist Sperber, der Lehrling unseres Magiers. Ach bitte, kannst du mir nicht etwas über Zauberei erzählen?«

Er hielt den Blick schüchtern auf die weißen Blumen gesenkt, die ihren weißen Rock streiften, und antwortete zunächst zögernd. Doch das Mädchen plauderte so offen und unbekümmert, ja übermütig weiter, dass er seine Scheu nach und nach verlor. Es hatte ungefähr sein Alter, war hochgewachsen und sehr bleich, beinahe weißhäutig; im Dorf hieß es, ihre Mutter stamme aus Osskil oder einem anderen fremden Land. Das Haar fiel ihr lang und glatt über den Rücken wie ein schwarzer Wasserfall. In Geds Augen war sie hässlich. Trotzdem hatte er den Wunsch, von ihr bewundert zu werden, und dieser Wunsch wurde lauter, je länger sie sich unterhielten. Sie ließ sich von ihm alles über den Nebelzauber erzählen, der die kargischen Krieger vertrieben hatte. Obwohl sie beim Zuhören den Eindruck erweckte, als bestaunte sie ihn, sagte sie am Ende nichts, um ihn zu preisen, sondern schnitt mit ihrer nächsten Frage gleich ein neues Thema an: »Kannst du die Vögel und die Tiere zu dir rufen?«

»Das kann ich«, sagte Ged.

Er wusste, dass es in den Felsen oberhalb der Wiese ein Falkennest gab, und rief den Vogel mit seinem Namen. Der Vogel kam, aber wollte sich nicht auf seinen Arm setzen. Offenbar verschreckte ihn das Mädchen. Der Falke schrie, schlug heftig mit den breiten gestreiften Flügeln und ließ sich vom Wind davontragen.

»Wie nennst du den Zauber, der macht, dass der Falke kommt?«

»Eine Beschwörung.«

»Kannst du auch die Geister der Toten rufen?«

Er dachte, die Frage wäre spöttisch gemeint, weil der Falke seinem Ruf nicht vollends gefolgt war, und wollte sich nicht von ihr verspotten lassen. »Wenn ich will, vielleicht«, sagte er mit ruhiger Stimme.

»Ist es denn nicht sehr schwierig und gefährlich, einen Geist zu beschwören?«

»Schwierig, ja. Aber gefährlich?« Er zuckte die Achseln.

Diesmal war er sich fast sicher, dass in ihren Augen Bewunderung lag.

»Kannst du einen Liebeszauber wirken?«

»Das ist keine Kunst.«

»Stimmt«, sagte sie. »Das kann jede Dorfhexe. Kannst du Sachen verwandeln? Kannst du dich selbst in etwas anderes verwandeln, so wie es angeblich die Magier tun?«

Wieder war er sich nicht ganz sicher, ob sie die Frage spöttisch meinte, und deshalb antwortete er abermals: »Wenn ich will, vielleicht.«

Nun begann sie zu betteln, er möge sich doch in irgendetwas seiner Wahl verwandeln – einen Falken, einen Bullen, ein Feuer, einen Baum. Er hielt sie mit kurzen geheimnisvollen Bemerkungen hin, wie sein Meister sie zu machen pflegte, aber verstand es nicht, sich ihrem Drängen rundweg zu entziehen. Außerdem wusste er nicht, ob er seiner Prahlerei überhaupt selbst glaubte. Er redete sich damit heraus, dass sein Meister, der Magier, zu Hause auf ihn warte, nahm Abschied und kehrte am nächsten Tag nicht zu der Wiese zurück. Am übernächsten Tag jedoch ging er wieder hin, weil er sich sagte, dass er mehr Blumen sammeln sollte, solange sie blühten. Das Mädchen war da, und sie wateten barfuß zusammen durch das sumpfige Gras und pflückten die dicken weißen Weihkrautblüten. Die Frühlingssonne schien, und sie plauderte so munter mit ihm wie die kleinen Ziegenhirtinnen aus seinem Heimatdorf. Wieder wollte sie allerlei über die Zauberei wissen und hörte sich alles, was er ihr erzählte, mit großen Augen an, so dass er erneut ins Prahlen geriet. Da fragte sie ihn, ob er nicht einen Verwandlungszauber wirken wolle. Und als er sie hinhielt, sah sie ihn an, strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht und sagte: »Hast du Angst?«

»Nein, ich habe keine Angst.«

Sie grinste ein wenig herablassend und sagte: »Vielleicht bist du noch zu klein.«

Das konnte er nicht auf sich sitzenlassen. Er sagte nicht viel, aber nahm sich vor, es ihr zu zeigen, und forderte sie auf, am nächsten Tag wieder auf die Wiese zu kommen, wenn sie Lust habe. Damit verabschiedete er sich, und als er zu Hause eintraf, war sein Meister noch nicht da. Rasch ging er ans Regal und holte sich zwei Lehrbücher, die Ogion noch nie in seiner Gegenwart aufgeschlagen hatte.

