Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren -  - E-Book

Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren E-Book

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Beschreibung

Die Schwierigkeit, Phänomene des (Nicht-)Verstehens (empirisch) angemessen zu erfassen, wird in diesem Band aus einer breiten (inter-)nationalen und (inter-)disziplinären Perspektive erläutert. Wir alle kennen Erfahrungen des Verstehens und Nicht-Verstehens und wir erfahren diese teilweise als schmerzhaft, beunruhigend oder schwierig. Die Herausforderung, (Nicht-)Verstehen verstehen zu lernen, ist eine respektable. In diesem Band finden sich Grundsatztexte zu unterschiedlichen theoretischen Verständnissen der komplexen Phänomene des Verstehens und Nichtverstehens, forschungsmethodologische Erörterungen angemessener Zugänge zu ihrem empirischen Erfassen sowie praktische Beiträge zur genuin pädagogischen Aufgabe, (fachliche und fachdidaktische) Verstehensprozesse in Unterricht, Schule, Lehrer*innenbildung und Universität zu fördern. Die internationalen Beiträge aus der Schweiz, aus Deutschland, Südafrika und Griechenland helfen in besonderer Weise, Verstehensprozesse und -erfahrungen in Kontexten über Österreich hinausgehend zu diskutieren. Dass der in Innsbruck entwickelte und in Forschungsgruppen in Brixen, Klagenfurt, Wien und Zürich weiterentwickelte Ansatz der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung für Bildungskontexte über spezifischen Kulturen oder Kontexte hinaus attraktiv ist, ist bemerkenswert. Potential und Grenzen dieses Zugangs werden in vielen Beiträgen nicht nur thematisiert und in unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen diskutiert, sondern auch in verschiedensten Bildungskontexten auf seine Wirkmächtigkeit hin erprobt.

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Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

Band 8

Im Bildungsbereich werden täglich vielfältige Aktivitäten initiiert, Prozesse in Gang gesetzt und Aufgaben bearbeitet. Wenig ist darüber bekannt, wie sie vollzogen werden. Die Reihe „Erfahrungsorientierte Bildungsforschung“ erschließt einen in den Bildungswissenschaften vernachlässigten Bereich, indem sie den Erfahrungen

nachspürt, die sich in Bildung und Erziehung zeigen. Die einzelnen Bände machen die Erfahrungsmomente pädagogischen Handelns versteh- und erfahrbar. Über verdichtete Beschreibungen (z. B. Vignetten, Anekdoten) werden Erfahrungsdimensionen erschlossen, welche zum Überdenken der eigenen pädagogischen Erfahrungen

beitragen können.

Herausgegeben von Evi Agostini, Markus Ammann, Siegfried Baur, Hans Karl Peterlini, Michael Schratz und Johanna F. Schwarz

Impressum

© 2021 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6113-6

Satz: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Maria Strobl – www.gestro.at

Umschlagfotos: Silke Pfeifer

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Vasileios Symeonidis /Johanna F. Schwarz (Hg.)r

Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren

Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen

Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Dem Phänomen Verstehen auf der Spur Einführung und Vorwort
Vasileios Symeonidis, Johanna F. Schwarz
Literaturverzeichnis
1. Grundlagen
Szenisches Verstehen
Käte Meyer-Drawe
1. Einfall und Motivation
2. Szenisches Verstehen
3. Eine andere Empirie
Literaturverzeichnis
Verstehen und Beschreiben.
Zur phänomenologischen Deskription in der qualitativen Empirie
Malte Brinkmann
1. Verschiebungen: Verstehen in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung
2. Hermeneutische Theorien des Verstehens: Schleiermacher, Dilthey, Gadamer, Buck
3. Probleme des hermeneutischen Verstehens
4. Ausgang, Zugang, Durchgang: Das Phänomen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
5. Sagbares und Unsagbares: Signifikative Differenz
6. Phänomenologische Deskription: mit der Sprache gegen ihre Grammatik
7. Phänomenologische Reduktion
8. Variation von Perspektiven – Einlegen von Sinn
9. Geteiltes Verstehen als Antworten
10. Schluss
Literaturverzeichnis
Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen
Sondierungen lernseits von Unterricht
Michael Schratz
1. Den Sinn von Schule im Unterricht erfahren
2. Die Wirkmacht der Tiefenstrukturen von Unterricht
3. „Welches Lernen wollen wir eigentlich?“
4. Erfahrungen wirken, aber wie!?
5. Ausblick
Literaturverzeichnis
2. Methodologische Annäherungen an Phänomene des Verstehens
Anders wahrnehmen und anderes verstehen am Beispiel der Vignettenforschung ‚Nah am Werk‘
Evi Agostini, Agnes Bube
1. Kunstvermittlung ‚Nah am Werk‘ und Vignettenforschung
2. Projektbeginn: Forschung im Sprengel Museum Hannover
2. 1. Vignette und Vignetten-Lektüre zum Aufforderungscharakter von Ding, Welt und Anderen
Beispielvignette: What Could Make Me Feel That Way A von Richard Deacon
2. 2. Durch Kunst anders wahrnehmen und anderes verstehen
3. Projektfortführung: Praxisforschung an der Universität Wien
3. 1. Forschungsbezogen lehren – wahrnehmungsorientiert lernen
3. 2. Über Lernen, Lehren und Forschen neu und anders wahrnehmen hin zu einer professionellen pädagogischen Wahrnehmung
Beispielvignette: Maraika und Der Pfau von Natalija Gontscharowa
Vignette: Sanela und der erste Schnee
Vignette: Beni und der erste Schnee
4. Fazit: Anders wahrnehmen und anderes verstehen
Literaturverzeichnis
Szenisches Mitfühlen als Sprache des Unterdrückten
Auslotung performativer Verstehensmöglichkeiten am Beispiel einer Vignette – ein Versuch
Daniela Lehner, Hans Karl Peterlini
1. Theoretische Begründung: Verstehen und (Nicht-)Verstehen
2. Szenisches Verstehen und performative Phänomenologie
3. Vignette und Vignettenlektüre: Kaputte Städte oder Schöne Städte
3. 1. Vignette – Kaputte Städte oder Schöne Städte
3. 2. Nachstellen der Vignette im Workshop
3. 3. Nachgängige Gedanken der Teilnehmenden des Symposiums
3. 4. Lektüre und Deutungen der Vignette
4. Abschlussgedanken
Literaturverzeichnis
Miterfahrung als Schlüssel zum Verstehen.
Vom Potential der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung zur Annäherung an ein komplexes Phänomen
Gabriele Rathgeb, Johanna F. Schwarz
1. Verstehen als Assimilation und Zerstörung des Fremden
2. Verstehen und Verständigung
3. Phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung
3. 1. Vignetten – Instrumente zur Erfassung von Erfahrungsdimensionen von Bildungsphänomenen in medias res und in statu nascendi
3. 2. Anekdoten – Instrumente zum Erfassen erzählter und erinnerter Erfahrung in Bildungskontexten
4. Abschließende Bemerkungen: Zugang zu fremden Erfahrungen durch Vignetten und Anekdoten
Literaturverzeichnis
Words of wellbeing: Using vignettes to capture meaningful moments in an African context
Irma Eloff
1. Introduction
2. Background to the project
3. Capturing vignettes on student wellbeing
Vignette 1
Vignette 2
4. The questions
How much of what the researcher observes is because of his or her own professional background?
Should a vignette researcher focus on one individual only?
Is it best to capture observation notes in the mother language of the researcher, or in the language in which the vignette will be written?
5. Conclusion
References
Erinnerte Erfahrung reflektieren
Anekdote und Erinnerungsbild als Reflexionsinstrumente in der Lehrer*innenbildung
Silvia Krenn
1. Über das Reflektieren für den Lehrberuf
2. Theoretische Annäherung an das Reflektieren
Handelt es sich bei der Reflexion um ein Werk des Verstandes?
Richtet sich die Reflexion auf Vergangenes?
Beinhaltet Reflexion Kritik und eine Bewertung in richtig und falsch, gut oder schlecht?
3. Trennung von Ereigniserzählung und reflexiver Auslegung
4. Erinnerungsbild und Anekdote – Erzählungen erinnerter Ereignisse
4. 1. Das Erinnerungsbild
Beispiel eines Erinnerungsbildes
4. 2. Die Anekdote
Beispiel Anekdote
5. Die Lektüre – reflexive Zugriffe auf erzählte Ereignisse
5. 1. Lektüre des Erinnerungsbildes – Fokus: Bildende Erfahrung
6. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
3. Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung
Blickwechsel. Wahrnehmen – Beobachten – Verstehen.
Ein Ausstellungskonzept im Workshop-Format
Silke Pfeifer
1. Das Wissen auf die Bühne bringen
2. Staging Knowledge im schulischen Unterricht und in der Lehrer*innenbildung
3. Arbeit mit Bildern und sprachliche Verknüpfung
4. Workshop Blickwechsel. Wahrnehmen – Beobachten – Verstehen
5. Workshop-Ergebnisse
6. Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Keine Ahnung! – Ein Werkstück verstehen lernen
Ein Lehrbeispiel für die Lehrer*innenbildung in der Berufsbildung
Anja Thielmann
1. Einleitung
2. Verstehenszugänge
3. Vom Üben und Verstehen
4. Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung
Vignette – Rocco
Vignettenlektüre als Deutungszugang
Verstehensorientierte Vignettenlektüre
5. Implikationen für Lernen und Lehren
6. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Kritische Ereignisse in Schulpraktika: Über die Anstrengung, pädagogische und didaktische Dimensionen im Schulkontext zu verstehen
Vassiliki Papadopoulou, Vasileios Symeonidis
1. Einführung
2. Forschungsergebnisse aus der Lehrer*innenbildung
3. Das Schulpraktikum an der Universität von West-Mazedonien
4. Kritische Ereignisse aus den Praktikumstagebüchern angehender Lehrer*innen an der Universität von West-Mazedonien
5. Ergebnisse und Diskussion
6. Vom Verhältnis von CIT zur in Österreich entwickelten phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung
7. Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Lernseitsorientierte Fallstudien als Instrument zur Sichtbarmachung studentischen (Nicht-)Verstehens im Lehramtsstudium
Mishela Ivanova
1. Einleitung
2. Beschreibung, Erfassung und Förderung pädagogischer Kompetenzen
3. Lernseitsorientierte Fallstudien im Rahmen der Lehrer*innen-Bildung an der Universität Innsbruck
4. Überlegungen zum Untersuchungsdesign
5. Darstellung der Ergebnisse
Rollenwechsel von Schüler*in zu*r Lehrer*in
Überidentifikation mit der Lehrer*innenrolle bei gleichzeitiger Ausblendung der Schüler*innenperspektive
Konstruktion eines Rollenverständnisses, das Lehrpersonen als unfehlbar und unantastbar proklamiert
Tendenz zur lehrseitigen Betrachtung des Unterrichts
Verortung von Unterrichtsstörungen und ihrer Ursachen ausschließlich auf Seiten der Schüler*innen
Externe Attribuierung
Negative Menschenbildannahmen und transmissive Überzeugungen
6. Fazit
Literaturverzeichnis
4. Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens
Embodied Cognition, Affekt und Verstehen
Zur Herleitung eines (literaturbezogenen) Verstehensmodells aus der Philosophie der Verkörperung
Johannes Odendahl
1. Einleitung
2. Verstehen als mentaler Modellbau: Zu einer kognitionspsychologischen Konzeption des Textverstehens
3. Verstehen als körpergebundenes Phänomen: Ansätze der Embodied Cognition
4. Fortspinnungen von Johnsons ‚verkörpertem‘ Kognitionsbegriff: Zur Rolle von Subjektivität, Affekt und Emotion für das Verstehen
5. Eine modellhafte Veranschaulichung
6. Didaktische Folgerungen
6. 1. Zum Verhältnis von (,pragmatischem‘) Handlungs- und (,referentiellem‘) Sprachverstehen
6. 2. Affektives Verstehen als Richtungsgeber für Bildungsprozesse
7. Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Verstehende Diagnostik
Pädagogische Erfahrungen mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen im Kontext von Schule und Behinderung
Thomas Hoffmann
1. Intellektuelle Behinderung und psychische Erkrankung
2. Deprofessionalisierungsfallen
3. Methodische und methodologische Grundsätze
3. 1. Pädagogisches Handeln
3. 2. Außensicht
3. 3. Innensicht
3. 4. Theoretische Rekonstruktion
4. Zusammenfassung und Schluss
Literaturverzeichnis
Führen als responsives Geschehen
Dem Phänomen ‚Führen‘ auf der Spur
Niels Anderegg
1. Führung und Lernen
2. Netzwerktheorie von Harrison White
3. Führen phänomenologisch betrachtet
Vignette
4. Führen als responsives Geschehen
5. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Potenziale und Grenzen von „Oral History“ im Kontext biographischer Rekonstruktionen
Ein theoretischer und empirischer Beitrag zu den Phänomenen des (Nicht-)Verstehens von Einflüssen religiöser Aspekte auf die Lebensgestaltung
Alina Knoflach
1. Einleitende Problemstellung
2. Forschungsstand
3. Auswahl der Methode: Oral History
3. 1. Grenzen und Potenzial der Oral History
3. 2. Oral History als Methode um Erfahrungen zu verstehen, oder das (Nicht-)Verstehen zu erfahren
4. Auswahl der Kategorien und Interviewpartner*innen
4. 1. Mehrdimensionale Verstehensebene als forschungsmethodologisches Spezifikum
5. Geographische Kategorie
6. Wechselwirkung: soziale und religiöse Kategorie
7. Religiosität als sinngebender und identitätsstiftender Lebensaspekt
8. Religion als ritualisierter Einflussfaktor auf die Lebensgestaltung
9. Religion als Abbild individueller und historischer Entwicklungen
10. Gemeinsamkeiten in der Lebensgestaltung der fünf Interviewten unter dem Einflussfaktor der Religionen
11. Fazit
Literaturverzeichnis
Erfahrungsdimensionen des Phänomens häuslicher Gewalt verstehen lernen
Julia Ganterer
1. Häusliche Gewalt – Annäherung an einen schillernden Begriff
2. Zugang zum Phänomen
3. Schlussbetrachtung: Vignetten- und Anekdotenforschung als Medium zur Annäherung an ein schillerndes Phänomen
Literaturverzeichnis
Autorenspiegel

