Grenzwelten - Ursula K. Le Guin - E-Book

Grenzwelten E-Book

Ursula K. Le Guin

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Beschreibung

Zwei große SF-Romane von Ursula K. Le Guin in vollständiger Neuübersetzung. Ursula K. Le Guins visionäre Hainish-Romane, die davon erzählen, wie die Menschheit ferne Planeten besiedelt, haben die Landkarte der modernen Science Fiction neu entworfen. In "Das Wort für Welt ist Wald" versklaven Kolonisten einen ganzen Planeten, um sich seiner Ressourcen zu bemächtigen – doch die Waldbewohner wissen sich zu wehren. "Die Überlieferung" ist die erschütternde Geschichte einer Gesellschaft, die ihr kulturelles Erbe unterdrückt hat. Die Neuübersetzung von Karen Nölle zeigt erstmals Le Guins ganze sprachliche Meisterschaft.

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Seitenzahl: 514

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Ursula K. Le Guin

Grenzwelten

Zwei Romane: Das Wort für Welt ist Wald | Die Überlieferung

Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Karen Nölle

FISCHER E-Books

Inhalt

Das Wort für Welt ist WaldVorwort12345678Die Überlieferung123456789

Das Wort für Welt ist Wald

Vorwort

Womit der Weg zur Hölle gepflastert ist

In allem, was Freud geschrieben hat, gibt es für mich nichts Schöneres als seine Behauptung, Künstler würden ihre Werke schaffen, weil es sie dränge, »Ehre, Macht, Reichtum, Ruhm und die Liebe der Frauen« zu erwerben. Es ist eine so beruhigende, so umfassende Aussage; sie sagt alles über den Künstler. Und manche Künstler sind sich sogar mit ihm einig. Ernest Hemingway zum Beispiel; wenigstens hat er behauptet, er schreibe des Geldes wegen, und als geehrter, mächtiger, reicher, berühmter Autor, der von den Frauen geliebt wurde, musste er es ja wissen.

Weniger abwegig ist meines Erachtens eine andere Äußerung darüber, wonach Künstler streben; die ersten beiden Strophen lauten:

Reichtümer schätze ich gering,

Der Liebe lach ich Hohn,

Und wie ein Traumgespinst verging

Die Ruhmsucht zeitig schon.

 

Ein einziges Gebet bewegt

von selbst die Lippen mir:

»O lass das Herz, wie’s in mir schlägt,

Und gib mir Freiheit hier!«

Diese Zeilen hat Emily Brontë mit zweiundzwanzig Jahren geschrieben. Sie war eine junge, unerfahrene Frau, weder geehrt noch reich noch mächtig noch berühmt, und für die Liebe (von Frauen oder sonst wem) hatte sie gar nichts übrig. Trotzdem meine ich, dass sie weit eher als Freud befugt war, sich darüber zu äußern, was einen Künstler motiviert. Er hatte eine Theorie. Aber sie sprach aus Erfahrung.

Für etwas so Komplexes, Uraltes und Vielseitiges wie Kunst einen einzigen Antrieb ausmachen zu wollen dürfte sinnlos, wenn nicht widersinnig sein. Für mich ist Brontë dem mit ihrem Wort »Freiheit« allemal nahe genug gekommen.

Demnach ist das Streben nach Kunst, auf Seiten des Künstlers wie des Publikums, ein Streben nach Freiheit. Wenn man dem folgt, ist es unmittelbar einzusehen, warum wirklich ernsthafte Menschen die Künste ablehnen, beargwöhnen und als »Eskapismus« verwerfen. Der gefangene Soldat, der sich einen Tunnel aus dem Kerker gräbt, der entlaufene Sklave und Solschenizyn im Exil sind Eskapisten. Oder nicht? Brontës Definition hilft jedoch außerdem zu erklären, weshalb alle gesunden Kinder singen, tanzen, malen und mit Sprache spielen können; weshalb Kunst zunehmend zu einem wichtigen Element der Psychotherapie wird; weshalb Winston Churchill gemalt hat, weshalb Mütter Wiegenlieder singen und worin Platons Staat irrt. Sie ist wahrlich weit brauchbarer als die von Freud, wenn auch nicht annähernd so lustig.

Was Freud in diesem Zusammenhang unter »Macht« versteht, erschließt sich mir nicht ganz. Vielleicht ist es bedeutsam, dass Brontë sie nicht erwähnt. Shelley tut es indirekt: »Dichter sind die geheimen Gesetzgeber der Welt.« Das ist vielleicht nicht allzu weit von dem entfernt, was Freud im Sinn hatte, denn ich bezweifle, dass es die unmittelbare, freudvolle Macht des Künstlers über seinen Stoff war – die formende Hand, des Tänzers Sprung, die Macht des Romanschriftstellers über das Leben und Sterben seiner Figuren; was er vielmehr gemeint haben wird, ist die Macht der Idee, andere Menschen zu beeinflussen.

Der Wunsch nach Macht in der Bedeutung von ›Macht über andere‹ ist das, was die meisten Menschen vom Pfad des Freiheitsstrebens abbringt. Dass Brontë sie nicht erwähnt, hat vermutlich den Grund, dass sie für Emily nicht die geringste Versuchung darstellte, anders etwa als für ihre Schwester Charlotte. Emily interessierte sich null für die Moral anderer Leute. Dieser Versuchung erliegen allerdings viele Künstler, insbesondere Künstler des Wortes, die ihre Ideen in ihren Werken ja buchstäblich zur Sprache bringen müssen. Ihnen geht auf, dass sie anderen Gutes tun können. Dann vergessen sie die Freiheit und verfallen, statt in göttlicher oder Shelley’scher Anmaßung Gesetze zu erlassen, dem Predigen.

In dieser Geschichte, Das Wort für Welt ist Wald, die als reines Streben nach Freiheit und Traum begann, bin ich, teilweise, der Lockung der Kanzel erlegen – eine sehr starke Verlockung für Science-Fiction-Autoren, die unmittelbarer als die meisten Romanautoren mit Ideen arbeiten, deren Metaphern durch Ideen motiviert sind oder sie verkörpern und die deshalb ständig in Gefahr sind, Ideen und Meinungen unauflöslich miteinander zu verquicken.

The Little Green Men (der erste Lektor, Harlan Ellison, hat, mit meiner eher widerstrebenden Erlaubnis, den Titel geändert) ist im Winter des Jahres 1968 entstanden, während eines einjährigen Aufenthalts in London. Ich hatte mich vom Anfang der Sechzigerjahre an in meiner US-amerikanischen Heimatstadt an der Organisation und Durchführung gewaltfreier Demonstrationen beteiligt, zuerst gegen Atombombentests, dann gegen das Engagement der USA im Vietnamkrieg. Ich weiß nicht, wie oft ich, mit dem Gefühl von Vergeblichkeit, tumb und halsstarrig zusammen mit zehn, zwanzig oder hundert anderen tumben, halsstarrigen Seelen im Regen durch die Alder Street marschiert bin. Wir wurden jedes Mal fotografiert, nicht von der Presse, sondern von seltsam aussehenden Menschen mit billigen Kameras: Leute von der John Birch Society? Vom FBI? Der CIA? Verrückte? Keine Ahnung. Ich grinste ihnen immer zu oder streckte die Zunge heraus. Einmal brachte einer meiner zornigeren Freunde eine Kamera mit und fotografierte die Fotografen. Aber es gab immerhin eine Friedensbewegung, und ich war dabei; ich hatte eine Möglichkeit, zu handeln und meine ethischen und politischen Ansichten zum Ausdruck zu bringen, die von meinem Schreiben völlig losgelöst war.

Während des Jahres in England, als Gast und Ausländerin, hatte ich kein solches Ventil. Und 1968 war ein bitteres Jahr für alle Kriegsgegner. Das Lügen und Heucheln vervielfachte sich; und ebenso das Töten. Außerdem wurde deutlich, dass es sich bei der Ethik, die das Entlauben von Wäldern und Grünflächen und die Ermordung von Zivilisten im Namen des »Friedens« billigte, nur um eine logische Konsequenz aus jener Ethik handelte, die es gestattet, natürliche Ressourcen zum Zweck persönlicher Bereicherung oder der Mehrung des Bruttosozialprodukts zu plündern und die Geschöpfe dieser Erde im Namen des »Menschen« zu töten. Der Sieg der Ausbeutungsethik, in allen Gesellschaften, erschien so unvermeidlich wie verhängnisvoll.

Dieser von mir verinnerlichte Druck bildet den Bodensatz dieser Geschichte: Sie brach sich gleichsam gegen meinen bewussten Widerstand Bahn. Dass mir noch nie eine Geschichte leichter, flüssiger aus der Feder geflossen ist – aber auch beim Schreiben noch nie weniger Freude bereitet hat –, habe ich bereits anderswo erzählt.

Mir war, wegen der zwingenden Logik, der sie folgt, klar, dass sie vermutlich zu einer Predigt geraten würde, und ich kämpfte dagegen an. Man sage nie, es lohne nicht zu kämpfen. Weder Lyubov noch Selver stellen einen bloßen Triumph der Tugend dar; zumindest diese beiden Figuren haben ihre moralische und psychologische Komplexität bewahrt. Davidson allerdings ist, wenn auch nicht unkomplex, rein; er ist ausschließlich böse – auch wenn ich nicht wissentlich daran glaube, dass es ausschließlich böse Menschen gibt. Aber mein Unbewusstes ist anderer Meinung. Es hat in sich hineingeschaut und aus dem, was es dort fand, Captain Davidson geschaffen. Ich verleugne ihn nicht.

