Glaubenssätze - Gerd Theißen - E-Book

Glaubenssätze E-Book

Gerd Theißen

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Beschreibung

»Was für ein sprachmächtiges Werk!« (Norbert Copray, Publik Forum)

Diese Glaubenslehre ist anders: In Frage und Antwort, mal reflektierend, mal bildhaft, mal lyrisch spürt sie den drei Grundartikeln des Glaubens – Gott, Christus, Heiliger Geist – in meditativen Texten nach. Knapp, verständlich und voller Inspiration laden diese Glaubenssätze ein, einen biblisch gegründeten, kritischen Glauben in evangelischer Freiheit zu entdecken. Ein tiefgründiges, der Welt zugewandtes Textbuch über die großen Fragen des Lebens.



  • Das große Werk jetzt als preiswerte Sonderausgabe
  • Innovativ, lebensklug und erfahrungsnah
  • Eine ungewöhnliche Glaubenslehre für Einsteiger und Wiederentdecker

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Seitenzahl: 391

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Gerd Theißen

Glaubenssätze

Ein kritischer Katechismus

Sonderausgabe

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23437-9V002

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

Der Glaube und seine Grundlagen in Bibel, Tradition, Erfahrung und Vernunft

Frage 1-21

I. Meditationen über Gott

Wer ist Gott?

Frage 22-31

Über die Schwierigkeiten, Gott zu erkennen

Frage 32-36

Grenzerfahrungen als Begegnung mit Gott

Frage 37-42

Kreaturerfahrungen als Begegnung mit Gott

Frage 43-48

Sinnerfahrungen als Begegnung mit Gott

Frage 49-58

Gewissenserfahrungen als Begegnung mit Gott

Frage 59-69

Der Gott der Bibel: Der sich offenbarende Gott

Frage 70-83

Gott ohne Grenzen: Gott in anderen Religionen

Frage 84-89

Der dreieinige Gott: Gott im kirchlichen Dogma

Frage 90-95

II. Meditationen über Jesus

Wer war Jesus?

Frage 96-97

Jesus in seiner Geschichte: Seine Verkündigung und sein Wirken

Frage 98-110

Jesus in der Offenbarung Gottes: Kreuz und Auferstehung Jesu

Frage 111-115

Jesus im Mythos: Von der Präexistenz bis zur Parusie

Frage 116-129

Jesus in den Evangelien: Markus-, Matthäus-, Lukas- und Johannesevangelium

Frage 130-134

Jesus im Dogma: Zwei-Naturen-Lehre und Absolutheitsanspruch

Frage 135-142

III. Meditationen über den Geist

Was ist der Heilige Geist?

Frage 143-145

Wo begegnet Gottes Geist?

Frage 146-153

Das Wirken des Geistes in der Kirche und den Kirchen

Frage 154-169

Das Wirken des Geistes in der Welt

Frage 170-192

Das Wirken des Geistes im Glauben

Frage 193-206

Das Wirken des Geistes in der Liebe

Frage 207-223

Das Wirken des Geistes in der Hoffnung

Frage 224-235

Sachregister

Personenregister

Bibelstellenregister

Vorwort

Diese »Glaubenssätze« sind ein Versuch, den christlichen Glauben in meditativen Texten zusammenzufassen, die dazu einladen, kontemplativ betrachtet zu werden. Religiöse Wahrheit ist auf Kontemplation angewiesen und darin ästhetischer und ethischer Erkenntnis vergleichbar. Ein Buch über Malerei setzt voraus, dass man Bilder auf sich einwirken lässt, ein Buch über Ethik, dass man sich mit moralischen Fragen existentiell auseinandersetzt. Dieses Buch will dazu anregen, über Grund- und Grenzfragen des Lebens nachzudenken. Es ist wie ein Katechismus in Fragen und Antworten gegliedert. Ich habe mich bemüht, jede Einheit so zu formulieren, dass sie in sich verständlich ist und möglichst auch für sich gelesen werden kann.

In Sinnzeilen gegliederte meditative Texte erinnern an Gedichte. Manche sind von Bildern bestimmt, andere von Reflexion, einige wollen informieren, einige auch kritisieren. Sie stehen für einen Protestantismus, der die moderne Welt als Herausforderung begreift, den christlichen Glauben immer wieder neu zu formulieren. Überall müssen wir zwischen dem traditionellen Glauben und dem, was wir in ihm heute an Wahrheit und Sinn entdecken, unterscheiden.

In möglichst knappen Aussagen habe ich für mich niedergeschrieben, was mir am christlichen Glauben wichtig ist. Übereinstimmung mit mir hat Vorrang vor der Übereinstimmung mit Dogmen und Kirchen. Doch ein Protestant steht mit solch einer Überzeugung nicht am Rande seiner Kirche, sondern mitten in ihr. Der Protestantismus ist eine Religion der Freiheit und Vernunft. Diese Glaubenslehre ist daher trotz ihres persönlichen Charakters konsensorientiert: Sie knüpft an die Tradition an und gibt ihr nicht vorschnell den Abschied. Auch Trinität, Zwei-Naturen-Lehre und Sühnetod Jesu werden als sinnvolle Bilder gedeutet. Konsens kann man ferner nur formulieren, wenn man nicht nur die eigene Glaubensgemeinschaft im Blick hat, sondern auch andere Konfessionen und Religionen, vor allem aber die vielen Menschen, die fern von jeder Religion leben. Dieses Buch wirbt um Verstehen und Respekt für den Glauben auch dort, wo er keine Zustimmung erfährt.

Konsensorientiert ist auch der Rückgriff auf die Bibel. Sie ist der jüdischen, christlichen und islamischen Religion gemeinsam und gehört zu den Grundtexten unserer Kultur. Oft gilt die Liebe zu ihr als Zeichen einer konservativen Theologie. Liberale Theologen suchen dagegen Evidenzquellen gerne außerhalb der Bibel – in Philosophie und Wissenschaft, Natur und Kunst, Sakramenten und Symbolen, in Ethik und Mystik. Dieses Buch steht in der Tradition der liberalen Theologie, aber unterscheidet sich von ihr durch Liebe zur Bibel. Die Sprache der Bibel kann Tiefendimensionen religiöser Erfahrung erschließen, ihre Sprachkraft ist gewaltig.