Er suchte nach einer Formel zur Selbstverwandlung. Aber weil er die Runen nur langsam entziffern und wenig von dem verstehen konnte, was er las, war das Gesuchte nicht zu finden. Die beiden Bücher waren sehr alt. Ogion hatte sie von seinem Meister Heleth Weitblick geerbt, und Heleth hatte sie von seinem Meister, dem Magier von Perregal, geerbt und so weiter bis zurück in die mythische Vorzeit. Die Schrift war klein und fremd, von vielen Händen überschrieben und zwischen den Zeilen ergänzt, und all diese Hände waren längst zu Staub zerfallen. Trotzdem verstand Ged hier und dort ein wenig von dem, was er sich zu lesen bemühte, und da ihm die Fragen und der Spott des Mädchens unablässig zusetzten, blieb er bei einer Seite hängen, auf der ein Zauber zur Beschwörung der Totengeister beschrieben war.

Während er die Runen und Symbole einzeln entzifferte, packte ihn Entsetzen. Sein Blick war gebannt, und er konnte ihn nicht heben, bis er die Beschwörung ganz gelesen hatte.

Als er den Kopf hob, sah er, dass es im Haus dunkel geworden war. Er hatte ohne Licht gelesen, im Finstern. Wenn er jetzt auf das Buch hinunterblickte, waren die Runen nicht mehr zu erkennen. Trotzdem breitete sich das Grauen weiter in ihm aus und schien ihn an den Stuhl zu fesseln. Ihn fröstelte. Er sah sich um. Neben der geschlossenen Tür hockte etwas, ein formloser Schatten, der dunkler war als die Dunkelheit. Der Schatten schien nach ihm zu greifen, zu flüstern und leise nach ihm zu rufen. Aber Ged konnte die Worte nicht verstehen.

Plötzlich flog die Tür auf. Ein von weißem Licht umstrahlter Mann trat ein, eine große, leuchtende Gestalt, deren zornige Stimme unvermittelt durch den Raum hallte. Die Dunkelheit und das Flüstern wurden vertrieben.

Von Ged wich das Grauen, aber er fürchtete sich noch immer sehr, denn der von Leuchten umgebene Mann im Türrahmen war Ogion der Magier, und der Eichenstab in seiner Hand loderte strahlend weiß.

Der Magier schritt ohne ein Wort an Ged vorüber, zündete die Lampe an und stellte die Bücher an ihren Platz. Dann wandte er sich dem Jungen zu und sprach: »Mit diesem Zauber setzt du deine Macht und dein Leben aufs Spiel. Wende ihn niemals an, ohne dir dessen bewusst zu sein. Hast du in den Büchern gelesen, weil du diesen Zauber suchtest?«

»Nein, Meister«, sagte der Junge beschämt und erzählte Ogion, wonach er gesucht hatte und weshalb.

»Du weißt nicht mehr, was ich dir gesagt habe – dass die Mutter des Mädchens, die Frau des Fürsten, eine Zauberin ist?«

Ogion hatte es wirklich einmal gesagt, aber Ged hatte nicht richtig zugehört, obwohl er mittlerweile wusste, dass Ogion nie etwas zu ihm sagte, für das es keinen guten Grund gab.

»Auch das Mädchen ist schon eine halbe Hexe. Vielleicht hat es die Mutter dir zum Plaudern geschickt. Vielleicht war sie es, die im Buch die Seite aufgeschlagen hat, damit du sie liest. Die Mächte, denen sie dient, sind nicht die Mächte, denen ich diene. Ich kenne ihren Willen nicht, aber ich weiß, dass sie mir nicht gut will. Ged, hör mir jetzt zu. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass Macht so von Gefahr umgeben sein muss wie Licht von Schatten? Das Zaubern ist kein Spiel, das wir zum Vergnügen treiben oder um Lob zu heischen. Bedenke: Jedes Wort, jede Anwendung unserer Kunst dient entweder dem Guten oder dem Bösen. Bevor du sprichst oder etwas tust, musst du wissen, welcher Preis dafür zu zahlen ist.«

Von seiner Scham getrieben, rief Ged: »Woher soll ich diese Dinge wissen, wenn du mich nichts lehrst? Seit ich bei dir wohne, habe ich nichts getan, nichts gesehen …«

»Jetzt hast du etwas gesehen«, erwiderte der Magier. »An der Tür, in der Dunkelheit, als ich hereingekommen bin.«

Ged schwieg.