Die US-amerikanische Einmischung in Vietnam ist vorbei; der unmittelbar unaushaltbare Druck hat sich verschoben, deshalb treten die moralisierenden Aspekte der Geschichte heute deutlich zutage. Sie sind mir unangenehm, aber ich verleugne auch sie nicht. Das Werk muss damit stehen oder fallen, wie viel es noch von der Sehnsucht enthält, die all der konkreten Empörung zugrunde liegt; und damit, inwieweit es ihm, Zorn und Verzweiflung zum Trotz, gelingt, sich nach Gerechtigkeit, Geist, Gnade und Freiheit zu strecken.

Gleichzeitigkeit ist fast immer möglich

Vor ein paar Jahren, nicht lange nach der Erstveröffentlichung von Das Wort für Welt ist Wald, hatte ich das große Vergnügen, Dr. Charles Tart kennenzulernen, einen Psychologen, der für seine Erkenntnisse über veränderte Bewusstseinszustände bekannt ist und diese in Altered States of Consciousness beschrieben hat. Er fragte mich, ob ich mir für die Athscheaner in meinem Buch das Volk der Senoi in Malaysia zum Vorbild genommen hätte. Wen?, fragte ich, und daraufhin erzählte er mir von ihnen. Die Senoi sind oder waren ein Volk mit einer Kultur, in der das Träumen und der Umgang mit Träumen so sehr zum Leben gehören, dass es eigens eine Ausbildung dafür gibt. Dr. Tarts Buch enthält einen kurzen, von Kilton Stewart verfassten Artikel über diese Menschen.[1]

In einem Haus der Senoi geht es beim Frühstück zu wie in einer Traumklinik; der Vater und die älteren Brüder hören sich die Träume der Kinder an und analysieren sie …

Wenn ein Kind der Senoi von einem Falltraum berichtet, reagiert der Erwachsene mit Freude: »Das ist ein wunderbarer Traum, einer der besten, die ein Mensch haben kann. Wohin bist du gefallen, und was hast du entdeckt?«

Bei den Senoi tragen Träume Bedeutung, sie sind aktiv und schöpferisch. Erwachsene treten willentlich in Träume ein, um zwischenmenschliche und interkulturelle Konflikte zu lösen. Sie bringen aus ihren Träumen ein neues Lied oder Werkzeug, einen neuen Tanz oder eine neue Idee mit. Wach- und Traumzustand sind gleichwertig und wirken wechselweise aufeinander ein.

Der Artikel impliziert, mehr durch Auslassung denn direkt, dass die »großen Träumer« der Senoi Männer sind. Ob das bedeutet, dass Frauen gesellschaftlich weniger gelten, oder ob sie (wie bei den Athscheanern) eine andere, ebenbürtige Funktion haben, wird nicht geklärt. Auch über den Gottesbegriff der Senoi, das Numinose usw. wird nichts gesagt; es wird lediglich festgestellt, dass diese keine Magie praktizieren, obwohl es ihnen durchaus recht ist, dass die Nachbarvölker davon überzeugt sind, dass sie es tun, weil es sie von Überfällen abschreckt.

Sie haben ein System zwischenmenschlicher Beziehungen entwickelt, von dem man vielleicht sagen könnte, dass es, auf dem Gebiet der Psychologie, das gleiche Niveau besitzt wie unsere Errungenschaften etwa auf den Feldern der Fernsehtechnik oder der Nuklearphysik.

Wie es scheint, haben die Senoi seit mehreren hundert Jahren weder Kriege noch Morde erlebt.

Da sind sie, zehn- bis zwölftausend an der Zahl, bauen Feldfrüchte an, jagen, fischen und träumen in den Regenwäldern der malaysischen Berge. Oder vielmehr da waren sie 1935 – vielleicht. Kilton Stewarts Bericht hat, soweit ich weiß, keine wissenschaftlichen Nachfolger gefunden. Waren sie jemals dort? Und wenn ja, sind sie es noch immer? In der Wachzeit, meine ich, dem, was wir so wunderbarerweise als »die reale Welt« bezeichnen. In der Traumzeit sind sie natürlich da – und hier. Ich glaubte, mein eigenes Häuflein imaginärer Aliens zu erfinden, und habe lediglich die Senoi beschrieben. Im Unbewussten lassen sich, wenn man sucht, nicht nur die Captain Davidsons finden. Auch die stillen Menschen, die nicht töten, wohnen dort. Offenbar verbirgt sich sehr vieles dort: die Dinge, vor denen wir uns am meisten fürchten (und die wir daher leugnen), die Dinge, die wir am meisten brauchen (und die wir daher leugnen). Ich frage mich: Wäre es nicht Zeit, auf unsere Träume und die Träume unserer Kinder zu hören?

»Wohin bist du gefallen, und was hast du entdeckt?«

 

Ursula K. Le Guin, 1977

1

Captain Davidson geisterten, als er aufwachte, zwei Dinge von gestern durch den Kopf, und er blieb noch eine Weile im Dunkeln liegen, um sie zu betrachten. Gut: Die neue Fuhre Frauen war angekommen. Kaum zu glauben. Sie waren hier, in Centralville, siebenundzwanzig Lichtjahre von der Erde per NAFAL und vier Stunden von Smith Camp im Heli, der zweite Schwung gebärfähiger Weiber für die Kolonie New Tahiti, gut in Schuss und sauber, 212mal bestes Menschenmaterial. Jedenfalls ziemlich. Schlecht: Der Bericht über Dump Island, Missernten, schwere Erosion, ein Totalausfall. In Davidsons Kopf verblasste die lange Schlange der 212 kleinen, willigen, vollbusigen Wesen, und er sah Regen, der auf gepflügte Böden prasselte, sie zu Morast verschlammte, den Schlamm zu einer roten Brühe verdünnte und über Felsen ins regengepeitschte Meer schwemmte. Die Erosion hatte eingesetzt, bevor er von Dump Island weggegangen war, um Smith Camp zu übernehmen, und da er mit einem außergewöhnlichen visuellen Erinnerungsvermögen begabt war, einem fotografischen Gedächtnis, sah er die Bilder jetzt allzu deutlich vor sich. Es schien, als hätte Kees, dieser Eierkopf, recht, und man müsste dort, wo man Farmer ansiedeln wollte, haufenweise Bäume stehen lassen. Wobei ihm immer noch nicht einleuchtete, warum eine Sojafarm so viel Platz an Bäume vergeuden musste, wenn man bei der Bewirtschaftung des Bodens streng wissenschaftlich vorging. In Ohio war das nicht so; wer Mais anbauen wollte, baute Mais an und verschwendete keinen Platz auf Bäume und dergleichen. Allerdings war die Erde ein gebändigter Planet, und New Tahiti nicht. Dazu war er hier. Um es zu bändigen. Wenn Dump Island jetzt nur noch aus Felsen und Schluchten bestand, dann weg damit. Auf einer neuen Insel von vorn anfangen und besser machen. Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir sind Männer. Was das heißt, wirst du bald lernen, du gottverdammter Scheißplanet, dachte Davidson und grinste in der dunklen Hütte ein wenig vor sich hin, denn er liebte Herausforderungen. Der Gedanke an Männer brachte ihn auf Frauen, und schon begann die Schlange der kleinen Figuren ihm wieder durch den Kopf zu wiegen, lächeln, wackeln.

»Ben!«, brüllte er, während er sich aufsetzte und die nackten Füße auf den bloßen Boden schwang. »Heißwasser, schnellschnell!« Das Brüllen machte ihn angenehm wach. In einer einzigen lässigen Bewegungsfolge reckte er sich, kratzte sich die Brust, zog die Shorts über und trat auf die sonnenbeschienene Lichtung hinaus. Als hochgewachsener, mit harten Muskeln bepackter Mann machte es ihm Freude, seinen durchtrainierten Körper zu benutzen. Ben, sein Krietschi, hatte das Wasser fertig, es dampfte wie üblich über dem Feuer, während er wie üblich daneben hockte und ins Leere starrte. Krietschis schliefen nie, sie saßen bloß da und glotzten. »Frühstück, schnellschnell!«, sagte Davidson und nahm seinen Rasierer vom rohen Holztisch, auf dem der Krietschi ihn mit einem Handtuch und einem aufgestellten Spiegel bereitgelegt hatte.

Heute war viel zu tun, da er in jenen letzten Momenten vor dem Aufstehen beschlossen hatte, nach Central zu fliegen und die neuen Frauen selbst zu begutachten. Sie würden nicht lange vorhalten, 212 für mehr als zweitausend Männer, und wie beim ersten Schwung waren die meisten wahrscheinlich Kolonialbräute, während nur zwanzig bis dreißig als Freizeitpersonal gekommen waren; aber das waren echt scharfe, geile Weiber, und er hatte fest vor, diesmal bei mindestens einer von ihnen der Erste zu sein, der rankam. Er grinste linksseitig, hielt die rechte Backe weiter für den schnarrenden Rasierer steif.

