Erleben und Verhalten der ersten Christen - Gerd Theißen - E-Book

Erleben und Verhalten der ersten Christen E-Book

Gerd Theißen

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Beschreibung

Mythos. Ritus. Ethos.

- Was erlebten und fühlten die ersten Christen?

- Die erste historische Psychologie des Urchristentums

- Ein weiteres großes Werk zur Deutung des Frühen Christentums

Eine der faszinierendsten Fragen der Geschichtsschreibung ist die nach der Entstehung des Christentums: Was führte dazu, dass aus einer kleinen Sekte des Judentums eine Bewegung erwuchs, die die Weltgeschichte veränderte? Um dies zu verstehen, genügt es nicht, historische und soziologische Fakten zu interpretieren. Es sind gerade auch psychologische Sachverhalte, die an der Wurzel des Christentums liegen. Diese zeigt Gerd Theißen in seinem neuen Buch auf.
In dieser Psychologie der urchristlichen Religion beschreibt und ordnet der Heidelberger Neutestamentler das religiöse Verhalten und Erleben der ersten Christen und macht es für uns heute verstehbar. Nach »Die Religion der ersten Christen« ein weiteres großes Werk in der Deutung des Frühen Christentums.

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Seitenzahl: 1225

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Vorwort
Einleitung: Fragestellung und Methodik einer Psychologie der urchristlichen Religion
 
I. Seele und Leib Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike und seine ...
a. Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike
b. Die Erneuerung des inneren Menschen im Urchristentum
 
II. Erfahrung und Erleben Die spirituelle Dimension der urchristlichen Religion
a. »Pneûma« als Sammelbegriff religiöser Erfahrungen im Urchristentum
b. Religiöse Wahrnehmung: Transparenz und Vision
c. Religiöse Emotionen: Furcht und Freude
d. Religiöses Sprechen: Gebet und Glossolalie
e. Religiöse Veränderung: Umkehr und Konversion
f. Religiöse Bindung: Wort- und Wunderglaube
 
III. Mythos und Weisheit Die kognitive Dimension der urchristlichen Religion
a. »Weisheit« und »Kerygma« als Leitbegriffe für religiöskognitive Deutungen
b. Kausalattribution des Bösen und Aporien des Theodizeeproblems: Die Balance ...
c. Gottesverständnis als Deutung religiöser Aporien
d. Weltverständnis als Deutung religiöser Aporien
e. Menschenverständnis als Deutung religiöser Aporien
f. Christusverständnis als Antwort auf religiöse Aporien
 
IV. Ritus und Gemeinschaft
a. »Kirche« als Leitbegriff für die Gemeinschaftsform der Christen
b. Eintritt in die Gemeinschaft: Die Taufe zur Umkehr und zur Wiedergeburt
c. Leben in der Gemeinschaft: Sakralmahl und Sakramentalmahl
d. Herrschen in der Gemeinschaft: Charisma und Amt
e. Leben in der Gemeinschaft: Kirche und Sekte
 
V. Ethos und Praxis
a. »Liebe« als Leitbegriff des biblischen Ethos
b. Aggression und Aggressionsbewältigung: Triebkontrolle im Urchristentum
c. Sexualität und Askese: Triebkontrolle im Urchristentum
d. Gesetz und Paränese: Normative Orientierung im Urchristentum
e. Gewissen und Gericht: Normative Orientierung im Urchristentum
 
VI. Mystik und Gnosis
a. Erfahren und Erleben
b. Mythos und Lehre
c. Ritus und Gemeinschaft
d. Ethos und Praxis
 
VII. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
a. Seele und Leib. Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike und seine ...
b. Erfahrung und Erleben. Die spirituelle Dimension der urchristlichen Religion
c. Mythos und Weisheit. Die kognitive Dimension der urchristlichen Religion
d. Ritus und Gemeinschaft. Die soziale Dimension der urchristlichen Religion
e. Ethos und Praxis. Die praktische Dimension der urchristlichen Religion
 
Literatur
Bibelstellenregister
Copyright
Gewidmet der Protestantischen Theologischen Fakultätder Marc Bloch Universität Strasbourgals Dank für die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors
Vorwort
Die Geschichte der Religion gehört zur Selbstexploration und Selbstbehauptung des Menschen in einem rätselhaften Universum. Sie muss mit allen wissenschaftlichen Mitteln erforscht werden, mit denen Menschen heute Aufklärung über sich selbst suchen. Dabei nimmt die Psychologie eine wichtige Stelle ein. Sie hat in den letzten Jahrzehnten unser Wissen um unser Verhalten und Erleben außerordentlich erweitert. Die Geisteswissenschaften beginnen erst allmählich, diesen Wissensschatz für sich fruchtbar zu machen.
Das Programm einer psychologischen Erhellung der Religion hat in Heidelberg eine Tradition. Im Eranos-Kreis sammelten sich am Anfang des letzten Jahrhunderts (1904-09) um den Altertumswissenschaftler Albrecht Dieterich (1866-1908) und den Neutestamentler Adolf Deißmann (1866-1937) bedeutende Gelehrte, die an einer wissenschaftlichen Analyse der Religion und Religionsgeschichte interessiert waren. Teilnehmer waren u. a. Max Weber und Ernst Troeltsch. Beim letzten Treffen des Kreises hielt Eberhard Gothein einen Vortrag über die »Möglichkeiten einer historischen Psychologie«. Nach Albrecht Dieterichs frühem Tod löste sich der Kreis auf. Adolf Deißmann ging nach Berlin und ermöglichte dort einem jungen Neutestamentler, Martin Dibelius, die Habilitation. Weil Thesen der ersten Habilitationsschrift von Martin Dibelius keine Chance hatten, in Berlin akzeptiert zu werden, schrieb Dibelius sehr schnell eine neue Habilitationsschrift und wählte als Thema die Berufung des Paulus unter historischem und psychologischem Aspekt. Die Arbeit wurde angenommen, aber nie veröffentlicht. 1915 wurde Martin Dibelius nach Heidelberg berufen. Vor hundert Jahren konnte man mit einer Verbindung von historischer und psychologischer Fragestellung in unserem Fach ein gefährdetes Habilitationsverfahren zu einem guten Ende führen. In den vergangenen Jahrzehnten hätte man davon abraten müssen, sich mit solch einem Thema zu qualifizieren.
In Heidelberg entstanden in den letzten 25 Jahren einige Beiträge zu einer Psychologie der urchristlichen Religion – einerseits meine Arbeit »Psychologische Aspekte der paulinischen Theologie« (1983), die lerntheoretische, psychodynamische und kognitive Ansätze der modernen Psychologie aufnimmt, andererseits der erste Entwurf einer »Historischen Psychologie des Neuen Testaments« von Klaus Berger (1991), der auf Theorieansätze der gegenwärtigen Psychologie bewusst verzichtet. Es entstanden ferner zwei Qualifikationsarbeiten zur textpsychologischen Auslegung des Neuen Testaments, die Dissertationen von Thea Vogt über »Angst und Identität im Markusevangelium« (1993) und von Martin Leiner zur Grundlegung einer psychologischen Exegese: »Psychologie und Exegese« (1995). Alle Arbeiten führten in verschiedener Weise das Anliegen des Eranos-Kreises weiter.
Die Verwirklichung meines langjährigen Wunsches, eine Religionspsychologie des Urchristentums schreiben zu können, wurde durch ein Forschungsjahr im Rahmen des Heidelberger Altertumswissenschaftlichen Kollegs im Jahr 2005/6 ermöglicht. Ich danke den Initiatoren des Altertumswissenschaftlichen Kollegs, Prof. Tonio Hölscher und Prof. Stefan Maul, für Ihre Unterstützung sowie allen anderen Kollegen der Altertumswissenschaft für die Chance, dieses Buch zu schreiben. Seine Entstehung war eingebettet in einen Dialog zwischen neutestamentlicher Exegese und Kulturanthropologie im Austausch mit Prof. Thomas Hauschild (Tübingen) und Dr. Christian Strecker (Neuendettelsau). Beiden verdanke ich viele Anregungen, die z. T. erst in weiteren Veröffentlichungen fruchtbar werden können. Darüber hinaus wurde das Buch durch die Beschäftigung mit dem Lebenswerk eines hoch interessanten islamischen Theologen, Nasir Khusraw (1004-1077 n. Chr.), im Austausch mit dem Islamwissenschaftler Prof. Lutz Richter-Bernburg (Tübingen) bereichert. Auch ihm sei herzlich gedankt für seine Anteilnahme und Diskussionsbeiträge, ferner allen Kollegen, die im Rahmen des Heidelberger Kollegs mit mir diskutiert und sich die Zeit genommen haben, Teile meines Manuskripts zu lesen und mich durch Hinweise und Kritik zu ermutigen. Ich danke besonders Prof. Nils G. Holm (Religionspsychologie, Åbo), Prof. Joachim Funke (Allgemeine Psychologie, Heidelberg) und Prof. Hermes Kick (Psychiatrie und Medizinethik, Mannheim), Prof. Martin Leiner (Systematische Theologie, Jena), Prof. Petra v. Gemünden (Biblische Theologie, Augsburg). Alle gaben mir wertvolle Rückmeldungen.
Das Altertumswissenschaftliche Kolleg ermöglichte es, in einem Kreis interessierter Neutestamentler Probleme einer Psychologie der urchristlichen Religion zu diskutieren. Für anregende Diskussionen danke ich Prof. Pierre-Yves Brandt (Lausanne), Prof. Pieter Craffert (Pretoria), Dr. Istvan Czachesz (Groningen), Prof. Petra v. Gemünden (Augsburg) Prof. Gudrun Guttenberger (Hannover), Dr. David G. Horrell (Exeter), Anke Inselmann (Augsburg), Dr. Dieter Mitternacht (Lund), Dr. Christian Strecker (Neuendettelsau), Dr. Bernhard Mutschler (Heidelberg), Prof. Takashi Onuki (Tokyo), und Kristina Wagner (Heidelberg). Die Beiträge zu diesem Symposium werden als Sammelband im Gütersloher Verlagshaus erscheinen. Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus danke ich für die Betreuung dieses Buches und des Symposiumbandes.
Bei der Arbeit und Weiterarbeit an dem Buch haben mir Studenten und Doktoranden geholfen: Ines Pollmann, Corina Cloutier, Eric Weidner, dazu meine Sekretärin Frau Elfriede Lucius. Kristina Wager hat stilistisch meine Manuskripte überarbeitet und ihre Lesbarkeit verbessert. Allen sage ich herzlichen Dank! Ein Dank könnte am Anfang und am Schluss stehen: Mit meiner Frau, Dr. Christa Theißen, habe ich viele Gespräche über psychologische Ansätze und Theorien geführt. Sie hat im Bereich der Entwicklungspsychologie promoviert und arbeitet seit langem als Psychotherapeutin in verhaltenstherapeutischer
Tradition. Ihr verdanke ich, dass mein Interesse an Psychologie nie aufgehört hat.
 