Einiges wird umstritten bleiben. Nicht alle werden bei der Frage nach Gott ihren Ausgangspunkt bei menschlichen Erfahrungen nehmen, aber sie werden eine Hochschätzung des »Wortes« finden, das den Menschen mit Gott konfrontiert. Nicht alle werden meine Entmythologisierung biblischer Aussagen von Christus akzeptieren, aber das Bild von Jesus verschwimmt nicht im Nebel moderner Skepsis. Nicht alle werden meine evolutionäre Sicht von Welt und Religion teilen, aber auch unabhängig von ihr gelten die »kleinen Erzählungen« und Bilder der Bibel als vollwertiger Ausdruck des Glaubens. Nicht alle werden meine pluralistische Religionstheologie bejahen, aber interreligiöse »Schnellreligionen«, die Differenzen überspringen, lehne ich ab. Nicht alle werden den Heiligen Geist auch in anderen Religionen und bei Nichtchristen wirken sehen, aber sie werden kein Kulturchristentum ohne Profil finden. Nicht alle werden der Mystik einen so zentralen Ort einräumen. Aber Mystik ist im Zentrum christlichen Glaubens verwurzelt. Sie findet sich z.B. auch bei dem orthodoxen Lutheraner Paul Gerhardt und dem reformierten Pietisten Gerhard Tersteegen.

Die Aufzählung möglicher Irritationen zeigt: Dieser »Katechismus« stammt von einem liberalen Protestanten. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Familien- und Sexualmoral der katholischen Kirche für unglaubwürdig halte und den protestantischen Fundamentalismus für Obskurantismus. Diese Glaubenssätze stehen auf dem Boden der modernen Welt, in der jeder Einzelne selbst bestimmen muss, was er glaubt und was er nicht glaubt, was er für sein Handeln für verpflichtend hält und was nicht. Nur so kann man heute glaubwürdig um Konsens werben.

Auch theologiegeschichtlich ist dieser Katechismus konsensorientiert: Er setzt die Tradition der liberalen Theologie von G. E. Lessing, F. D. Schleiermacher und A. Schweitzer fort, aber verbindet sie mit Gedanken der so genannten »Kerygmatheologie« von K. Barth und R. Bultmann. Katholische Religionsphilosophen haben Spuren hinterlassen, aber auch die ökumenische Sozialethik. In meditativen Texten kann verbunden werden, was sonst als Gegensatz aufeinanderprallt.

Es handelt sich um einen »Katechismus«, der das Ganze des christlichen Glaubens behandelt. Fragen und Antworten knüpfen an die Katechismusform an. Zwar soll er nicht dem Unterricht von Konfirmanden dienen, er wendet sich an Erwachsene. Wenn er als Textbuch für Gesprächsgruppen und für das persönliche Nachdenken über letzte Fragen des Lebens dient, hat er seinen Zweck erfüllt. Wenn er manchem hilft, das Christentum zu entdecken oder wieder zu entdecken, wäre das in meinem Sinne. Aber auch, wenn er säkularisierten Menschen hilft, besser zu verstehen, was einen modernen Christen bewegt, auch wenn er dessen Christentum nicht teilt, wäre das sehr viel.

Herrn Diedrich Steen und allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Gütersloher Verlagshaus danke ich für alle Unterstützung und Arbeit für dieses Projekt eines meditativen Katechismus.

Ich widme diesen kritischen Katechismus dem Andenken an Zacharias Ursinus. Er verfasste vor 450 Jahren den Heidelberger Katechismus, der ein Vorbild an Klarheit und Systematik ist. Meine Glaubenslehre ist keine moderne Neuauflage seines Katechismus. Gemeinsam aber ist: Auch dieser Katechismus entstand in Heidelberg, auch er ist von reformierter Tradition geprägt und will im christlichen Glauben eine dem gegenwärtigen Menschen zugängliche Weisheit entdecken.

Gerd Theißen, 2012

Für die zweite, dritte und vierte Auflage wurden Fehler korrigiert und kleine stilistische Änderungen vorgenommen. Die Texte blieben im Wesentlichen dieselben, nur dass sie in der vierten Auflage nicht in Sinnzeilen gesetzt sind, um ein kürzeres Buch zu ermöglichen. Die wenigen sachlichen Änderungen sollen der Klarheit und Transparenz dienen. Allen Lesern, die mir Korrekturen mitgeteilt haben, sage ich herzlichen Dank, ebenso allen, die zu diesen meditativen Texten kritisch und oft zustimmend Stellung genommen haben.

Gerd Theißen, 2018

Der Glaube und seine Grundlagen in Bibel, Tradition, Erfahrung und Vernunft

1.

Was ist Glaube an Gott?

Glaube ist unbedingtes Vertrauen, dass unser Leben inmitten aller Dinge sinnvoll ist. Sinn ist, was Mut zum Leben gibt.

Glaube vertraut auf Gott, der das Nichts ins Sein ruft und alle Welt mit Sinn erfüllt.

Glaube vertraut nicht auf die Welt, wie sie ist, sondern wie sie durch Gottes Willen sein könnte.

Glaube vertraut nicht darauf, dass alles von selbst gut wird, sondern dass wir Gutes tun können gegen Widerstand in uns und in der Welt.

Glaube ist ein Bündnis mit Gott, der die Welt mit Sinn erfüllen will.

2.

Was ist Glaube an Christus?

Christlicher Glaube ist Mut zum Leben und zum Sterben, der mit Christus gekreuzigt wird und mit ihm aufersteht.

Glaube an Christus berechtigt, sich selbst zu bejahen trotz Schuld.