In memoriam

Prof. Vasiliki Karavakou.

In der gemeinsamen Zeit und in anregenden Gesprächen im Rahmen des 4. Internationalen Symposiums der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung

„Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren“

im August 2019 durften wir dich als ausgezeichnete Forscherin, geschätzte Kollegin und liebe Freundin kennenlernen.

Dem Phänomen Verstehen auf der Spur Einführung und Vorwort

Vasileios Symeonidis, Johanna F. Schwarz

„Was aber heißt das: etwas zu verstehen?“ – diese Anspielung auf den titelgebenden Beitrag von Käte Meyer-Drawe zum Phänomen Wahrnehmung (vgl. 2020a, S. 13 ff) eröffnet die folgenden Überlegungen. Diese Frage thematisiert die Schwierigkeit, das Verstehen eindeutig bestimmen zu können und deutet die Vielschichtigkeit der Antwortmöglichkeiten an. Verstehen und Wahrnehmen sind eng miteinander verknüpft und das Verstehen beginnt im Bereich der Wahrnehmung: Indem wir mit unseren Sinnen und mit unserem Leib, Andere und Anderes auffassen und einen Bezug mit der uns umgebenden Welt herstellen, beginnen wir zu verstehen. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für das Verstehen sind allerdings begrenzt; so sind es gerade leibliche, zeitliche, räumliche und relationale Artikulationsweisen von Verstehens- oder (Nicht-)Verstehenserfahrungen, die weitere Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen.

Die phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung ist in der Zuwendung zu Erfahrungsdimensionen von Bildungsphänomenen genuin geeignet, den sozusagen noch stummen (Verstehens-)Erfahrungen zum Ausdruck zu verhelfen, in den Grenzen, in denen sie sich zeigen und damit zugänglich werden für eine (wissenschaftliche) Betrachtung (vgl. Husserl zit. nach Waldenfels 2019, S. 9; Merleau-Ponty 1966). Inwiefern ist eine Aufmerksamkeit auf Erfahrung im Vorhaben, sich dem Phänomen Verstehen nähern zu wollen? Verstehen, wie Lernen, Wahrnehmen oder Vertrauen, sind komplexe Phänomen, die nur zugänglich werden in konkreter menschlicher Erfahrung. In dem, was uns an Verstehen gelingt und wie dieses misslingt, in dem was uns dabei widerfährt, was uns irritiert, herausfordert oder befremdet, zeigen sich wichtige Facetten, die ein so komplexes Phänomen bestimmen helfen. Es ist ein wenig so wie die hundert Bezeichnungen für Schnee, die den Inuit zugeschrieben werden. Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Schnee sind nicht in einen Begriff zu fassen; die Benennung der subtilen Schattierungen von Schnee zusammengenommen ergeben ein vollständigeres Bild. In diesem Sinne tragen die Anstrengungen der Beitragenden in diesem Band aus den unterschiedlichen Arbeits-, und Forschungskontexten bei, vielfältige Bestimmungen dieses Phänomens zu erreichen.

Der Anspruch, etwas verstehen zu wollen, kommt überhaupt erst mit dem Eintritt des Anderen als dem Fremden ins Spiel. Das Verstehen des Anderen ist in Ansätzen wahrnehmbar, weil wir es auf gewisse Weise bezeugen können. Wenn wir von Szenen ausgehen und das tun wir, wenn wir (Mit-)Erfahrung in Anekdoten und Vignetten verdichten, braucht es eine angemessene Sicht- und Deutungsweise, um dem Gehalt dieser Szenen näher zu kommen; sie gleichsam zu verstehen. Verstehen ist im Miterfahren von Erfahrungen ein weitreichender Aneignungsprozess. Dabei steht das pathische Moment – als Brüchigkeiten, Widerfahrnisse oder sinnliche Einschlüsse – im Vordergrund, weil das Affiziertwerden von etwas (Un-)Verstehbarem immer auch ein Ausgeliefertsein bedeutet. Der Umstand, dass ein Verstehen-Wollen oft einem Verfügen-Wollen gleichkommt, das gewaltsame Züge annehmen kann, und dass der Andere nicht verstehbar ist, erhöht die Komplexität dieses Phänomens. Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die nicht mit sich selbst beginnen, sondern immer schon verspätet sind. Für menschliches Verstehen gilt diese paradoxe Verspätung ebenso. Wenn wir uns unserem Verstehen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen.

Käte Meyer-Drawe folgend wird im vorliegenden Band dem Szenischen Verstehen besondere Aufmerksamkeit zuteil. Schon das 4. Internationale Symposium der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung „Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren“ im August 2019 an der Universität Innsbruck stand im Zeichen des Szenischen Verstehens, weil sich dieses in besonderer Weise mit dem trächtigen Erfahrungsgehalt der Szenen in Vignetten und Anekdoten verbinden lässt. Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt und Wolfram Hogrebe philosophisch vertieft hat (vgl. Meyer-Drawe 2020b, S. 20). Dass wir uns nach vollständigem Verstehen oder Verstanden-Werden sehnen ist verständlich, aber szenisches Verstehen macht deutlich, dass sich dieses eher als Erahntes oder Vermutetes zeigt, denn als gesicherte Erkenntnis (ebd.). Es handelt sich um eine Art Schwelle zwischen Verstehen und (Nicht-)Verstehen, zwischen Verstanden-Werden und der Grenze des Verstehbaren (vgl. Peterlini 2020).

Hogrebe, so Meyer-Drawe, erinnert an die Herausforderung, (Verstehens-)Erfahrungen sprachlich adäquat zu artikulieren (vgl. 2020). Vignetten- und Anekdotenschreibende finden sich bei der Suche nach Sprachbildern, welche sinnliche Erfahrungen nicht in eindeutigen Begriffen aufgehen lassen, vor ähnliche Herausforderungen gestellt, wenn sie dem leiblich Wahrgenommenen zum Ausdruck verhelfen wollen. In der Einbeziehung von Blicken, Stimmlagen, Sprechmelodie, Sprechtempo, Sprechpausen, Gebärden, Gesten oder Mimik werden vielschichtige Erfahrungs- und Verstehensmöglichkeiten sichtbar. In den Szenen der Vignetten und Anekdoten werden verschiedenste Beziehungsgefüge deutlich; dies ist ein Verweis darauf, dass wir als leibliche Wesen in soziale Kontexte verstrickt sind, die unser Verständnis für uns selbst und andere maßgeblich bestimmen.

