Erfülltes Leben - Friedemann Schulz von Thun - E-Book

Erfülltes Leben E-Book

Friedemann Schulz von Thun

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Beschreibung

Friedemann Schulz von Thuns einfaches Modell für ein Erfülltes Leben – eine Anleitung vom Meister der Kommunikation

Wir leben nur einmal – und was zählt wirklich in diesem Leben? Friedemann Schulz von Thun, Kommunikationspsychologe, Coach und Bestsellerautor, blickt bei dieser Frage immer wieder auch auf sein eigenes Leben zurück. Besonders beschäftigt er sich mit Erlebnissen, die als Beispiele für sein neues Modell dienen. Wir werden dazu angeregt, unser Leben aus fünf Blickwinkeln zu betrachten, zu würdigen und womöglich zu verändern. Das große Ganze setzt sich am Ende aus Wunscherfüllung, Sinnerfüllung, biografischer Erfüllung, Daseinserfüllung und Selbsterfüllung zusammen. Auf diese Weise können wir unsere eigene Biografie neu verstehen – wo sie gelungen ist und wo wir Enttäuschungen zu verkraften haben. Ein lebenskluges Buch, verständlich, persönlich, konkret.

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Über das Buch

Wir leben nur einmal — und was zählt wirklich in diesem Leben? Friedemann Schulz von Thun, Kommunikationspsychologe, Coach und Bestsellerautor, blickt bei dieser Frage immer wieder auch auf sein eigenes Leben zurück. Besonders beschäftigt er sich mit Erlebnissen, die als Beispiele für sein neues Modell dienen. Wir werden dazu angeregt, unser Leben aus fünf Blickwinkeln zu betrachten, zu würdigen und womöglich zu verändern. Das große Ganze setzt sich am Ende aus Wunscherfüllung, Sinnerfüllung, biografischer Erfüllung, Daseinserfüllung und Selbsterfüllung zusammen. Auf diese Weise können wir unsere eigene Biografie neu verstehen — wo sie gelungen ist und wo wir Enttäuschungen zu verkraften haben. Ein lebenskluges Buch, verständlich, persönlich, konkret.

Friedemann Schulz von Thun

Erfülltes Leben

Ein kleines Modell für eine große Idee

Carl Hanser Verlag

1  Einführung

Wie auch immer die Verhältnisse hierzulande und auf der ganzen Welt sich entwickeln: Du und ich, wir haben nur unser Leben, unser Ein und Alles, das in seiner Besonderheit erkannt und gewürdigt sein will. Es ist der Rede wert und gewiss auch der Fürsorge.

»Sie (oder er) hatte ein erfülltes Leben!«, heißt es oft in Traueransprachen. Seitdem ich selbst gelegentlich die traurig-schöne Pflicht übernommen habe, solche Reden zu halten, denke ich darüber nach, unter welchen Umständen diese Aussage berechtigt ist. Hatte oder habe ich denn selbst ein erfülltes Leben? Was ist das überhaupt, woran macht man das fest? Ist es gleichbedeutend mit einem »glücklichen Leben«? Offenbar nicht ganz. Kann ein Leben auch »erfüllt« genannt werden, wenn es von großem Unglück überschattet war? Und wenn es jemandem gelingt, sich ein »feines Leben« zu machen, war es damit notwendig auch erfüllend? Worin liegt das Wesen der Erfüllung? Und kann ich dafür etwas tun, oder ist es eine Schicksalsfügung? Gibt es auch ein unerfülltes Leben? Etwa wenn jemand jung und »vor seiner Zeit« sterben musste? Oder kann auch ein langes Leben unerfüllt bleiben? Offenbar müssen wir auch das für möglich halten, denn die bedeutungsschwere Aussage, jemand habe ein erfülltes Leben gehabt, impliziert doch die Möglichkeit, dass es auch anders hätte ausgehen können.

Ich habe das »Erfüllte Leben!?« im Buchtitel ursprünglich mit einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen versehen wollen. Das Ausrufezeichen sagt: Ja, darum geht es — und das Glück ist die Erntefrucht eines erfüllten Lebens! Und das Fragezeichen sagt: Was ist das überhaupt? Nach welchen Kriterien kann ich das beurteilen, bekräftigen, infrage stellen, verneinen? Wodurch wird es gefördert, wodurch gefährdet? Um auf all diese Fragen Antworten zu finden, habe ich dreierlei getan. Erstens nachgedacht und die Gedanken anschließend sortiert. Zweitens auf mein eigenes bisheriges Leben geschaut und zurückgeschaut. Ich bin Jahrgang 1944, da kann ich schon etwas mitreden. Und drittens habe ich verfolgt, was andere kluge Geister dazu gesagt und geschrieben haben. Und wenn sie nicht nur klug, sondern auch weise waren, dann umso lieber.