Glaube an Christus verpflichtet, Liebe zu üben trotz Lieblosigkeit.

Glaube an Christus ermutigt, nicht aufzugeben, wenn alles hoffnungslos scheint.

Christlicher Glaube ist Mut zum Leben und zum Sterben, der mit Christus gekreuzigt wird und mit ihm aufersteht und so mit Gott jetzt und für immer verbunden ist.

3.

Was ist Glaube an den Heiligen Geist?

Gott hat die fernen Galaxien geschaffen und ist doch nicht fern, denn sein Geist nimmt Wohnung in dir.

Er sprach in früheren Zeiten und spricht auch heute durch seinen Geist zu dir.

Wenn dein Mut zum Leben gekreuzigt wird und in deinem Herzen neu entsteht, dann wirkt sein Geist in dir.

Wenn dich Gewissheit erfasst, in Gott geborgen zu sein in alle Ewigkeit, dann lebt sein Geist in dir.

Wenn er Menschen zu neuen Geschöpfen macht, dann arbeitet sein Geist für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in uns allen zur Vollendung seiner Schöpfung.

4.

Was ist Glaube an den dreieinigen Gott?

Glaube an Gott ist wie Licht des Vertrauens, das die Schöpfung hell macht.

Glaube an Jesus Christus ist wie Licht in der Nacht, in der das Vertrauen stirbt.

Glaube an den Heiligen Geist ist wie Licht am Morgen, wenn neues Vertrauen aufersteht.

Spuren dieses Lichtes finden wir nacheinander in der Geschichte: Israel entdeckte den einen und einzigen Gott. Jesus überwand Schuld und Todesangst. Gottes Geist verbindet Menschen in der ganzen Welt.

Doch in seinem Ursprung flutet alles Licht ineinander: Alles ist Beziehung wie in einer Familie. Deswegen sprechen wir bildlich von Gott als Vater, Sohn und Heiligem Geist.

5.

Was sind die Grundlagen des Glaubens?

Glaube hat als Quellen: Bibel und Tradition, Erfahrung und Vernunft.1

BIBEL: eine Bibliothek von Büchern, von Menschen formuliert und immer wieder ergänzt, kein geschlossener Entwurf, sondern gestaltete Vielfalt, Zeugnis eines Dialogs mit Gott, Chance, diesen Dialog immer wieder neu zu beginnen.

TRADITION: ein Schatz mit vielen Gedanken, ein Dialog über den Glauben von den Kirchenvätern bis zur modernen Theologie. Was sich im Glauben bewährt, wird geprüft an der Weisheit vieler Generationen, aber auch an ihren Verirrungen in Vergangenheit und Gegenwart.

ERFAHRUNG: Nichts kann ersetzen das Aufleuchten der Wahrheit im persönlichen Leben: Sein und Nichts konfrontieren mit Gott, Naturgesetze spiegeln seine Gedanken, Leben seinen Willen, Liebe sein Wesen. Erfahrung gibt dem tradierten Glauben Evidenz.

VERNUNFT ist die Fähigkeit, alles zu prüfen: Erfahrung prüfen wir durch die Tradition, Tradition durch die Bibel, die Bibel durch die Vernunft. Vernunft ohne Glaube neigt zum Zynismus, Glaube ohne Vernunft zum Fanatismus.

Alle Quellen der Gewissheit sprudeln in der Bibel ineinander: Die Bibel ist voll Tradition und Erfahrung, Weisheit und Vernunft. Damit weist sie über sich hinaus. Wer ihr treu sein will, darf nicht stehen bleiben bei ihrem Buchstaben.

6.

Gibt es verbindliche Glaubenssätze für alle Christen?

Früher standen im Katechismus verbindliche Lehren. Jeder musste sie auswendig lernen. Geist und Buchstabe klebten aneinander. Bild und Sache waren eins. Heute unterscheiden wir: Gott und Gottesbilder, Jesus und Christusbilder, Hoffnung und Hoffnungsbilder. Bilder lassen Freiheit, wieweit sie wörtlich zu verstehen sind. Sie ermöglichen Stufen der Annäherung.

Schon die Bibel kennt viele Gestalten des Glaubens: Hatten die Jünger Jesu keinen Glauben, weil sie in ihm nicht den sahen, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist? War der Jakobusbrief häretisch, als er Glauben mit Werken verband, Gesetz mit Freiheit und Liebe mit Gleichbehandlung?

War der Evangelist Johannes im Irrtum, als er die anderen Evangelien überbieten wollte: Über alle Jesusbilder hinaus fragte er nach dem, was in ihnen Wahrheit und Leben ist.

Waren die Gnostiker im Irrtum? Sie deuteten als christliche Philosophen die Bilder der Bibel als Suche des Menschen nach seinem wahren Selbst. Für sie war alles Symbol, was für einfache Christen Realität war.

Wenn ein Physiker an einer Familienfeier teilnimmt, teilt er die Alltagsphysik der Familie: In ihr geht die Sonne auf und unter, nicht aber in seiner Theorie. So teilen auch Theologen im Alltag den gelebten Glauben, ihre Gedanken aber geben ihm einen Rahmen, der seine Bedeutung verändert.

Schon das Urchristentum kannte verschiedene Reflexionsstufen des Glaubens. Alle sind gültig, keine ist endgültig. Alle nähern sich unvollkommen dem, was letztgültig ist.

7.

Welche Bedeutung hat die Bibel für den Glauben?

Einst war die Bibel das Lehrbuch des Glaubens, von Gott verfasst, inspiriert durch seinen Geist. Selbst ihre Buchstaben hatte er eingegeben. Heute bezeugt sie Ursprungserfahrungen menschlichen Glaubens. Sie wird mit denselben Methoden ausgelegt wie alle Zeugnisse der Vergangenheit. Manche ihrer Texte sind scharf zu kritisieren, andere leuchten wie Licht vom ewigen Lichte mitten im Leben.