Dieser Band der Reihe Erfahrungsorientierte Bildungsforschung gliedert sich in vier Abschnitte. Im Abschnitt Grundlagen schafft Käte Meyer-Drawe mit ihrem Beitrag Szenisches Verstehen nicht nur ein zentrales Verständnis für die weiteren Beiträge, sie stellt auch einen deutlichen Konnex zur phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung her. Malte Brinkmann untersucht in einer grundlagentheoretischen und methodologischen Perspektive das Verhältnis von Verstehen und Beschreiben, wobei er hermeneutische und phänomenologische Zugänge dazu unterscheidet. Michael Schratz diskutiert Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen und betont die Bedeutung von bildenden Erfahrungen für das Verstehen schulischer Tiefenstrukturen.

Im zweiten Abschnitt des Buches – Methodologische Annäherungen an Phänomene des Verstehens – zeigen Evi Agostini und Agnes Bube am Beispiel eines Projektes im Bereich von Universität und Museum, wie die phänomenologische Vignettenforschung dazu beitragen kann, anders wahrzunehmen und anderes zu verstehen. Daniela Lehner und Hans Karl Peterlini schreiben von der Ermöglichung eines leiblichen Ausdrucks unausdrücklicher Erfahrungen (von Unterdrückung) durch performatives, szenisches Nachspielen einer Vignettenszene. Gabriele Rathgeb und Johanna F. Schwarz erörtern die Bedeutung der Miterfahrung in der Vignetten- und Anekdotenforschung als Schlüssel für die Annäherung an das Phänomen Verstehen. Irma Eloff erörtert methodologische Fragen beim Einsatz der Vignettenforschung zur Erfassung psychologischer Erfahrungen zu student wellbeing in Südafrika. Silvia Krenns Beitrag zu Erinnerungsbild und Anekdote als Instrumente zur produktiven Reflexion in der Lehrer*innenbildung leitet über zum dritten Teildes Bandes.

Im Abschnitt Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung stellt Silke Pfeifer das Ausstellungs- und Vermittlungsformat Staging Knowledge in seiner Wirkmächtigkeit für die Anwendung in der Lehrer*innenbildung vor. Anja Thielmann erörtert Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung für Erfahrungen des Verstehens oder Nicht-Verstehens im Bereich der Berufsbildung. Zur Untersuchung pädagogischer und didaktischer Phänomene an der Universität von West-Mazedonienverknüpfen Vassiliki Papadopoulou und Vasileios Symeonidisdie Critical Incident Technique (CIT) mit der phänomenologischen Vignettenforschung. Mishela Ivanova untersucht die Wirkmächtigkeit lernseits orientierter Fallstudien für die Annäherung an studentische Verstehensprozesse.

Der vierte und abschließende Teil des Buches stellt Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens vor. Johannes Odendahl zeigt die Grenzen eines kognitionspsychologischen Verstehensmodells auf, wie es derzeit die deutschdidaktische Theoriebildung bestimmt, und skizziert am Leitfaden der Embodied Cognition einen leib- und emotionsbezogenen Verstehensbegriff mitsamt einigen didaktischen Konsequenzen. Thomas Hoffmann entwirft ein Rahmenmodell Verstehender Diagnostik und votiert für einen pädagogisch produktiven Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen. Niels Anderegg nähert sich dem Phänomen Führung aus phänomenologischer und netzwerktheoretischer Sicht. Alina Knoflach erörtert anhand des forschungsmethodologischen Zugangs der Oral History Phänomene des (Nicht-)Verstehens in Bezug auf religiöse Lebensführung. Julia Ganterer widmet sich dem Thema häusliche Gewalt und fokussiert dabei unterschiedliche Erfahrungsdimensionen.

Was aber heißt das: etwas zu verstehen? Genau lässt sich das immer noch nicht sagen, aber die Beiträge dieses Bandes werfen wesentliche Schlaglichter auf unterschiedlichste Facetten dieses rätselhaften Phänomens aus den verschiedensten Bildungs- und Forschungskontexten. Sollten Sie, geschätzte Leser*in, angeregt sein, die Fragestellungen weiterzudenken, ist die Übung gelungen.

Literaturverzeichnis

Merleau-Ponty, Maurice. Phenomenology of Perception. Trans. by Colin Smith. London, New York 1966.

Meyer-Drawe, Käte. Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen? In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020a, S. 7–24.

Meyer-Drawe, Käte. Szenisches Verstehen. In: Vasileios Symeonidis/Johanna F. Schwarz (Hg.). Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Potential und Grenzen der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 8. Innsbruck, Wien 2020b, S. 17–27.

Peterlini, Hans Karl. Der zweifältige Körper. Die Leib-Körper-Differenz als diskriminierungskritische Perspektive – Vignettenforschung zu Rassissmuns, Sexismus und Behinderung. In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020, S. 25–45.

Waldenfels, Bernhard. Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Frankfurt am Main 2019.

1. Grundlagen

Szenisches Verstehen

Käte Meyer-Drawe

„Eine Erfahrung, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Erfahrung. Eine Einsicht, die man nicht wahrhaben will, ist keine Einsicht. Ein Schmerz, den man vergißt, ist kein Schmerz.“

(Canetti 1999, S. 31)

„Auf Erfahrungen kann man sich nur beziehen, nicht berufen.“

(Benyoëtz 1990, S. 84)

In den folgenden Überlegungen sollen einige Vermutungen zur Besonderheit der Vignettenforschung Innsbrucker, Brixener und Klagenfurter Provenienz zur Diskussion gestellt werden. In einem ersten Schritt wird erläutert, woher der Einfall und die Motivation stammen, über szenisches Verstehen im Zusammenhang mit der Vignettenforschung nachzudenken. Im zweiten Teil soll das Konzept szenischen Verstehens dargelegt werden, um schließlich im dritten Abschnitt den Gedankengang mit einigen Überlegungen zu einer anderen Empirie zu schließen.

1. Einfall und Motivation

Der Einfall, über szenisches Verstehen nachzudenken, ist Hans Karl Peterlini zu verdanken, der sich unter anderem der szenischen Theaterarbeit als einer performativen Möglichkeit phänomenologischer Lernforschung zuwendet. Er schreibt: „Das performative In-Szene-Setzen einer Vignette, einer Mikrohandlung daraus, erlaubt es, Erkenntnisse über die Vignette hinaus im Raum entstehen zu lassen und nachfühlbar zu machen, die Komplexität einer solchen Dynamik auf immer neue Facetten und Feinprozesse zu untersuchen – nicht als Ausdeutung des Geschehenen, sondern als Erweiterung der eigenen Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten.“ (Peterlini 2017, S. 53) Es leuchtet sofort ein, dass in solchen Inszenierungen der Sinnlichkeit des Erfahrens ein besonderes Gewicht zukommt. Nun kann man wirklich die Faust heben, am Saum des Pullovers zupfen, das Haar hinters Ohr streichen, die Augen zusammenkneifen, die Stimme erheben, Scham oder Zorn ausdrücken, mit dem Blick die Tischplatte durchbohren, gähnen, grinsen, schlendern, auf etwas oder jemanden zusteuern, ihn oder sie berühren, sanft oder heftig, räuspern und weiteres mehr. Dabei ist es beispielsweise etwas anderes, wenn ich gestisch kommentierend hüstele, oder meine Erkältung diese Geräusche verursacht. Diese Nuancen sind allein sprachlich nur sehr schwer einzufangen. Die Expressivität des Leibes ist hier überlegen. Zwischenleibliche Konfigurationen, etwa eine „betroffene Stille“, besänftigende oder abwehrende Berührungen oder Blicke, die sich kreuzen, können jedoch aus eigener Erfahrung nachempfunden werden. Akteur*innen konstituieren sich selbst, „indem sie auf die Situationen antworten, in die sie zugleich verstrickt sind“ (ebd.). Das Wörtchen indem ist wichtig, weil es uns hilft, bornierte Alternativen außer Kraft zu setzen, etwa jene von aktiv und passiv oder von Subjekt und Objekt. Keine der Alternativen rangiert in konkreten Kontexten vor den anderen. Sie realisieren sich durcheinander.

Solche Schauspiele sinnlicher Reinszenierungen setzen voraus, dass Vignetten selbst szenischen Charakter haben. Das wird von Forscher*innen mitunter intuitiv bemerkt. So spricht Johanna F. Schwarz von „Vignettenszenen“ und liest Vignetten im Hinblick auf heikle Stationen, die wie etwa Begrüßungsszenen (vgl. Schwarz 2018, S. 133 ff.) kritische Momente der Begegnung bedeuten, in der Zuschreibungen eine besonders große Rolle spielen und oft langfristige Folgen haben. Auch Horst Rumpf spricht bei seinen Vignettenlektüren von „Szenarien“ (Rumpf 2012, S. 93). Diesem szenischen Charakter der Vignetten muss durch ein besonderes Verstehen, von dem im zweiten Teil die Rede sein soll, Rechnung getragen werden.