Ich widme das Buch der Protestantischen Fakultät der Marc Bloch Universität Straßburg, die mir im Mai 2006 die Ehrendoktorwürde verlieh.
 
Heidelberg, im Januar 2007 Gerd Theißen
Einleitung: Fragestellung und Methodik einer Psychologie der urchristlichen Religion
Die Entstehung des Christentums ist eines der faszinierendsten Probleme der Geschichtsschreibung. Trotz intensiver Forschung haben wir noch nicht verstanden, was im 1. Jh. n. Chr. zur kulturellen Grundinformation unserer Geschichte in Gestalt einer neuen Religion wurde. Das hat viele Ursachen. Eine davon ist, dass die Psychologie der urchristlichen Religion bisher kein Bestandteil der Bibelwissenschaft mit einer kontinuierlichen Forschungstradition war. Sie existiert nur in Fragmenten und Ansätzen.1 Dabei ist ihre Aufgabe auf den ersten Blick so plausibel, dass sie ihre Fragestellung nicht rechtfertigen muss. Eine Psychologie der urchristlichen Religion soll das religiöse Verhalten und Erleben der ersten Christen beschreiben, ordnen, verstehen und erklären. Erst auf den zweiten Blick werden die Schwierigkeiten bewusst, die diesem Unternehmen entgegenstehen. Neben dem Mangel an Informationen über die ersten Christen sind es grundsätzliche Einwände: Die Möglichkeiten einer Anwendung von Psychologie auf die Geschichte sind noch immer ungeklärt, und die psychologische Erforschung der Religion ist ein vernachlässigtes Randgebiet. Historische Psychologie ist bis heute eher eine faszinierende Vision als ein erfolgreiches Projekt, die Religionspsychologie eher ein verheißungsvoller Anfang als ein ausgeführtes Programm.2 Bei einer historischen Psychologie des Urchristentums addieren sich die Probleme der historischen Psychologie und der Religionspsychologie, aber auch deren Verheißungen und die oft unerfüllbaren Erwartungen an sie.

Das Problem einer historischen Psychologie

Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen. Eine Nominaldefinition würde sie als Wissenschaft von der »Seele« definieren. Aber die Seele ist ihr seit einiger Zeit abhanden gekommen. Heute untersucht sie psychische Vorgänge und Strukturen, nicht die Psyche selbst. Ihr ursprünglicher Gegenstand wurde immer rätselhafter. Je rätselhafter aber der Gegenstand einer Wissenschaft wird, umso mehr muss sie sich bemühen, durch strenge Methodik ihre Wissenschaftlichkeit zu demonstrieren. Die Grundlagen für eine strenge psychologische Methodik legte Wilhelm Wundt (1832-1920), der Sohn eines protestantischen Pfarrers. Er vertrat einen methodischen Pluralismus. Einerseits wurde er zum Gründer der Experimentalpsychologie, andererseits war er überzeugt, dass man mit Experimenten nur momentane Prozesse des seelischen Lebens erfassen kann. Alle höheren Erscheinungen des psychischen Lebens wie Ethos und Religion waren für ihn Gegenstand der »Völkerund Kulturpsychologie«, die er auch »historische Psychologie« nannte.3 Der Grundsatz historischer Psychologie ist: Was der Mensch ist, lehrt uns die Geschichte. Der Grundsatz der experimentellen Psychologie lautet dagegen: Was der Mensch ist, lehren empirische Untersuchungen. Lange Zeit existierten in der Psychologie beide Ansätze nebeneinander. Sie waren bis in die 50er/60er Jahre oft in der Person ein und desselben Psychologen vereint.4 Viele Psychologen waren zugleich Philosophen oder Pädagogen. Dann setzte mit der institutionellen Verselbständigung der Psychologie eine Entwicklung ein, in der sie zu einer empirischen Wissenschaft wurde. Durch strenge empirische Methodik erfuhr sie einen gewaltigen Aufschwung. Es ist bewundernswert, wie viele bedeutsame Ergebnisse sie in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Die Geisteswissenschaften beginnen nur zögernd, diese Erweiterung unserer Menschenkenntnis zu registrieren und zu rezipieren.
Der Erfolg der empirischen Psychologie macht verständlich, dass alles, was der strengen empirischen Methodik der Psychologie nicht entspricht, für viele Psychologen fast zu einer vorwissenschaftlichen Fragestellung wurde. Es kam zu einer Methodeninversion: Die Methodik bestimmt, was der Gegenstand einer Wissenschaft ist, nicht der Gegenstand die Methodik (Gerd Jüttemann).5 Da die empirischen Methoden auf die Gegenwart beschränkt sind, wurde die historische Psychologie vernachlässigt. Ihre methodische »Armut« ist unübersehbar: Beim Beschaffen ihrer Daten stößt sie auf eine unüberwindbare Grenze, da sie nicht in Interaktion mit Menschen treten kann, die in der Vergangenheit gelebt haben. Sie kann keine Experimente und Messungen durchführen. Ihre einzige Methode ist die nachträgliche Interpretation zufällig erhaltener Quellen. Sie ist insofern eine »hermeneutische« Psychologie.6 Sie steht darin der Psychoanalyse nahe, sofern auch diese Träume, Mythen und Riten interpretiert. Diese Verwandtschaft hat dazu geführt, dass sich die historische Psychologie z. T. stark an die Psychoanalyse angelehnt hat und damit auch in deren Krise verwickelt wurde.7 Aber auch die Psychoanalyse hat der historischen Psychologie eines voraus: Sie kann ihre Interpretationsgrundlage durch Interaktion mit den untersuchten Menschen erweitern. Sie hat eine empirische Basis, auch wenn diese Basis nur aus individuellen Fallanalysen besteht.
Es kann kein Zweifel daran bestehen: Da wir nicht über Zeitmaschinen verfügen, die uns in die Vergangenheit zurückversetzen, muss die historische Psychologie ihre methodische Beschränkung auf das Beschreiben, Klassifizieren, Verstehen und Erklären von vorgegebenen Quellen akzeptieren. Manche würden sogar ihren Anspruch, etwas zu »erklären«, ablehnen. Erklärungen setzen »Gesetze« voraus. Vieles spricht aber dafür, dass sich die Geschichte jeder »nomothetischen« (d.h. einer Gesetze aufstellenden und mit ihrer Hilfe erklärenden) Wissenschaft entzieht. Geschichte ist etwas Einmaliges und kann zunächst nur »ideographisch« beschrieben werden. Aber auch die historische Psychologie gibt in zweifacher Form Erklärungen. Eine erste Form besteht darin, dass sie Verhalten und Erleben von Menschen in einen historischen Kontext einordnet, der aus kulturellen Regeln und Normen besteht.8 Diese Regeln haben weder die determinierende Kraft von Naturgesetzen noch die Berechenbarkeit statistischer Korrelationen. Sie sind von Menschen geschaffen, ändern sich und setzen sich unvollkommen im Handeln der Menschen durch; Abweichungen sind immer möglich. Dennoch sind es Regeln. Sogar die Abweichungen von ihnen folgen einer gewissen »Regelmäßigkeit«.9 Historische Psychologie macht also menschliches Verhalten und Erleben im Kontext solcher geschichtlich bedingter kultureller Regeln verständlich.10 Sie ist daher nicht nur hermeneutische, sondern auch »kontextuelle« Psychologie. Das zu interpretierende Erleben und Verhalten ist für sie wie ein Text, der im größeren Kontext seiner Kultur verständlich wird, die von der Kulturanthropologie rekonstruiert wird. Was wir über diese Kultur erfahren, muss ferner plausibel narrativ dargestellt werden – einschließlich der Geschichte ihrer Regeln, Werte und Mentalitäten. Eine Erzählung, wie sich eins aus dem anderen ergab, ist die zweite in der Geschichtswissenschaft übliche Form der Erklärung, wobei sie sich in der neueren Geschichtswissenschaft nicht auf Ereignisse und Personen beschränkt, sondern Strukturen und Mentalitäten einbezieht. Die historische Psychologie ist insofern auch »narrative« Psychologie. Es gibt also auch in der historischen Wissenschaft Erklärungen, sei es durch Deutung von Verhalten und Erleben im Kontext kultureller Regeln, sei es durch eine plausible chronologische Erzählfolge von Ereignissen und Zuständen.
Nachdem die in der Person von Wilhelm Wundt einst vereinten Richtungen der historischen und empirischen Psychologie Jahrzehnte lang getrennt waren, ist es heute an der Zeit, beide einander wieder näher zu bringen. Sie können voneinander lernen. So hat die empirische Psychologie durch viele Experimente die Geschichtlichkeit unseres Lebens herausgearbeitet, indem sie z. B. den Anteil des Erlernten und Kulturellen selbst bei elementaren Vorgängen wie dem Ausdruck von Gefühlen bestimmt hat.11 Gleichzeitig stieß sie auf vorkulturelle Gegebenheiten, die wir auch in der Vergangenheit voraussetzen dürfen und die einen allgemeinen Möglichkeitsraum eröffnen, innerhalb dessen sich menschliches Leben bewegt. Empirische Erforschung kann uns zwar nicht sagen, was früher einmal war, aber sie kann sagen, was generell beim Menschen möglich ist. Schließlich fallen Ergebnisse von empirischen Nachuntersuchungen je nach dem Kontext der Untersuchungen immer anders aus. Das hängt nicht nur an der Unzulänglichkeit der Untersuchungsmethoden; auch die Geschichtlichkeit des »Gegenstandes« könnte eine Rolle spielen.12 Deshalb sollte man »ideographische « und »nomothetische«, historische und empirische, interpretative und experimentelle Ansätze nicht gegeneinander ausspielen.13 Auch die empirische Psychologie wäre ohne Interpretation »arm« und ohne das Bewusstsein ihrer geschichtlichen Dimension »blind«.