Versunkene Welten hinterließen ihre Spuren in ihr: Ägypter und Sumerer, Babylonier, Perser und Griechen. Vorbereitet durch Traditionen, eingebettet in Analogien entstand in ihrer Geschichte drei Mal Neues wie Mutationen der Religion.

Die Geschichte Israels machte Gott zum wichtigsten Anliegen des Menschen. Die Geschichte Jesu machte den Menschen zum wichtigsten Anliegen Gottes. Die Geschichte des Geistes machte die Erneuerung der Welt zum gemeinsamen Anliegen von Gott und Mensch.

Wie die Evolution des Lebens auf konkreten Anfängen aufbaut, so der Glaube auf einem dreifachen Anfang. Oder gab es noch andere Möglichkeiten, dem Geheimnis Gottes zu begegnen? Schon in der Bibel hören wir als Nachklang eine Polyphonie uralter Religionen.

Durch ihre eigene Polyphonie wirkt die Bibel bis heute: die hebräischen heiligen Schriften bei Juden, Altes und Neues Testament bei Christen, die ganze Bibel bei Moslems als Vorstufe des Korans. Wenn Religionskritiker Gottes Tod verkündigen, meinen sie den Gott der Bibel. Die Bibel wurde ein Buch aller Menschen.

Sie ist ein Buch mit offenen Türen. Protestanten drängen hinaus, ihre Herkunft verdrängend. Katholiken entdecken neu ihre verdrängten Ursprünge. Juden bleiben ihr treu.Moslems studieren sie als Bestätigung ihres Glaubens. Nur Fundamentalisten verrammeln die Türen der Bibel gegen die moderne Welt. Bibeltreue sieht anders aus.

8.

Welche Bedeutung hat das Alte Testament für den Glauben?

Einst galt das Alte Testament nur als Vorgeschichte des Neuen Testaments. Aber es hat einen Eigenwert.

Das Alte Testament ist die Geburtsurkunde des MONOTHEISMUS. In ihm wurde der eine und einzige Gott entdeckt nicht nur von einzelnen Philosophen, sondern von einem ganzen Volk. Das Neue Testament öffnete den Glauben für alle Völker. Gott weist in beiden Testamenten über Grenzen hinaus. Noch immer sind Juden und Christen unterwegs zu einem universalen Glauben.

Das Alte Testament bezeugt den SCHÖPFUNGSGLAUBEN. Im ersten Schöpfungsbericht ist der Mensch das Ebenbild Gottes: Herrscher über Erde und Tiere.2 Im zweiten Bericht ist er ein Erdgeschöpf wie alle Geschöpfe. Als Gärtner hütet er das Paradies. Doch sein Wissen um Gut und Böse vertreibt ihn aus dem Paradies der Unschuld durch Sünde, Vergeblichkeit und Tod.

Das Alte Testament entdeckt die GESCHICHTE. Nicht nur der König, das ganze Volk hat Verantwortung dafür, ob es im gelobten Land bleibt oder nicht. Menschliche Entscheidungen bestimmen die Geschichte. Der Horizont des Neuen Testaments ist enger. Es enthält nicht die Schriften eines Volkes, sondern kleiner Gruppen. Nur im Alten Testament finden wir Entwürfe sozialer Gerechtigkeit für die ganze Gesellschaft.

Das Alte Testament preist IRDISCHES GLÜCK. Der Prediger Salomo findet Lebensfreude in Gott: Gott hat dem Menschen Ewigkeit und Freude ins Herz gegeben. Ewigkeit macht Vergänglichkeit bewusst, Freude macht sie vergessen.3 Das Hohelied Salomos preist die Freuden erotischer Liebe. Nur im Alten Testament ist Gott selbst »Freude und Wonne«.4 Menschen treten mit Frohlocken vor sein Angesicht.

9.

Welche Bedeutung hat das Neue Testament für den Glauben?

Im Neuen Testament wurde der Mensch zum wichtigsten Anliegen Gottes. Eine mythische Geschichte erzählt von Gottes schwieriger Partnersuche.

Der eine und einzige Gott hatte im Himmel keinen gleichwertigen Partner, weder unter Engeln noch Göttern. Deshalb schuf er den Menschen zu seinem Ebenbild. Der Mensch brach den Bund mit Gott. Gott hielt trotzdem an ihm fest.

Israel wurde Gottes Geliebte stellvertretend für alle Menschen: ein Licht für alle Völker. Israel brach den Bund. Gott hielt trotzdem an ihm fest.

In Israels Mitte wurde Jesus zum Partner Gottes stellvertretend für Israel und alle Menschen. Er war Gottes Ebenbild. Er wurde von Juden angeklagt, von Römern gekreuzigt. Gott hielt trotzdem an ihm fest.

Gott macht Menschen durch Jesus zu seinen Partnern. Sein Geist will sie durch Glaube, Hoffnung, Liebe in sein Ebenbild verwandeln. Doch Menschen werden untreu. Gott hält trotzdem fest an seinem Bund.5

10.

Was bewirken Glaube, Hoffnung und Liebe im Neuen Testament?

Zentrum des Neuen Testaments ist der GLAUBE: Was immer im Himmel und auf Erden geschieht, hat nur befreiende Kraft, wenn es im Glauben erfasst wird. Ein Senfkorn Glauben kann Berge versetzen.6 Durch ihn haben alle Menschen Kontakt mit Gott unabhängig von Herkunft und Schicht. Verlorene Menschen verwandelt er in Gottes Ebenbild durch das Bild des unsichtbaren Gottes: Jesus Christus.

Im Neuen Testament erweiterte sich die HOFFNUNG: Die Welt bleibt nicht, wie sie ist. Mitten in ihr beginnt eine neue Welt. Menschen dürfen den ersten Schritt in sie tun. Das gibt ihnen unendlichen Wert als Partisanen der Freiheit in einer unfreien Welt. Die Tür zum Leben ist offen. Der Stein der Todesangst wurde von ihrem Herzen gewälzt.