Ogion ging auf die Knie und machte Feuer im Kamin, denn das Haus war kalt. Dann sagte er noch immer kniend: »Ged, mein junger Falke, du bist nicht an mich oder den Dienst bei mir gebunden. Du bist nicht zu mir gekommen, sondern ich zu dir. Du bist noch fast zu jung, um diese Wahl zu treffen, aber ich kann nicht für dich entscheiden. Wenn du es wünschst, werde ich dich nach Rokh schicken, wo man alle hohen Künste lehrt. Dort auf der Insel wirst du alles lernen, worum du dich bemühst, denn deine Macht ist groß. Größer als dein Stolz, wie ich hoffen will. Ich würde dich gern hier bei mir behalten, denn was ich habe, das mangelt dir, aber ich werde dich nicht gegen deinen Willen halten. Also wähle du jetzt zwischen Re Albi und Rokh.«

Ged blieb stumm, in seinem Herzen tobten die Gefühle. Er liebte Ogion, diesen Mann, der ihn mit einer Berührung geheilt hatte und der niemals zürnte: Er liebte ihn und hatte es bis jetzt nicht gewusst. Sein Blick wanderte zu dem Eichenstab hinüber, der in der Ecke am Kamin lehnte, und er dachte daran, wie sein helles Feuer das im Dunkeln lauernde Böse vertilgt hatte, und wünschte sich, bei Ogion zu bleiben, mit ihm durch die Wälder zu ziehen und auf langen, weiten Wanderungen schweigen zu lernen. Doch in ihm wohnten andere Sehnsüchte, die nicht ruhen wollten: der Wunsch nach Ruhm, der Wille zum Handeln. Ogions Weg zur Meisterschaft erschien ihm wie ein langwieriger Umweg, wo er doch auch vom Seewind getragen geradewegs ins Innerste Meer segeln konnte, zur Insel der Weisen, wo das Zaubern überall in der Luft lag und der Erzmagier zwischen Wundern einherging.

»Meister«, sagte er, »ich will nach Rokh gehen.«

Und so begleitete ihn Ogion wenige Tage später, an einem sonnigen Frühlingsmorgen, den steilen Pfad von Obernfels hinunter bis in die fünfzehn Meilen entfernte Hauptstadt Gonthafen. Am landseitigen Tor, zwischen zwei geschnitzten Drachen, begrüßten die Wachen den Magier, indem sie ihr Schwert zogen und vor ihm niederknieten. Sie kannten ihn und erwiesen ihm die Ehre, weil der Fürst es so befahl und weil sie es selbst wollten, denn Ogion hatte die Stadt zehn Jahre zuvor vor einem Erdbeben gerettet, das die Türme der Reichen in Trümmer gelegt und den Kanal zwischen den Trutzklippen mit Geröll verschüttet hätte. Er hatte den Gontberg mit seinen Worten beruhigt und die bebenden Steilwände von Obernfels beschwichtigt wie ein verängstigtes Tier. Ged hatte Leute davon erzählen hören, und als er jetzt darüber staunte, dass die bewaffneten Wachposten vor seinem schweigsamen Meister niederknieten, fiel es ihm wieder ein. Er blickte fast furchtsam zu dem Mann empor, der ein Erdbeben gebändigt hatte, doch Ogions Miene war so ruhig wie immer.

Sie liefen hinunter ans Wasser, wo der Hafenmeister herbeieilte, um Ogion zu begrüßen und zu fragen, wie er ihm dienen könne. Als der Magier es ihm sagte, nannte er sofort ein Schiff, das auf dem Weg zum Innersten Meer war und Ged vielleicht als Passagier an Bord nehmen würde. »Oder als Windmacher«, sagte er, »so er die Kunst beherrscht. Sie haben keinen Wettermacher dabei.«

»Er hat Erfahrung mit Dunst und Nebel, aber nicht mit Meereswinden«, antwortete der Magier und legte Ged sanft eine Hand auf die Schulter. »Lass die Finger von jeder Spielerei mit dem Meer und den Winden des Meeres, Sperber, du bist eine Landratte. Hafenmeister, wie heißt das Schiff?«

»Schatten, von den Andraden, auf dem Weg nach Hort, mit Pelzen und Elfenbein an Bord. Ein gutes Schiff, Meister Ogion.«

Als er den Namen des Schiffes vernahm, wurde des Magiers Miene ernst, aber er sagte: »So sei es. Nimm diesen Brief, Sperber, und bringe ihn dem Hüter der Schule von Rokh. Fahr mit gutem Wind. Leb wohl!«

Das war sein ganzer Abschied. Er wandte sich ab und entfernte sich mit langen Schritten die Straße hinauf. Verloren sah Ged seinem Meister nach.