Das Problem einer Religionspsychologie

Religionspsychologie existiert als historische Psychologie und empirische Wissenschaft. 14 Schon die Klassiker der Psychologie waren vom Problem der Religion fasziniert. Alle haben grundlegende Entwürfe zur Religionspsychologie geliefert. Alle haben erkannt, dass Religion eine – teils konstruktive, teils destruktive – Lebensmacht ist. Wilhelm Wundt analysierte sie als evolutionäres Vorstadium unserer Gegenwart,15 William James als pragmatisch wirksame Lebenskraft,16 Sigmund Freud als Illusion und Zwangsneurose,17 Carl Gustav Jung als Suche des Menschen nach der Ganzheit seines Lebens.18 Ihre Arbeiten wurden in vielfältiger Weise weitergeführt, aber noch immer ist die Religion ein rätselhafter Gegenstand. Es gibt nicht einmal eine anerkannte Definition von Religion. Die folgende Formulierung beansprucht nur, dass sie im Spektrum möglicher Definitionen nicht extrem ist: »Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.«19 Wer mit Hilfe dieser Zeichensprache mit anderen Menschen kommuniziert und (in seiner Intention) dabei mit transzendenten Realitäten Kontakt aufnimmt, macht religiöse Erfahrungen und praktiziert religiöses Verhalten.
Nun wird die Religion von vielen Wissenschaften untersucht. Wir müssen daher fragen: Was speziell untersucht die Religionspsychologie? Die Internationale Gesellschaft für Religionspsychologie definierte bei ihrer Neugründung 2001 ihr Anliegen als den »Versuch, zu bestimmen, was psychisch in oder an der Religion ist« oder »was psychisch ist an religiösem Handeln, Erkennen und Erfahren«, um es »mittels des theoretischen und methodisch-technischen Instrumentariums der Psychologie« zu untersuchen.20 Die Definition ist zirkulär: Psychisches wird durch das definiert, was Psychologie untersucht. Da sich inzwischen aber viele Theorien und Methoden der Psychologie bewährt haben, ist die Definition pragmatisch akzeptabel. Trotz eines Nachholbedarfs an religionspsychologischer Forschung (besonders in Deutschland) gibt es inzwischen eine Reihe respektabler Entwürfe.21
In einem ersten Teil dieser programmatischen Skizze seien ein paar Gedanken zu den methodischen Grenzen und Möglichkeiten einer historischen Religionspsychologie ausgeführt, um zu zeigen, dass die historische Religionspsychologie zu methodisch kontrollierbaren Ergebnissen im Rahmen dieser Grenzen kommen kann. In einem zweiten Teil soll etwas vom inhaltlichen Reichtum einer Religionspsychologie des Urchristentums sichtbar werden.

I. Methodische Grenzen und Möglichkeiten einer Psychologie des Urchristentums: Wie verfährt eine historische Religionspsychologie?

Die Erkenntnisse einer historischen Religionspsychologie beziehen sich meist auf kollektive Muster des Erlebens und Verhaltens. Solche kollektiven Einstellungen und Gefühle nennt man in der Geschichtswissenschaft »Mentalität«.22
Obwohl ein großer Teil der historischen Psychologie heute als Mentalitätsgeschichte getrieben wird, ist eine historische Religionspsychologie mehr als das. Vier Gründe seien dafür genannt:
Mit einer Religionspsychologie ist erstens der Anspruch verbunden, dass es sich lohnt, die Religion zu einem eigenen Thema zu machen. Als Teil einer allgemeinen Mentalität verschwindet sie in ihrer Besonderheit. Religion beeinflusst zwar Mentalität, ist aber mehr. Zweitens ist mit ihr der Anspruch verbunden, dass auch individuelles Erleben und Verhalten relevant ist. Charismatiker wie Johannes der Täufer, Jesus und Paulus haben nicht nur kollektive Verhaltens- und Erlebensmuster übernommen, sondern geprägt. Drittens gehören auch Gedanken und Ideen zum Gegenstand der Religionspsychologie, während sich Mentalitätsgeschichte vor allem auf halbbewusste Gefühle und Einstellungen konzentriert. Viertens muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass Religion nicht nur kulturell gestaltet ist, sondern auch verschüttete biopsychische Möglichkeiten des Menschen aktualisiert. Solche Aspekte werden von einer Mentalitätsgeschichte nicht erfasst.
Religionspsychologie ist daher mehr als die Geschichte religiöser Mentalitäten, aber sie ist weniger als historische Anthropologie, zu der auch Sozial-, Wirtschafts-, Literatur- und Kulturgeschichte gehören. Das spezifisch psychologische Interesse besteht darin, nach der subjektiven Bedeutung der untersuchten Phänomene zu fragen: »Die Psychologie sollte analysieren, was ein bestimmtes Verhalten für den Akteur bedeutet und wie diese Bedeutung zu Stande kommt.«23 Die Frage nach der Bedeutungskonstitution ist in der Bestimmung der Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten enthalten.
Von den in einer historischen Anthropologie zusammenarbeitenden Wissenschaften ist für eine historische Religionspsychologie besonders die Kulturanthropologie (oder Ethnologie) wichtig. Mit ihrer Hilfe kann sie einige methodische Einwände gegen ihre Vorgehensweise zurückweisen. Die fünf wichtigsten Einwände sind folgende: Das Argument des Quellendefizits behauptet, dass wir für die Rekonstruktion vergangenen Erlebens und Verhaltens zu wenig Ansatzpunkte in den Texten haben. Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht argwöhnt, dass eine psychologische Lektüre von Texten durch menschliches Erleben und Verhalten erklärt, was sich allein durch literarische Traditionen und Strukturen erklären lässt. Der Anachronismusverdacht kritisiert, dass durch moderne Kategorien vergangenes Verhalten und Erleben an die Gegenwart assimiliert wird. Der Reduktionismusverdacht beanstandet die Ableitung von Religion aus nicht-religiösen Faktoren. Der Trivialitätsverdacht moniert, dass überzeugende psychologische Überlegungen oft nur sagen, was man ohnehin weiß, dass sie aber wenig überzeugen, wenn sie Neues sagen. Diese fünf Einwände lassen sich entkräften.

1) Das Quellendefizit

Mit einem Quellendefizit hat jede historische Wissenschaft (vor der Neuzeit) zu kämpfen. Es ist beim Urchristentum besonders groß. Nur drei Einzelpersonen treten individuell deutlich erkennbar hervor: Jesus, Paulus und Ignatius von Antiochien. Alle Überlieferungen von Jesus sind freilich nicht nur Niederschlag seiner Person, sondern Ausdruck seiner Verehrung. Nur mit großer Vorsicht können wir etwas über den historischen Jesus selbst sagen.24 Es ist mehr, als viele meinen. Aber mehr noch können wir über das Jesusbild sagen, das uns in den zwischen ca. 70-100 n. Chr. entstandenen Evangelien entgegentritt. Was an Jesusüberlieferungen aus psychologischer Sicht interessiert, ist vor allem dieses Bild, das die ersten Christen von ihm hatten. Anders ist die Quellenlage bei Paulus. Von ihm sind sieben in den 50er Jahren des 1. Jh. n. Chr. geschriebene authentische Briefe erhalten, die ihn in lebendiger Interaktion mit seinen Gemeinden zeigen. Paulus reflektiert in ihnen mit großer Sensibilität über sich und seine Gemeinden. Über seine Person lässt sich mehr als über Jesus sagen,25 noch mehr aber lässt sich über seine Interaktion mit seinen Gemeinden sagen, am meisten jedoch über seine Theologie. Auch sie kann Gegenstand psychologischer Analyse sein.26 Sehr viel weniger als über Paulus wissen wir schließlich über Ignatius von Antiochien. Seine sieben Briefe sind in einer zeitlich begrenzten Extremsituation geschrieben: Er schrieb sie ca. 107/09 n. Chr. als Gefangener auf der Reise nach Rom, wo ihn das Martyrium erwartet. Wir erleben mit, wie er seine Todesangst bewältigt und seine zukünftige Hinrichtung zur Quelle seines Charismas macht.27 Für eine psychologische Untersuchung einzelner Menschen ist das Quellendefizit in der Tat gewaltig. Für eine psychologische Untersuchung des typischen Verhaltens und Erlebens der ersten Christen und ihrer sozialen Interaktionen besitzen wir dagegen ein reiches Quellenmaterial in den 27 Schriften des neutestamentlichen Kanons und in den urchristlichen Schriften außerhalb des Kanons.
Wir haben in unseren Quellen viele Aussagen zum Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln der ersten Christen. Im Lichte der Erkenntnisse der Allgemeinen Psychologie können wir kulturpsychologisch die Prägung des Lebens durch geschichtliche Muster besser beschreiben und verstehen.
Wir können eine allgemeine Persönlichkeitspsychologie entwerfen über Persönlichkeitsstrukturen, die sich im Urchristentum gebildet haben. Wir können z. B. fragen: Wie verhalten sich Menschen zu ihrem Körper als »Leib« und »Fleisch«? Warum wird das »Gewissen« bei Paulus zur Berufungsinstanz bei abweichendem Verhalten oder zum »differenten« Gewissen?28
Wir verfügen über gute Quellen zur Sozialpsychologie urchristlicher Gruppen. 29 Aus ihnen geht hervor, wie z. B. Charismatiker ihre Gruppen steuerten, mit welchen Vorurteilen und Stereotypen sich Gruppen gegenseitig beurteilten und verurteilten.
Die Quellen bezeugen die Suche nach einem gelingenden Leben durch schwere Krisen hindurch. In einer intensiven Auseinandersetzung mit einer Erlösergestalt soll das Leben verwandelt und erneuert werden. Sie können im Lichte der Klinischen Psychologie und der Psychotherapieforschung besser verstanden werden. Die Suche nach Heil und nach Heilung konvergieren in manchen Punkten.
Das Quellendefizit kann ferner auf zweifache Weise ein wenig ausgeglichen werden: zum einen durch eine bessere Auswertung unserer Texte, zum anderen durch Erweiterung der Quellenbasis mit Hilfe von Analogien.
Wie kann man die Quellen noch besser auswerten? Man kann nach den in den urchristlichen Texten selbst enthaltenen Deutungen menschlichen Erlebens und Verhaltens fragen. Diese Deutungen sind nicht etwas Sekundäres, das sich auf ein Erleben und Verhalten hinter den Texten bezieht, sondern Teil der psychischen Wirklichkeit selbst. Die in ihnen implizit enthaltene »Psychologie« lässt sich aus der Bedeutung psychologischer Begriffe (wie Seele, Affekt, Gewissen usw.), aus den typischen Elementen einer Gattung und eines Ritus, ferner aus der Ikonographie und nicht zuletzt aus der Diskursgeschichte einer Zeit, d. h. aus der bewussten Reflexion psychischer Prozesse, ablesen.30
Wie kann man die Quellenbasis durch Analogien erweitern? Dabei ist zunächst an historische Analogien gedacht – sei es in der Antike selbst oder in Gesellschaften, die der antiken Gesellschaft vergleichbar sind. Für eine historische Religionspsychologie ist kulturanthropologische Feldforschung am besten geeignet, die Quellen mit Hilfe angemessener Analogien zu interpretieren. So können eschatologische Texte z. B. im Rahmen millenaristischer Bewegungen gedeutet werden, Wundergeschichten in Analogie zu Erzählungen von Heilern und Exorzisten, Glossolalie im Zusammenhang mit ekstatischen Phänomenen usw. Dabei wird die Distanz zwischen unserer Kultur und einer fremden Kultur (in Gegenwart oder Vergangenheit) oft schon dadurch verringert, dass uns die ethnologische Erforschung unserer eigenen Kultur lehrt: Was uns bei anderen befremdet, findet sich auch bei uns. Das Fremde ist das Eigene, das man nicht hat wahrnehmen wollen.31
Die Antwort auf das Argument des Quellendefizits ist daher: Aufschlussreiche Fragen bringen karge Quellen zum Sprechen, angemessene Analogien erweitern die schmale Quellenbasis. Dabei gehen wir freilich von der schlichten Voraussetzung aus, dass Texte den Blick auf menschliches Erleben und Verhalten freigeben. Das aber ist heute nicht selbstverständlich.

2) Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht

Literaturwissenschaftler und Exegeten sind es gewohnt, einen Text durch andere Texte zu erklären. Eine psychologische Deutung der Texte als Ausdruck menschlichen Erlebens und Verhaltens ist in der heutigen textwissenschaftlichen Landschaft so naiv wie das (angebliche) Verhalten jenes Bauern, der zum ersten Mal ein Schauspiel sieht und bei einem Mord auf der Bühne die Polizei alarmieren will. Aber selbst wenn er das Schauspiel als fiktionale Nachahmung eines einmaligen Geschehens oder einer typischen Realität deutet, wird er heute bei manchen postmodernen Texttheoretikern auf Kritik stoßen, die sagen, das Drama öffne nur scheinbar ein »Fenster« zur externen Realität, in Wirklichkeit sei es ein »Spiegel«, der uns einen Innenraum mit vielen Texten zeigt. Uralte literarische Traditionen und Strukturen schlügen sich in ihm nieder, nicht Erfahrungen und Erlebnisse. Texte verwiesen immer nur auf Texte. Dieser radikale Standpunkt ist unhaltbar; mit ihm würde die ganze Geschichtswissenschaft in Frage gestellt. Aber er signalisiert ein Problem, das lösbar ist. Die Trennung von Text und Leben kann von zwei Seiten her überwunden werden: Zum Erleben und Verhalten gehört die Sprache, wie uns der linguistic turn in der Psychologie belehrt. Welche sprachlich gebundenen Vorstellungen sich durchsetzen, hängt von psychischen Faktoren ab, wie uns der cognitive turn lehrt.
Was ist mit dem linguistic turn gemeint? Das sei ausgehend von einem Beispiel gezeigt: Die Bekehrungserzählung wird heute als Bestandteil der Bekehrung angesehen. Die Bekehrten bekehren sich nicht nur einmal im Leben, sondern führen im Erzählen ihrer Bekehrung diese Wende ihres Lebens weiter. Bekehrungserzählungen sind performative Erzählungen.32 Wir dürfen analog die Vision nicht vom Visionsbericht, das Wunder nicht vom Wunderbericht, den Traum nicht vom Traumbericht trennen. Diese enge Zusammengehörigkeit von Erleben und Erzählung ist unmittelbar einsichtig, wenn der erlebende und der erzählende Mensch identisch sind. Oft aber haben wir Texte, die über viele Generationen hinweg unzählige Male neu erzählt wurden. Wird bei ihnen das ursprüngliche Erleben nicht immer undeutlicher? Die Texte sind stark durch Traditionen festgelegt. Umso mehr stellt sich die Frage: Warum haben sich manche Traditionen durchgesetzt und andere nicht?
Hier setzt im Zusammenhang mit einem allgemeinen cognitive turn die kognitive Religionspsychologie an: Was sich in der Religion durchsetzt, muss sich dem Gedächtnis einprägen und kognitiven Verarbeitungsstrukturen im Menschen entsprechen, um weitergegeben zu werden. Aufgrund seiner evolutionären Vorgeschichte hat der Mensch z. B. in sich einen »Intentionalitätsdetektor«, der seine religiösen Erfahrungen als Ausdruck einer mächtigen außermenschlichen Intention deutet. Vorstellungen, die dem entsprechen, werden tradiert. Vor allem verfügen wir über eine naive Alltagsontologie. Wir unterscheiden Lebewesen und Sachen, differenzieren Pflanzen ohne Bewegung, Tiere mit Bewegungsfähigkeit und Personen mit Intentionen. Religiöse Vorstellungen sind mit Verletzungen dieser Alltagsontologie verbunden – und eben deshalb zogen sie als »kontraintuitive Ideen« Aufmerksamkeit auf sich, prägten sich dem Gedächtnis ein und wurden tradiert. Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht lässt sich heute gut zurückweisen: Die kognitive Religionspsychologie enthält eine Theorie der Traditionsgeschichte, wonach grundlegende kognitive Strukturen unseres Geistes einige Vorstellungen selektiert und ihnen eine spezifische Form gegeben haben, die ihre Verbreitung erklärt. Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden:33
(1) Anthropologische Grundstrukturen, wie sie eine evolutionäre Psychologie und allgemeine Kulturanthropologie herausarbeitet hat, sind: der Glaube an ein Leben nach dem Tod, an Handlungsträger mit übernatürlicher Macht, Kreationismus als Überzeugung, dass hinter der ganzen Welt eine Absicht steht usw.
(2) Kulturelle Muster des Denkens und Verhaltens, wie sie die Kulturanthropologie für andere Kulturen herausgearbeitet hat, sind z. B. die Abhängigkeit von shame and honour, das Leben in patron-client-Beziehungen in der Antike.
(3) Geschichtliche Muster des Denkens und Verhaltens, wie sie die Sozialgeschichte für bestimmte Strömungen, Gruppen und Subkulturen erforscht, z. B. die Bedeutung von Werten wie Liebe und Demut in jüdischen und christlichen Gruppen.
Alles, was sich in unseren Texten erhalten hat, ist somit durch mannigfaltige Filter hindurchgegangen – und gerade diesen Prozess erhellt die historische Religionspsychologie. Wenn sich die Geisteswissenschaften heute als Bearbeitung des kulturellen Gedächtnisses verstehen, so ist von vornherein plausibel, dass alles, was die moderne Psychologie über Gedächtnis und Erinnerung herausgefunden hat, in ihr zu berücksichtigen ist. Berechtigt ist freilich die Frage: Gehen wir durch den Rückgriff auf die moderne Psychologie nicht in allzu naiver Weise von unserer Zeit aus? Erkennen wir nicht immer deutlicher, dass das kulturelle Gedächtnis ein »Konstrukt« der jeweiligen Gegenwart ist? Sollte das nicht auch für eine historische Religionspsychologie gelten?