Motiviert sind die Darlegungen durch die Beobachtung, dass Vignettenforscher*innen nicht selten im Vergleich zu anderen qualitativ empirisch Forschenden eine eher defensive Haltung einnehmen. Sie beugen sich damit einem Maßstab, der nicht selbstverständlich ist, nämlich dem Vorrang der Objektivität von Erkenntnissen, die sich in Aussagen überführen und damit als wahr oder falsch beurteilen lassen, vor Erfahrungen, die erzählt werden. Vielleicht mitunter unbemerkt schleichen sich dabei Hierarchien ein, deren Gültigkeit zweifelhaft ist. So herrscht etwa die Überzeugung, dass operationalisierbare und quantifizierbare Datenerhebungen eher wissenschaftliche Anerkennung verdienen als die Kunst des Erzählens, wie sie in Vignetten ihren Ort findet.1 Es stimmt: Daten sollen grundsätzlich unabhängig von denjenigen sein, die sie gesammelt haben. Aber: „Der Mensch, auch der Empiriker, muß ‚seine‘ Welt schon haben, wenn ihm ‚die‘ Welt gesprächig werden soll.“ (Blumenberg 1998, S. 39, Anm.) Vignetten würdigen diese Welthabe, diese Fusion mit der Welt und werden angesichts der Verankerung in unserer Lebenswelt geschrieben und gelesen. Deshalb bewahren sie die Spuren der nichttheoretischen situativen Bedingungen sowie die habituellen Investitionen der Schreiber*innen, auch wenn sie sich strikt auf die Deskription konzentrieren. Sie blicken nicht „hinter“ die Situationen, sondern auf sie. Sie vertiefen sich in die Oberfläche. (Vgl. Buchholz 2019, S. 420) Um es mit Gaston Bachelard zu formulieren: Sie schauen auf die Blume und erklären diese nicht aus dem Dünger. (Vgl. Bachelard 1994, S. 20) Im Wahrnehmen selbst sind Verstehensbereitschaften am Werk, die sich nicht isolieren lassen und von Ordnungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens in Beschlag genommen werden. Diese Konstellationen veranlassen, was überhaupt bemerkt wird und was unbeachtet bleibt. Vignettenschreiber*innen sind aus dieser Perspektive bewegt von einem szenischen Verstehen, das in ganz bestimmte Beziehungen eingebettet ist und dem eine letzte Gestalt versagt bleibt.

2. Szenisches Verstehen

Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt hat, der aber insbesondere durch die Analysen von Wolfram Hogrebe eine erhebliche philosophische Vertiefung erfahren hat, und zwar nicht nur für die Philosophie selbst, sondern auch für solche praktischen Wissenschaften wie die Medizin, die Jurisprudenz, aber eben auch die Erziehungswissenschaft, die er als „szenisch verankerte Bemühungen“ (Hogrebe 2009, S. 99) charakterisiert. In diesen Disziplinen spielt die Urteilskraft, die nicht zu automatisieren und nicht zu delegieren ist, eine entscheidende Rolle. Sie bleibt an die konkrete Situation gebunden. Ihre spezifische Leistung besteht darin, das Besondere unter der Hinsicht eines Allgemeinen zu fassen. Kant unterscheidet zwischen dem bestimmenden und dem reflektierenden Aspekt der Urteilskraft. Im ersten Fall ist die Anwendung von Regeln des Verstandes auf die Situation gemeint, im zweiten wird die komplizierte Lage angesprochen, dass das Allgemeine noch nicht gegeben und allererst aufzuspüren ist. Es wird im Suchen gefunden. Diese Urteilskraft oder dieses Taktgefühl sind nicht unter Regeln zu bringen. Sie zeichnen sich durch ihre Empfänglichkeit für die Fülle der Lebenswirklichkeit aus. Es ist ihnen eigentümlich, dass sie einen Zwischenraum zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit ausfüllen. Hogrebe erinnert immer wieder daran, dass dieses Zwischenreich eine enorme Herausforderung an eine adäquate sprachliche Artikulation bedeutet und dass es ohne Sprachbilder, die sich zwischen Begriffen und sinnlichen Erfahrungen ansiedeln, nicht zu einem angemessenen Ausdruck kommt. Er gibt sogleich in Anlehnung an Stefan George ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Umstand: „Zwischen Fußsohle und Boden sorgt das Szenische für eine Differenz, die der Teppich des Lebens ist.“ (Ebd., S. 100)

Vignettenschreiber*innen sind sich in diesem Punkt einig. Stellvertretend lasse ich Evi Agostini zu Wort kommen: „Damit sind Vignetten das eindringliche Dokument eines Ringens mit der Sprache, einer manchmal widerborstigen und knotigen Sprache, immer auf der Suche nach einem reicheren und treffenderen Ausdruck, um Lernen in seiner Verwicklung mit der Welt und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu beschreiben.“ (Agostini 2017, S. 27) Hier gleichsam reflexhaft den Verdacht des Subjektivismus vorzubringen, ist voreilig und bleibt in überlieferte Alternativen verstrickt, die im szenischen Verstehen gerade überwunden werden sollen. Mit der Beachtung des szenischen Charakters jeden Verstehens wird wie mit der Rückeroberung des Medialen, das weder nur aktiv noch nur passiv ist, der Versuch unternommen, die Tyrannei dualer Gewohnheiten zu durchbrechen. Es geht nicht um subjektiv oder objektiv, um aktiv oder passiv, um wahr oder falsch. Die Griechen der Klassik kannten in ihrer Grammatik das Medium. Wahrnehmen etwa, das Verb aisthanomai, ist ein Medium, d. h. es liegt zwischen dem bloß Aktiven und dem lediglich Passiven. Damit das Wahrnehmen ein Nehmen vollziehen kann, muss sich ihm etwas geben. Es bezeichnet damit einen Vorgang, bei dem das Subjekt etwas vollbringt, „was sich an ihm vollzieht“ (Benveniste 1974, S. 194). Erwachen ist ein solcher Vollzug, in den jemand involviert ist, ohne die Initiative zu ergreifen. Erwachen ist eine szenische Zuwendung zur Welt, die jeder ausdrücklichen Thematisierung vorausliegt. „Wir finden uns in eine unbestimmte Weltstellung hineingeboren, die dennoch andeutende Kraft hat.“ (Hogrebe 2009, S. 29) Andeutungen sind auf dem Wege zu Bedeutungen. Diese Weise der Weltzuwendung ist deshalb nicht frei von jedem Verstehen, sondern ein Ahnen, Mutmaßen und Fühlen, frei von Begriffen und doch nicht ohne Sinn. „Was immer Menschen sind, sie sind in ihren Kontexten so verankert, daß sie sich weitgehend aus eben diesen verstehen. Da diese Verankerung in geteilten Lebenswirklichkeiten zumindest partiell auch außen sichtbar ist, werden Menschen von ihresgleichen auch aus diesen Kontexten verstanden.“ (Ebd., S. 18) Damit ist ein wesentlicher Grundzug von Vignetten genannt. Nicht-Wissen bedeutet für sie keine Unkenntnis, „sondern die schwierige Leistung des Überwindens der Kenntnis“ (Bachelard 1994, S. 22). Was man zu kennen meint, will man nicht kennen lernen. Jacqueline Baum und Ruth Kurz, die in ihren Untersuchungen den kleinen Lou vom 13. bis zum 18. Monat beim Kritzeln auf einem Tafelfeld, das auf dem Boden liegt, begleiten und in Videoaufnahmen festhalten, markieren die zentrale Schwierigkeit der Transkription von konkreten Wahrnehmungssituationen: „Das verlangt eine Haltung, die nicht von vornherein verstehen will, sondern sich dem überlässt, was sichtbar wird.“ (Baum/Kunz 2007, S. 20) Diese Erfahrung können Vignettenschreiber*innen vermutlich teilen. Um sich vom anderen überraschen lassen zu können, muss man die eigenen Wahrnehmungsneigungen und -erwartungen unter Verdacht stellen, vor allem den Versuch unternehmen, darauf zu verzichten, von sich auf andere zu schließen. Wir neigen nämlich im Alltäglichen dazu, unsere Sicht der Dinge normativ zu verallgemeinern. Dadurch geraten wir in die Gefahr, blind zu werden für die Abweichungen. Diese zeigen sich in den Handlungskontexten, wenn man situationssensibel die kleinen Zeichen wahrnimmt: die Choreografie der Blicke, die unreflektierten Berührungen, das Spiel der Hände, den Umgang mit den Dingen, Kontaktaufnahmen und -verweigerungen, Tonlagen, Stimmungen. Vignettenforscher*innen setzen sich damit Bedingungen aus, die niemals vollständig auf den Begriff zu bringen sind. Sie stellen sich „einer mit Händen zu greifenden Wucht des Gegebenen“ (Gehring 2011, S. 31). Im Hinblick auf sinnliche Wahrnehmungen bedeutet das: Etwas wird in dem Sinne empfunden, zu dem das Bemerkte herausfordert. Etwas kann uns abstoßen, ansprechen, fesseln, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir sind eingenommen, ohne unbedingt voreingenommen zu sein. Mit dieser Entmachtung eines bloß objektivierenden Zugriffs ist nicht ausgeschlossen, dass aufgrund von unerwarteten Widerfahrnissen das Ziel des Weges nicht erreicht wird. Damit ist eine Möglichkeit offengehalten, auch die pathische Struktur mitzuberücksichtigen, die vornehmlich darin besteht, etwas zu vollbringen, was man nicht selbst in Gang gesetzt hat. Im Pathos wird man von einem Widerfahrnis getroffen, das jedem spontanen Akt zuvorkommt. Hier meldet sich eine gewisse Auslieferung des Menschen an seine Welt, die auch ein Erleiden meint (vgl. Busch 2017, S. 52), das er nicht ohne Rest in Beherrschung umwandeln kann. Diese Auslieferung bedeutet nur im Grenzfall vollständige Ohnmacht oder Besessenheit. Denn während wir das, dem wir ausgesetzt sind, nicht erfinden können, bleibt unserer Antwort auf diesen Anspruch ein gewisser Spielraum. (Vgl. Waldenfels 2008, S. 81) Auch die vielgerühmte Rationalität des Menschen nährt sich aus Energien, die von ihr selbst nicht durchschaut werden. Szenisches Verstehen ist nicht ohne Widerfahrnisse möglich. Empfindungen haben dabei eine „situationsaufschließende“ (Hogrebe 2009, S. 30) Funktion. Vignetten können für diese Dimensionen des menschlichen Lernens sensibilisieren, die sich nicht operationalisieren lassen. In ihnen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass mit jedem Lernen mitgelernt wird, wie gelehrt wurde. Wer beispielsweise insbesondere im behavioristischen Stil unterrichtet wird, lernt vor allem zu gehorchen.