Der alte Krietschi trödelte vor sich hin und brauchte eine Stunde, bis er ihm das Frühstück aus dem Kochhaus brachte. Als Davidson »Schnellschnell!« brüllte, beschleunigte er sein knochenloses Dahinschleichen ein wenig. Ben war ungefähr ein Meter groß, sein Rückenfell mehr weiß als grün. Er war alt und selbst für einen Krietschi dumm, aber Davidson wusste, wie man ihn behandeln musste. Viele Männer konnten überhaupt nicht mit den Krietschis umgehen, aber er hatte nie Ärger mit ihnen gehabt; er kriegte jeden von ihnen gezähmt, wenn es die Mühe lohnte. Tat es aber nicht. Wenn sie erst genug Menschen hier hatten, Roboter und Maschinen, Städte und Farmen, dann würde niemand mehr die Krietschis brauchen. Und das wäre gut so. Denn diese Welt, New Tahiti, war buchstäblich für Menschen geschaffen. Aufgeräumt und gesäubert, die dunklen Wälder gerodet und durch offene Kornfelder ersetzt, die primitive Umnachtung, Barbarei und Ignoranz ausgemerzt, wäre es ein Paradies, ein wahres Eden. Eine bessere Welt als die ausgelaugte Erde. Und es wäre seine Welt. Denn das war Don Davidson in seinem tiefsten Herzen: ein Weltenbändiger. Er war kein Angeber, aber er kannte seine Größe. So war er nun mal geschaffen. Er wusste, was er wollte und wie er es bekam. Und er kriegte es immer.

Das Frühstück landete warm in seinem Bauch. Nicht einmal der Anblick von Kees Van Sten, der dick, weiß und sorgenvoll, mit diesen golfballgroßen blauen Glubschaugen auf ihn zukam, konnte ihm die Laune verderben.

»Don«, sagte Kees ohne Begrüßung, »die Holzfäller haben in den Schneisen schon wieder Rotwild gejagt. In der Abstellkammer hinterm Aufenthaltsraum liegen achtzehn Geweihe.«

»Wilderer hat noch keiner vom Wildern abgehalten, Kees.«

»Du könntest ein Machtwort sprechen. Deswegen leben wir unter Kriegsrecht, deswegen untersteht diese Kolonie der Army. Damit die Gesetze eingehalten werden.«

Ein Frontalgriff vom dicken Eierkopf! Es war fast zum Lachen. »Stimmt«, sagte Davidson versöhnlich. »Ich könnte ein Machtwort sprechen. Aber es ist doch so, ich bin für die Männer zuständig. Das ist meine Aufgabe, wie du sagst. Und was zählt, sind die Männer. Nicht die Tiere. Wenn ein bisschen außergesetzliches Jagen den Männern hilft, das gottverlassene Leben hier auszuhalten, dann habe ich vor, ein Auge zuzudrücken. Sie müssen irgendein Vergnügen haben.«

»Sie haben Spiele, Sport, Hobbys, Filme, Videos von allen größeren Sportereignissen des letzten Jahrhunderts, Alkohol, Marihuana, Hallus und eine frische Fuhre Frauen in Central. Für alle, denen die phantasiearmen Einrichtungen der Army für hygienische Homosexualität nicht reichen. Sie sind total verwöhnt, deine Pionierhelden. Sie müssen keine seltene einheimische Spezies ausrotten, um sich ›zu vergnügen‹. Wenn du nicht handelst, muss ich in meinem Bericht an Captain Gosse einen groben Verstoß gegen die Umweltregeln melden.«

»Mach das, wenn du es für richtig hältst, Kees«, sagte Davidson, der niemals die Beherrschung verlor. Es war nachgerade bedauernswert, wie rot diese Euros im Gesicht anliefen, wenn ihnen die Kontrolle über ihre Gefühle entglitt. »Das ist schließlich dein Job. Ich werde dir deswegen keinen Vorwurf machen; das können die in Central ausfechten und beschließen, wer recht hat. Weißt du, Kees, du willst im Grunde, dass hier alles so bleibt, wie es ist. Ein großer Naturwald quasi. Um ihn zu betrachten, zu studieren. Prima, du bist ein Spesch. Aber verstehst du, wir sind bloß normale Kerle, die ihre Arbeit machen. Die Erde braucht Holz, braucht es dringend. Wir finden Holz auf New Tahiti. Und … wir sind Holzfäller. Verstehst du, der Unterschied zwischen uns ist, für dich steht die Erde nicht an erster Stelle. Aber für mich tut sie das.«

Kees bedachte ihn mit einem schiefen Blick aus seinen blauen Golfballaugen. »Ach so? Du willst diese Welt zum Abbild der Erde machen, ja? Zu einer Betonwüste?«

»Wenn ich Erde sage, Kees, meine ich die Menschen. Die Menschheit. Du sorgst dich um Hirsche und Bäume und Faserkraut, schön, das ist dein Ding. Aber ich sehe die Dinge gern nüchtern, von oben her, und ganz oben steht bislang der Mensch. Wir sind jetzt hier, und darum wird diese Welt jetzt unseren Weg gehen. Ob es dir passt oder nicht, du wirst der Tatsache ins Auge blicken müssen; so liegen die Dinge nun mal. Hör zu, Kees, ich werde heute auf einen Sprung nach Central fliegen, um mir die neuen Kolonisten anzugucken. Willst du mit?«

»Danke nein, Captain Davidson«, sagte der Spesch schon auf dem Weg zur Laborbaracke. Er war wirklich sehr wütend. Vollkommen aufgebracht über das verfluchte Wild. Es waren ja auch wunderschöne Tiere. In Davidsons lebhafter Erinnerung tauchte der erste Hirsch auf, den er gesehen hatte, hier auf Smith Land, ein großer roter Schatten, zwei Meter Schulterhöhe, mit einem schlanken goldenen Geweih gekrönt, stolze, flinke Brust, das schönste Jagdwild, das man sich vorstellen konnte. Daheim auf der Erde wurden jetzt sogar in den High Rockies und im Himalaja Park Robohirsche eingesetzt, weil es kaum mehr echte gab. Die hiesigen waren für Jäger ein Traum. Also würden sie gejagt werden. Herrje, sogar die Krietschis jagten sie mit ihren läppischen kleinen Bögen. Man würde die Hirsche jagen, weil sie dazu bestimmt waren. Aber das konnte das alte Weichei Kees nicht begreifen. Im Grunde war er ein kluger Kopf, aber nicht realistisch, einfach nicht rational genug. Er verstand nicht, dass man sich zu den Gewinnern schlagen musste, weil man sonst zum Verlierer wurde. Und der Gewinner war immer der Mensch. Der alte Konquistador.

Davidson schlenderte weiter durch die Siedlung, das Licht der Morgensonne in den Augen, den süßen Duft von gesägtem Holz und warmem Holzrauch in der Nase. War alles ganz ordentlich, für ein Holzfällerlager. Die zweihundert Männer hier hatten in nur drei E-Monaten ein hübsches Stück Wildnis gebändigt. Smith Camp: zwei große Korruplastgeodäten, vierzig durch Krietschi-Arbeit errichtete Holzhütten, das Sägewerk, der Brenner, dessen blaue Rauchfahne über viele Hektar Stamm- und Schnittholz wehte, oben am Berg der Landeplatz und die große Fertighalle für Helikopter und schweres Gerät. Das war alles. Aber als sie hier ankamen, war hier gar nichts gewesen. Bäume. Ein dunkles Gedränge, ein wüstes Durcheinander aus Bäumen, ohne Ende, ohne Sinn. Ein träger, unter Bäumen versteckter und erstickter Fluss, ein paar in den Bäumen verborgene Krietschibehausungen, ein bisschen Rotwild, behaarte Affen, Vögel. Und Bäume. Wurzeln, Stämme, Äste, Zweige und Blätter, Blätter oben und unten, im Gesicht und in den Augen, Blätter ohne Ende an Bäumen ohne Ende.

New Tahiti bestand größtenteils aus Wasser, warmen seichten Meeren, unterbrochen hier und dort von Riffen, einzelnen Inseln, Inselgruppen und den fünf großen Landen, die sich in einem 2500 Kilometer weiten Bogen über die nordwestliche Viertelsphäre zogen. Und sämtliche Landflecken und -massen waren von Bäumen bedeckt. Meer – Wald. Das war’s, was auf New Tahiti zur Auswahl stand. Wasser und Sonne oder Dunkelheit und Laub.

Aber jetzt waren Männer gekommen, um der Dunkelheit ein Ende zu bereiten und das Durcheinander aus Bäumen in saubere, gesägte Bohlen zu verwandeln, die auf der Erde kostbarer waren als Gold. Buchstäblich, weil man Gold aus dem Meer und unter dem Eis der Antarktis gewinnen konnte, aber Holz nicht. Holz kam nur von Bäumen. Und war auf der Erde ein echter, notwendiger Luxus. Darum wurden die außerirdischen Wälder zu Holz verarbeitet. Auf Smith Land hatten zweihundert Männer mit Robosägen und Transportern acht Meilen breite Schneisen geschlagen, in drei Monaten. Die Stümpfe in der Schneise, die dem Lager am nächsten lag, waren bereits weiß und faulig; durch die chemische Behandlung würden sie, bis die Farmer als Dauerkolonisten kamen, um Smith Land zu besiedeln, zu fruchtbarer Asche zerfallen sein. Die Farmer brauchten bloß noch Saat auszubringen und sprießen zu lassen.