3) Der Anachronismusverdacht

Der Anachronismusverdacht will uns davor warnen, dass wir unsere gegenwärtigen Vorstellungen in vergangene Zeiten hineinprojizieren. Zwar wäre es unfair, diesen Verdacht nur gegen die historische Psychologie zu richten. Anachronismen sind eine Gefahr in jeder historischen Wissenschaft – auch in der Form, dass es anachronistisch wäre, die Vergangenheit zum Gegenbild der Gegenwart zu machen. Auch dann bliebe man »gegenabhängig« an die eigene Zeit gebunden. 34 Aber man muss zugeben: Gerade bei einem psychologischen Zugang zur Vergangenheit liegt der Anachronismusverdacht besonders nahe. Wir sind in unser psychisches Erleben eingeschlossen wie in unsere eigene Haut. Wir verständigen uns heute über Lebensfragen in einer inzwischen allgemein verbreiteten soziologisch-psychologischen Koine (d.h. einer allgemeinen Umgangssprache) mit Begriffen wie Frustration und Aggression, Verdrängung und Projektion, Rolle und Status. Die entsprechenden Sachverhalte gab es auch in der Antike, sie waren damals aber immer anders als heute. Um ein Beispiel zu nennen: Es gab Status und Rolle. Der Rollenbegriff war ein wichtiges Element in der antiken Metaphorik des theatrum mundi, also in der Vorstellung, dass Menschen in diesem Leben eine Rolle zugeteilt wurde, die sie bis zum Ende spielen. Aber diese Metapher zeigt, wie weit wir von der Antike entfernt sind: Ein Rollenwechsel im Leben ist für uns sehr gut vorstellbar, in der Antike aber gibt man seine Rolle erst mit dem Tod ab. »Statuskontingenz«, das Bewusstsein, dass Status unverfügbar ist, weil er von Mächtigeren verliehen und genommen wurde, ist eine stillschweigende Voraussetzung, die wir so nicht teilen.35 Weil wir dieses mehr oder weniger große Anderssein übersehen, fallen wir Missverständnissen zum Opfer. Wir vertrauen bei psychologischem Verstehen zu sehr unserer Empathie, die das eigene Erleben bei Fremden voraussetzt. Alle Theoriebildungen gegenwärtiger (empirischer) Psychologie müssen daher daraufhin geprüft werden, ob sie Ausdruck unserer kulturellen Werte sind, ehe sie auf die Antike angewandt werden. Dabei ist es eine Hilfe, wenn wir in der Antike in Philosophie, Rhetorik, Poetik und Medizin psychologische Theorien finden, die unseren modernen Theorien entsprechen. Das sei an drei Beispielen gezeigt:
- Eine Psychologie der Kognitionen (d. h. des Wahrnehmens und Denkens) im Urchristentum fragt nach den Gedanken, mit denen die ersten Christen ihr Leben und die Welt gedeutet haben, indem sie nach Mustern von Kausalattribution in den Texten fragt.36 Schon die Antike hat eine Attributionstheorie entwickelt. Für Epiktet war die Frage: »Was hängt von uns ab und was nicht?« der Schlüssel zur Lebensführung (diss 1,1; ench 1). Wenn wir in dieser Psychologie des Urchristentums mit der Frage nach Kausalattribution an antike Texte herantreten, kann das kein verwerflicher Anachronismus sein.
- Das zweite Beispiel betrifft die Emotionen und Motivationen der ersten Christen. 37 Wir finden Texte zu Angst und Angstbewältigung,38 zu Aggression und Aggressionsbewältigung, zu Zorn und Zornkontrolle.39 Schon die antiken Philosophen haben eine Affekttheorie entworfen, die sich mit modernen Emotionstheorien in Verbindung bringen lässt. Die stoische Lehre dazu referiert Diog.Laert. 7,110 f. Aristoteles hat zur Affektbearbeitung im Drama eine Katharsistheorie entworfen (Arist. Poet 6), die in der Psychologie bis heute nachwirkt und auf die wir auch in diesem Buch zurückgreifen werden.40
- Schließlich finden wir in der antiken Rhetorik ein reiches sozial- und kommunikationspsychologisches Wissen über die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Einflussnahme auf andere Menschen, das man für das Verständnis der paulinischen Briefe mit Erfolg ausgewertet hat.41 Entscheidend ist in jedem Fall, ob man konkrete Texte im Lichte dieser Theorien, seien sie nun modern oder antik, besser verstehen kann.
Wir sollten daher mit folgender heuristischer Maxime an die Vergangenheit herantreten: Die Vergangenheit ist nie der Gegenwart gleich, aber sie wäre für uns ganz unverständlich, wenn sie nicht in unvorhersagbarer Weise Analogien zur Gegenwart enthielte. Ein solches Verstehen nenne ich »analogisches Verstehen«. Es darf heuristisch mit Modellen und Annahmen aus der Gegenwart arbeiten, aber kann sie nicht deduktiv auf die Vergangenheit anwenden, sondern muss alle Modelle aus den Quellen neu rechtfertigen und sie dabei abwandeln und korrigieren.
Das Zutrauen zur erhellenden Kraft solcher Modelle hängt von einer Prämisse ab: Je mehr Kontinuität und Konstanz man dem Menschen in der Geschichte zuschreibt, umso mehr wird man die Quellen aufgrund von Modellen deuten. Paradoxerweise bringt gerade die Entfernung der empirischen Psychologie von ihrer geisteswissenschaftlichen Tradition und ihre Annäherung an die Naturwissenschaft – vor allem durch neurobiologische Erkenntnisse – eine größere Zuversicht, gegenwärtige psychologische Modelle auf die Vergangenheit anwenden zu können. Zwar hat auch unser Gehirn eine Geschichte, aber es ist eine so langsame Geschichte, dass wir für die überschaubare historische Zeit mit denselben Strukturen rechnen dürfen. Bei neurobiologisch fundierten Möglichkeiten des Erlebens und Verhaltens stoßen wir auf kulturunabhängige Voraussetzungen menschlichen Erlebens und Verhaltens. Evolutionspsychologie wäre ohne Annahme einer solchen Kontinuität nicht vorstellbar. In ihr werden aufgrund von Ableitungen aus der Evolutionstheorie und gegenwartsbezogenen empirischen Forschungen oft Rückschlüsse auf Zeiten gemacht, für die überhaupt keine Texte zur Verfügung stehen, etwa zur Herausbildung von männlichen und weiblichen Verhaltenstendenzen in vorgeschichtlicher Zeit aufgrund eines postulierten Überlebenswertes: Geht etwa die größere soziale Kompetenz von Frauen darauf zurück, dass sozial kompetentere Frauen mehr Kinder hatten als andere? Oder darauf, dass sie durch sexuelle Selektion bevorzugt wurden? Wenn Evolutionspsychologie für Zeiten ohne schriftliche Quellen einen Erkenntnisgewinn bringt, ist es legitim, psychologisch auch die Zeiten zu erhellen, für die uns Textmaterial in zunehmendem Maße zur Verfügung steht. Wir umreißen m. E. durch die Modelle der Psychologie einen allgemeinen Möglichkeitsraum, der das umfasst, was beim Menschen an Verhalten und Erleben generell vorstellbar ist. Auch das ist viel wert. Drei Beispiele dafür seien genannt:
- Eine neurobiologisch informierte Psychologie kann generell die Bedingungen der Möglichkeit »mystischen Erlebens« aufweisen: Die Beschreibungen mystischer Erfahrungen sind erlebnisecht. Wenn die Orientierung im Raum »ausgeschaltet« wird, ist ein Erleben von Grenzenlosigkeit und Einheit mit allem vorstellbar. Das schließt nicht aus, dass solche Erlebnisse oft nach »Schablone« nacherzählt werden.42 Auch folgt aus Erlebnisechtheit nicht, dass es sich um »wahre« Erfahrungen mit Geltungsanspruch handelt.
- In der Gegenwart dokumentierte Nahtoderfahrungen zeigen, dass Blicke in ein subjektiv gedeutetes »Jenseits« des Lebens (wie sie auch Paulus als Out-of-bodyexperience in 2 Kor 12,1 ff. berichtet) zu den Erlebensmöglichkeiten des Menschen gehören.43 Viele Jenseitsreisen sind zwar nach vorgegebenen Traditionen ausgemalt, aber es muss immer wieder entsprechende Erlebnisse gegeben haben. Auch hier ist mit ihrer psychischen Erlebnisechtheit nichts über ihre Wahrheit gesagt.
- Ferner sind Halluzinationen nach dem Tode naher Menschen als »Belastungshalluzinationen« gut dokumentiert. Sie haben eine gewisse Analogie in den Ostervisionen. An deren subjektiver Erlebnisechtheit ist nicht zu zweifeln, zumal sie sich durch eine Reihe von Zügen von den verbreiteten Belastungshalluzinationen nach einem Todesfall unterscheiden: Sie vermehren sich intersubjektiv und liegen in verschiedenen Formen (als Einzel- und Gruppenvision) vor.44
Aber auch hier gilt: Welche Einsichten auch immer in der Gegenwart gewonnen werden können, sie können nicht einfach als Modell dienen, aus dem deduktiv die Lücken unserer Quellen gefüllt werden. Vielmehr können alle Modelle nur im Sinne eines analogischen Verstehens verwandt werden: Sie müssen sich durch Anwendung bewähren und verändern. Dieses Verfahren ist ein »kontrollierter Anachronismus«,45 der zu jeder Geschichtswissenschaft gehört: Wir stellen immer Fragen, die sich die Menschen in vergangenen Zeiten nicht gestellt haben, und gewinnen dadurch neue Erkenntnisse. Vielleicht entdecken wir gerade durch sie jene historischen Züge, aufgrund derer vergangene Menschen nicht nur ihrer Zeit ähnlich gewesen sind, sondern aufgrund derer sie über ihre Zeit hinauswiesen. Dabei ist die Kulturanthropologie ein unersetzliches Korrektiv. Sie liefert in Feld- und Geschichtsforschung erhobene Analogien und rekonstruiert dabei das uns fremde Regel- und Wertgefüge, innerhalb dessen wir fremdes und vergangenes psychisches Leben verstehen und erklären können. Sie ist die Wissenschaft mit der größten Sensibilität für das Verstehen und Missverstehen des Fremden und deshalb der beste Schutz vor allzu schnellen Anachronismen und Ethnozentrismen.46

4) Der Reduktionismusvorwurf

Der Reduktionismusvorwurf kann als eine Variante des Anachronismusvorwurfs aufgefasst werden. Reduktionismus besteht oft darin, dass Fremdes an bestimmte Theorien unserer Kultur assimiliert wird und als eigenständiges Phänomen verschwindet. Die psychologische Erforschung der Religion löst oft Befürchtungen oder Hoffnungen aus, sie würde Religion durch Rückführung auf psychische Wünsche und Konflikte endgültig »erklären« und entlarven. Gott werde als Projektion des Vaters oder einer inneren Instanz, des Über-Ichs, gedeutet.47 Religion werde als subtile »Politik« entlarvt, mit der Menschen andere Menschen gegen ihre Interessen steuern,48 oder als Illusion, mit der sie sich selbst manipulieren. Mit solchen Deutungen wird die Religion an Kategorien unserer säkularisierten Welt »assimiliert«. Nun besteht kein Zweifel, dass Religion voll Manipulationen und Selbsttäuschungen ist. Aber wer Geld fälscht, setzt echtes Geld voraus.49 Außerdem darf man nie vergessen: Gegenwärtige Legitimationsgefechte über die Religion und religionswissenschaftliche Erkenntnisgewinne sind nicht dasselbe, auch wenn sich beides gegenseitig befruchtet. Auch hier kann uns eine Kulturanthropologie, die sich als Teil unserer Kultur reflektiert, sensibel dafür machen, dass hinter unseren subtilen intellektuellen (religionskritischen wie religionshermeneutischen) Analysen Machtansprüche stehen können. Wir sind oft so vorsichtig und zurückhaltend bei der Anwendung moderner Kategorien geworden, dass man betonen muss: Reduktionismen sind nicht an sich verwerflich. Schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es einen Zusammenhang zwischen Gottes- und Vaterbild geben muss. Aber das ist trivial. Verglichen damit hat die These, es gäbe einen Zusammenhang von Sinaigebot und Kastrationskomplex, zweifellos einen größeren intellektuellen Unterhaltungswert, aber deshalb keinen höheren Wahrheitswert. Damit kommen wir zum Trivialitätsverdacht.

5) Der Trivialitätsverdacht

Der Trivialitätsverdacht sagt, dass die Psychologie oft nur herausfindet, was man ohnehin schon weiß. Dieser Vorwurf wird bei vielen Phänomenen gegenstandslos, die in der Kulturanthropologie eine große Rolle spielen: Bei Exorzismen, Glossolalie, Visionen und Entrückungszuständen, Geisterglaube und Magie gestehen die meisten zu, dass Psychologie zur Erklärung angebracht wäre. Leichter »zugängliche« Erscheinungen wie Blick und Gruß werden dagegen oft erst durch kulturanthropologische Verfremdung als Teil einer anderen Kultur erkannt. Das vermeintlich Triviale wird manchmal erst durch die Wissenschaft zu etwas Erklärungsbedürftigem.50 Wie wenig trivial Religionspsychologie sein kann, zeigt folgende Überlegung: Wenn Religionspsychologie wirklich die Möglichkeit religiösen Erlebens aufweisen kann, würde sie einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Religionswissenschaft und Theologie leisten. Nachdem religiöse Erfahrung in der traditionellen Religionsphänomenologie im Mittelpunkt stand und Religion sogar als »Erleben des Heiligen« definiert wurde, wird sie in der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft heute ganz gering bewertet: Im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe fehlt ein Artikel »Erfahrung«. Dasselbe gilt für die (oft naturalistisch argumentierende) kognitive Religionswissenschaft: Sie untersucht die Verbreitung religiöser »kontraintuitiver Ideen« unabhängig von ihrem Erfahrungsgehalt. Die traditionelle Theologie steht der religiösen Erfahrung ohnehin skeptisch gegenüber, sofern es sich nicht um Erfahrung des Wortes Gottes handelt.51 Wenn aber eine empirische Religionspsychologie heute mehrere Kapitel der religiösen Erfahrung widmet,52 sollte das nachdenklich machen. Könnten religionswissenschaftliche und theologische Fachleute nicht blind gewesen sein, so dass der unbefangene Blick des Empirikers ein notwendiges Korrektiv ist? Wenigstens wird die hier vorgelegte Psychologie der urchristlichen Religion dem religiösen Erfahren und Erleben eine wichtige Rolle zuschreiben.
 