Der Hafenmeister sagte: »Komm mit, Junge«, und führte ihn am Wasser entlang zu dem Landeplatz, an dem die Schatten schon fast abfahrbereit lag.

Es mag seltsam erscheinen, dass ein Kind auf einer Insel von nur fünfzig Meilen Durchmesser in einem Dorf an einer Felswand, die ewig aufs Meer schaut, zum Mann heranwächst, ohne je ein Boot betreten oder den Finger in Salzwasser getaucht zu haben, doch so geschieht es dort. Ob Bauer, Ziegenhüter, Kuhhirte, Jäger oder Handwerker, für den Landbewohner ist das Meer eine salzige, unstete Welt, die nicht das Geringste mit ihm zu tun hat. Ein Dorf, das zwei Tagesmärsche von dem seinen entfernt liegt, ist ein fremder Ort, und eine Insel, die eine Tagesfahrt von seiner im Meer liegt, ist ein bloßes Gerücht, nichts als eine blaue Erhebung über dem Wasser und kein fester Grund wie der, auf dem er wandelt.

Für Ged, der noch nie aus der Bergeinsamkeit hinuntergestiegen war, war Gonthafen ein überwältigender, fabelhafter Ort: die großen Häuser und Türme aus Naturstein und das Hafenviertel mit seinen Landungsstegen und Docks, Becken und Liegeplätzen; der Hochseehafen, in dem ein halbes hundert Segelschiffe und Galeeren an den Kais schaukelte, zur Reparatur an Land oder mit eingerollten Segeln und geschlossenen Ruderluken auf Reede lag; die laut rufenden Seeleute mit ihren fremden Dialekten und die Schauerleute, die schwerbeladen zwischen Fässern und Kisten und Taurollen und Riemenstapeln umherliefen; die bärtigen Kaufleute in Pelzmänteln, die sich auf ihrem Weg über die glitschigen Steine am Wasser leise unterhielten; die Fischer, die ihren Fang entluden; die hämmernden und klopfenden Böttcher und Schiffsbauer; die singenden Muschelverkäufer und die brüllenden Kapitäne – und hinter alledem die stille, leuchtende Bucht. Mit schwirrenden Sinnen folgte er dem Hafenmeister zu dem breiten Kai, an dem die Schatten lag, und dieser brachte ihn zum Kapitän des Schiffes.

Der Kapitän erklärte sich, weil ein Magier es erbeten hatte, schon nach wenigen Worten bereit, Ged als Passagier nach Rokh mitzunehmen, und der Hafenmeister verabschiedete sich. Der Kapitän der Schatten war ein großer Mann, und dick, in einem roten, mit Pellawipelz gesäumten Umhang nach Art der andradischen Kaufleute. Er fragte Ged, ohne ihn anzusehen, mit mächtiger Stimme: »Kannst du Wetter machen, Junge?«

»Ja.«

»Kannst du uns Wind bringen?«

Das musste Ged verneinen, und der Kapitän befahl ihm, sich einen Platz zu suchen, wo er nicht störte, und sich nicht von der Stelle zu rühren.