Die Frage, was im Leben zählt, ist wahrlich nicht neu. Und der Wunsch, sich darüber Rechenschaft abzulegen, ist typisch menschlich — die Publikationen dazu sind unzählig. Ich habe nur einen minimalen Bruchteil davon gelesen. Was mich erreicht hat und womit ich etwas anfangen konnte, ist in das nachfolgende Modell mit seinen 4 + 15 Feldern eingeflossen. Dieses Denkmodell hilft mir selbst, mein eigenes Leben und das anderer mit fünf verschiedenen Brillen in Hinblick auf Erfüllung zu betrachten. Ich bin kein studierter Experte in Fragen der Lebensphilosophie. Aber die Kommunikationspsychologie verfügt über Modelle, die auch für dieses Lebensthema aussichtsreich sind. Und so versammeln sich in mir drei Autoren: der Lebenserfahrene fortgeschrittenen Alters mit seinen Erinnerungen, der Kommunikationspsychologe mit seinen Modellen und der ewige Lebenslehrling, der in Büchern sucht, was ihn weiterbringt. Mich ermutigt ein Satz von Hermann Hesse: Es ist nicht meine Aufgabe, das objektiv Beste zu geben, sondern das Meinige so rein und aufrichtig wie möglich.

Das »Meinige« wird in der Berufsausübung ohnehin unweigerlich wirksam und das »Deinige«, liebe Leserin, lieber Leser, ganz genauso. Als Seelsorger, Trainerin, Coach und Lebensberaterin bin ich wollend oder nicht wollend auf das angewiesen, was ich mein »existenzielles Credo« nenne. In diesen Rollen bin ich nämlich nicht nur wirksam mithilfe meiner Kenntnisse in Diagnose und Intervention, der Tools und Techniken, die zum professionellen Handwerkszeug gehören. Sondern ich wirke auch und nicht zuletzt als menschliches Gegenüber, als Partner einer existenziellen Begegnung, und meine Annahmen und Überzeugungen davon, worum es im Leben geht und was letztlich zählt, sind unweigerlich mit im Spiel, auf und zwischen den Zeilen. Und je mehr dieses existenzielle Credo durchdacht, durchfühlt und durchlebt ist, umso mehr Seelentiefe kann die Begegnung erreichen.

Kommt dieses Buch nicht zur Unzeit? Ist nicht der Individualismus schon genug ins Kraut geschossen? Sollte nicht, angesichts der horrenden Bedrohungslagen auf diesem Erdball, unser individueller Lebenslauf ein ganz zweitrangiges Thema werden? Wenn das Ganze auf dem Spiel steht, sollten wir der Rettung dienen und unser individuelles Glück zurückstellen, oder? Gewiss, das sollten wir, jedenfalls wenn wir »Glück« vor allem als etwas ansehen, was unser ganz persönliches Wohlsein betrifft. Ein »erfülltes Leben« wird sich aber als eines erweisen, das nicht nur das Ego und den lustvollen Genuss auf Erden zu steigern trachtet, sondern seine Würde und seine Erfülltheit auch dadurch gewinnt, dass es Aufgaben wahrnimmt, die dem Wohl des Ganzen dienen, von dem wir ein Teil sind. Und als Individuum haben wir alle nur unser eines, einziges und einmaliges Leben. Dieses Leben ist es wert, als etwas Wertvolles, ja als etwas Heiliges gewürdigt, ausgekostet, eingesetzt zu werden. Und wir leben nicht nur zum Wohle des Ganzen, sondern sind auch selbst Ganze, als Kinder einer Evolution, die Milliarden Jahre gebraucht hat, um uns hervorzubringen. Und wie unser rätselhaftes Gastspiel auf Erden verläuft und wie es ausgeht, das ist und bleibt ein großes Thema für jeden von uns, oder?

Auf Sie, liebe Leserin und lieber Leser, komme ich gleich noch einmal zurück. Aber vorher lasse ich schon einmal die Katze aus dem Sack und stelle das 4 + 1 5-Felder-Modell im Überblick vor. Sodann erhält jedes Feld ein eigenes Kapitel.

2  Das 4+1=5-Felder-Modell des erfüllten Lebens

Was also macht ein Menschenleben zu einem »erfüllten Leben«? Mir ist klar geworden, dass Lebenserfüllung auf sehr verschiedene Weise zustande kommen kann und dass dabei sehr verschiedene Lebensqualitäten hervorgebracht werden. Mein Denkmodell sieht fünf Felder vor — angeordnet als vier Felder in einem Quadrat und einem kreisrunden Feld in der Mitte, siehe Abb. 1. Die vier Quadrate sind mit den ersten Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnet, der Kreis in der Mitte mit dem letzten Buchstaben. Warum griechische Buchstaben? Es hat sich so ergeben — wahrscheinlich, weil es für mich fünf »ehrwürdige« Felder sind, und ABCDE oder 12345 zu profan und buchhalterisch ausgesehen hätte.