Es war schon einmal gelungen. Das war eine merkwürdige Geschichte und im Grunde der Beweis, dass New Tahiti dafür geschaffen war, von Menschen übernommen zu werden. Das ganze Zeug hier war von der Erde gekommen, vor ungefähr einer Million Jahren, und die Evolution war auf so ähnlichem Weg verlaufen, dass man das meiste sofort erkannte: Pinie, Eiche, Walnuss, Kastanie, Fichte, Apfel, Esche; Hirsch, Vogel, Maus, Katze, Eichhörnchen, Affe. Die Humanoiden von Hain-Davenant behaupteten natürlich, sie hätten das alles zur gleichen Zeit in Gang gesetzt wie damals, als sie die Erde besiedelten, aber wenn man diesen Aliens Glauben schenkte, würden sie einem einreden, dass sie sämtliche Planeten der Galaxie besiedelt und alles vom Sex bis zur Reißzwecke erfunden hätten. Da waren die Atlantistheorien sehr viel realistischer, und es war gut möglich, dass es sich hier um eine verlorene Kolonie von Atlantis handelte. Nur dass die Menschen ausgestorben waren. Und das Nächstliegende, was sich ersatzweise aus der Affenlinie entwickelt hatte, waren die Krietschis – ein Meter groß und mit grünem Fell. Für Aliens waren sie ziemlich normal, aber als Menschen waren sie Nieten, sie hatten es einfach nicht geschafft. Vielleicht wenn man ihnen noch eine Million Jahre Zeit ließ. Aber dem waren die Konquistadoren zuvorgekommen. Jetzt schritt die Evolution nicht mehr im Tempo einer zufälligen Mutation pro Jahrtausend voran, sondern mit der Geschwindigkeit eines Raumschiffs der terranischen Flotte.

»Hey, Captain!«

Davidson drehte sich um. Er reagierte nur um eine Mikrosekunde verzögert, aber schon das reichte, um ihn zu ärgern. Dieser verfluchte Planet mit seinem goldenen Sonnenlicht und dunstigen Himmel, seinen sanften Winden, die nach Laubmulch und Pollen dufteten, hatte etwas, das zum Tagträumen verleitete. Man latschte durch die Gegend und ließ die Gedanken zu Konquistadoren, der Bestimmung des Menschen und derlei schweifen, bis man so träge und dickfellig wurde wie ein Krietschi. »Morgen, Okna!«, erwiderte er forsch dem Vormann der Holzfäller.

Schwarz und straff wie ein Drahtseil war Oknanawi Nabo physisch das Gegenteil von Kees, doch seine Miene war ebenso besorgt. »Hast du einen kleinen Moment?«

»Klar. Was hast du auf dem Herzen, Okna?«

»Die kleinen Mistkerle.«

Sie lehnten ihren Hintern an einen rohen Lattenzaun. Davidson steckte sich den ersten Joint des Tages an. Warmes Sonnenlicht, blau verfärbt von Rauch, fiel schräg durch die Luft. Der Wald hinter dem Lager, ein viertelmeilenbreiter, ungerodeter Streifen, war erfüllt von Knistern, Keckern, Rascheln, Scharren und den mannigfachen silbrigen Geräuschen, die in Wäldern am Morgen üblich sind. Die Lichtung hätte 1950 in Idaho liegen können. Oder 1830 in Kentucky. Oder 50 v. Chr. in Gallien. »Te-uit«, machte in der Ferne ein Vogel.

»Ich würde sie gern los sein, Captain.«

»Die Krietschis? Wie meinst du das, Okna?«

»Sie einfach entlassen. Das bisschen Arbeit, was ich im Sägewerk aus ihnen rauskriege, reicht nicht für ihren Unterhalt. Und rechtfertigt nicht die Kopfschmerzen, die sie mir machen. Sie arbeiten einfach nicht.«

»Wenn man sie zu zwingen weiß, geht es. Sie haben das Lager gebaut.«

Oknanawis obsidianschwarzes Gesicht war verzagt. »Ja, du hast offenbar ein Händchen für sie. Ich nicht.« Er zögerte. »Im Kurs für angewandte Geschichte während meiner Ausbildung für ferne Welten hieß es, Sklaverei könne nicht funktionieren. Sie sei unwirtschaftlich.«

»Richtig, aber wir haben hier keine Sklaverei, Okna Baby. Sklaven sind Menschen. Wenn man Kühe hält, nennt man das Sklaverei? Nein, und es funktioniert.«

Der Vormann nickte ergeben, doch er sagte: »Sie sind zu klein. Ich habe versucht, die Bockigen mit Hunger zu strafen. Sie setzen sich einfach hin und hungern.«

»Sie sind klein, das stimmt, aber lass dich von ihnen nicht täuschen, Okna. Sie sind zäh; sie haben eine unwahrscheinliche Ausdauer, und sie spüren Schmerz nicht wie Menschen. Das ist das, was du vergisst, Okna. Du meinst, sie zu schlagen, wäre so, als würde man ein Kind schlagen. Glaub mir, es ist eher, als würde man einen Roboter schlagen, weil sie so wenig spüren. Sieh mal, du hast doch auch schon ein paar weibliche gevögelt, also weißt du, dass sie nicht das Geringste zu spüren scheinen, weder Lust noch Schmerz. Sie liegen einfach da wie Matratzen, ganz egal, was man mit ihnen anstellt. So sind sie alle. Wahrscheinlich haben sie primitivere Nerven als Menschen. Wie Fische. Ich will dir dazu mal was Komisches erzählen. Als ich noch in Central war, vor meiner Zeit hier, ist mal ein Gezähmter auf mich losgegangen. Ich weiß, dass sie angeblich nicht kämpfen, aber dieser war spla, er ist vollkommen durchgedreht. Zum Glück war er nicht bewaffnet, sonst hätte er mich umgebracht. Ich musste ihn fast umbringen, ehe er mich aus seinen Klauen ließ. Und auch danach griff er immer wieder an. Es war unglaublich, wie viel Prügel er einsteckte, ohne auch nur das Geringste zu spüren. Wie so’n Käfer, auf den man immer wieder treten muss, weil er nicht mitkriegt, dass er schon platt ist. Guck mal hier.« Davidson neigte den kurzgeschorenen Schädel und zeigte auf eine dicke, verkrustete Narbe hinter einem Ohr. »Das war knapp vor einer Gehirnerschütterung, verflucht. Und die hat er mir zugefügt, nachdem ich ihm einen Arm gebrochen und ihm die Fresse zu Moosbeerenmus zerschlagen hatte. Er griff einfach immer weiter und immer weiter an. Die Sache ist die, Okna, die Krietschies sind faul, sie sind dumm, sie sind heimtückisch, und sie spüren keinen Schmerz. Man muss hart mit ihnen sein, und hart bleiben.«

»Sie sind es nicht wert, Captain. Sie sind verfluchte kleine grüne trotzige Scheißkerle, die nicht kämpfen wollen, nicht arbeiten wollen, rein gar nichts wollen. Außer auf meinen Nerven rumtrampeln.« Oknanawis Geschimpfe war freundlich im Ton, aber machte seine Haltung trotzdem deutlich. Er lehnte es ab, die Krietschis zu schlagen, weil sie so viel kleiner waren; das war für ihn völlig klar und ging jetzt auch Davidson auf, der es sofort akzeptierte. Er wusste seine Männer zu nehmen. »Hör zu, Okna. Versuch’s mal so. Du knöpfst dir die Rädelsführer vor und sagst ihnen, dass du ihnen ein Halluzinogen einflößen wirst. Mesc, Lyce, irgendeins, sie können die alle nicht auseinanderhalten. Aber sie haben Schiss davor. Wenn du es nicht übertreibst, funktioniert es. Das garantiere ich.«

»Warum haben sie Angst vor Hallus?«, fragte der Vormann interessiert.

»Woher soll ich das wissen? Warum haben Frauen Angst vor Ratten? Bei Frauen und Krietschis sucht man nicht nach Gründen, Okna! Apropos, ich will heute Früh gleich los nach Central, soll ich dir schon mal einen Collie sichern?«

»Lass lieber einfach ein paar in Frieden, bis ich freihabe«, sagte Okna grinsend. Ein Krietschitrupp kam mit einem langen, quadratisch zugeschnittenen Balken für das Gemeinschaftshaus vorbei, das unten am Fluss gebaut wurde. Kleine Kerle, die langsam und tapsig den dicken Balken vor sich her schoben wie Ameisen, die zusammen eine tote Raupe fortbewegen, träge und ungeschickt. Oknanawi sah ihnen zu und sagte: »Die Sache ist, Captain, sie sind mir unheimlich.«

Es war komisch, das von einem harten, ruhigen Burschen wie Okna zu hören.

»Ich bin, ehrlich gesagt, auch deiner Meinung, Okna, dass sie die Mühe und das Risiko nicht wert sind. Wenn wir Lyubov, diesen Sack, nicht hätten und der Colonel nicht so drauf versessen wäre, die Richtlinien einzuhalten, dann könnten wir, denke ich, die Gegenden, die wir besiedeln, einfach säubern und auf diese Nummer mit der freiwilligen Arbeit verzichten. Sie werden früher oder später ausgerottet werden, da kann es doch gern früher sein. So laufen die Dinge nun mal. Primitive Rassen müssen immer den zivilisierten weichen. Oder assimiliert werden. Aber wir können todsicher nicht massenweise grüne Affen assimilieren. Und es ist, wie du sagst: Sie sind gerade so helle, dass auf sie niemals Verlass sein wird. Genau wie diese großen Affen, die früher in Afrika lebten, wie hießen die noch?«

»Gorillas?«

»Richtig. Wir werden hier ohne Krietschis besser zurechtkommen, genau wie wir in Afrika ohne Gorillas besser zurechtkommen. Sie sind uns im Weg … Aber Daddy Ding-Dong sagt: Nutzt Krietschi-Arbeit, also nutzen wir Krietschi-Arbeit. Eine Weile lang. Okay? Bis heute Abend, Okna, wir sehen uns.«

»Jawohl, Captain.«

Im Hauptquartier von Smith Camp, einem vier Meter langen Kiefernholzwürfel mit zwei Schreibtischen und einem Wasserkühler, meldete Davidson sich und den Heli ab. Lt.Birno reparierte gerade ein Walkie-Talkie. »Pass auf, dass niemand das Lager abbrennt, Birno.«

»Bring mir ’ne Collie mit, Cap.Blond. 85–55–90.«

»Jesus, mehr nicht?«

»Ich mag sie fit, nicht fleischig: so.« Birno malte schwungvoll seine Wunschform in die Luft. Davidson ging grinsend weiter zum Hangar. Während er den Helikopter über dem Lager hochzog, sah er es sich von oben an: Bauklötze, Trampelpfade, langgezogene, mit Stümpfen übersäte Kahlschläge, die unter ihm immer kleiner wurden, vor ihm das dunkle Grün des ungerodeten Waldes auf der großen Insel und jenseits davon das helle Grün des endlos weiten Meeres. Smith Camp lag hinter ihm wie ein gelber Fleck, ein kleiner Klecks auf einem riesigen grünen Wandteppich.