Nun kamen die Ruderer an Bord, denn das Schiff sollte noch vor Einbruch der Dunkelheit auf Reede gelegt werden und bei Tagesanbruch mit dem Einsetzen der Ebbe in See stechen. Es gab keinen Platz, wo er nicht störte, aber Ged kletterte, so weit er konnte, auf die gebündelte, vertäute und mit Leder abgedeckte Ladung am Heck des Schiffes, hielt sich dort fest und schaute bei allem zu, was geschah. Die Ruderer sprangen mit großen Sätzen an Deck, stramme Männer mit mächtigen Armen, während Schauerleute laut dröhnende Wasserfässer über den Kai rollten und unter den Ruderbänken verstauten. Das stattliche Schiff lag tief im Wasser, weil es schwer beladen war, und tanzte trotzdem leise auf den Uferwellen, als freute es sich auf die Fahrt. Dann trat der Steuermann an seinen Platz rechts des Achterstevens, wo er einen freien Blick auf den Kapitän hatte, der vorne, wo sich Kiel und Vordersteven trafen, auf dem Bugholz stand, in den die Alte Schlange von Andrad eingeschnitzt war. Der Kapitän brüllte seine Befehle mit gewaltiger Stimme, die Taue wurden gelöst, und zwei Ruderboote schleppten die Schatten mit mächtigen Schlägen in die Bucht hinaus. Dann rief der Kapitän: »Luken auf!«, und rasselnd schossen die langen Riemen hervor, fünfzehn auf jeder Seite. Die Ruderer beugten die starken Rücken zu den Trommelschlägen eines jungen Burschen, der neben dem Kapitän saß. Leicht wie eine von ihren Schwingen getragene Möwe fuhr das Schiff los und ließ unvermittelt den Lärm und das Getümmel der Stadt hinter sich zurück. Draußen in der stillen Bucht stand der hohe Gipfel des Gontbergs so nahe über ihnen, als hinge er über dem Wasser. An einem seichten Fluss im Windschutz der südlichen Trutzklippe warfen sie den Anker aus und verbrachten dort die Nacht.

Von den siebzig Männern der Besatzung waren einige wie Ged sehr jung an Jahren, aber alle hatten bereits die Männerweihe hinter sich. Die Jungen luden ihn ein, Essen und Trinken mit ihnen zu teilen. Sie behandelten ihn freundlich, aber neigten auch zu derben Späßen. Weil er von Gont stammte, hieß er natürlich gleich der Ziegenhüter, doch schlimmer wurde es nicht. Er war so groß und stark wie die Fünfzehnjährigen und genauso schlagfertig wie sie. Daher kam er gut mit ihnen zurecht und begann schon am ersten Abend wie einer von ihnen zu leben und ihre Arbeit zu lernen. Den Schiffsoffizieren gefiel das, denn an Bord war kein Platz für nutzlose Passagiere.

Auch die Besatzung hatte auf der offenen, mit Männern, Gerät und Ware beladenen Galeere nur wenig Platz, und es gab nicht den geringsten Komfort, doch was kümmerte Ged Bequemlichkeit? Er lag in der Nacht zwischen verschnürten Fellrollen von den nördlichen Inseln, schaute in die Frühjahrssterne über dem Hafenwasser und auf die kleinen gelben Lichter der Stadt am Ende der Bucht, dann schlief er ein und wachte vergnügt wieder auf. Kurz vor Tagesanbruch setzte die Ebbe ein. Sie lichteten den Anker und ruderten leise zwischen den Trutzklippen hinaus. Als der Sonnenaufgang hinter ihnen den Gontberg rötete, setzten sie das hohe Segel und fuhren auf südwestlichem Kurs über das Meer von Gont.

Sie segelten bei schwachem Wind zwischen Barnisk und Torheven hindurch und sichteten am zweiten Tag die große Insel Havnor, Herz und Herd des Archipels. Der Ostküste von Havnor folgten sie drei Tage, in denen sie auf die grünen Berge schauten, aber nirgends an Land gingen. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis Ged die Insel zum ersten Mal betrat und die weißen Türme von Havnor-Hafen am Mittelpunkt der Welt zu sehen bekam.

In Kembermünde, dem nördlichen Hafen der Insel Wey, ankerten sie eine Nacht und die nächste in einem kleinen Ort am Eingang der Felkweybucht, um einen Tag darauf an der Nordspitze von O vorbei in die Meerenge von Ebavnor einzufahren. Dort holten sie das Segel ein und ruderten, immer mit Land zu beiden Seiten und immer in Rufweite von anderen Schiffen. Es waren große und kleine, Kaufleute und Tauschhändler, darunter manche aus den entlegensten Marken, die mit ihrer seltsamen Ladung schon Jahre unterwegs waren, und andere, die im Innersten Meer wie Spatzen von Insel zu Insel hüpften. Als sie aus der bevölkerten Straße von Ebavnor nach Süden abbogen, ließen sie Havnor hinter sich zurück und segelten zwischen den hübschen, mit gestuften Städten und hohen Türmen bebauten Inseln Ark und Ilien hindurch zum Innersten Meer, wo sie bei Regen und auffrischendem Wind weiter auf die Insel Rokh zulenkten.