Abb. 1: Das 5-Felder-Modell im Rohbau

Füllen wir die Felder jetzt mit Inhalt! Hier zunächst in der Gesamtschau und im Überblick. Danach ist jedem Feld ein Kapitel gewidmet. Beginnen wir links oben:

ERFÜLLUNG VOM TYPUS ALPHA IST ›WUNSCHERFÜLLUNG‹. Wir können von einem erfüllten Leben sprechen, wenn sich ein Teil deiner Wünsche ans Leben erfüllt hat, oder pathetischer gesagt: wenn sich deine »Träume« erfüllt haben. Sei es, dass du selbst sie dir hast erfüllen können, sei es auch, dass dir dies durch ein gnädiges Schicksal zuteilgeworden ist. Meistens muss ja beides zusammenkommen: die eigene Initiative und die förderlichen Umstände. Gleichviel, jedenfalls scheint mir dies wenn auch nur eine, so doch wichtige Komponente eines erfüllten Lebens zu sein, dass mancher Wunschtraum in Erfüllung gegangen ist. Das klingt erst einmal banal. Wir werden aber sehen, dass dieser Quadrant es in sich hat! Denn nicht alle Seelen in deiner Brust wünschen sich dasselbe, und manche Sehnsucht ist tief in dir vergraben und will erst noch entdeckt werden. Und manche Wünsche an das Leben liegen in dir miteinander im Kampfe.

ERFÜLLUNG VOM TYPUS BETA IST ›SINNERFÜLLUNG‹. Kein Mensch kann, kein Mensch will ein Leben führen, das nur der eigenen Beglückung, der Erfüllung eigener Wünsche dient. Wir wollen auch einen Beitrag leisten zum Gelingen des Ganzen, von dem wir ein Teil sind. Die heuristische Frage lautet hier nicht mehr »Welcher Herzenswunsch, welcher Lebenstraum hat sich dir erfüllt?«, sondern »Was hat sich durch dich erfüllt?«. Der Mensch braucht einen Sinn im Leben — und je deutlicher er diesen Sinn erkennt und fühlt und je besser er dementsprechend dienlich werden kann, umso mehr gelingt ihm die Erfüllung vom Typus Beta.

ERFÜLLUNG VOM TYPUS GAMMA IST ›BIOGRAFISCHE ERFÜLLUNG‹. »Geht hinab, hinauf / unser Lebenslauf — / das ist unser Los auf Erden« — so endet die erste Strophe des »Komitats« von Hoffmann von Fallersleben, in der Vertonung von Mendelssohn Bartholdy. Sie beginnt mit »Nun zu guter Letzt / geben wir dir jetzt / auf die Wanderung das Geleite«. Es wurde zu meinem Abitur vom Schulchor gesungen und später noch mal von meinen Kolleginnen und Kollegen zu meiner Pensionierung. Dieses teils schicksalhafte, teils charakterbedingte Auf und Ab macht unser Leben — mehr oder weniger — zu einem Abenteuer, über das sich vielleicht einen Roman zu schreiben lohnt. Und in diesem Roman erlebt die Heldin, der Held, womöglich triumphale Höhepunkte und Gipfelerlebnisse, aber gewiss auch Krisen, Niederlagen und verzweifelte Tiefpunkte. Und diese deine Biografie, mit allem, was dir in deinem Lebensdrama schicksalsschwer widerfahren ist und was du durchgemacht und erlebt hast, trägt zur Erfüllung vom Typus Gamma bei.

ERFÜLLUNG VOM TYPUS DELTA IST ›DASEINSERFÜLLUNG‹. Es bedarf keiner spektakulären Ereignisse vom Typus Gamma, um ganz und gar ergriffen zu sein von dem Mysterium unseres Daseins in diesem Kosmos, auf dieser Erde! Nanu, es gibt mich in einer Welt, die es gibt!? Ich habe mich selbst und alles drum herum nicht gemacht, bin geworden als ein Geschöpf, mit einer Entstehungsgeschichte von Millionen und Abermillionen von Jahren, trage noch Bauplan-Gene in mir, die Fische entwickelt haben, bevor einige von meinen Vorfahren an Land gegangen sind! Das alles ist ziemlich unglaublich, und allein jeder Atemzug und jedes Herzklopfen ist eine Megasensation, gar nicht zu sprechen von all dem, was mich sonst ausmacht und lebendig macht mit Leib und Seele. — Ist diese Art von Erfüllung nicht ohnehin jedem garantiert? Ja und nein. Ja insofern, als jeder und jede dieses Erdendasein als Mensch erfährt, von der Geburt (und bereits davor) bis zum Tod (und womöglich danach). Nein insofern, als dieses Mysterium als unbeachtete Selbstverständlichkeit unserer Existenz ganz unbewusst im Hintergrund bleiben kann. Ganz im Vordergrund sind die Verrichtungen des Alltags mit den To-do-Listen und allen emotionalen Verwicklungen. Sobald ich aber das atemberaubende Megamysterium an mich heranlasse, womöglich noch begleitet von einem Bewusstsein der Allverbundenheit, wird dieses Gewahrsein zu einem erfüllenden Moment. Das staunende und ehrfürchtige Innewerden dieses Mysteriums — das nenne ich Erfüllung vom Typus Delta.