„Szenen sind das Primäre für unsere Weltwahrnehmung, nicht die Objekte der Welt oder ihr Mobiliar, […].“ (Ebd., S. 50) Als Szenen appellieren Vignetten auch an unsere soziale Empfindsamkeit. Schreiber*innen von Vignetten streben keine Tatsachenfeststellungen an. Sie wollen überhaupt nichts feststellen. Sie wollen erzählen und auch das in einem besonderen Sinn; denn sie referieren oder berichten nicht, sondern sie bringen ihre situativ gebundenen Erfahrungen zum Ausdruck und wollen diejenigen, die später die Vignetten lesen, miterfahren lassen. Erzählungen „verausgaben sich nicht“ (Benjamin 1980, S. 437). Sie können immer wieder und weiter erzählt werden, ohne sich genau zu wiederholen. Davon lebt die Nachbearbeitung der Rohvignetten und zehren die Lektüren. Vignetten erinnern an bestimmte Erlebnisse. Sie wecken und enttäuschen Erwartungen. Sie erklären nicht. Sie muten an. Im szenischen Verstehen geht es um einen bestimmten Umgang mit unseren Erfahrungen, in denen sich Gegebenheiten noch nicht zu Gegenständen versteift und Gewahrungsweisen sich noch nicht zu Erkenntnissen verhärtet haben.

Maurice Merleau-Ponty behandelt die hier fungierende Unbestimmtheit als ein positives Phänomen. Daraus folgt, dass propositionale Aussagen, die nach wahr und falsch beurteilt werden können, hier an ihre Grenze stoßen und schwache Formen des Wissens in den Vordergrund treten. Es gibt, um es mit Wolfgang Wieland zu sagen, ein „emotionales Apriori“ des Verstehens (vgl. Hogrebe 2009, S. 90), das in der Vignettenforschung nicht zugunsten objektiver Erkenntnisse ausgeklammert wird. Aus dieser Perspektive stellen die Vignetten kein defizitäres Forschungsprogramm dar, sondern sie vertreten vielmehr einen sehr anspruchsvollen Versuch, mit größter Prägnanz sinnliche Wahrnehmungen und eine expressive Leiblichkeit sprachlich wiederzugeben in dem kritischen Wissen, dass Sprache hier andere Ergebnisse als wahrheitsfähige Aussagen zu suchen hat und damit an Poesie rührt, was geradezu unvermeidlich den Verdacht an Unwissenschaftlichkeit hervorruft. Das musste auch Merleau-Ponty erfahren. Émile Bréhier wirft ihm etwa vor: „Ich sehe, dass Ihre Vorstellungen sich eher durch den Roman oder die Malerei als durch die Philosophie ausdrücken lassen. Ihre Philosophie führt zum Roman.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 59 f.) Dieser Vorwurf verunsichert Merleau-Ponty indessen nicht, im Gegenteil: Nach ihm ist Philosophie wie die Kunst: „nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern […] Realisierung von Wahrheit“ (Merleau-Ponty 1966, S. 17). Zu fragen wäre deshalb, ob eine Konzeption, die sich gegen die „intellektuelle Besitznahme“ wehrt, gegen die Verwandlung der gelebten Welt in eine gedachte, nicht eine andere Sprache braucht mit einer eigenen Art von Genauigkeit, nämlich einer „ästhetischen Prägnanz“, die Gottfried Gabriel von der logischen Präzision unterscheidet. (Vgl. Gabriel 2019, S. 11 ff.) Sprachbilder stellen in dieser Hinsicht Erkenntnisformen dar, die sich von wahrheitsfähigen Aussagen unterscheiden. Propositionales Wissen lässt sich von nicht-propositionalem in drei Punkten differenzieren: 1. handelt es sich um ein Wissen, das in Aussagen festzuhalten und zu prüfen ist. 2. ist es loszulösen von den Trägerinnen und Trägern des Wissens, und 3. ist es schließlich bipolar organisiert, d. h. die Aussagen sind entweder wahr oder falsch. Das nicht-propositionale Wissen meint dagegen Erfahrungen par excellence. Wie für die Erfahrung gibt es für das nicht-propositionale Wissen keine Stellvertretung. Erfahrungen sind nicht wahr oder falsch. (Vgl. Wieland 1982, S. 224 ff.) Schließlich ist nicht-propositionales Wissen nicht unabhängig von den Inhaber*innen. All diese Merkmale des nicht-propositionalen Wissens begründen nicht, dass es als Wissen in Zweifel zu ziehen ist. Es ist eine verstehende Weltzuwendung besonderer Art. Vignetten fungieren dabei im Sinne von Kunstwerken (vgl. Mian 2019, S. 172), welche diese spezifische von der Welt angefachte Haltung artikulieren.

Vignettenforscher*innen fühlen sich in dieser Hinsicht Husserls Parole „Zu den Sachen selbst“ verpflichtet. Mit ihr ist eine eigentümliche Rückkehr zu unserer ursprünglichen Verwicklung mit der Welt bezeichnet, an die das Denken nicht heranreicht, obgleich es erst durch sie ermöglicht wird. Die vorreflexive Verwandtschaft der Menschen mit ihrer Welt ist durch die Möglichkeit zur Distanzierung gebrochen, die eine Beziehung zu den eigenen Verhältnissen und zu den Dingen mit sich bringt. So gesehen, brauchen die Dinge unsere Interventionen, um für uns sein zu können. Umgekehrt sind wir an sie verwiesen, um von ihnen in Anspruch genommen zu werden. Während uns die anderen in einen Dialog verwickeln können, sprechen uns die Dinge zwar an, meinen uns aber nicht. In beiden Zuwendungen fungieren Beziehungen, die als solche Beachtung verlangen.

Hinter dem Vorwurf, nicht-propositionale Aussagen wären weder Philosophie noch gar Wissenschaft, versteckt sich eine bestimmte Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit, deren Alleinvertretungsrecht durch eine Konzeption des szenischen Verstehens in Zweifel zu ziehen ist. Um es in einer der Metaphern der Innsbrucker Vignettenforscher*innen zu formulieren: Vignetten fungieren als „Klangkörper“, die von Resonanzen und Anklängen bevölkert sind, die ein vielstimmiges Echo auf Erfahrungen meinen, deren Fülle in den Grenzen von allzu größer Nähe droht, ihre Fassung zu verlieren, und in allzu großer Abstraktion ihren Reichtum einbüßt. (Vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, S. 31 ff.)

Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die niemals mit sich selbst anfangen. In ihrer Sicht tritt das „Fangen“ in Anfangen in den Vordergrund. Sie sind eingebettet und bestimmt durch Umstände, für die wir selbst nicht einstehen können. Auch für menschliches Lernen gilt diese notorische Verspätung. Wenn wir uns unserem Lernen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen. Lernforschungen profitieren davon, dass das Lernen von anderen durchaus wahrzunehmen ist, weil wir es auf gewisse Weise beglaubigen können. Das etwa von Vignettenforscher*innen Wahrgenommene „gibt etwas preis von der Erfahrung, die der andere im Moment seines Entstehens [etwa eines Bildes] macht, nie aber jene Erfahrung selbst“ (Baum/Kunz 2007, S. 93). Das Bemühen darum, diese Preisgabe aufzufangen und aufzufassen, kann man als „szenisches Verstehen“ bezeichnen. Entscheidend ist dabei, dass jene, die verstehen wollen, mit denen, die verstanden werden sollen, in szenischer, also sozialer, vorreflexiver, leiblich situierter Verbundenheit stehen. Damit gerät eine vortheoretische, „partizipative szenische Einbettung“ (Hogrebe 2009, S. 56) in den Blick, die zwar distanzierte Analysen in Perfektion unmöglich macht, aber gerade deshalb die Einsicht in konkrete, unhintergehbare wie vage Voraussetzungen des Lernens gewährt. „Das Szenische liegt an der Peripherie unserer Wahrnehmung, aber in der Mitte unserer Existenz. Szenen, nicht Objekte sind das Primäre unseres Weltverhältnisses.“ (Buchholz 2019, S. 423)

Die Empirie der Vignettenforschung widmet sich im vorliegenden Material nicht isolierten Daten, die im Nachhinein in einen Zusammenhang gestellt werden. Sie teilt vielmehr typische Aspekte alltäglicher Erfahrung, d. h. sie registriert nicht lediglich das Gegebene, sondern schult eine bestimmte Wahrnehmungssensibilität. Dabei wird unterstellt, dass die Autor*innen Unterrichtsszenen wahrnehmen und nicht nur beobachten. Während Beobachtungen eine distanzierte Weltzuwendung meinen, bleiben Wahrnehmungen engagiert in ihrem Weltkontakt, verstrickt in ein Erfahrungsgewebe, das jeden Anspruch auf einen reinen Blick verdächtig macht. Sie sind sozial geprägt. Immanuel Kant spricht davon, dass wir Erfahrungen von anderen „adoptieren“ (vgl. Scholz 2000, S. 41 ff.) müssen, weil wir ansonsten nur Erkenntnisse über den eigenen Lebensort und die eigene Lebenszeit hätten. Strenggenommen hätten wir noch nicht einmal diese, weil wir schon die Sprache übernehmen müssen, in der wir unsere Erfahrungen artikulieren. Die Glaubensgewissheit, dass wir eine Welt haben, das Gefühl des Wirklichen, die Vertrautheit mit unserer Lebenswelt verdankt sich nicht einer Sammlung wahrer Aussagen. (Vgl. Wieland 1982, S. 230 f.) Sie lässt sich weder an einem absoluten Wissen noch an einer unmittelbaren Gegebenheit messen. Im absoluten Wissen verlören wir unsere Welt, in der Begegnung mit dem Unmittelbaren uns selbst. Den wahrnehmenden Forscherinnen und Forschern wird abverlangt, dass sie in „unausgerichtete[r] Bereitschaft“, gleichsam in „konzentrierte[r]Passivität“ (Anders 2017, S. 117) bei den Lernenden sind.