Er überflog die Smith Straße und die bewaldeten, tiefgefurchten Bergketten der nördlichen Zentralinsel und landete noch vor Mittag in Centralville. Es sah, zumindest nach drei Monaten im Wald, aus wie eine Stadt; sie hatte richtige Straßen, richtige Gebäude und existierte seit der Gründung der Kolonie vor vier Jahren. Was für ein kümmerlicher kleiner Außenposten sie in Wirklichkeit war, fiel erst auf, wenn der Blick zu einem schlanken goldenen Turm wanderte, der eine halbe Meile südlich über der von Stümpfen übersäten Schneise mit den betonierten Wegen funkelte und alles andere in Centralville um Längen überragte. Es war kein großes Schiff, aber hier wirkte es gigantisch. Dabei war es lediglich eine Landefähre, ein Beiboot; das NAFAL Schiff der Linie, die Shackleton, befand sich auf einer Umlaufbahn in 500000 Kilo Höhe. Die Landefähre war nur ein Wink, eine bloße Fingerspitze der Riesigkeit, der Macht, der goldenen Pracht und Präzision der Sterne überbrückenden Technologie von Terra.

Das war der Grund, weshalb Davidson beim Anblick des heimatlichen Schiffes einen kleinen Moment lang Tränen in die Augen stiegen. Er schämte sich ihrer nicht. Er war ein Patriot, so war er nun mal geschaffen.

Schon bald jedoch, auf seinem Weg durch die Straßen der Pioniersiedlung mit den weiten Ausblicken auf fast nichts am jeweiligen Ende, breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. Denn die Frauen waren tatsächlich da, und man sah ihnen an, dass sie frisch waren. Die meisten trugen lange, enge Röcke und große galoschenähnliche Schuhe in Rot, Lila oder Gold und goldene oder silberne Rüschenhemden. Ohne Nippellöcher. Die Mode hatte sich geändert. Schade. Das Haar hatten alle zu Hochfrisuren aufgetürmt, es musste mit diesem Klebzeug eingesprüht sein, das sie immer benutzten. Unglaublich hässlich, aber als etwas, was nur Frauen mit ihrem Haar aufstellen konnten, zugleich auch erregend. Davidson grinste einer vollbusigen Eurafin mit mehr Haar als Haupt zu; sie reagierte nicht mit einem Lächeln, sondern einem Hüftschwung nach hinten, der eindeutig sagte: Komm mit, komm mit, mit mir. Doch das tat er nicht. Noch nicht. Er ging ins HQ von Central – Quickstein und Plastiplatten in Standardausführung, vierzig Büroräume, zehn Wasserkühler, im Keller ein Waffenlager –, um sich in der zentralen Kolonialkommandantur von New Tahiti zu melden. Dort unterhielt er sich mit paar Männern von der Landefähre, beantragte im Forstbüro einen neuen Semiroborindenschäler und verabredete sich mit seinem alten Kumpel Juju Sereng auf Vierzehnhundert in der Luau Bar.

In der Bar traf er eine Stunde früher ein, um vor dem Besäufnis noch etwas zu essen. Lyubov saß schon dort, mit zwei Männern in Flottenuniform, irgendwelchen Speschs, die mit der Landefähre der Shackleton gekommen waren. Davidson hatte nicht viel für die Navy übrig, diesen Haufen piekfeiner Sonnenhüpfer, die der Army die gefährliche Drecksarbeit auf den Planeten überließen; aber Blech war Blech, und außerdem hatte es was Komisches, Lyubov mit Uniformierten auf gut Freund machen zu sehen. Er redete und wedelte dabei wie immer mit den Armen. Davidson tippte ihm im Vorbeigehen kurz auf die Schulter und sagte: »Hey, Raj, alter Kumpel, was macht die Kunst?« Er ging weiter, ohne auf den bösen Blick zu warten, obwohl er ihn sich ungern entgehen ließ. Es war wirklich zum Schießen, wie sehr Lyubov ihn hasste. Wahrscheinlich hatte er was Weibisches an sich wie so viele Intellektuelle und nahm Davidson seine Virilität krumm. Wie auch immer, er hatte nicht vor, seine Zeit mit Hass auf Lyubov zu verschwenden, das war er einfach nicht wert.

Im Luau gab es ein erstklassiges Wildsteak. Was würden die auf der alten Erde wohl sagen, wenn sie sahen, dass jemand bei einer einzigen Mahlzeit ein ganzes Kilogramm Fleisch verdrückte? Diese armen elenden Sojabohnenfresser! Bald erschien Juju, wie Davidson vertrauensvoll erwartet hatte, mit den beiden schärfsten der neuen Colliegirls: zwei saftige Schönheiten, keine Bräute, sondern Freizeitpersonal. Ah, manchmal hielt die alte Kolonialverwaltung Wort! Es wurde ein langer, heißer Nachmittag.

Auf dem Rückflug ins Lager überquerte er die Smith Straße auf gleicher Höhe mit der Sonne, und sie lag auf einem großen goldenen Bett aus Dunst über dem Meer. Er lümmelte sich singend auf seinem Pilotensitz. Smith Land wirkte im Näherkommen verschleiert, und über dem Lager hing dicker, dunkler Rauch, als wäre Öl in den Müllverbrenner geraten. Erst kurz vor der Landung sah er den ausgebrannten Jet auf dem Flugfeld, die kaputten Helis, den verkohlten Hangar.

Er zog den Heli wieder hoch und flog über das Camp, so niedrig, dass er um ein Haar gegen den hohen Kegel des Verbrenners geprallt wäre, das Einzige, was noch aufragte. Alles andere war weg. Sägewerk, Ofen, Holzplatz, HQ, Hütten, Kasernen, der Krietschipferch, alles. Schwarze Überreste und Wracks, von denen noch Rauch aufstieg. Aber es war kein Waldbrand gewesen. Der Wald stand da, grün, gleich neben den Trümmern. Davidson kehrte im Bogen zum Flugfeld zurück, landete und rannte zum Motorrad, doch das lag ebenfalls als schwarzes Wrack neben den schwelenden, stinkenden Resten des Hangars und der Maschinen. Er lief den Pfad hinunter ins Camp. Auf Höhe der ehemaligen Funkerbaracke setzte plötzlich sein Verstand wieder ein. Ohne auch nur einen Schritt lang zu zögern, änderte er seinen Kurs, verließ den Weg und trat hinter die ausgebrannte Hütte. Dort blieb er stehen. Und lauschte.

Es war niemand da. Alles war still. Die Feuer waren längst erloschen; nur die großen Holzstapel schwelten noch, und unter der Asche und Kohle leuchtete rot die heiße Glut. Wertvoller als Gold waren diese langen Aschehaufen gewesen. Aus den schwarzen Gerippen der Hütten und Baracken stieg kein Rauch mehr, und in der Asche lagen Knochen.

Davidsons Verstand arbeitete jetzt, wo er hinter der Funkerbaracke hockte, klar und messerscharf. Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens: ein Überfall aus einem anderen Camp. Irgendein Offizier auf King oder New Java war durchgedreht und versuchte einen Coup de Planète. Zweitens: ein Überfall aus dem Weltraum. Er sah den goldenen Turm auf der Landerampe in Central vor sich. Aber wenn die Shackleton zum Freibeuter geworden war, warum sollte sie zuerst eine kleine Siedlung ausradieren, anstatt Centralville zu erobern? Nein, es musste sich um eine Invasion handeln, durch Aliens. Durch eine unbekannte Rasse. Oder vielleicht hatten die Ceter oder die Hainisch beschlossen, die Kolonien der Erde an sich zu reißen. Er hatte diesen oberschlauen Humanoiden nie getraut. Sie mussten mit einer Hitzebombe angegriffen haben. Die Invasoren, mit ihren Jets, Aircars und Nuklearwaffen hatten sich höchstwahrscheinlich auf einer Insel oder einem Riff in der Viertelsphäre SW versteckt. Er musste zurück in den Heli, um Alarm zu schlagen, und dann versuchen sich umzuschauen, das Ganze weiter auszukundschaften, um dem HQ anschließend seinen Lagebericht durchzugeben. Als er sich gerade aufrichten wollte, hörte er Stimmen.

Keine menschlichen Stimmen. Hohes, leises Kauderwelsch. Aliens.

Davidson hockte auf allen vieren hinter dem Kunststoffdach der Baracke, das durch die Hitze verformt vom Boden aufragte wie ein Fledermausflügel, und lauschte.

Wenige Meter vor ihm gingen vier Krietschis auf dem Weg vorbei. Es waren wilde Krietschis, nackt bis auf lockere Ledergürtel, an denen Messer und Beutel hingen. Keiner von ihnen trug die Shorts und den Lederkragen, mit denen die zivilisierten ausgestattet wurden. Offenbar waren die Freiwilligen im Lager mit den Menschen zusammen verbrannt.