ERFÜLLUNG VOM TYPUS OMEGA IST ›SELBSTERFÜLLUNG‹. In die Mitte der vier Quadranten stelle ich mich, stelle ich dich selbst. In dem Maße, wie es dir gelingt und es die Umstände erlauben, das zu verwirklichen, was dich zutiefst ausmacht und was als Möglichkeit in dir steckt, in dem Maße erfüllt sich dein Selbst. Für diese Selbsterfüllung hat sich, von der Humanistischen Psychologie herkommend, der Begriff »Selbstverwirklichung« eingebürgert. Und vieles, was dein Leben in den vier vorgestellten Quadranten erfüllend macht, wird deinen ureigensten Stempel tragen, wird dir wesensgemäß sein. Denn es sind ja deine Träume und Sehnsüchte, die bei Alpha auf Erfüllung hoffen. Es sind deine Talente, Werte und Berufungen, die du sinnstiftend bei Beta einbringst. Es ist dein Charakter, der dir zum Schicksal wird und zum Reichtum deiner Erlebnisse in Gamma beiträgt. Und es ist deine Art und Weise, mit der Transzendenz deiner Existenz in Beziehung zu treten, religiös oder atheistisch, pantheistisch, spirituell, mystisch oder pragmatisch, rational oder ganzheitlich ergriffen. Jeder hat sein eigenes Delta und einen sehr eigenen Reim, den er sich auf das Leben macht.

Im letzten Absatz habe ich so getan, als ob es eine Tatsache wäre, dass du in deiner einmaligen Eigenart und Besonderheit maßgeblich bestimmst, welche Art von Erfüllung dir in den vier Quadranten zuteilwerden kann. Dies ist aber viel mehr eine Hoffnung, ein Ideal, ein Entwicklungsziel, als dass es eine fraglose Gegebenheit wäre. Denn es scheint auch möglich zu sein, sich selbst zu verfehlen. Etwa dann, wenn die innere Wahrheit verschüttet ist und Indoktrinationen von außen maßgeblich werden, ganz oder teilweise. Umso mehr scheint es lohnend, mit dem eigenen Wesen, mit der inneren Wahrheit gute Bekanntschaft zu machen. Der etwas rührselig anmutende Song von Frank Sinatra »I Did It My Way« verweist auf die Erfüllung vom Typus Omega.

Fügen wir die Ergebnisse dieses Kapitels in das Schaubild ein, siehe Abb. 2.:

Abb. 2: Das 5-Felder-Modell eines erfüllten Lebens

So weit der erste Überblick. Vielleicht haben Sie Lust bekommen, Ihr bisheriges Leben unter diesen 4 + 15 Aspekten anzuschauen? Dann fahren Sie fort mit den nachfolgenden fünf Kapiteln. Wen habe ich als Leserin, als Leser vor Augen? Zum einen Menschen wie dich und mich, die sich nach einem erfüllten Leben sehnen und die eine Besinnung auf diese fünf Felder interessant finden werden. Zum anderen die Entwicklungshelfer unter uns, die Beraterin, den Coach, die Seelsorgerin, den Psychotherapeuten, die Lehrerin … alle, denen es aufgegeben ist, ihr Gegenüber auf der Suche nach dem eigenen wesensgemäßen Weg zu begleiten und ihm in manchen kritischen Momenten auf die Sprünge zu helfen.

Darf ich fragen, wie alt Sie sind, liebe Leserin, lieber Leser? Wenn Sie jung sind, haben Sie mutmaßlich noch viel vor sich und können bei der Lektüre hin und wieder den inneren Kompass einstellen und für die Frage »Was will ich vom Leben, und was will das Leben von mir?« einige Inspirationen aufnehmen und sich anverwandeln. Wenn Sie in etwa in der Lebensmitte stehen, dann mögen Sie angeregt sein, eine Zwischenbilanz in Hinblick auf die fünf Felder zu ziehen. Da hat sich schon einiges getan. Und gleichzeitig kann es spannend sein, die eben formulierte Frage für die zweite Lebenshälfte vorausschauend zu stellen. Wenn C. G. Jung recht hat, werden und sollten Sie die zweite Halbzeit nicht mit derselben (inneren) Aufstellung spielen. Und wenn Sie sich bereits dem Alter zurechnen, dann haben Sie nicht »die Stoppelfelder der Vergangenheit, sondern die vollen Scheunen der Erinnerung«, wie Viktor Frankl so schön sagt, um eine vorläufige Lebensbilanz in Hinblick auf alle fünf Felder zu ziehen. Dann geht es darum, das gelebte Leben zu würdigen. Aber nicht abschließend, denn der verbleibende Lebensabschnitt hat es noch einmal fünffach in sich! Vielleicht ist jetzt ein Feld dran, das bislang noch wenig »beackert« worden ist!?