Im Allgemeinen haben wir keine Probleme, über unsere Wahrnehmungen zu sprechen. Wir können sie wie unsere Erfahrungen tauschen. Wir können Erfahrungen zwar nicht stellvertretend erwerben, wir können sie aber im doppelten Wortsinn teilen. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Weltzuwendung Gemeinsamkeit erzeugt, aber das Wahrgenommene auch aufteilt; denn nicht alles ist für jeden jederzeit zu sehen, zu hören oder auch zu riechen. Hans-Georg Gadamer hebt hervor, dass „Dabeisein […] mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem [meint], das zugleich da ist“ (Gadamer 1972, S. 118). „Zuschauen ist […] eine echte Weise der Teilhabe.“ (Ebd.)2 Das Gemeinsame in der Teilhabe garantiert, dass wir einander erzählen können, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben, ohne dass wir uns fragen, ob wir wirklich dasselbe wahrnehmen. Wir sprechen über Bilder, über eindrucksvolle Landschaften, schwärmen von unserem Lieblingskonzert, freuen uns, wenn andere unser Parfum als angenehm empfinden, und laufen nicht gerne barfuß über spitze Steine, kommen zur Hilfe, weil wir den Schmerz von anderen sehen. Kalter Wind lässt uns frösteln. Die Sonne blendet uns. Die Sirenen, das Feedbackpfeifen und das Kreideschaben auf der Tafel gehen uns buchstäblich auf die Nerven. „Ich werde [zwar] niemals wissen, wie Sie Rot sehen, und Sie werden nie wissen, wie ich es sehe; aber diese Trennung der Bewusstseinsströme wird erst nach dem Scheitern der Kommunikation erkannt, und unsere erste Reaktion besteht darin, an ein Seiendes zu glauben, das zwischen uns ungeteilt ist.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 36) Schwierig wird es also, wenn die Verständigung nicht gelingt, wenn die Sprache versagt, weil es ihr nicht glückt, unsere leibliche Resonanz auf die Welt zum Ausdruck zu bringen. Dann richtet sich die Frage darauf, was wir wirklich wahrnehmen. Mitunter wird allzu leichtfertig ein „Wir“ zum Subjekt des Satzes. Ein nicht unbedingt reflektierter machttechnischer Eingriff vereinnahmt und beraubt das andere Ich um sein Widerstandspotenzial.

3. Eine andere Empirie

Wenn in der Forschung von Empirie die Rede ist, dann ist sehr Unterschiedliches gemeint. Wissenschaftliche Erfahrungen werden oft als das Gegenteil von Lebens- oder Alltagserfahrungen aufgefasst. Im Rahmen der Durchsetzung mathematischer und naturwissenschaftlicher Vorbilder treten die Methoden, das Messen und Experimentieren, in den Vordergrund. Die Autorität positiver Empirie bröckelt jedoch, seitdem der reine Blick durch historische Betrachtungen in seine Schranken verwiesen wurde. Nun zeigt sich, dass die sogenannten unumstößlichen Tatsachen nachträgliche Idealisierungen im Forschungsprozess sind. (Vgl. Hampe/Lotter 2000, S. 12) Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie haben aufgewiesen, dass es keineswegs immer um wiederholbare Beobachtungen von eindeutigen Sachverhalten geht. Forschungen haben es nicht mit Naturdingen zu tun, sondern mit epistemischen Objekten. Diese Wissensobjekte verkörpern Konzepte, Konstrukte, Begriffe und Modelle, die auf Experimentalsysteme und Evidenzräume angewiesen sind. Damit soll die eingebürgerte Auffassung unterlaufen werden, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Experimente als Prüfsteine von Theorien thematisiert. Epistemische Objekte testen keine Hypothesen, sondern bringen Wissen allererst hervor oder, um es mit Hans-Jörg Rheinberger zu formulieren, der diesen Begriff in die Wissenschaftstheorie eingeführt hat: Während technische Objekte „in erster Linie Maschinen [sind], die Antworten geben sollen“, ist ein „epistemisches Objekt […] in erster Linie eine Maschine, die Fragen aufwirft.“ (Rheinberger 2006, S. 33) Wissensobjekte sind deshalb unbestimmt, offen. Sie sind unvermeidlich gebunden an das, was in einer Zeit unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sagbar ist. Die Frage muss demgemäß stets lauten, wie wurde dieses epistemische Objekt produziert, damit seine Effekte in bahnbrechenden Experimenten erzeugt werden können. Wissenschaftliche Erfahrung rückt so im Unterschied zum Beginn ihrer Karriere in die Nähe alltäglicher Erfahrung. Damit werden gleichzeitig Möglichkeitsräume geschaffen, das Feld der Erkenntnisse zu erweitern und der logischen Präzision mit ihrer begrifflichen Eindeutigkeit eine ästhetische Prägnanz und ihre anschauliche Dichte zur Seite zu stellen. (Gabriel 2019, S. 81) Prägnant zu sein, also bedeutungsschwanger, meint nun nicht länger ein Defizit, sondern einen spezifischen Reichtum. Diesem Überfluss widmen sich Vignetten in ihren Narrationen, die sich propositional nicht einholen lassen. So wendet sich Gabriele Rathgeb der Neugierde zu, dem Begehren nach Wissen, das sich nicht operationalisieren, aber erfahren lässt. Denn man kann wahrnehmen, wenn jemand Feuer fängt. Johanna F. Schwarz kann zeigen, dass die Attribuierungen der Lehrpersonen ungefähr halb so viele Qualitäten umfassen, wie sie von den Vignettenschreiber*innen entdeckt werden. (Vgl. Schwarz 2018, S. 263 ff.) In der Suche nach dem „getreuen Ausdruck“ (vgl. Meyer-Drawe 2018) explodiert das Anschauungsfeld und gibt zahllose Nuancen und Facetten preis.

„Es bleibt [indes] das Problem des Überganges vom Wahrnehmungssinn zum sprachlichen Sinn, vom Verhalten zur Thematisierung.“ (Merleau-Ponty 2004, S. 228) Das szenische Verstehen ist angewiesen auf einen schöpferischen Ausdruck. Man stößt immer wieder an die Grenzen von Sprache, welche das schweigende Einvernehmen mit der Welt brechen muss, um ihren Sinn zu vollenden. Philosophische Betrachtungsweisen nähern sich damit der Kunst, die wie sie die Welt nicht lediglich abbildet, sondern in ihren Gestaltungen allererst verwirklicht. Phänomenologie, so wie sie von Vignettenforscher*innen verstanden wird, ist eine Philosophie der Erfahrung. Diese unternimmt den nicht abzuschließenden Versuch, der Vielfalt und Mehrdeutigkeit von Erfahrungen eine Stimme zu verleihen. Sie beansprucht kein Privileg mit ihrem Eintritt in die Welt. „Phänomenologie ist Erotik des Schauens. Ihr sinnlich-übersinnliches Verlangen richtet sich auf das anschaulich Gegebene. Ihre Treue gilt den Phänomenen, für die wir nicht selten den Blick verloren haben.“ (Becker 2011, S. 686) Dieser Blick ist allerdings kein rein konstitutiver Akt, sondern eine mediale Weltzuwendung, eine passionierte Aufmerksamkeit, die in szenischen Konstellationen abverlangt, provoziert, nachgefragt und veranlasst wird.

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Verstehen und Beschreiben.

Zur phänomenologischen Deskription in der qualitativen Empirie

Malte Brinkmann

Das Verhältnis von Verstehen und Beschreiben bzw. von Interpretation und Deskription ist seit langem Gegenstand philosophischer, methodologischer und pädagogischer Debatten. Verstehen gilt seit den Anfängen der Hermeneutik bei Schleiermacher als Grundbegriff der Geisteswissenschaften und der Pädagogik (vgl. Broecken 1975). Zudem ist hermeneutisches Verstehen als Interpretieren und Dekodieren der Grundmodus qualitativ rekonstruktiver Verfahren in den Sozialwissenschaften und in der Bildungsforschung.3 Verstehen wird in rekonstruktiv-hermeneutischen Ansätzen methodologisch als Rekonstruktion eines impliziten Sinnes gesehen und in unterschiedlichen Methodologien operationalisiert (vgl. Brinkmann 2015b). Von diesem hermeneutischen Verstehensbegriff ist der phänomenologische zu unterscheiden. Phänomenologisches Verstehen ist deskriptiv orientiert. Es ist nicht an Text oder an Diskurs, sondern an den Begriff der Erfahrung und an die leibliche Wahrnehmung zurückgebunden. Es ist damit am Leib und an seinen Ausdruck orientiert (vgl. Brinkmann 2019a). Phänomenologisches Verstehen wird im Folgenden im Modus der Deskription, Reduktion und Variation als ein methodologisch operatives Verfahren bestimmt. Aus der Perspektive einer theoretischen, pädagogischen Empirie (Brinkmann 2015a) wird Verstehen als zentraler Vollzugsmodus sowohl der Forschungspraxis als der pädagogischen, verkörperten „Praxis“ gesehen.4 Die phänomenologische Beschreibung wird als Verfahren vorgestellt, das, subjektkritisch sowie voraussetzungs- und geltungskritisch, die unterschiedlichen Ordnungen zwischen dem Impliziten und Expliziten sowie zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren zu differenzieren und einer methodologischen Reflexion zuzuführen versucht (vgl. Brinkmann 2014, 2015a, b, 2019a, 2020a).

Dabei versuche ich die These stark zu machen, dass sich phänomenologisches Verstehen nicht auf einen verborgenen, latenten Sinn richtet, der interpretatorisch rekonstruiert werden soll, sondern auf „die Sache selbst“ – so die Losung Husserls. Diese Sache lässt sich deskriptiv in einer scheinbar paradoxen Operation erfassen: die phänomenologische Deskription richtet sich auf etwas, was sich in der Erfahrung zeigt und in diesem Zeigen zugleich „verstellt“ oder „verschattet“ (Fink 2004, S. 193) ist.

Hiermit soll ein Beitrag für eine genauere Bestimmung phänomenologischer Methodologie in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung geleistet werden, insbesondere für die phänomenologisch orientierte Forschung selbst. Hier wird oftmals von einem phänomenologisch-hermeneutischen Verfahren (Lippitz 2018, Danner 1994, Mollenhauer 2010) von einer hermeneutisch-phänomenologischen Humanwissenschaft (van Manen 2012) bzw. von einer „Tiefe des Verstehens“ (Schratz et al. 2012, S. 29) gesprochen. Hermeneutik und Phänomenologie, Verstehen und Beschreiben gehen in diesen Ansätzen ineinander über. Die folgenden Ausführungen formulieren sich aus einer phänomenologischen Perspektive, die methodologische und gegenstandstheoretische Fragen der Pädagogik aufgreift, die poststrukturalistischen Fragen an die Hermeneutik produktiv wendet und Verstehen in den Differenzen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sagbarkeit und Unsagbarkeit sowie im Wechselverhältnis von Appell und Antwort neu bestimmt.