Nicht weit von seinem Versteck blieben die Vier stehen und plauderten in ihrem bedächtigen Kauderwelsch. Davidson hielt den Atem an. Er wollte nicht von ihnen entdeckt werden. Was zum Teufel machten die Krietschis hier? Das konnten nur Spitzel und Kundschafter für die Invasoren sein.

Einer deutete beim Reden nach Süden und drehte sich dabei so, dass Davidson sein Gesicht sah. Und das erkannte er. Alle Krietschis sahen gleich aus, aber dieser eine war anders. Diesem Gesicht hatte er vor weniger als einem Jahr unauslöschlich seine Unterschrift aufgedrückt. Er war der Durchgeknallte, der ihn damals in Central angegriffen hatte, der Mordlustige, Lyubovs Liebling. Was in drei Teufels Namen hatte er hier zu suchen?

Davidsons Gedanken rasten, es klickte, er reagierte wie immer blitzartig. Lässig schnellte er auf, groß, die Waffe in der Hand. »Ihr Krietschis. Stop. Stehenbleiben. Keine Bewegung!«

Seine Stimme knallte wie eine Peitsche. Die vier kleinen grünen Gestalten zeigten keine Regung. Der mit dem entstellten Gesicht sah ihn über die schwarzen Trümmer hinweg mit großen, leeren, lichtlosen Augen an.

»Antwortet. Das Feuer, wer gemacht?«

Keine Antwort.

»Los, antworten: schnellschnell! Keine Antwort, dann ich verbrenne erst einen, dann einen, dann einen, klar? Dies Feuer, wer gemacht?«

»Wir haben die Siedlung niedergebrannt, Captain Davidson«, sagte der aus Central mit einer seltsam sanften Stimme, die Davidson an einen Menschen erinnerte. »Die Männer sind alle tot.«

»Was soll das heißen, ihr habt sie niedergebrannt?«

Aus irgendeinem Grund wollte ihm der Name von Narbenfresse nicht einfallen.

»Hier waren zweihundert Männer. Neunzig Sklaven meines Volkes. Neunhundert von uns sind aus dem Wald gekommen. Erst haben wir die Männer dort im Wald getötet, wo sie Bäume fällten, dann, während die Häuser brannten, hier in der Siedlung. Ich hatte geglaubt, du wärst tot. Ich freue mich, dich zu sehen, Captain Davidson.«

Es war alles verrückt. Und natürlich gelogen. Sie konnten nicht alle Männer umgebracht haben, Okna, Birno, Van Sten, die andern, alle zweihundert. Einige mussten entkommen sein. Die Krietschis hatten nichts als Pfeil und Bogen. Überhaupt konnten die Krietschis es nicht getan haben. Krietschis kämpften nicht, töteten nicht, kannten keine Kriege. Sie waren intraspezies-nonaggressiv, und mithin leichte Beute. Sie leisteten keinen Widerstand. Und todsicher massakrierten sie nicht zweihundert Menschen auf einen Streich. Es war verrückt. Die Stille, der schwache Brandgeruch im schrägen, warmen Abendlicht, die blassgrünen Gesichter mit unbewegten Augen, die ihn anblickten – es war alles nicht zu begreifen, ein verrückter schlechter Traum, ein Albtraum.

»Wer hat das für euch gemacht?«

»Neunhundert aus meinem Volk«, sagte Narbenfresse mit dieser verfluchten pseudomenschlichen Stimme.

»Nein, das nicht. Wer noch? Für wen? Wer hat euch beauftragt?«

»Meine Frau.«

Davidson bemerkte die verräterische Anspannung in der Haltung der kleinen Kreatur, aber sie sprang ihn so geschickt und von so schräg an, dass sein Schuss danebenging und sie am Arm oder an der Schulter streifte, anstatt genau zwischen die Augen zu treffen. Und der Krietschi saß auf ihm drauf. Obwohl er nur halb so groß und halb so schwer war wie Davidson, hatte er ihn mit seinem Sprung aus dem Gleichgewicht geworfen, weil er sich auf seine Waffe verlassen und nicht mit dem Angriff gerechnet hatte. Die Arme des kleinen Ungeheuers waren dünn, hart, sein Fell unter Davidsons Händen rau, und es sang, während er mit ihm kämpfte.

Davidson lag auf dem Rücken, an Armen und Beinen festgehalten, entwaffnet. Vier grüne Visagen starrten auf ihn hinunter. Der mit der Narbenfresse sang immer noch atemloses Kauderwelsch, aber zu einer Melodie. Die anderen drei hörten zu, die weißen Zähne zum Grinsen gebleckt. Er hatte noch nie einen Krietschi lächeln sehen. Er hatte noch nie einem Krietschi von unten ins Gesicht geschaut. Immer nur von oben. Von oben herab. Er versuchte ruhig liegen zu bleiben, denn Widerstand war im Augenblick zwecklos. Sie waren zwar klein, aber in der Überzahl, und Narbenfresse hatte seine Waffe. Er musste warten. Aber ihm wurde übel, ein Würgreiz quälte ihn, so dass sein Körper gegen seinen Willen zuckte und zerrte. Die kleinen Hände hielten ihn mühelos fest. Die kleinen grünen Gesichter wackelten grinsend über ihm.

Narbenfresse hörte auf zu singen. Er kniete sich auf Davidsons Brustkorb, in einer Hand ein Messer, in der anderen Davidsons Waffe.

»Du kannst nicht singen, Captain Davidson, stimmt’s? Nun denn. Wir lassen dich jetzt zu deinem Heli laufen und wegfliegen und dem Colonel in Central berichten, dass dieses Camp abgebrannt ist und die Männer alle tot sind.«

Blut, genauso erschreckend rot wie menschliches Blut, verklebte das Fell am rechten Arm des Krietschi, und in der grünen Pfote zitterte das Messer. Das spitze, vernarbte Gesicht blickte aus nächster Nähe auf Davidson hinunter, so dass er nun das seltsame Licht sah, das ganz tief in den kohleschwarzen Augen loderte. Die Stimme war weiterhin sanft und ruhig.

Sie ließen ihn los.

Er stand vorsichtig auf, noch immer benommen von dem Sturz, den Narbenfresse verursacht hatte. Die Krietschis hielten jetzt Abstand von ihm. Sie wussten, dass er doppelt so weit ausholen konnte wie sie; aber Narbenfresse war nicht der Einzige mit einer Waffe, eine zweite war auf seinen Bauch gerichtet. Es war Ben, der die Waffe hielt. Sein eigener Krietschi Ben, dieses kleine graue räudige Mistvieh. Er blickte genauso dumm drein wie immer, hatte aber eine Waffe in der Hand.

Es fällt schwer, zwei schussbereiten Waffen den Rücken zu kehren, doch Davidson tat es und marschierte in Richtung Flugfeld los.

Hinter ihm rief laut und schrill eine Stimme ein Wort in der Krietschisprache. Eine andere rief: »Schnellschnell!«, und darauf folgte ein seltsames, vogelartiges Zwitschern, bei dem es sich offenbar um Krietschilachen handelte. Ein Schuss knallte, und die Kugel pfiff unmittelbar an ihm vorbei. Herrgott, es war so ungerecht, sie hatten die Waffen, und er hatte nichts. Er fing an zu rennen. Er konnte jedem Krietschi davonlaufen. Vom Schießen hatten sie keine Ahnung.

»Lauf!«, sprach weit hinter ihm die ruhige Stimme. Das war Narbenfresse – Selver, ja, so hieß er. Sie hatten ihn Sam genannt, bis Lyubov Davidson daran gehindert hatte, ihn so fertigzumachen, wie er es verdiente, und ihn zu seinem Liebling erkor. Von da an wurde er Selver genannt. Herrgott, was sollte das alles? Der reinste Albtraum. Er rannte. In seinen Ohren rauschte das Blut. Er rannte durch den goldenen, verrauchten Abend. Am Pfad lag eine Leiche, die er auf dem Hinweg nicht gesehen hatte. Sie war nicht verbrannt und sah aus wie ein weißer Ballon, aus dem die Luft entwichen war. Die starren Augen waren blau. Ihn, Davidson, wagten sie nicht zu töten. Sie hatten nicht wieder auf ihn geschossen. Es war unmöglich. Sie konnten ihn nicht töten. Da stand der Heli, unversehrt und glänzend. Er schwang sich auf den Sitz und hatte ihn in der Luft, bevor die Krietschis noch irgendwas versuchen konnten. Ihm zitterten die Hände, aber nicht sehr, es war bloß der Schock. Sie konnten ihn nicht töten. Er flog einen Bogen um die Anhöhe und kehrte schnell im Tiefflug zurück, um nach den vier Krietschis zu suchen. Doch in den schwarzgrauen Überresten des Camps rührte sich nichts.

Am Morgen war dort eine Siedlung gewesen. Zweihundert Männer. Jetzt waren dort vier Krietschis gewesen. Er hatte das alles nicht geträumt. Sie konnten nicht einfach verschwinden. Sie waren da und versteckten sich. Er entsicherte das Maschinengewehr in der Schnauze des Heli und bestrich den verbrannten Boden, schoss Löcher in die grünen Blätter des Waldes, beharkte die verkohlten Knochen und kalten Leichen seiner Männer, die zerstörten Maschinen und die verrottenden weißen Baumstümpfe und kehrte immer aufs Neue zurück, bis die Munition verbraucht war und das Gewehr plötzlich sein Knattern einstellte.