Noch zwei Dinge vorweg. Ich bemühe mich, moderat und flexibel, um eine genderbewusste Sprache. Die Gleichstellung und Gleichwertigkeit aller Menschen jenseits ihres Geschlechtes ist mir eine Selbstverständlichkeit — und ein Herzensanliegen, soweit das noch nicht überall erfüllt ist. Die dafür notwendige Bewusstseinsbildung wird auch durch die tägliche Sprache gefördert, von daher ist es ganz richtig, eine gendergerechte Sprache anzustreben. Gleichzeitig liegt mir eine verständliche und nicht umständliche Sprache am Herzen, daher nehme ich mir im Dienste einer guten Lesbarkeit die Freiheit, es je nach Kontext so oder so zu machen, ohne zwanghafte Disziplin und ohne »dem*r Leser*in« Holper-Stolper-Konstruktionen zuzumuten.

Der andere Punkt vorweg: Wenn ich als Autor Sie als Leserin und Leser anspreche (so wie jetzt), dann sind die unterschiedlichen Rollen betont, und ich werde Sie siezen. Wenn ich als selbst betroffener Mitmensch meine Mitmenschen vor Augen habe, dann ist die Gemeinsamkeit betont, und ich werde per »du« sprechen. Das habe ich mir nicht klug ausgedacht, sondern es ergab sich so beim Schreiben — und ich dachte: Vielleicht macht das ja Sinn, und jetzt lasse ich es so.

Zahlreiche Anmerkungen und Quellenhinweise sollen den Lesefluss nicht stören, daher erscheinen sie in geordneter Reihenfolge am Schluss des Buches, für diejenigen unter Ihnen, die einer Textstelle genauer auf den Grund gehen wollen.

3  Erfüllung vom Typus Alpha: Wunscherfüllung

Wie ist das Leben wunderbar, denn manche Träume werden wahr!

Das ist der erste und (scheinbar) banale Zugang zu der Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht. In keiner Trauerrede wird fehlen, was die oder der Verstorbene vom Leben gehabt hat, welche Träume in Erfüllung gegangen sind — sei es durch ein gnädiges Schicksal zuteilgeworden (Glück gehabt!), sei es als Frucht eigenen Strebens erreicht und geerntet (Glück geschmiedet!). Dieses will mit Anerkennung, jenes mit Dankbarkeit gewürdigt werden, meist kommt beides zusammen. Und wenn es hier Bemerkenswertes zu entdecken und zu berichten gibt, dann spendet dies für alle Trauergäste einen großen Trost, der über die erschütternde Allgewalt des Todes hinweghelfen kann. Hier endet nämlich die Allmacht des Todes: Er kann nicht verhindern und zunichtemachen, dass dieser Mensch ein erfülltes Leben gelebt hat. Und wer dies auch schon zu Lebzeiten weiß, kann dem Tod leichter entgegensehen.

Doch dieser erste Zugang erscheint nur auf den ersten Blick banal. Was sind denn meine Wünsche an das Leben? Wie komme ich ihnen auf die Spur? Gewiss, es gibt Sehnsüchte, die so allgemein menschlich sind, dass sie quasi auf der Hand liegen: unversehrt und geborgen ein Leben in Liebe zu führen, mit erfüllender Arbeit, auskömmlich, anerkannt und zugehörig, in Frieden und Harmonie, ohne Not und Elend, ohne Schmerzen und Angst — und all dies bei bester Gesundheit bis ins hohe Alter. So weit, so gut, und es ist eine schier endlose Menschheitsaufgabe, dies für möglichst viele Menschen (und Mitgeschöpfe) jedenfalls ansatzweise möglich zu machen. Und wer hier nach einem Sinn in seinem Leben sucht, wird unweigerlich seine Aufgaben finden. Und wem irgendwann irgendwo sein kleines Himmelreich auf Erden vergönnt war, hat schon aus diesem Grund nicht umsonst gelebt.

Nicht alle wollen nach Rom. Aber weiß ich denn, wohin ich will?