Mit all diesen Überlegungen lassen sich die methodischen Grenzen einer historischen Religionspsychologie nicht überwinden. Sie bleibt methodisch von der empirischen gegenwartsbezogenen Psychologie unterschieden. Sie wird die große Erfolgsgeschichte der empirischen Psychologie nicht wiederholen können, aber sie kann in ihren Grenzen Erfolg haben, wenn sie dieselbe Entschlossenheit zur Überprüfung aller Aussagen an den Quellen zeigt wie die gegenwartsorientierte Psychologie, die ihre Aussagen rigoros an ihren Daten überprüft. Sie handelt insofern in demselben wissenschaftlichen »Geist« wie die empirische Psychologie.53

II. Der reiche Gegenstand einer Psychologie des Urchristentums: Was untersucht eine historische Religionspsychologie?

Der methodischen Armut und Bescheidenheit der historischen Religionspsychologie steht m. E. ein inhaltlicher Reichtum gegenüber: die Religion in ihrer ganzen Fülle und Lebensbedeutsamkeit. Um etwas von diesem Reichtum des Gegenstandes anzudeuten, skizziere ich fünf Leitgedanken, die dem hier vorgelegten Versuch einer Psychologie der urchristlichen Religion zugrunde liegen: (1) die Annahme, dass sich seit der »Erfindung des inneren Menschen« in der frühen Antike religiöses Erleben und Verhalten ausdifferenziert hat; (2) die Annahme von vier Faktoren der Religiosität, nämlich Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos; (3) die Annahme von zwei Stufen des Religiösen: Normalreligiosität und Grenz- bzw. Extremreligiosität; (4) die Annahme von zwei extremreligiösen Richtungen im Urchristentum, dem prophetischen Radikalismus und der mystischen Gnosis; (5) die Annahme einer christologischen Integration der vielen Varianten religiösen Erlebens und Verhaltens im Urchristentum.

1. Die Selbstauslegung von Menschen: Die Erfindung des inneren Menschen54

Die Seele, die der modernen Welt abhanden gekommen ist, wurde vor langer Zeit »erfunden«. Menschliche Selbstreflexion geschah ursprünglich indirekt über »Außenseelen«, die als Doppelgänger, Lebenskraft und Totengeist nicht im Menschen lokalisiert waren. In ihrem Inneren erlebten sich archaische Menschen direkt als Vielzahl von Kräften und Organen. Erst durch Verinnerlichung der Außen-Seele und Zentrierung der Binnen-Kräfte entstand die »Seele« als innere Einheit. In einem ersten Kapitel untersuchen wir die Erfindung des Inneren als eines einheitlichen Zentrums in der sogenannten »Achsenzeit« im 1. Jt. v. Chr. (vor allem im biblischen Bereich) und die Erneuerung des »inneren Menschen« im Urchristentum. Durch seine Selbstinterpretationen baute der Mensch eine geordnete Welt auf. Je mehr es ihm aber gelang, eine geordnete Welt durch seine Deutungen von Welt und Selbst aufzubauen, umso mehr wurden Einbrüche in diese Welt als außergewöhnliche Irritationen erfahren. Sie wurden erst jetzt zu Durchbruchserfahrungen. Normale religiöse Erfahrungen innerhalb der vertrauten Welt heben sich nun immer deutlicher von grenzreligiösen Erfahrungen ab, in denen diese Welt Risse erhält. Im antiken Judentum ist das an der Entwicklung zweier literarischer Gattungen erkennbar: In der Erfahrungsweisheit wird reflektiert, was der »normalen« Erfahrungswelt Grund und Sinn gibt. Daneben stehen die Propheten mit außernormalen Erfahrungen. In der griechischen Kultur verlangt auf der einen Seite die Philosophie Selbststeuerung durch Einsicht in einen geordneten Kosmos. Daneben steht die Tragödie, die den Zusammenbruch der Selbststeuerung in Grenzsituationen darstellt. Wir werden im Folgenden im Urchristentum immer wieder nach einer Differenzierung desselben Typs von Erleben und Verhalten in normal- und grenzreligiöse Varianten fragen. Fast durchgehend kann man hier ein Kontinuum zwischen zwei Polen entdecken. Diese Spannung erklärt vielleicht die geschichtliche Dynamik, die im Urchristentum zur Gründung einer neuen Reli-gion geführt hat. Daher die Frage: Was geschieht, wenn sich eine neue Religion bildet?

2. Vier Faktoren der Religion: Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos

Wir hatten schon oben gesehen: Es gibt keine anerkannte Definition von Religion. Das hängt auch damit zusammen, dass sich Religion in der Gegenwart aufzulösen scheint. Was sich hinter der Säkularisierung verbirgt, ist so schwer zu greifen wie das, was Religion eigentlich ist. Säkularisierung ist eine Individualisierung der Religion, deren kollektive Bindungskraft schwächer wurde. Noch mehr aber ist Säkularisierung eine »Fragmentierung« der Religion: Ihre verschiedenen Faktoren verselbständigen sich heute und vereinigen sich nur schwer zu kohärenten Zeichensystemen, denen Menschen ihr Leben anvertrauen. Werfen wir daher einen Blick auf die vier Faktoren, aus denen Religionen gebildet sind und die sich heute verselbständigen. Es sind: Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos. Sie haben sich bei empirischen Faktorenanalysen gegenwärtiger Religion herauskristallisiert.55 Sie finden sich in evolutionspsychologischen Entwürfen.56 Vor allem überleben diese vier Funktionen und Bereiche heute relativ unabhängig voneinander auch in säkularisierter Form. Das ist ein deutliches Zeichen für ihre Selbständigkeit:
Religiöse Erfahrung begegnet in individuellen peak experiences, als kontemplative Dankbarkeit oder als Trancezustand in der Disko, im Schaudern vor dem Tod oder in Sinngewissheit angesichts des Todes. Jede Erfahrung eines unbedingten Sinnes in der Endlichkeit des Lebens ist eine religiöse Erfahrung, auch wenn sie nicht so etikettiert wird.
Mythen und Lehre begegnen heute in der Form mancher evolutionstheoretischen Entwürfe. Die Evolutionstheorie nimmt die Funktion einer »Großen Erzählung« in der scientific community ein, in die man alles einordnen kann. Dabei fehlen zwar übernatürliche Subjekte, aber die sind in der Phantasie nicht ausgestorben: Das zeigt die Phantasie-Literatur der Harry-Potter-Romane und der Bücher Tolkiens.
Der Ritus und die Gemeinschaft begegnen in privaten und öffentlichen Zeremonien. Die rites de passages leben in den Antritts- und Abschiedsvorlesungen von Professoren weiter. Die Love Parade ist ein Massenritual, in dem sich ein populärer Life style selbst zelebriert und vorübergehend Gemeinschaft schafft.
Ethos und Praxis gewinnen auch in säkularen Kontexten Unbedingtheitscharakter. Political correctness besteht in der Brandmarkung von Häretikern in einer Welt guter Menschen. Und immer wieder gibt es Lebensentwürfe, die – aus guten oder schlechten Gründen – zum Martyrium motivieren. Man denke nur an die Macht, die säkulare terroristische Vereinigungen über ihre Mitglieder hatten.
Die vier Faktoren von Religion, nämlich Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos, die heute oft als Fragment begegnen, bilden in den traditionellen Religionen eine Einheit. Neue Religionen entstehen, wenn diese Faktoren reorganisiert werden, weil neue Erfahrungen alte Deutungen, Riten und Lebensformen sprengen. Solch eine Reorganisation der Religion aufgrund neuer Erfahrungen geschah auch im Urchristentum.57 Alle vier Faktoren werden in ihm mit Hilfe sprachlicher Leitbegriffe reflektiert: Die neue religiöse Erfahrung wird unter dem Begriff pneûma (Geist) zusammengefasst. Die deutende Lehre wird sophía und gnôsis (Weisheit und Erkenntnis) genannt. Die durch neue Riten gegründete Gemeinschaft heißt ekklesía (Kirche). Im Mittelpunkt des neuen Ethos steht die agápe (die Liebe) als Leitbegriff. Wir werden diese biblischen Leitbegriffe jeweils am Anfang unserer vier Kapitel zu den vier Faktoren der Religion analysieren.
Dem Urchristentum liegt (1) eine neue religiöse Erfahrung zugrunde. Sie besteht in den Erfahrungen mit Jesus, bei denen man zwei Varianten erkennt: auf der einen Seite alltagsnahe Erfahrungen im Umgang mit einem Weisheitslehrer und Wanderprediger, auf der anderen Seite die Extremerfahrungen von Passion und Ostern, Tod und neuem Leben. In beiden erschloss sich das Geheimnis der Welt, von Leben und Tod, für Jesu Anhänger neu.58 Die ersten Christen führten diese neuen religiösen Erfahrungen auf das Wirken des pneûma zurück. Es ist kein Zufall, dass man schon beim Begriff des pneûma zwei Varianten unterscheiden kann. Das pneûma ist einerseits eine ständig in allen Christen wirkende Kraft, andererseits eine irregulär hereinbrechende Macht, die besondere Charismatiker in außergewöhnlichen Situationen ergreift.
Die neuen Erfahrungen wurden (2) durch Erzählungen und Lehre gedeutet. Die Geschichte von Jesus wurde in zwei Varianten zur grundlegenden Erzählung einer neuen Gemeinschaft, einerseits als die irdische Geschichte eines Weisheitslehrers zwischen Nazareth und Jerusalem (vor allen in den synoptischen Evangelien), andererseits als Einbruch aus der Transzendenz mitten in der Zeit zwischen Ur- und Endzeit (vor allem bei Paulus und im Johannesevangelium). Sie wurde zum Mythos, weil sie von einem Ereignis mitten in der Geschichte erzählte, das so bedeutsam war wie die Schöpfung am Anfang der Geschichte. Deshalb wurde sie mit den mythischen Motiven einer neuen Urzeit umgeben. Dabei geschah eine regressive Re-Mythisierung der Imagination. Die Heilsgeschichte wurde zum Drama zwischen Gott, seinem Sohn, den Engeln und dem Satan, der strenge Monotheismus wurde modifiziert. Auch hier wird im Begriff der sophía (Weisheit) in der biblischen Tradition beides verbunden: Weisheit ist einerseits Erfahrungsweisheit als Deutung der geordneten Welt, andererseits Offenbarungsweisheit, die gegen alle irdische Weisheit in diese Welt hineinbricht. Sie umfasst normalreligiöse und grenzreligiöse Phänomene.
Der damals erlebte Einbruch von Transzendenz wurde (3) in neuen Riten gefeiert, durch die neue Gemeinschaften gebildet wurden: Auch hier finden wir neben alltagsnahen Gemeinschaftsmählern die Sakramente, in denen Kreuz und Auferstehung geheimnisvoll gegenwärtig sind. Dabei geschah ein Bruch mit der Tradition: Die blutigen Opfer wurden einerseits durch unblutige Sakramente abgelöst, andererseits durch die Vorstellung von einem Menschenopfer in der Phantasie erneuert. Für die neue Gemeinschaft setzte sich ein neuer Leitbegriff durch: ekklesía, Kirche. Er bezeichnet einerseits die Fortsetzung des alten Gottesvolkes mit seinen alltäglichen Problemen, andererseits den geheimnisvollen »Leib Christi«, in dem der Auferstandene gegenwärtig ist. Wieder finden wir Normalreligion und Grenzreligion in den beiden Varianten des Kirchenbegriffs, Volk Gottes und Leib Christi, nebeneinander.
In Mythen und Riten wurde schließlich (4) ein neues Ethos internalisiert. Im Urchristentum war es in zwei Grundgeboten organisiert: Nächstenliebe und Statusverzicht. Die Erzählung von dem Sohn Gottes, der sich bis zum gekreuzigten Menschen erniedrigt hat, begründete den Statusverzicht, die Erzählung von seiner Liebeshingabe begründete die Nächstenliebe. Auch hier entstanden früh zwei Varianten: ein alltagsnahes Ethos für die Hausgemeinschaften und ein radikales für Wandercharismatiker. Zum ethischen Leitbegriff wird die agápe (Liebe). Die Liebe begegnet dabei in einer normal- und grenzreligiösen Variante: als gegenseitige Fürsorge im Alltag und als Lebenshingabe und Feindesliebe in Extremsituationen.