Im Neuen Testament wurde LIEBE zum höchsten Wert: Sie lässt im anderen Menschen das Ebenbild Gottes erkennen. Gott ist Liebe.7 Umso mehr widersprechen ihm Unglück und Leid. Dass beides vereinbar ist, bezeugt am Kreuz der leidende Gott: Gott verlässt Menschen nicht, auch wenn sie meinen, verlassen zu sein von Gott.

11.

Welche kritische Bedeutung hat die Tradition für den Glauben?

TRADITION ist, was sich in Jahrhunderten bewährt hat, ihre Weisheit ist dem Einzelnen überlegen. Keiner muss von vorne beginnen. Tradition verarbeitet Erfahrungen von Irrtum und Gewalt.

KREUZZÜGE waren ein Irrweg. Aber Franz von Assisi wollte Frieden mit den Moslems und der Natur.8

HEXENVERBRENNUNGEN waren Verbrechen. Aber der Jesuit Friedrich Spee deckte das Unrecht auf, um es für immer zu überwinden.9

SKLAVEREI war Unmenschlichkeit. Aber der evangelikale Protestant William Wilberforce setzte Gesetze gegen den Sklavenhandel im englischen Parlament durch.10

KOLONIALISIERUNG war Unrecht. Aber der protestantische Theologe Albert Schweitzer ging in den Urwald, um zu helfen und zu heilen.11

ANTISEMITISMUS ist Sünde. Aber der bulgarische Bischof Kiril von Plovdiv rettete Juden vor dem Holocaust, indem er drohte, sich vor die Deportationszüge auf die Gleise zu legen.12

RASSISMUS ist Schuld. Aber der Baptistenprediger Martin Luther King13 träumte seinen Traum von Gleichheit, den viele über seine Ermordung hinaus weitergeträumt haben.

SEXISMUS ist Schande. Aber es gab den alten Mönch, den ich in einem spanischen Kloster traf, der Lehrverbot hatte, weil er meinte, Frauen können Priester werden.

Jedes Leid schreit nach einem Exodus und einem Sinai mit Geboten, die Leben ermöglichen.

Jedes Unrecht verlangt nach Zeugen, die sich ihm widersetzten.

Jede Unmenschlichkeit soll eine Passionsgeschichte werden – mit einem Kreuz, das Unrecht anprangert, und einer Auferstehung, die den Opfern ihre Würde zurückgibt.

12.

Welche positive Bedeutung hat die Tradition für den Glauben?

Die Weisheit der Tradition ist größer als die Weisheit des Einzelnen. Wer sich ihr anvertraut, schaut nicht nur zurück. Er findet Motive zur Erneuerung, selbst wenn sie mit Irrtum und Schuld vermischt sind.

Der Glaube entdeckte in der Antike den Gott der Philosophen. AUGUSTINUS14 enthüllte in den Tiefen des Ichs den Willen als Zentrum des Menschen: Der Glaube wird allein durch Gott gewirkt, nicht durch menschlichen Zwang. Dennoch bejahte Augustinus Gewalt gegen Donatisten. Er hinterließ uns die Verpflichtung, Gott ohne Zwang zu denken und die Selbsterforschung des Menschen weiter zu vertiefen.

THOMAS VON AQUIN15 baute in der Scholastik aus philosophischer Weltkenntnis ein großes Gebäude: Glaube basiert auf natürlicher Vernunft und geht über sie hinaus, ohne sie zu verleugnen. Zustimmung zum Glauben ist freiwillig. Dennoch bejahte er die Hinrichtung von Häretikern. Er hinterließ uns die Verpflichtung, den Glauben durch Einsicht zu verstehen.

Der Glaube erneuerte sich im Mittelalter in Armutsbewegungen und Experimenten eines neuen Lebens unter Mönchen. FRANZ VON ASSISI entwarf ein Leben für den Frieden.Andere Orden widmeten sich der Inquisition. Noch immer suchen Christen nach Formen des Lebens, die Mensch und Mitmensch versöhnen.

Der Glaube rebellierte in der Reformation gegen die Autorität der Kirche: Gott will nicht durch Angst regieren, sondern Menschen von ihr befreien. MARTIN LUTHER16 begründete die Freiheit eines Christenmenschen. Aber sein Werben um Juden schlug um in Hass gegen sie. Christen suchen noch immer nach einer Religion ohne Angst. Angstfrei müssen aber vor allem die anderen Glauben und Unglauben leben können.

Der Glaube wurde in der Neuzeit im Pietismus zur persönlichen Frömmigkeit. Die Bekehrung gab einfachen Menschen unendlichen Wert. GERHARD TERSTEEGEN17 entdeckte in den Stillen im Lande kleine Könige. NIKOLAUS VON ZINZENDORF18 teilte der Brüdergemeinde sein aristokratisches Lebensgefühl mit, aber irritierte schwäbische Pietisten durch schwärmerische Frömmigkeit. Noch immer suchen Christen nach einer überzeugenden praxis pietatis.

Der Glaube wurde in der modernen Zeit neu begründet – unabhängig vom wechselnden und wachsenden Wissen: FRIEDRICH SCHLEIERMACHER19 entdeckte die Autonomie religiöser Erfahrung, KARL BARTH20 die Autonomie Gottes in seinem Wort, RUDOLF BULTMANN21 die Unabhängigkeit der Botschaft von mythischen Vorstellungen. Noch immer suchen Christen nach einem archimedischen Punkt für Leben und Denken.

Tradition enthält Neuanfänge und Reformen. Wer nach vorne schauen will, darf ihr vertrauen.

13.

Warum ist es vernünftig, der Tradition zu vertrauen?

Unsere Augen sind eine Anpassung unseres Organismus an das Sonnenlicht. Wir konnten mit ihnen sehen, bevor wir sie als Anpassung erklären konnten. So ist auch die Religion eine Anpassung unseres Geistes an das Geheimnis der Wirklichkeit, die wir erst nachträglich verstehen.