Ich werde zunächst Verstehen als Grundbegriff in der Pädagogik darstellen und dann die Verschiebungen hermeneutischer Verfahren in die qualitative Bildungsforschung knapp benennen (1). Danach werden zunächst Grundzüge hermeneutischen Verstehens bei Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Buck herausgearbeitet (2) und seine Probleme benannt (3). Sodann wird das phänomenologische Verfahren der Deskription genauer vorgestellt. Ausgehend von der phänomenologischen Losung „zu den Sachen selbst“ werden die Ambivalenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Phänomens für seine Beschreibung (4) sowie jene zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit in der signifikativen Differenz (5) erörtert. Phänomenologische Differenz wird dann für die Praxis qualitativen Forschens als ambivalentes Verfahren dargestellt, das mit der Sprache gegen ihre Grammatik vorgeht (6). Im nächsten Schritt werden die mit der Deskription mitgängig vollzogenen Verfahren der Reduktion (7) und der Variation (8) genauer vorgestellt. Deskription erscheint in dieser Perspektive nicht mehr als Auslegung und Rekonstruktion von bereits Vorhandenem, sondern als projektive „Einlegung“ von Sinn bzw. als Signifikation. Das phänomenologische Verfahren der Deskription ermöglicht eine Pluralisierung und eine Produktion von Sinn bei gleichzeitiger intersubjektiver Validierung im Modus des geteilten Verstehens als Antworten (9). Diese Gedanken werden schließlich unter forschungspraktischer Perspektive zusammengefasst (10).

1. Verschiebungen: Verstehen in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung

Verstehen als Grundbegriff der Hermeneutik und Praxis der Pädagogik hat eine lange Geschichte von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bis hin zur hermeneutischen Pädagogik (vgl. Broecken 1975). Der Grundsatz Schleiermachers, nach dem Hermeneutik als die „Kunst“ bestimmt wird, „die Rede des anderen richtig“ (Schleiermacher 1977, S. 75) bzw. „besser zu verstehen als ihr Urheber“ (ebd., S. 94), hat Vorgehen und Selbstverständnis der Hermeneutik in der Pädagogik im Kontext der Geisteswissenschaften von Dilthey über Litt, Nohl, Spranger, Flitner bis hin zu Bollnow und Klafki wirkmächtig bestimmt. Verstehen galt als Königsweg, mit dem Theorie und Praxis, Besonderes und Allgemeines, Wissenschaft und Leben zusammengeführt werden können (Huschke-Rhein 1979, Uhle 1989, Gaus/Uhle 2006).

Die problematischen Verstrickungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den Nationalsozialismus haben spätestens seit den 60er Jahren zu einer Kritik nicht nur dieses Paradigmas, sondern auch des hermeneutischen Verstehens geführt.5 Mit der von Roth ausgerufenen „realistischen Wende“ (Roth 1967), der Heraufkunft der empirischen Bildungsforschung sowie mit dem linguistic turn und der poststrukturalistischen Kritik an Subjekt, Kohärenz, Geschichte, Wahrheit und Autor ist das Verstehen als Modus in die Kritik geraten. Die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ (Kittler 1980) hat dazu geführt, dass die Hermeneutik als Paradigma der Pädagogik mittlerweile fast verschwunden ist.

Das Verstehen ist allerdings in der Pädagogik nicht gänzlich verschwunden. Der Exorzismus der Poststrukturalisten hat vielmehr zu einer Verschiebung in das Gebiet des Methodischen und Methodologischen geführt. In der qualitativen Bildungsforschung gilt Verstehen nach wie vor als ein, wenn nicht der Weg, die Erfahrungen anderer zu rekonstruieren. Verstehen gilt nun nicht mehr als „Medium der einschlägigen Erfahrung“ und „Organ der Praxis“, wie es die hermeneutische Pädagogik und Handlungshermeneutik sah, sondern als ein „die empirische Erkenntnis ermöglichendes Moment“ (Buck 1981). Verstehen bleibt damit an Erfahrung gebunden – allerdings als methodisierte und rekonstruierte Erfahrung anderer: als Fremdverstehen. Das Paradigma der rekonstruktiven Sozial- und Bildungsforschung zeugt von einer mannigfaltigen Pluralität der verstehenden Verfahren: in der objektiven Hermeneutik, dokumentarischen Methode, qualitativen Inhaltsanalyse, der Tiefenhermeneutik sowie in weiteren unzähligen rekonstruktiven Methoden und Forschungspraktiken wird die Prominenz und Ubiquität des Verstehens bezeugt (vgl. Brinkmann 2019a). Dieser Verschiebung sollen im Folgenden weitere Überlegungen folgen, die einerseits die Kritik an der Hermeneutik aufnehmen, ohne aber das Verstehen als Zugang und Antwort zur pädagogischen Praxis aufzugeben.

2. Hermeneutische Theorien des Verstehens: Schleiermacher, Dilthey, Gadamer, Buck

Schleiermachers oben genannter Grundsatz, Hermeneutik als Kunst zu bestimmen, „die Rede des Anderen richtig“ bzw. „besser zu verstehen als ihr Urheber“ (Schleiermacher 1977, S. 75, 94) belegt, dass es ihm nicht um das Verstehen des Anderen, sondern um das Verstehen des Gesagten oder Geschriebenen geht, und zwar in der „richtigen Weise“. Dazu unterscheidet er die grammatische und die psychologische Form der Auslegung. Die grammatische Auslegung zielt auf den objektiven Gehalt der Rede (vgl. ebd., S. 94). Die psychologische Form der Auslegung hingegen versucht sich in das schreibende oder sprechende Subjekt, in dessen Intentionen und in seinen historischen Hintergrund „divinatorisch“ hinein zu fühlen. Als Theologe steht Schleiermacher in der langen Tradition der Bibelauslegung. Das Verstehen wird damit am Modell des Textes orientiert.

Dilthey hat, an Schleiermacher anknüpfend, Verstehen als einen Vorgang bezeichnet, „in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein inneres Erkennen“ (Dilthey 1961, S. 217). Dilthey nennt für diesen Vorgang ein Beispiel: Das Gesicht eines Kindes. Das Äußere des Gesichts artikuliert sich in der Mimik. Sein Inneres hat aber eine bestimmte Bedeutung, einen Sinn: Wohlbehagen, Trauer, Schmerz, Ekel o. ä. (vgl. Danner 1994, S. 42). Verstehen wird damit als ein Prozess des Dekodierens bestimmt, der von außen nach innen gerichtet ist. Ich verstehe die Bedeutung des Gesichtsausdrucks, indem ich hinter oder unter der Oberfläche der Äußerung einen „tieferen“ Sinn verstehe. Dieses Verstehen beruht auf einem Vorverständnis oder Horizont und bewegt sich in einem Zirkel. Verstehen wird damit als semiotisches, textorientiertes und subjektzentriertes Schließen bestimmt.

Dieser Tradition bleibt auch Gadamer verpflichtet, wenn er Verstehen als von der Tradition, dem geschichtlichen Überlieferungszusammenhang und der Wirkungsgeschichte bestimmt sieht (vgl. Gadamer 1990, S. 270 ff., 305 ff.). Aber Verstehen sei kein Besser-Verstehen – eine Anspielung auf Schleiermachers berühmte Formulierung –, sondern Anders-Verstehen (vgl. ebd., S. 302). Es besteht im Fremdverstehen die Gefahr, „das Andere im Verstehen ‚anzueignen‘ und damit in seiner Andersheit zu verkennen“ (ebd., S. 305). Fremdverstehen fungiert damit zwischen Eigenem und Fremdem. Diese Differenz wird allerdings von Gadamer schließlich hermeneutisch vermittelt im Sinne der Horizontverschmelzung. Horizontverschmelzung bedeutet die Verschmelzung des Verstehenden mit dem Verstandenen (vgl. ebd., S. 311). Das ist möglich, weil beide, das Subjekt des Verstehens wie das zu verstehende Subjekt/Objekt, am selben Zusammenhang einer Wirkungsgeschichte teilhaben. Die Geschichtlichkeit des Verstehens und die Autorität der Tradition verbürgen damit das Fremdverstehen. Im Fremdverstehen wird mit dem harmonistischen Modell der Verschmelzung die Andersheit und Fremdheit des Zu-Verstehenden egalisiert.

Günter Buck übernimmt in seinem Konzept der Handlungshermeneutik Gadamers These, Hermeneutik nicht auf eine Methode zu reduzieren, sondern als Grundzug des menschlichen Lebens zu sehen (Buck 1981, 2019). Er rezipiert Husserls Intentionalitäts- und Horizontbegriff, geht aber mit Gadamer von der Einheit von Verstehen, Interpretieren und Auslegen aus (vgl. Brinkmann 2014). Hermeneutische Pädagogik ist nach Buck die Praxis des Verstehens als Verständigung. Sie basiert auf Tradition und Erfahrung. Daher ist Interpretation „prinzipiell nachträglich“ (Buck 1981, S. 34). Sie bezieht sich auf die Rekonstruktion tradierter oder erlebter Erfahrungen. Insofern geht Verstehen vom Subjekt aus und ist auf das Subjekt reflexiv rückbezogen. Verstehen ist daher auch Selbstbesinnung und Selbstreflexion. Verstehen basiert einerseits auf einer negativen Erfahrung des Nicht-Verstehens, die überhaupt den Verstehensprozess in Gang bringt. Andererseits wird im Verstehensprozess als Erfahrungsprozess eine „Assimilation des eigenen Horizontes des Interpreten (…) an denjenigen des Interpretandum“ (ebd., S. 51) vollzogen. Verstehen wird damit als Assimilation im Modus der Horizontverschmelzung gefasst sowie als reflexiver Akt, der durch eine negative Erfahrung der Befremdung ausgelöst wird und damit zu einer lernenden Erfahrung wird. Verstehen ist demnach mit Gadamer und Buck weder ein Sich-Hineinversetzen in die psychologische Struktur des Autors, kein Nacherleben oder Miterleben, auch kein Besser-Verstehen, sondern ein reflexives Sich-Verhalten, ein „Zuwachs an Erkenntnis“ (ebd., S. 27).