3. Zwei Stufen der Abweichung vom Alltag: Normal- und Grenzreligiosität

Religiöses Erleben und Verhalten ist immer ein Abweichen von der Alltagswelt. Dabei wurde schon bei der Skizze von Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos deutlich, dass es verschiedene Grade der Abweichung gibt, eine alltagsnahe Abweichung und eine Sprengung des Alltags. Diese beiden Formen habe ich in dieser Psychologie des Urchristentums als Normal- und Grenzreligiosität unterschieden. Es sind Varianten innerhalb eines Kontinuums mit zwei Polen.59 Der eine Pol ist eine »Grundierung«, der andere eine »Durchbrechung« der alltäglichen Lebenswelt. In Grunderfahrungen wird die Welt für einen transzendenten Grund transparent, in Grenzerfahrungen erhält sie Risse, durch die eine andere Welt einbricht.60 Religionspsychologie hat oft einseitig Grenz- und Extremvarianten von Religion untersucht, weil sie die dramatischeren sind und in den Quellen mehr beachtet werden. Aber sie sind selten.61
GrunderfahrungenGrenzerfahrungenund -verhaltenund -verhaltenGrundierung des AlltagsDurchbrechung des AlltagsNormalreligiositätGrenzreligiositätDie Grundlagen der eigenen Lebenswelt werdenDie Grenzen der eigenen Lebenswelt werdenbewusst:bewusst:Transparenz der WeltRisse in der WeltTranszendentalerfahrungenTranszendenzerfahrungenzugrunde liegtdurchbricht
Tab. 1: Grund- und Grenzerfahrungen
Bevor diese Varianten des Erlebens und Verhaltens im Urchristentum aufgezeigt werden, seien sie am Erleben der Natur, des Todes und des Glücks in unserer Gegenwart veranschaulicht.
- Es gibt ein symbolisches Naturerleben, in dem die Natur transparent wird für ein »Mehr« als das, was man sieht. Ein Baum, der fest verwurzelt ist und einen Halt in der Tiefe hat, dessen hoch ragende Äste aber von den Stürmen des Lebens zerzaust sind, wird zum Sinnbild des Lebens. Solch ein symbolisches Wahrnehmen unterbricht den Alltag und macht das Alltägliche transparent für etwas anderes. Davon sind außernormale Wahrnehmungen wie Visionen und Halluzinationen, Träume und Imaginationen klar unterscheidbar, in ihnen zerreißt die Ordnung des Alltags.
- Alltagsnahes Todeserleben besteht in der Meditation des Todes. Ausgelöst durch eine Todesnachricht, rückt der Tod aus dem Hintergrund in den Vordergrund unseres Bewusstseins. Nah-Todes-Erfahrungen sind dagegen etwas weit Dramatischeres: Sie enthalten wiederkehrende Elemente wie out-of-body-experiences, Tunnelerlebnisse, Lichterscheinungen, den »Lebensfilm«, einen großen inneren Frieden. Die Todesnähe eröffnet Zugang zu einer bisher unbekannten Welt.62
- Sinnerleben kann kontemplative Dankbarkeit sein, wenn biblisch Sozialisierte eine Landschaft mit den Worten kommentieren: »Herr, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!« (Ps 8,2). Aber sie kann auch ekstatische Formen annehmen. Robert Musil hat sein Schriftstellerleben darauf verwandt, das Erleben eines ekstatischen »anderen Zustands« zu beschreiben und zu analysieren, und hat dabei die »Ekstatischen Konfessionen« (von Martin Buber)63 benutzt, um eine »Mystik ohne Gott« in Worte zu kleiden.64
Auch im Urchristentum ist im Hintergrund von extremreligiösen Phänomenen immer »Normalreligiosität« erkennbar. Als Beispiele mögen dienen: die symbolische Wahrnehmung der Lilien und Vögel als Hinweis auf die Güte Gottes und die außernormalen Ostervisionen, in denen in Lichterscheinungen eine Gottheit in diese Welt eingreift;65 das Gebet in der normalen Sprache des Vaterunsers und die Glossolalie, in der Menschen in der Sprache der Engel kommunizieren; 66 das alltägliche Gemeinschaftsmahl mit Segen und die Eucharistie mit einem symbolischen Kannibalismus. Wichtig für die weiteren Überlegungen ist: Zwischen normal- und grenzreligiösen Verhaltens- und Erlebensweisen gibt es Übergänge. Sie sind Voraussetzung dafür, dass Grenzreligiosität für Normalreligiosität fruchtbar gemacht wird, wie das m. E. im Urchristentum geschehen ist. Dabei werden wir immer wieder auf einen Sachverhalt stoßen: Die Vermittlung zwischen normal- und extremreligiösen Verhaltens- und Erlebensweisen geschieht im Urchristentum mit Hilfe christologischer Deutungsmuster: Jesus steht als galiläischer Wanderprediger der Alltagswelt nahe, aber als Sohn Gottes, der gekreuzigt und auferweckt wird, transzendiert er diese Alltagswelt. Wenn man dafür zwei Begriffe der späteren Dogmengeschichte als Interpretationshilfe nimmt, kann man sagen: Er verbindet als vere homo und vere deus die auseinander driftenden Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten der Menschen.
Der Gedanke einer gestuften Religiosität hat Vorläufer: William James unterschied in seiner Religionspsychologie zwischen der Religiosität der Einmalgeborenen und der Wiedergeborenen, zwischen einer optimistischen Religion derer, die nie aus ihrem Leben herausgerissen wurden, und einer Religion der »kranken Seele«, die durch Melancholie und Grenzerfahrungen hindurchgegangen ist.67 Er dachte an eine Persönlichkeitstypologie als eine Charakterisierung verschiedener Menschen. In Wirklichkeit finden sich beide Formen im selben Menschen nebeneinander, was auch William James gesehen hat.

4. Zwei Grundtypen des Religiösen: Höhen- und Tiefenvarianten

Wenn man den Gedanken einer gestuften Religiosität für eine psychologische Analyse des Urchristentums als Leithypothese akzeptiert, stößt man auf ein weiteres Problem: Im späten Urchristentum, im 2. Jh., entwickeln sich nebeneinander zwei Grenzvarianten von Religiosität: Neben die prophetisch-ekstatische Frömmigkeit des frühen Urchristentums tritt eine radikale mystische Strömung, die Gnosis. Die Entstehung der Gnosis ist historisch ein Rätsel. Sicher ist nur: In ihr wird eine relativ zeitlose Möglichkeit von Religiosität aktiviert. Denn Abweichungen vom Alltagsbewusstsein können in zwei Richtungen gehen: in Richtung einer höheren Aktivierung oder einer tieferen Entspannung, sie können ekstatische Steigerung oder meditative Versenkung zum Ziel haben. Es gibt daher »Höhen- und Tiefenvarianten« des religiösen Erlebens und Verhaltens und jeweils zwei Formen von Grenzreligiosität. Wir unterscheiden sie im Folgenden als mystische und prophetische Religiosität (Nathan Söderblom).68 Sie wird heute manchmal neuropsychologisch begründet: Bei meditativen Zuständen wird das parasympathische Nervensystem, bei ekstatischen das sympathische aktiviert.69 Beide Formen von Religiosität haben m. E. etwas mit den zwei Grundfunktionen der Religion zu tun: mit dem Erlernen des Lebens und dem Ertragen des Todes – oder einem unbedingten Mut zum Leben und zum Sterben. Wir werden der Gnosis als einem mystischen Typ von Religiosität am Ende ein eigenes Kapitel widmen und dabei versuchen, in allen vier Faktoren von Religion diese beiden Richtungen religiösen Erlebens und Verhaltens im Urchristentum nachzuweisen.