Viele Wege führen nach Rom — aber nicht alle wollen nach Rom. Der Satz »Es war schon immer mein Traum …« kann höchst Individuelles zutage fördern. Was für dich eine Glücksvorstellung ist, kann für mich unerheblich oder sogar gruselig sein. Dies zum einen: Wir dürfen und müssen mit großen Unterschieden rechnen. Und zum anderen: Weiß ich überhaupt, welche Art von Lebensglück meiner Seele guttut und wofür ich geschaffen bin? Oder liegt mir das verborgen — und ich bin angewiesen auf vorgefertigte Verheißungen von außen, vom Vater oder aus Hollywood, oder was in meiner Peergroup als cool gilt? »Mit 17 hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe«, sang Peggy March 1976, da war ich 32 Jahre alt und hielt das für ein kitschiges Klischee. Ich konnte mich nicht erinnern, als 17-Jähriger Träume gehabt zu haben. Ängste, Sorgen und jede Menge Selbstzweifel ja, aber Träume? Nicht, dass ich wüsste!

Eher stand mir alles bevor, im doppelten Sinne dieser Redewendung: Abitur wollte / sollte ich machen, aber das war, nach dem Sitzenbleiben in der Schule, ein Albtraum, der mich manchmal noch heute nachts heimsucht: Der Prüfungstermin rückt näher — und ich weiß von nichts. Eine Freundin sollte man haben, fanden meine Klassenkameraden, und der eine oder andere hatte schon etwas vorzuweisen. Die »Tanzstunde« war für mich ein einziges Trauma — offenbar war ich ungeeignet für derlei aufregendes Vergnügen. Nach dem Abitur würde der Wehrdienst kommen — ach du Schreck, auch das noch! Ich als Soldat? Ich als »Friedemann« und eher unsportlich? Es wird eine Qual werden — damals war das Wort »Herausforderung« noch nicht in aller Munde. Und danach? Studieren — ja, aber was? Mein Vater, ein Rechtsanwalt, wusste Rat: Ich sollte Jura studieren, aber nicht wie er ein freiberuflicher Anwalt werden — da habe man permanent Existenzängste, ob genug Mandanten kämen und man genug Geld verdienen würde. Stattdessen legte er mir eine Karriere als Richter nahe — die hätten es nämlich gut, schwebten über allem, ohne Weisung von oben, und herrlich verbeamtet auf Lebenszeit. Also gut, der Vorschlag war plausibel — ein »Traum« aber wollte und wollte nicht daraus werden.

Warum erzähle ich aus dieser Zeit? Ich bin mir sicher, dass die Wünsche, Sehnsüchte und Träume eines Menschen nicht immer offen zutage liegen. Vielleicht wohnen sie tief in seinem Herzen, aber trauen sich nicht heraus. Oder sie sind noch im Werden.

Sie trauen sich nicht heraus? Braucht es dafür Traute? Ja, braucht es. Denn wenn ich mir eine Sehnsucht eingestehe, die ich von vornherein für unerfüllbar halte (eine Freundin? Vergiss es!), dann bringt das ein schmerzliches und beschämendes Gefühl hervor, das mir noch den Rest an Lebensfreude vergällen kann. Und die Seele ist dafür geschaffen, sich vor solchen Verwundungen und Beschämungen zu schützen. Also bleibt die Sehnsucht unbewusst, unbelichtet, gleichsam in Schutzhaft. Und die Schutzwächter im Inneren Team1 tun alles, um den Häftling vergessen zu machen. Ein »Realist« betritt die innere Bühne und sagt: »Vergiss es! Bei Frauen, die du attraktiv findest, hast du keine Chance!« — Oder in dir ist eine Sehnsucht nach der »großen Liebe«? Schon ist auch hier ein »Realist« zur Stelle (»Das gibt es nur in Hollywood!«) und will dich vor Enttäuschungen beschützen. Oder in dir keimt eine Sehnsucht auf, als Sängerin im Rampenlicht zu stehen? Gleich interveniert eine »Bescheidene« in dir und erinnert dich an die Verse im Poesiealbum: »Sei wie das Veilchen im Moose / bescheiden, sittsam und rein / und nicht wie die stolze Rose / die immer bewundert will sein!« Auch ein Familien-Loyaler kann zum Wächter werden: »Angesichts dessen, was mein Vater erlitten hat, darf es mir nicht allzu gut gehen!« Die Wächter schützen den Häftling vor schmerzhafter Niederlage oder schlechtem Gewissen, gleichzeitig schützen sie das ganze System, damit es weiter funktionieren kann. Denn es könnte ins Schleudern kommen, wenn die Sehnsucht sich Bahn bricht.

Sehnsüchte als Wegweiser

Psychotherapie ist der Versuch, den Häftling behutsam zu befreien. Zuweilen gelingt ihm das auch selbst. Und zwar dann, wenn ein Hoffnungsschimmer aufkommt. Als ich Jahre später, inzwischen gestärkt in meinem Selbstwertgefühl, in einer Gruppe bekannte: »Ich würde mich gerne einmal verlieben!« — da konnte ich mir das endlich eingestehen, da war die Verwirklichung nicht mehr weit entfernt. So verstehe ich auch den Satz von Goethe:

Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen — Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden … Wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen.2

Dabei muss ich an den jungen, 23-jährigen Thomas Mann denken, der seine Wünsche und »Vorgefühle« in ein Gedicht fassen konnte3:

Ich bin ein kindischer und schwacher Fant*1,

Und irrend schweift mein Geist in alle Runde,

Und schwankend fass’ ich jede starke Hand.