Was in unserem Organismus gelungene Anpassung ist, hat vom Scheitern vieler Kreaturen profitiert. Der Affe mit schlechten Augen verfehlte beim Sprung den Ast und schied als Vorfahre aus. Fortschritt basiert auf Selektion, Selektion auf Leiden, Leiden geschieht für uns und an unserer Stelle.

Ähnlich gilt für Geschichte und Religion: Alles, was sich bewährt, basiert auf stellvertretendem Leiden. Alles, was uns als Tradition erreicht, ist durch Leiden erprobt. Auch das ist eine Weisheit der Bibel, die wir intuitiv erfassen, ehe wir sie ganz verstehen: Wir schulden dem Leiden der anderen mehr, als uns lieb ist.

14.

Welche Bedeutung hat die Erfahrung für den Glauben?22

Nichts gilt, weil es schon immer gegolten hat. Bibel und Tradition überzeugen nicht durch Autorität noch durch den Anspruch, anderen sei Offenbarung widerfahren. Nur eigene Erfahrung gibt Gewissheit vom Geheimnis des Seins:

Wir sind eingesperrt in die GRENZEN UNSERER LEBENSWELT wie jedes Lebewesen. Doch wissen wir um unsere Grenzen. Wir hören von draußen einen Ruf. Er verpflichtet zur Wahrheit, fordert das Gute, weckt Sehnsucht nach einer Schönheit, die nicht in der Welt erfüllt werden kann. Wir folgen dem Ruf, scheitern an Grenzen. Doch manchmal bricht eine andere Wirklichkeit durch diese Grenzen hindurch: Jeden Tag meldet sie sich im Staunen über die Existenz der Welt.

STAUNEN ÜBER DIE EXISTENZ DER WELT ist keine Theorie über ihre Entstehung, ob sie vor 4.000 Jahren entstand oder vor Milliarden von Jahren. Darüber kann man streiten, nicht aber über das Wunder, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Es schließt uns zusammen mit allen Dingen, von den Galaxien bis zu den kleinsten Teilchen. Es durchzieht alles wie Musik und bringt uns zum Klingen. Ihr Echo in uns ist unser Ja zum Leben.

ERFAHRUNG VON SINN zeigt sich in allem, was Grund ist, das Leben zu bejahen. Die Welt ist eine unbekannte Insel. Wenn wir Steinhaufen treffen, die kein Zufall zusammengetragen hat, wenn wir Wege entdecken, die weder Wind noch Wasser gebahnt haben, dann wird die Gewissheit wach: Das alles hat Bedeutung. Religion ist Zeichensensibilität. Überall entdeckt sie möglichen Sinn und verwandelt ihn in Verpflichtung für das Gewissen.

ERFAHRUNGEN DES GEWISSENS konfrontieren uns mit Forderungen: Alle Dinge könnten nicht und anders sein. Wir könnten anders handeln. Deswegen legen wir ständig über unser Tun und Lassen Rechenschaft ab vor uns selbst, vor anderen und vor einem Tribunal, dessen Urteil bleibt, wenn wir und die anderen nicht mehr existieren. Was verwerflich ist, bleibt ewig verwerflich, was gut ist, für alle Zeit gut.

Erfahrung macht unabhängig von Autorität. Sie gibt allen die gleiche Chance, Wahrheit zu erkennen. Sie begründet die Religion des Neuen Bunds, in der niemand den andern belehrt.23 Erfahrung ermöglicht Demokratie auch in der Religion.

15.

Wie kann man Gott erfahren?

Erfahrung ist Kontakt mit der Wirklichkeit. Wir spüren sie als Widerstand. Aber während in aller Erfahrung ihr Ursprung erkennbar ist, entzieht er sich in der Religion. Paulus sagt deshalb von Gott: »Sein unsichtbares Wesen wird aus seinen Werken gesehen.«24 Sichtbar ist nur, dass er unsichtbar ist.

Wenn ein zweidimensionales Wesen, das in alle Richtungen der Fläche schauen kann, senkrecht vom Licht getroffen wird, spürt es das Licht, kann aber die Quelle nicht sehen. So ist auch religiöse Erfahrung: Gott ist präsent und doch abwesend. Er ist abwesende Präsenz.25

Wer nur das präsente Licht erkennt, verendlicht Gott. Wer die abwesende Quelle bestreitet, leugnet Gott. Wer sich beidem öffnet, begegnet Gott.

16.

Welche Formen religiöser Erfahrung gibt es?

Religiöse Erfahrung ist subjektiv erlebte Offenbarung, Offenbarung ihr objektiver Gehalt. Gott zeigt sich in vielen Formen.

Religiöse Erfahrung ist GEDEUTETE WAHRNEHMUNG: Nicht nur die Sonne »lacht« uns an, die ganze Wirklichkeit wird zur Person. Wir nehmen ein Rollenspiel mit ihr auf.26 Jahreszeiten sind seine Szenen und Akte: Gott offenbart sich im Frühling als Impressionist, streut Blüten auf die Wiesen. Im Sommer verwandelt er Wacholder in lodernde Luft, im Herbst sprüht er Farben in die Wälder, im Winter verhüllt Traurigkeit das Licht. Unsichtbares durchstrahlt das Sichtbare aus einer anderen Dimension.

Manchmal zerreißt der Schleier, das Jenseits bricht durch Risse herein in Erlebnissen von Todesnähe. Die Stunde schlägt. IN AUSSERNORMALEN ERFAHRUNGEN greift Fremdes nach uns. Propheten werden berufen, Menschen werden bekehrt. Jünger haben Ostervisionen.