Bucks hermeneutisch-phänomenologischer Ansatz wird insbesondere unter den Titeln ‚Negativität‘, ‚Umlernen‘ bzw. ‚Blickwechsel und Transformation‘, ‚exemplarische Deskription‘ prominent rezipiert (Buck 2019, Schenk/Pauls 2014, Schenk 2017, Meyer-Drawe 2008, Benner 2005). Buck gilt mittlerweile als Klassiker der Pädagogik (Brinkmann 2019c). Die Buck`sche Lern- und Beispieltheorie ist für Lippitz (2018) und Meyer-Drawe (2012) eine wichtige Referenz für die Herausarbeitung eines hermeneutisch-phänomenologischen Zugangs, in dem Hermeneutik und Phänomenologie ineinander übergehen.

Die Praxis des Verstehens im hermeneutischen Modell wird bei Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Buck also als Explikation bzw. als Versprachlichung und Verbalisierung der Erfahrungen Anderer verstanden – analog der Auslegung von Texten. Die Einheit von Verstehen, Interpretieren und Auslegen verbürgt in der Hermeneutik letztlich ein Selbst-Verstehen, das sich am Modell des Textes und der Sprache orientiert (vgl. Brinkmann 2014, 2019a). Verstehen wird als Explikation eines verborgenen Sinnes gefasst, der sich in einer geschichtlichen Wirkungsgeschichte manifestiert und als Verbindendes eine „Verschmelzung“ des Eigenen mit dem Fremden ermöglichen soll.

3. Probleme des hermeneutischen Verstehens

Der Primat der Sprache und des Gesprochenen in den Texten bedeutet einen Präsentismus des Zeichens (vgl. Derrida 1994). Von der Oberfläche gilt es auf eine „Hinterwelt“ (Nietzsche) des Zeichens mittels Interpretation und Auslegung zu gelangen. Verstehen ist damit vornehmlich Explikation einer verborgenen, latenten Bedeutung. Die Präsenz des Sichtbaren wird abgewertet zugunsten der Latenz des Unsichtbaren und Zu-Interpretierenden.

Im hermeneutischen Verstehen wird der*die Andere zwar erfasst, aber nur als ein Spiegelbild des Eigenen. Das Verständnis des*der Anderen, seine*ihre Intentionen und Emotionen, sein*ihr Erleben und sein*ihr Erfahren bleiben letztlich auf hermeneutischem Weg unzugänglich. Verstehen als Besser- bzw. Anders-Verstehen (Dilthey, Gadamer) bzw. semiotisches oder einfühlendes Verstehen (Schleiermacher, Dilthey) kann radikale Andersheit (Levinas 1983) sowie die Fremdheit des*der Anderen nur insofern erfassen, als dass diese bagatellisiert, egalisiert oder sogar kolonialisiert wird (vgl. Lippitz 2019). Diese Problematik führt beispielsweise in der Ethnologie zu einer Kritik an der hermeneutischen Herangehensweise (vgl. Kalthoff 2006, S. 155, 165).

4. Ausgang, Zugang, Durchgang: Das Phänomen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Im Unterschied zum hermeneutischen Verstehen als Auslegen, Interpretieren und Rekonstruieren eines latenten Sinnes im Modus der Repräsentation insistiert die phänomenologische Zugangsweise auf die Gegebenheit der leiblichen und lebensweltlichen Erfahrung, der „natürlichen Einstellung“ – so Husserls problematische Formulierung. In dieser „natürlichen Erfahrung“ zeigt sich etwas – das Phänomen. Wie Heidegger im § 7 von „Sein und Zeit“ zur „phänomenologische[n] Methode“ (Heidegger 2001, S. 27 ff.) verdeutlicht, bezeichnet ein Phänomen etwas, das sich zeigt (vgl. ebd., S. 29). Das Phänomen (phainomenon) als das Erscheinende verweist gerade nicht auf etwas Verborgenes, Latentes, Symbolisches. Es ist vielmehr eben deshalb Phänomen, weil es oberflächlich ist (vgl. ebd., S. 36). Um sich der „Erscheinung“ des Phänomens zu öffnen, bedarf es der Einstellung, dass hinter oder unter der Oberfläche nichts ist: kein Wesen, kein Indikator oder Symptom für etwas Latentes. Phänomenologisches Sehen und Forschen geht also von der Oberflächlichkeit der Phänomene aus. Phänomenologie kann daher als Praxis des Sich-zeigen-Lassens bestimmt werden: „Das was sich zeigt, so wie es sich zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (ebd., S. 34).

Die phänomenologische Einstellung ist aber nicht mit einem Positivismus zu verwechseln. Die Horizonthaftigkeit des Phänomens und die Struktur der Erfahrung verhindern zunächst, dass das Phänomen sichtbar ist. Der Zugang zum Phänomen ist ‚verstellt‘ oder ‚verschattet‘. Deshalb fordert der „Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgangdurch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung“ (ebd., S. 36, Hervorh. im Orig.). Diese „methodische Sicherung“ wird, wie ich zeigen möchte, mit der Deskription und der mitgängigen Reduktion erreicht. Gerade Interpretationen, Vormeinungen und Deutungen, auch Theorien, szientifisches und kulturelles Wissen sowie wissenschaftliche Modelle bewirken, dass sich das, was sich zeigen kann, nicht zeigt. Heidegger bemerkt dazu kritisch:

Faktisch ist es […] so, dass unsere schlichtesten Wahrnehmungen und Verfassungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind. Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, sondern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht. (Heidegger 1994, S. 75)

Die Vorstellung und Unterstellung von latentem Sinn, wie sie für die Hermeneutik und die rekonstruktiven Sozialwissenschaften leitend ist, führt nicht dazu, die Sachen besser oder anders oder überhaupt zu sehen (vgl. Brinkmann 2014, S. 212 ff.). Im Unterschied dazu geht die Phänomenologie von der „Sache selbst“ (Husserl) aus. Diese ist, so die naive Einstellung des*der Phänomenolog*in, in der Wahrnehmung gegeben. Sie lässt sich leibhaft erfahren. Heidegger verdeutlicht das am Beispiel eines Stuhls: „Ich sehe nicht ‚Vorstellungen‘ von dem Stuhl, erfasse kein Bild von dem Stuhl, spüre nicht Empfindungen von dem Stuhl, sondern sehe ihn schlicht – ihn selbst. Das ist der nächstgegebene Sinn des Wahrnehmens“ (Heidegger 1994, S. 48). „Anschauung besagt: Schlichtes Erfassen des leibhaft Vorgefundenen selbst, so wie es sich zeigt“ (ebd., S. 57). Daher ist der phänomenologische Zugang nicht der der Interpretation, sondern der der Deskription. Deskription wird als Praxis des Sehen-Lassens der „leibhafte[n] Selbstgegebenheit“ (ebd., S. 54) der Sache bestimmt. Auf dieser Grundlage ist die „oberste methodische Regel“ der phänomenologischen Deskription, „sich gerade nicht um Deutungen zu bemühen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es auch noch so dürftig sein“ (ebd., S. 63). Nicht die Differenz von Innen und Außen, sondern die Differenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit ist leitend. Unsichtbarkeit gilt nicht als Makel, sondern als die Bedingung der Möglichkeit des Sehens und Verstehens überhaupt (vgl. Brinkmann/Rödel 2020).

Der phänomenologische Zugang verlässt sich aber nur in einer scheinbaren Naivität auf die Gegebenheit der Phänomene in der Erfahrung (vgl. zum Folgenden Brinkmann 2015a, 2019a). Er basiert einerseits auf einer Ontologie der Erfahrung des Leibes und der Dinge und insistiert auf dem unaufhebbaren doxalischen Grundzug lebensweltlicher und alltäglicher Erfahrungen, der sich gegen eine Kolonialisierung, Rationalisierung und Objektivierung der Lebenswelt stemmt (vgl. Brinkmann 2020a). Wahrnehmung und Erfahrung beruhen auf den „doxa“ der gesellschaftlich, kulturell und sozial formierten Lebenswelt, das heißt sie sind dogmatisch (vgl. Bourdieu 1993). Sie sind aufgrund kultureller, historischer und sozialer Erfahrungen und theoretischer und szientifischer Interpretationen formiert, normalisiert und strukturiert. Das bewirkt, dass Phänomene nur „verstellt“ oder „verschattet“ (Fink 2004, S. 193) sichtbar und erfahrbar sind. In der Wahrnehmung und im Erfahren tauchen daher zunächst vor allem unsere eigenen Deutungen, Normen, Konventionen und Kategorien auf. Diese sagen dann eher etwas über den oder die Wahrnehmende, weniger etwas über das Phänomen aus. Hier zeigt sich die zweite Bedeutung der natürlichen Einstellung: Sie muss aufgrund ihrer Verstellung durch Vormeinungen und Vorurteile erst gewonnen werden – mittels der Reduktion (vgl. 7.). Diese kann sich aber nicht „rein“ einstellen, da wir uns nicht aus unserem Leib, unserer Geschichte oder Kultur herausreflektieren können. Insofern ist der transzendentale Rückgang auf eine natürliche Erfahrung, wie sie Husserl proklamierte, eine Illusion (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 82). Sie ist ebenso unmöglich wie eine Epoché oder Reduktion vollständig sein kann.6 Gleichwohl dient sie als heuristische und methodologische Perspektive für einen reflexiven Einsatz, der sich kritisch gegen Vorurteile und Kolonialisierungen richtet, indem diese eingeklammert werden.

5. Sagbares und Unsagbares: Signifikative Differenz

Der doxalische, lebensweltliche und leibbezogene Zugang der Phänomenologie und ihre kritische Perspektive auf theoretische, szientifische und kulturelle Interpretationen beruht auf einer Theorie der Erfahrung und des Leibes. Auf dieser Grundlage wird die präverbale und präreflexive Erfahrung von ihrer nachgeordneten, sprachlichen Fixierung und Interpretation streng unterschieden. In der phänomenologischen Philosophie und Pädagogik wird, ausgehend von Husserl, der Leib als Weltorgan der Erfahrung qualifiziert und Leib-Sein von Körper-Haben unterschieden. Erfahren vollzieht sich im und durch den Leib (vgl. Brinkmann et al. 2019). Der Leib ist nicht Gegenstand (also Ding oder Objekt) und auch nicht Zentrum des Ich. Er ist vielmehr Medium unserer Welt- und Selbsterfahrung: „Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als Gegenstand, sondern als