Davidsons Hände waren wieder ruhig, sein Körper besänftigt, und er wusste, dass er nicht in einem Traum gefangen war. Er lenkte den Heli über die Meeresstraße, um die Nachricht nach Centralville zu überbringen. Unterwegs spürte er, wie seine Gesichtszüge wieder die übliche entspannte Form annahmen. Man konnte ihm das Desaster nicht zur Last legen, denn er war ja gar nicht da gewesen. Vielleicht würden sie ermessen können, was es hieß, dass die Krietschis in seiner Abwesenheit zugeschlagen hatten, weil sie nämlich wussten, dass sie scheitern würden, wenn er da war, um die Abwehr zu organisieren. Und ein Gutes würde die Sache auch noch bringen. Sie würden das machen, was sie von Anfang an hätten machen sollen, und den Planeten für die menschliche Besiedlung säubern. Nicht einmal Lyubov würde sie daran hindern können, die Krietschis auszurotten, wenn sie erst gehört hatten, dass ausgerechnet Lyubovs Lieblingskrietschi das Massaker angeführt hatte! Jetzt würden sie eine Weile auf Rattenvernichtung schalten; und vielleicht, ja vielleicht, würden sie ihn mit der hübschen Aufgabe betrauen. Bei dem Gedanken war ihm glatt nach Lächeln zumute. Aber er verzog das Gesicht nicht.

Unter ihm lag das Meer grau in der Dämmerung, und vor ihm im Abendlicht erhoben sich die Inselberge, die tiefgefurchten, flussreichen, dicht belaubten Wälder.

2

In den langen, vom Wind gezausten Blättern spielten unaufhörlich Rost- und Sonnenuntergangsfarben in allen Tönen von Rotbraun bis Hellgrün. Unten, wo das fließende Wasser sich so langsam bewegte wie der Wind, mit vielen sachten Wirbeln und scheinbaren Pausen, aufgehalten von Steinen, Wurzeln, hängenden und abgefallenen Blättern, leuchteten die dicken, knorrigen Wurzeln der Kupferweiden moosgrün. Im Wald war kein Weg frei, kein Licht ungebrochen. Zu Wind, Wasser, Sonnenschein, Sternenlicht traten stets Laub und Zweig, Stamm und Wurzel, das Schattige, Komplexe. Unter dem Geäst führten Pfade um die Stämme, über die Wurzeln; sie verliefen nicht gerade, sondern wichen jedem Hindernis aus wie verschlungene Nervenstränge. Nicht trocken und fest war das Erdreich, sondern feucht und eher weich, das Werk der während des langen, umständlichen Sterbevorgangs von Laub und Bäumen zusammenwirkenden Lebewesen; und aus diesem fetten Friedhof sprossen dreißig Meter hohe Bäume und winzige Pilze, die in fingerbreiten Kreisen wuchsen. Die Gerüche in der Luft waren fein, vielfältig und süß. Der Blick reichte nirgendwo weit, es sei denn man erhaschte durch die Zweige oben die Sterne. Nichts war rein, trocken, dürr, glatt. Rundumsicht war nicht zu haben. Nie war alles auf einmal zu sehen; nie Gewissheit da. Die Rost- und Sonnenuntergangsfarben in den hängenden Blättern der Kupferweiden wechselten so unablässig, dass nicht zu sagen war, ob das Laub bräunlich rot, rötlich grün oder grün war.

Langsam, häufig über die Wurzeln der Weiden stolpernd, folgte Selver einem Pfad am Wasser. Als er einen alten Mann sah, der träumte, blieb er stehen. Der Alte schaute ihn durch die langen Weidenblätter an und sah ihn in seinem Traum.

»Darf ich in euer Männerhaus, Traumfürst? Ich komme von weither.«

Der Alte blieb ungerührt sitzen. Und Selver hockte sich neben dem Pfad ans Ufer. Sein Kopf kippte vor Erschöpfung vornüber. Er musste schlafen, denn er war fünf Tage gelaufen.

»Bist du aus der Traumzeit oder der Weltzeit?«, fragte der Alte schließlich.

»Aus der Weltzeit.«

»Dann komm mit.« Der Alte erhob sich sogleich und führte Selver auf einem gewundenen Pfad aus dem Weidenhain in einen trockneren, dunkleren Wald aus Eichen und Dorngesträuch. »Ich hielt dich für einen Gott«, sagte er vorausschreitend, »und hatte den Eindruck, dich schon früher einmal gesehen zu haben, vielleicht im Traum.«

»Nicht in der Weltzeit. Ich komme aus Sornol, ich war noch nie hier.«

»Du bist hier in Cadast. Ich bin Coro Mena. Vom Weißdorn.«

»Ich bin Selver. Von der Esche.«

»Wir haben unter uns Eschenleute, Männer wie Frauen. Auch eure Heiratssippen, Birke und Ilex; nur keine Apfel-Frauen. Aber du bist nicht gekommen, um dir eine Frau zu suchen, nicht wahr?«

»Meine Frau ist tot«, sagte Selver.

Sie kamen zum Männerhaus auf hohem Grund unter mehreren jungen Eichen. Sie bückten sich und krochen durch den Eingangstunnel. Drinnen im Feuerschein richtete sich der Alte auf, doch Selver schaffte es nicht mehr sich zu erheben. Nun da sich Hilfe und Geborgenheit boten, verweigerte sein Körper, dem er zu viel abverlangt hatte, den Dienst. Er sank zu Boden, und die Augen fielen ihm zu; Selver entglitt dankbar und erleichtert in die große Dunkelheit.

Die Männer des Hauses von Cadast nahmen sich seiner an, und ihr Heiler kam, um die Wunde an seinem rechten Arm zu versorgen. In der Nacht saßen Coro Mena und Torber der Heiler am Feuer. Die meisten anderen Männer verbrachten diese Nacht bei ihren Frauen; nur hinten auf den Bänken lagen zwei Traumlehrlinge, und beide schliefen fest. »Ich weiß nicht, was solche Narben hinterlassen kann wie die in seinem Gesicht«, sagte der Heiler, »und schon gar nicht so eine Wunde wie die in seinem Arm. Eine ganz merkwürdige Wunde.«

»Merkwürdig ist auch die Maschine, die er am Gürtel trug«, sagte Coro Mena.

»Ich habe sie gesehen und nicht mehr gesehen.«

»Ich habe sie ihm unter die Bank gelegt. Sie sieht aus nach poliertem Eisen, aber nicht wie von Menschenhand.«

»Er stammt aus Sornol, hat er zu dir gesagt.«

Eine Weile schwiegen beide. Coro Mena wurde von einer unerklärlichen Angst erfasst und ließ sich in einen Traum gleiten, um ihre Ursache zu ergründen, denn er war ein alter Mann und darin sehr erfahren. Durch seinen Traum spukten die Riesen, finster und mit schweren Schritten. Ihre trockenen schuppigen Gliedmaßen waren mit Stoff verhüllt; ihre Augen waren klein und hell wie Perlen aus Zinnblech. Hinter ihnen krochen gigantische Dinger aus poliertem Eisen, und vor ihnen stürzten die Bäume um.

Vor den umstürzenden Bäumen floh schreiend ein Mann mit blutverschmiertem Mund. Der Pfad, auf dem er lief, führte zum Eingang des Männerhauses von Cadast.

»Nun, es besteht wenig Zweifel«, sagte Coro Mena aus dem Traum tretend. »Er ist geradewegs von Sornol übers Meer gekommen oder zu Fuß von der Küste bei Kelma Deva auf unserem Land. Reisende sagen, die Riesen sind beiderorts.«

Darauf sagte Torber: »Ob sie ihm wohl folgen werden«, worauf keiner der beiden antwortete, weil die Äußerung nicht als Frage gedacht war, sondern eine Möglichkeit aufwarf.

»Du hast die Riesen schon mal gesehen, Coro?«

»Einmal«, sagte der Alte.

Er träumte. Und da er sehr alt und nicht mehr so stark war wie früher, schlief er zugleich eine Weile. Der Tag brach an. Es wurde Nachmittag. Draußen vor dem Haus machte sich eine Gruppe zur Jagd auf, Kinder piepsten, Frauen redeten mit Stimmen, die wie Wasser dahinplätscherten. Von der Tür rief eine trockenere Stimme nach Coro Mena. Er kroch ins Abendsonnenlicht hinaus. Draußen stand seine Schwester.

Sie hielt die Nase genüsslich in den duftenden Wind, doch ihre Miene war ernst. »Ist der Fremde aufgewacht, Coro?«

»Noch nicht. Torber ist bei ihm.«

»Wir müssen seine Geschichte hören.«

»Er wird bestimmt bald aufwachen.«

Ebor Dendep runzelte die Stirn. Als Obfrau von Cadast war sie um ihr Volk besorgt, wollte aber weder dazu auffordern, einen Verletzten zu stören, noch die Träumer kränken, indem sie auf ihrem Recht bestand, das Männerhaus zu betreten. Schließlich fragte sie: »Kannst du ihn nicht wecken, Coro? Was ist … wenn er verfolgt wird?«

Er hatte die Gefühle seiner Schwester nicht so in der Hand wie die eigenen, aber er empfand sie mit; ihre Sorge setzte ihm zu. »Wenn Torber es erlaubt, tu ich es«, sagte er.

»Versuch rasch zu erfahren, was er erlebt hat. Ich wünschte, er wäre eine Frau, und wir könnten vernünftig reden.«

Der Fremde war von selbst aufgewacht und lag mit Fieber im Halbdunkel des Hauses. In seinen Augen rasten die ungezügelten Träume der Krankheit, aber er richtete sich auf und sprach gefasst. Beim Zuhören meinte Coro Mena zu spüren, wie sich in seinem Innern die Knochen zusammenzogen, um sich vor den Schrecken dieser Geschichte, dieser neuen Sache, zu schützen.