Gott begegnet in TRANSZENDENTALER ERFAHRUNG. »In seinem Lichte sehen wir das Licht.«27 Vorausgesetzt ist in jeder Erfahrung die Existenz der Dinge. Vorausgesetzt ist in jeder Erfahrung unsere eigene Existenz. Alles könnte auch nicht sein. Das Nichts sendet keine sinnlichen Signale, und ist doch präsent in jeder Erfahrung mit der Erfahrung.

Am Ende erwacht jenseits der Sinne MYSTISCHE ERFAHRUNG. Wer loslässt von der Welt und jede Unterscheidung hinter sich lässt von hier und dort, früh und später, Ich und Nicht-Ich, erfährt die Ewigkeit in einem Augenblick jenseits von Raum und Zeit.

17.

Kann etwas Erfahrung sein, was alle Erfahrung überschreitet?

Das Staunen, dass etwas existiert, umfasst alle Dinge: auch die fernsten Galaxien und kleinsten Teilchen, alles Vergangene und Zukünftige. Von all dem kann keiner direkte Erfahrung haben! Wir können von den fernsten Galaxien und kleinsten Teilchen keine Information verarbeiten. Dennoch umfasst unser Staunen alles. Es ist total.

Wir erleben nicht die Totalität der Dinge, nur die Totalität unseres Wissens um sie. Wenn wir bewusstlos werden, verschwindet alles für uns. Wenn wir sterben, wird uns alles entzogen. Wenn wir erwachen, ist dieganze Welt neu da. Abend- und Morgengebet begleiten den Unter- und Aufgang der Welt. An dieser Schwelle wohnt der Glaube: Religiöse Erfahrung ist Erfahrung mit der Erfahrung. In ihr werden die Bedingungen aller Erfahrung erschüttert und erneuert.

Ein winziger Teil der Welt wird Anlass, das Ganze neu zu erleben. Ein Sonnenaufgang bringt uns dazu, Gott für alles zu danken. Eine kleine Traurigkeit wird zum Anlass, an allem zu verzweifeln. Religiöse Erfahrung entzündet sich an Teilen, als seien sie alles, und antwortet auf das Ganze, als seien wir einzeln gemeint: Du musst dein Leben ändern!

18.

Welche Bedeutung hat die Sprache für die religiöse Erfahrung?28

Überall sind Spuren Gottes spürbar. Ihr Ursprung entzieht sich. Unsere Sprache benennt ihn mit Bildern. Wir könnten sonst religiöse Erfahrung nicht mitteilen.

Das Bild vom verborgenen Gott macht die Grenze zwischen Mensch und Gott bewusst.

Das Bild von Gott dem Schöpfer weist auf das Wunder des Seins.

Das Bild von Gottes Werken öffnet den Blick für die Fülle des Sinns.

Das Bild von Gott als Gesetzgeber und Richter ruft Imperative auf, die wir uns nicht selber geben: »Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen!«29

Sprachliche Bilder machen religiöse Erfahrungen zur Begegnung mit »Gott«. Sie öffnen die Augen für etwas, das wir ohne ihre Hilfe nicht sehen.

Jesus sprach von Gott in Bildern und Gleichnissen. Er wurde das Bild, in dem der Unsichtbare sichtbar wurde. Er öffnet die Augen, um IHN zu erkennen.

19.

Welche Bedeutung hat die Vernunft für den Glauben?

Nur Vernunft kann die verborgene Weisheit in Bibel und Tradition aufspüren. Nur Vernunft kann Irrwege und Verbrechen der Religion erkennen und kritisieren. Nur Vernunft kann den Glauben so interpretieren, dass er respektiert wird von denen, die ihn nicht teilen.

Doch was ist Vernunft? Alles, was Vernunft ausmacht, haben wir bei Primaten entdeckt: Selbstbewusstsein und Sprache, Tradition und Werkzeuge, Hilfeleistung und eine rudimentäre Moral.

Dennoch ist der Mensch der erste Freigelassene der Schöpfung: Nur ihm ist bewusst, dass er Bewusstsein hat. Nur er spricht, um sprechen zu können. Nur er erfindet Werkzeuge, um Werkzeuge zu machen. Nur er erfindet Traditionen, um Traditionen zu sichern. Nur er setzt Normen, um Normen Geltung zu verschaffen.

Nur er kennt religiöse Erfahrung als Erfahrung mit der Erfahrung, in der auch die Voraussetzungen der Vernunft erschüttert werden.

Das Programm, Religion im Rahmen der Vernunft zu entwerfen, entzaubert ihre mythische Poesie und endet in Vernunft ohne Religion. Das Programm, Vernunft in der Religion aufzuspüren, enthüllt ihre verborgene Weisheit und lässt den Frieden Gottes ahnen, der höher ist als alle Vernunft.30 Doch haben Religion und Vernunft gemeinsam: Anfechtungen der Vernunft sind wie Anfechtungen des Glaubens. Beide werden durch die Welt gekreuzigt und begraben und hoffen dennoch immer wieder auf Auferstehung zur Überwindung der Welt.

20.

Scheitert unsere Vernunft bei der Frage nach Gott?

Vernunft fragt nicht nur nach Ursachen, sondern nach der Ursache hinter den Ursachen, nach einem Grund hinter den Gründen. Immer stranden wir in drei Möglichkeiten:31

Wir brechen willkürlich ab, wir drehen uns im Kreis, wir verlaufen uns im Unendlichen. Hinter jedem Grund taucht ein weiterer Grund auf, hinter jeder Ursache eine weitere Ursache. Vernunft als Fähigkeit, sich auf sich selbst zu beziehen, kann nicht anders, als so zu verfahren. Sie scheitert.

Doch das Scheitern der Gedanken lässt Gott erahnen. Würden wir auf einen letzten Grund stoßen, der Grund dafür ist, dass es überhaupt Gründe gibt, wäre der Abbruch des Fragens nicht Willkür. Wir wären angelangt bei Gott.