5. Die christologische Prägung des Erlebens und Verhaltens: Die Integration der divergierenden Religiosität

Alles Erleben und Verhalten ist geschichtlich geprägt. Kultur- und Religionspsychologie suchen nach den prägenden Mustern in der Geschichte. Im Urchristentum wurde das Bild von Jesus zur entscheidenden prägenden und integrativen Kraft. Dieses Bild war in sich sehr komplex, aber eben deswegen geeignet, der Mannigfaltigkeit religiösen Verhaltens und Erlebens einen einheitlichen Bezugspunkt zu geben: Die Erneuerung des inneren Menschen geschah durch Nachfolge des irdischen Jesus und Transformation mit Tod und Auferstehung Jesu. Die vier Faktoren der Religion erhielten durch ihre Beziehung auf die Christusgestalt einen einheitlichen Ursprung: Die Begegnung mit ihm war die entscheidende religiöse Erfahrung, sein Geschick wurde zur mythischen Grunderzählung der neuen Religion. Seine Präsenz verlieh den Sakramenten ihre geheimnisvolle Wirkung. Seine Lehre und sein Vorbild waren Grundlage des neuen Ethos. Seine integrative Kraft erwies die Christusgestalt aber vor allem durch die Integration von moderat- und extremreligiösen Phänomenen: Durch sein menschliches Wesen stand Jesus dem alltäglichen Leben nahe, durch seinen göttlichen Ursprung transzendierte er diese Welt. Grenzen der Integrationskraft der Christusgestalt zeigte die Gnosis. Das Johannes- und Thomasevangelium zeigen zwar, dass es möglich war, auch eine mystische Frömmigkeit in das Christentum zu integrieren, aber große Teile der gnostischen Gruppen blieben mit ihrer radikalen Frömmigkeit draußen.

III. Die Suche nach einer religionspsychologischen Theorie

Am Ende dieser Einleitung muss erörtert werden, welche (religions-)psychologischen Theorien der folgenden Darstellung zugrunde liegen sollen. Die Religionspsychologie will die Bedeutung der Religion für das Leben erfassen – unabhängig davon, ob sie lebensfördernde oder lebensfeindliche Züge hat. Dazu werden Theorien aus lerntheoretischen, psychodynamischen und kognitiven Ansätzen herangezogen. Ihre Verbindung wurde durch die kognitive Wende in der Psychologie seit den 70er Jahren ermöglicht.70
Der lerntheoretische Ansatz (oder der Behaviorismus) wurde kognitiv modifiziert, indem man inneres oder verdecktes Verhalten als Schlüssel für äußeres Verhalten erkannte. Am beeindruckendsten repräsentiert diese Tradition die religionspsychologische Rollentheorie von Hjalmar Sundén (1908-1993).71 Religion ist bei ihm das Ergebnis sozialen Lernens, bei dem Menschen aus ihrer religiösen Tradition menschliche Rollen übernehmen und gleichzeitig die Beziehung zu korrespondierenden Rollen von Gottheiten aufnehmen. Aufgrund der von ihnen internalisierten Rollen und Erwartungen machen sie religiöse Erfahrungen, wo andere bei denselben äußeren stimuli nur profane Erfahrungen haben. Die verschiedenen Erfahrungen hängen mit rollenspezifischen kognitiven Mustern zusammen, die durch Sozialisation gelernt sind. Wer aufgrund der biblischen Tradition die Rolle des »Kindes Gottes« übernimmt, nimmt damit zugleich die Rolle des »Vaters im Himmel« auf, entwickelt Erwartungen, in deren Licht er die Ereignisse anders wahrnimmt als ohne solch eine Erwartung. Hjalmar Sundén wollte mit dieser sozialpsychologisch fundierten Theorie der religiösen Erfahrung gegen die damals mächtige psychoanalytische Religionstheorie zeigen, dass Religion nicht auf Illusionen reduziert werden kann, sondern auf authentischen Erfahrungen basiert. Heute werden die sozialkonstruktivistischen Aspekte seines Ansatzes gegenüber diesen wahrnehmungspsychologischen Aspekten stärker betont: Die Rollen werden nicht nur als Voraussetzung religiöser Wahrnehmung, sondern als »theatralische« Rollen verstanden, durch die Menschen eine eigene Welt aufbauen.72 Durch soziale Verstärkung übernehmen sie die Glaubensvorstellungen ihrer Gruppe, wenn sie dadurch in die Gruppe hineinwachsen und Anerkennung und Einfluss gewinnen. Sozialer Anschluss erzeugt Plausibilität. Aus der lerntheoretischen Tradition der Psychologie stammen in den folgenden Überlegungen z. B. die Deutung der erlösenden Kraft von Tod und Auferstehung als Lernen am stellvertretenden Modell, Überlegungen zur Aggressionsbewältigung durch »Katharsis«, ferner die Einsicht, dass alle Erfahrungen und Verhaltensweisen kulturell und sozial kodiert sind und auf sozial vermittelten Mustern und Deutungen des Erlebens und Verhaltens basieren.
Auch die Tiefenpsychologie wurde in den letzten Jahrzehnten hermeneutisch modifiziert: Religion ist in dieser Tradition eine Auseinandersetzung mit inneren Antrieben und Wünschen. Auch in ihr werden Symbole heute nicht nur als Verschleierung und Verdrängung unbewusster Antriebe gedeutet, sondern als deren Interpretation und Gestaltung. Auch in dieser Tradition gibt es aufschlussreiche konstruktivistische Ansätze: Donald Woods Winnicott, ein englischer Kinderpsychiater (1896-1971), entdeckte die große Bedeutung der Übergangsobjekte, der Teddybären und Kuscheltiere – als Vorläufer von Moral, Kunst und Religion. Denn diese Übergangsobjekte bilden eine intermediäre Zwischenwelt zwischen subjektiver und objektiver Welt und zeigen zum ersten Mal die Fähigkeit des Menschen, einen »weichen« Zwischenbereich zwischen Realität und Selbst aufzubauen, der voll von Fiktionen, Illusionen und Phantasieprodukten ist und den der Mensch für ein gelingendes Lebens braucht. Wir finden hier einen tiefenpsychologischen Konstruktivismus, nach dem Religion Aufbau einer lebensnotwendigen intermediären Zwischenwelt ist, wobei Winnicott ihr einen objektiven Realitätsgehalt zugesteht. Aus der Tradition der psychodynamischen Theoriesansätze stammen in den folgenden Kapiteln viele Überlegungen, vor allem die Suche nach Ich-Funktionen wie Verdrängung, Sublimation, Projektion, Regression usw. Einsichten von Sigmund Freud sind nach wie vor fruchtbar, wenn man sie nicht dogmatisch nimmt. Man muss nicht an den Ödipuskonflikt glauben, um zu sehen, dass Menschen von früher Kindheit an in Konflikten stehen, weil sie dasselbe wie andere Menschen in ihrer Umgebung begehren.73
Der kognitive Ansatz sieht in der Religion vor allem den Aufbau einer gedeuteten Welt. Aus diesem Ansatz stammen die Attributionstheorie74 und die Theorie der kognitiven Dissonanz75. Gerade dieser Ansatz brachte in den letzten Jahrzehnten eine kognitive Religionswissenschaft mit eindeutig konstruktivistischer Tendenz hervor. Aus ihrer Sicht ist Religion ein Ergebnis von Datenverarbeitungsmechanismen, die sich evolutionär entwickelt und universal verbreitet haben, wobei sie offen dafür ist, ihr entweder einen adaptiven Wert zu- oder abzusprechen. Ein Grundgedanke ist:76 Religiöse Vorstellungen sind ein corpus mixtum aus intuitiven und kontraintuitiven Gedanken. Kontraintuitiv sind Vorstellungen die unsere Alltagsontologie, d. h. die Einteilung der Wirklichkeit in Dinge, Artefakte, Pflanzen, Tiere und Personen, verletzen, z. B. die Vorstellung, dass in einem Baum eine Nymphe verborgen ist oder Gott Mensch wird und am Kreuz endet. Nach den Vertretern der kognitiven Religionswissenschaft sorgen solche kontraintuitiven Aspekte für die Verbreitung religiöser Vorstellungen. Sie wecken Aufmerksamkeit. Die zweite Einsicht ist: Religiöse Vorstellungen verbinden kontraintuitive Aufmerksamkeitssignale mit intuitiven Inhalten: Bei der Vorstellung der Inkarnation ist intuitiv einleuchtend, dass der Mensch unbedingten Wert hat. Wenn Gott Mensch wird, wird der Mensch unendlich aufgewertet. Solche intuitiven Aspekte erklären, dass religiöse Vorstellungen nicht nur vorübergehend Aufmerksamkeit erregen, sondern auf Dauer akzeptiert werden. Nur dann gehen sie in die Grundinformation einer Kultur ein. Optimale Verbreitungschancen haben daher »gemäßigt« kontraintuitive Ideen, die in ein Gewebe intuitiver Vorstellungen eingebunden sind.
 
Lassen sich diese drei Theorieansätze verbinden? Gibt es durchgehende Züge in allen drei Ansätzen? Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es in allen drei Theorietraditionen eine Tendenz zum Konstruktivismus gibt. Die skandinavische Rollentheorie betrachtet Religion stärker als Aufbau einer »theatralischen« Welt. Die psychodynamische Religionstheorie entdeckt die »intermediäre Zwischenwelt« der Übergangsobjekte, die kognitive Religionstheorie erfahrungsunabhängige kontraintuitive Ideen. Der hier vorgelegte Entwurf vertritt keinen radikalen Konstruktivismus, sondern einen kritischen Realismus, der anerkennt, dass unser Wirklichkeitsverständnis aufgrund interner kognitiver Mechanismen konstruiert ist, aber dass diese internen Mechanismen als Ergebnis einer langen Evolution durch die Wirklichkeit selbst geformt und informiert sind.77
Nach dem kognitiven Ansatz ist die Religion voll von kontraintuitiven Vorstellungen, bei denen Grenzen von Seinsbereichen überschritten werden.78 Die Funktion kontraintuitiver Ideen ist nicht angemessen erfasst, wenn man diese nur darin sieht, dass sie Aufmerksamkeit wecken. Sie haben darüber hinaus eine begründende Funktion: Sie führen die Strukturen dieser Welt auf eine überlegene ontologische Ebene zurück. Dass der Mensch unbedingten Wert hat, wird kontraintuitiv damit begründet, dass Gott Mensch wurde. Der Wert des Menschen wird dadurch in einer Macht begründet, die nicht den Regeln dieser Welt unterworfen ist, sondern diese Regeln schafft und setzt. Der Mythos hat also transzendentalpoetische Funktion, d. h. er begründet durch poetische Bilder die Bedingungen der Möglichkeit unserer Welt und unserer Werte. Wir müssen daher fragen: Gibt es bei den anderen Ansätzen Analogien zu kontraintuitiven Vorstellungen mit aufmerksamkeitssteigernder und begründender Funktion?
Eine Analogie begegnet innerhalb der Lerntheorie