In der Nacht schwoll der Wind zu einem Sturm an. Sie holten das Segel ein, legten den Mast um und ruderten den ganzen nächsten Tag. Das lange Schiff lag sicher auf den Wellen und kam wacker voran, aber der Steuermann am langen Ruderstock im Heck schaute in den Regen, der aufs Meer peitschte, und sah nichts als diesen Regen. Sie fuhren nach dem Kompass in Richtung Südwesten, so dass sie sicher waren, wohin die Reise ging, aber nicht ahnten, durch welche Gewässer die Route führte. Ged hörte Männer von den Untiefen nördlich von Rokh und den östlich gelegenen Borilischen Klippen reden; andere vermuteten, sie wären womöglich schon weit vom Kurs abgekommen und befänden sich in den einsamen Gewässern südlich von Kamerey. Der Wind nahm weiter stetig zu, von den hohen Wogen flogen Schaumfetzen, und sie ruderten noch immer vor dem Wind nach Südwest. Weil die Arbeit so schwer war, wurden die Schichten verkürzt; die Jüngeren wurden je zu zweit an einen Riemen gesetzt, und Ged übernahm seine Schichten, wie er es seit der Abreise von Gont getan hatte. Wenn sie nicht ruderten, schöpften sie, denn ständig schlugen Wellen über Bord. So schufteten sie inmitten von Wogen, die der Wind wie rauchende Berge vor sich hertrieb, während der Regen ihnen hart und kalt auf die Rücken klatschte und die Trommel durch das Sturmgetöse dröhnte wie ein pochendes Herz.

Ein Mann kam, um Ged am Riemen abzulösen, und schickte ihn zum Kapitän im Bug. Vom Saum des Umhangs, den der Kapitän trug, tropfte Regenwasser, aber er stand fest wie ein Weinfass auf seinem Stück Deck und fragte Ged von hoch dort oben: »Kannst du diesen Wind stillen, Junge?«

»Nein, Herr.«

»Verstehst du dich auf Eisen?«

Das war seine Art zu fragen, ob Ged so auf die Kompassnadel einzuwirken verstehe, dass sie sich nach Rokh ausrichtete anstatt nach Norden und sie auf diese Weise zu ihrem Ziel führte. Doch da diese Kunst ein Geheimnis der Seemeister ist, musste Ged erneut verneinen.

»Nun«, rief der Kapitän durch den Wind und den Regen. »Dann wirst du dir in Hort ein Schiff suchen müssen, das dich nach Rokh bringt. Rokh muss jetzt westlich von uns liegen. Bei dieser See könnte nur Magie uns hinbringen. Wir müssen Kurs nach Süden halten.«

Das gefiel Ged nicht, denn er hatte von den Matrosen vernommen, dass Hort eine gesetzlose Stadt sei, in der das Verbrechen blühe und wo Menschen geraubt und als Sklaven in die Südmarken verkauft würden. Er kehrte zu seinem Platz an den Riemen zurück und legte sich neben seinem Kameraden ins Zeug, einem kräftigen Burschen aus Andrad. Er hörte die Trommel den Takt schlagen und sah die Laterne am Heck im Wind schaukeln und flackern, ein von klatschendem Regen bedrohter Lichtpunkt in der Dämmerung. Sooft er konnte, wagte er zwischen den schnellen Ruderschlägen einen Blick nach Westen. Und als das Schiff eine hohe Woge erklomm, erhaschte er über dem dunklen Wasserdunst ein Licht zwischen den Wolken, das bei erstem Hinsehen das letzte Aufleuchten der untergehenden Sonne zu sein schien. Aber das Licht war nicht rötlich, sondern hell.

Sein Ruderkamerad hatte es nicht gesehen, doch Ged tat laut kund, was er entdeckt hatte. Nun hielt auch der Steuermann auf jeder hohen Welle danach Ausschau und erblickte es, als auch Ged es wieder sah, aber rief ihm zu, es sei bloß die untergehende Sonne. Ged bat einen der Jungen, die Wasser schöpften, ihn einen Augenblick auf der Bank abzulösen, und bahnte sich abermals mühselig einen Weg durch den dichtbepackten Gang zwischen den Bänken zum Kapitän. Dort hielt er sich am geschnitzten Bug fest, um nicht über Bord zu gehen, und rief zum Kapitän hinauf: »Herr, das helle Licht im Westen ist die Insel Rokh!«

»Ich habe kein Licht gesehen«, brüllte der Kapitän, doch noch während er sprach, deutete Ged aufgeregt nach Westen, und nun sahen alle den hellen Lichtschein über der brandenden Gischt und der tosenden See.