»Ich war Selver Thele, als ich in Eschreth auf Sornol lebte. Meine Stadt wurde durch die Jumens zerstört, als sie dort die Bäume fällten. Ich gehörte zu denen, die in ihren Dienst gezwungen wurden. Mit meiner Frau Thele. Sie ist von einem Jumen vergewaltigt worden und gestorben. Ich habe mich mit dem, der sie getötet hat, geschlagen. Er hätte auch mich getötet, wenn nicht ein anderer Jumen mich gerettet und befreit hätte. Ich verließ Sornol, wo inzwischen kein Ort mehr vor den Jumens sicher ist, ging nach Nordland und lebte in Kelma Deva an der Küste in den Roten Hagen. Bald darauf kamen die Jumens dorthin und fingen an, die Welt zu roden. Sie zerstörten dort eine Stadt, Penle. Sie fingen hundert Männer und Frauen ein und zwangen sie in ihren Dienst. Sie mussten in einem Gehege wohnen. Mich haben sie nicht gefangen. Ich lebte mit anderen, die aus Penle entkommen waren, im Sumpf nördlich von Kelme Deva. Nachts besuchte ich manchmal die Leute im Jumen-Gehege. Von ihnen erfuhr ich, dass derjenige dort war. Derjenige, den ich zu töten versucht hatte. Zuerst wollte ich es noch einmal versuchen oder die Leute aus dem Gehege befreien. Aber ich sah immerzu, wie die Bäume fielen und die Welt aufgeschnitten dalag und verrottete. Die Männer hätten fliehen können, aber die Frauen waren sicherer eingeschlossen. Sie hätten nicht entkommen können, und die ersten begannen zu sterben. Ich beriet mich mit den Leuten, die sich mit mir im Sumpf versteckt hielten. Wir waren alle von Angst und Wut erfüllt und hatten keine Möglichkeit, unserer Furcht und unserem Zorn Luft zu machen. Nach langem Reden und langem Träumen und Pläneschmieden gingen wir bei Tag los und töteten die Jumens von Kelme Deva mit Pfeilen und Jagdlanzen und verbrannten ihre Stadt und ihre Maschinen. Wir ließen nichts übrig. Aber derjenige war weggeflogen. Er kehrte allein zurück. Über dem habe ich gesungen und ihn laufen lassen.«

Selver schwieg.

»Und dann«, flüsterte Coro Mena.

»Dann kam ein fliegendes Schiff von Sornol und suchte uns im Wald, aber fand niemanden. Darauf steckten sie den Wald in Brand; aber es regnete, und sie richteten wenig Schaden an. Die meisten, die wir aus dem Gehege befreit haben, und die anderen sind weiter nach Norden und Osten gezogen, dahin, wo die Hollberge sind, weil wir fürchteten, dass die Jumens nach uns suchen würden. Ich bin allein gegangen. Mich kennen die Jumens, sie kennen mein Gesicht; und das macht mir und denen, mit denen ich zusammen bin, Angst.«

»Was für eine Wunde ist das an deinem Arm?«, fragte Torber.

»Derjenige, er hat mit ihrer Art von Waffe auf mich geschossen; aber ich habe ihn zu Fall gesungen und laufen lassen.«

»Du hast allein einen Riesen zu Fall gebracht?«, fragte Torber mit einem grimmigen Grinsen und wollte es gern glauben.

»Nicht allein. Mit drei Jägern und mit seiner Waffe in meiner Hand – dieser hier.«

Torber wich von dem Ding zurück.

Eine Weile schwiegen alle drei. Schließlich sprach Coro Mena: »Was du uns erzählst, ist sehr schwarz, und der Weg führt abwärts. Bist du ein Träumer deines Hauses?«

»Ich war es. Es gibt kein Männerhaus von Eschreth mehr.«

»Das ist einerlei; wir sprechen gemeinsam die Alte Sprache. Du hast mich unter den Weiden von Asta als Traumfürst angesprochen. Das bin ich. Träumst du, Selver?«

»In letzter Zeit selten«, antwortete Selver und neigte, wie es die Ordnung gebot, das fiebrige vernarbte Haupt.

»Wach?«

»Wach.«

»Träumst du gut, Selver?«

»Nicht gut.«

»Hältst du den Traum in den Händen?«

»Ja.«

»Webst und formst, führst und folgst, beginnst und endest du nach deinem Willen?«

»Manchmal, nicht immer.«

»Kannst du dem Weg folgen, den dein Traum geht?«

»Manchmal. Manchmal fürchte ich mich davor.«

»Wer nicht. Es steht nicht ganz schlecht um dich, Selver.«

»Doch, es steht ganz und gar schlecht«, sagte Selver. »Es ist nichts Gutes mehr übrig.« Und er begann zu zittern.

Torber flößte ihm einen Weidentrank ein und bat ihn, sich wieder hinzulegen. Coro Mena hatte noch die Frage der Obfrau zu stellen; er tat es widerstrebend und kniete sich dazu neben den Kranken: »Werden die Riesen, die Jumens, wie du sie nennst, werden sie deiner Spur folgen, Selver?«

»Ich habe keine Spur hinterlassen. Mich hat zwischen Kelme Deva und hier sechs Tage lang niemand gesehen. Das ist nicht die Gefahr.« Er versuchte sich erneut aufzurichten. »Hört zu, hört mir zu. Ihr seht die Gefahr nicht. Wie könntet ihr sie sehen? Ihr habt nicht getan, was ich getan habe, ihr habt es nicht erträumt, zweihundert Leute umzubringen. Mich werden sie nicht verfolgen, aber vielleicht uns alle. Uns jagen, so wie Jäger Kaninchen jagen. Das ist die Gefahr. Sie werden vielleicht versuchen uns umzubringen. Uns alle, alle Menschen.«

»Leg dich hin …«

»Nein, ich phantasiere nicht. Es ist wahr, Tatsache wie Traum. Es gab in Kelme Deva zweihundert Jumens, und sie sind tot. Wir haben sie getötet, als wären sie keine Menschen. Werden sie es umgekehrt nicht genauso machen? Sie haben uns bisher einzeln getötet, jetzt werden sie uns töten, wie sie die Bäume umbringen, zu Hunderten und Hunderten und Hunderten.«

»Schweig«, sagte Torber. »Solche Dinge geschehen im Fiebertraum, Selver. Nicht in der Welt.«

»Die Welt ist immer neu«, sagte Coro Mena, »so alt ihre Wurzeln auch sind. Selver, was ist mit diesen Wesen? Sie sehen aus wie Menschen und sprechen wie Menschen. Sind sie keine Menschen?«

»Ich weiß es nicht. Töten Menschen andere Menschen, außer im Wahn? Töten Tiere ihre Artgenossen? Nur Insekten. Diese Jumens töten uns mit der Leichtigkeit, mit der wir Schlangen töten. Der mich unterwiesen hat, sagt, sie töten einander im Streit und auch gruppenweise wie kämpfende Ameisen. Das habe ich nicht gesehen. Aber ich weiß, dass sie einen, der um sein Leben fleht, nicht verschonen. Sie schlagen auf einen gebeugten Hals, das habe ich gesehen! In ihnen wohnt ein Wunsch zu töten, darum hielt ich es für richtig, sie umzubringen.«

»Und das«, sagte Coro Mena, mit gekreuzten Beinen im Schatten sitzend, »wird alle Menschenträume verändern. Sie werden nie wieder dieselben sein. Ich werde nie wieder den Weg gehen, auf dem ich gestern mit dir gekommen bin, den Weg vom Weidenhain hierher, den ich schon mein Leben lang gehe. Er hat sich verändert. Du bist ihn gegangen, und nun ist er vollkommen verändert. Bis zu diesem Tag war das, was wir zu tun hatten, das Richtige; der Weg, den wir zu gehen hatten, war der richtige und führte uns nach Hause. Wo sind wir jetzt zu Hause? Denn du hast getan, was du tun musstest, und es war nicht richtig. Du hast Menschen getötet. Vor fünf Jahren habe ich sie gesehen, im Tal Lemgan. Sie kamen mit einem fliegenden Schiff. Ich versteckte mich und beobachtete die Riesen, es waren sechs, und ich sah sie sprechen und Steine und Pflanzen anschauen und Essen kochen. Sie sind Menschen. Aber du hast unter ihnen gelebt, Selver, sag mir: Träumen sie?«

»So wie Kinder, im Schlaf.«

»Man unterweist sie nicht?«

»Nein. Manchmal sprechen sie von ihren Träumen, die Heiler versuchen sie für die Heilung zu nutzen, aber niemand wird zum Träumen ausgebildet oder besitzt die Fertigkeit dazu. Lyubov, mein Lehrer, hat mich verstanden, als ich ihm zeigte, wie man träumt, und trotzdem die Weltzeit als ›wirklich‹ und die Traumzeit als ›unwirklich‹ bezeichnet, als wäre das der Unterschied zwischen den beiden.«

»Du hast getan, was du tun musstest«, wiederholte Coro Mena nach einem Schweigen. Er suchte Selvers Blick im Halbdunkel. Aus Selvers Gesicht wich die verzweifelte Anspannung, sein vernarbter Mund wurde weich, und er legte sich, ohne noch etwas zu sagen, wieder aufs Lager. Nach kurzer Zeit war er eingeschlafen.

»Er ist ein Gott«, sagte Coro Mena.

Torber nickte und übernahm fast erleichtert die Ansicht des alten Mannes.