Und dennoch regt die Hoffnung sich im Grunde,

Dass etwas, was ich dachte und empfand,

Mit Ruhm einst gehen wird von Mund zu Munde.

Schon klingt mein Name leise in das Land,

Schon nennt ihn mancher in des Beifalls Tone, —

Und Leute sind’s von Urteil und Verstand.

Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone

Scheucht auf den Schlaf mir, unruhvoll, zur Nacht,

Die meine Stirn einst zieren wird zum Lohne

Für dies und jenes, was ich gut gemacht.

Was diesen Traum angeht, stand dem Literaturnobelpreisträger wahrlich ein erfülltes Leben bevor. Wenn Goethe recht hat, lohnt es sich also, sehr achtsam die eigenen Wünsche aufzuspüren. Als »Vorgefühle von Fähigkeiten«, als »Vorboten von Leistungen« können sie dem Lebenskompass eine stimmige Richtung geben. Und offenbar erlauben sie einen intimen und tiefen Zugang zum inneren Selbst. Bei der Schweizer Psychologin Verena Kast lese ich:

Die Sehnsucht ist eine gute Wegweiserin auf dem Weg zu wirklich zentralen Lebensthemen, zum eigenen Weg, zu dem, was wirklich zu uns selbst gehört, was uns unabdingbar wichtig ist.4

Und die Meditationslehrerin Safi Nidiaye schreibt sogar:

Wenn Sie Ihr Herz für eine bislang unterdrückte Sehnsucht öffnen, werden Sie ein wahres Wunder erleben!5

Nicht unbedingt, dass die Sehnsucht damit ihre Erfüllung findet — vielleicht ist sie unrealistisch, und du musst dich von ihr verabschieden. Aber der intime Kontakt mit dem inneren Menschen, der in dir wohnt, ist das Wertvolle und kann dein Lebensgefühl verwandeln. Besonders dann, wenn es dir gelingt, deine Gefühle und deine innere Verfassung zu imaginieren, die mit der Erfüllung der Sehnsucht verbunden sein würden. Mal dir das mal aus, geh mal schwelgend hinein in diese Wunschgefühle! Allein das tut der lieben Seele gut, und wer weiß? Vielleicht ist dieser innere Zustand, der dir so guttun würde, ansatzweise auch auf ganz andere Weise erreichbar? Denn es ist ja letztlich dieser innere Zustand, den du herbeisehnst, und nicht der Sehnsuchtsgegenstand, der ihn hervorbringen soll. Angenommen, du sehnst dich nach einem Motorrad, einem Hund oder nach einem Ehrenamt. Welches Lebensgefühl würde das Motorrad dir vermitteln, was würde dir ein Ehrenamt ermöglichen? Schwelge mal hinein in dieses innere Sehnsuchtsgebiet — worum geht es dir, beim Hund oder beim Ehrenamt? Je deutlicher du die innere Sehnsucht spürst, umso genauer lernst du dein inneres Selbst kennen und umso mehr steigen deine Chancen, die ersehnten Zustände ansatzweise und womöglich auf andere Weise zu verwirklichen. Und wenn nicht, dann ist die gefühlte Sehnsucht doch auch etwas, was dein Leben reicher macht. Ich würde nicht so weit gehen wie der Theologe Adolf von Harnack, der behauptet hat:

Nur was wir ersehnen, ist unser Eigentum — was wir besitzen, haben wir schon verloren.

Da höre ich die gleichlautende Stimme meines Deutschlehrers in der Oberstufe: »Erfüllung tötet!« — Nein, das gewiss nicht, auch wenn das »Langen und Bangen in ewiger Pein« (Goethe) meist mehr Herzklopfen verursacht als alles, was man sich erobert oder was das Schicksal einem zugespielt und zugelassen hat. Aber dass die Sehnsucht, der »Traum«, etwas ist, was nicht bloß zu seiner schnellen Erfüllung (und damit Beseitigung) dienen soll, sondern auch um seiner selbst willen leben will und zur Lebendigkeit beiträgt, das will ich gerne glauben. Das Begehren ist Teil der Lust. Wenn jedoch ein tiefer Wunsch an das Leben unerkannt oder gänzlich unerfüllt bleibt, dann kann dies auch ein schweres Leiden zur Folge haben. Noch einmal (sinngemäß) Verena Kast:

Es gibt Themen (Wünsche, Sehnsüchte), die auf einer bewussten oder unbewussten seelischen Agenda stehen, eine für mein Leben bedeutsame Verwirklichungsabsicht enthalten, für die besondere seelische Kräfte zur Verfügung stehen und bei deren Verhinderung / Scheitern ein besonderes Leiden eintritt.6

Ich konnte das bei meiner Mutter hautnah miterleben. Sie war in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater, ungelernt, war im Krieg, ihre Mutter hat genäht. Als Schülerin entwickelte sie einen enormen Bildungshunger, und nach Ende der Volksschulzeit hat sie einen Onkel aufgesucht und ist vor ihm buchstäblich auf die Knie gefallen: ob er ihr die Mittelschule bezahlen könnte. Immerhin, er tat es. — Als Kind und Jugendlicher fand ich in ihrem Zimmer viele Bücher vor, Romane der Weltliteratur und vieles von Sigmund Freud. Das war eine hochinteressante Umgebung, und sie hat auch viel mit mir gesprochen. Leider fiel nicht alles auf fruchtbaren Boden. Wenn sie mir anhand von Bildbänden die Baustile der Romanik, der Renaissance oder des Barocks in ihren typischen Eigenarten erklären wollte, war mir das eine Qual. Und ihr »Bachgedudel« von den Schallplatten war mir auch zuwider — jedenfalls anfangs, später fand ich die »Brandenburgischen Konzerte« auch toll, und heute ist Johann Sebastian Bach wohl der Mensch, den ich aus allen Zeiten am meisten verehre. Aber zurück zu meiner Mutter: Die Bildung stand auf ihrer »seelischen Agenda« ganz oben, und es standen ihr dafür besondere seelische Kräfte zur Verfügung, es war ihr jedoch nicht möglich, daraus einen erfüllenden Beruf zu machen, und auch privat fand sie keine Beziehungen, in denen ihre Sehnsucht Platz gehabt und eine beseelte Resonanz gefunden hätte. So trat das »besondere Leiden« ein, von dem Verena Kast spricht — erkennbar zum Beispiel in lebenslänglichen Schlafstörungen. Einmal in ihrem Leben gab es eine Ausnahme, die etwa drei Jahre währte — ich komme im Kapitel Gamma darauf zurück.

Für Beraterinnen, Seelsorger und Psychotherapeutinnen ist es wichtig, dass sie bei Problemen und Leiden aller Art, auch bei Wut, Ärger und Frustrationen, den Untergrund von Bedürfnissen und Sehnsüchten freilegen. Manche Faust löst sich dann und verwandelt sich in Tränen der Berührtheit. In der Lehre von der gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg ist die Verwandlung einer aggressiven Anklage in eine Bedürfniskundgebung der entscheidende Schritt. Martin Luther King war kein Wutbürger, stattdessen: »I have a dream!« Und wenn es im Coaching gelingt, ein Problem in ein Ziel und in eine Herausforderung zu verwandeln, dann vitalisieren wir die Kräfte für die »Verwirklichungsabsicht« — oder aber es melden sich innere Bremser, Bedenkenträger und Saboteure, die erst noch erkannt und verstanden sein wollen. Vor allem Ängste sind hier zu erwähnen: Sehnsucht und Angst sind zuweilen siamesische Zwillinge, schwer trennbar zusammengewachsen. Vielleicht habe ich eine große Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Bindung, aber gleichzeitig eine noch größere Angst davor — zum Beispiel vor Fesselung und Freiheitsverlust oder vor der großen Verletzlichkeit, die jede Bindung mit sich bringt. Die Angst sorgt dafür, dass ich mich prophylaktisch schütze, auf Abstand bleibe und großen Wert auf Unabhängigkeit lege. Und sie sorgt dafür, dass die dahinter liegende Sehnsucht niedergehalten wird oder ganz unerkannt bleibt.7

Wer eine Sehnsucht in den Tiefen seiner Seele ergründen und freilegen will, braucht dafür zuweilen eine kundige Begleitung. Das Ergebnis einer solchen Ergründung kann aussichtsreich in einen Leitsatz hineinmünden, der mit den Worten »Ich erlaube mir …« beginnt. Eine 60-jährige Frau, die am Leben ihrer Familienmitglieder und Freundinnen intensiv Anteil nahm und immer sehr selbstverständlich bereit war, allen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, fand für sich den Satz »Ich erlaube mir, gelegentlich Abstand zu nehmen von den Dingen und den Menschen, für die ich mich (mit)verantwortlich fühle, und mein Leben zu genießen!« — Ein kleiner, harmloser Satz, der eine Sehnsucht ausdrückt nach mehr unbeschwertem Eigenleben. Aber einmal ausgesprochen und im Herzen bewegt, vermag er den inneren Kompass bewusster einzustellen und hilft, die gewohnten spontanen Reaktionen der Hilfsbereitschaft zu überdenken.