Durchliefen wir eine unendliche Kette von Gründen, so ahnten wir: Für den, der Grund aller Gründe ist, wäre es gleichgültig, ob die Kette endlich oder unendlich ist. Er könnte in einem Augenblick erfassen, was wir nacheinander denken müssen. Wir wären angelangt bei Gott.

Bewegen wir uns in einem Zirkel von Gründen, so wäre der Zirkel vollkommen, wenn er alle Dinge umfasste. Alles wäre mit allem verbunden und sinnvoll wie ein Kunstwerk. Wir wären angelangt bei Gott.

Unsere Vernunft kann den Glauben nicht begründen, wohl aber zeigen: Gott ist denkbar im Scheitern des Denkens.

Unser Denken kann keine angemessene Sprache für ihn entwerfen, wohl aber zeigen: Biblische Bilder geben zu denken von ihm.32

Erst religiöse Erfahrung macht den Glauben zur Notwendigkeit – nicht als Frage nach dem Grund des Grundes, sondern als Frage Gottes an uns: Wo bist du, Adam? Hast du vergessen, dass du nicht der Grund deines Grundes bist?

21.

Kann Vernunft Glauben und Wissen versöhnen?

Die Antike schuf eine Synthese von PLATONISMUS und Christentum, um Glauben und Denken zu versöhnen: Das Eine jenseits der Vielheit der Dinge ist frei von Materiellem und identisch mit dem einen und einzigen Gott. Seine Gedanken sind Urbilder der Dinge. Alles stammt aus ihm und kehrt in Stufen zu ihm zurück. Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott wird und zur Einheit jenseits der Vielheit zurückkehrt. Religiöse Philosophie entdeckte den GEIST.

Das Mittelalter entwarf eine Synthese von THOMISMUS und Christentum: Gott wirkt in der Welt durch Formen, die lebend sich entwickeln. Über natürliche Tugenden hinaus entwickelt sich der Mensch durch Glaube, Liebe und Hoffnung hin zu Gott. Gott hat sich in dieser Welt inkarniert, um Menschen Gnadenkraft zu geben, ihr Ziel zu erreichen.Religiöse Philosophie entdeckte die WELT.

Die Neuzeit schuf eine Synthese aus IDEALISMUS und Christentum: Gott entfremdet sich in die Welt hinein. Unbewusst lebt er in der Materie, träumt in Pflanze und Tier, erkennt sich selbst im Menschen als Anschauung in der Kunst, als Vorstellung in der Religion, als Begriff in der Philosophie. Menschlicher Geist erkennt als Ziel der Geschichte die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus. Religiöse Philosophie entdeckte die GESCHICHTE.

Die »großen Erzählungen« sind ausgestorben. Sie erzählten von der Universalgeschichte als Selbstentfaltung des Geistes, als Verwirklichung klassenloser Gesellschaft, als Wiederkehr des Paradieses. Nur die Erzählung von der EVOLUTION überlebte.33

Sie gibt der Geschichte keinen Sinn, aber erklärt, wie Lebewesen entstanden, die nach Sinn suchen. Durch Zufall und Notwendigkeit hat sich alles den Grundbedingungen der Wirklichkeit angepasst. Auf dem Weg vom Wasserstoff zum Großhirn kam es mehrfach zur Evolution der Evolution:

LEBEN suspendierte das Entropieprinzip und führte zur Entwicklung komplexer Organismen durch Mutation und Selektion.

MORAL suspendierte das Selektionsprinzip und gab den Schwachen und Bedrohten eine Chance zum Leben in humanen Gesellschaften.

GNADE suspendiert das Moralprinzip und gibt moralisch gescheiterten Menschen einen unendlichen Wert.

Doch die »kleinen Erzählungen« der Bibel verlieren nicht ihren Glanz: der Exodus als Befreiung aus Sklaverei, der Neue Bund als Utopie einer autonomen Moral, Friede durch Gewaltverzicht, Brot, das für alle reicht, das Kreuz als Protest gegen das Leid. Auch ohne »große Erzählung« ergreifen diese Bilder: Sie offenbaren im Kleinen wahres Leben, moralische Forderungen und Gnade jenseits der Moral. Dennoch braucht unser Denken einen Rahmen, um alles einzuordnen in das veränderliche Wissen von unserer Welt. Dieser Rahmen ist heute die Evolution.

1 Diese vier Quellen sind das Viereck (»Quadrilateral«) des Methodismus, das sachlich auf John Wesley (1703-1791) zurückgeht.

2 Gen 1,1-2,4a. Der zweite Schöpfungsbericht ist Gen 2,4b-25.

3 Pred 5,19. Vgl. Pred 3,11.

4 Ps 43,4.

5 Hier wirkt die heilsgeschichtliche Theologie von Oscar Cullmann (1902-1999) weiter, die ich als theologische Dichtung attraktiv fand, weil sie alle Menschen im Blick hat – auch alle Menschen der außereuropäischen Geschichte.

6 Mt 17,20 / Lk 17,6.

7 1 Joh 4,16.

8 Franz von Assisi (1181/82-1226), Begründer des Franziskanerordens, schickte einige seiner Brüder in islamisches Gebiet mit der Auflage, keinen Streit zu suchen. Dennoch wurden sie hingerichtet. Er selbst reiste mit dem Kreuzzug von Damiette im Jahre 1219 bis Palästina und traf in Ägypten den Sultan Al-Kamil. Wahrscheinlich hat er sich dabei auch um Frieden bemüht. Sein Wirken kontrastiert mit dem der Kreuzfahrer.

9 Friedrich Spee (1591-1635) war zur Überzeugung gekommen, dass Hexen unschuldig sind und ihre unter Folter erzwungenen Geständnisse falsch. Nur anonym konnte er seine 1631 erschienene »Cautio Criminalis« gegen den Hexenwahn veröffentlichen.

10 William Wilberforce (1759-1833) gelang es, nachdem er 18 Jahre lang fast jedes Jahr im Unterhaus einen Gesetzesantrag gegen den Sklavenhandel eingebracht hatte, im Jahr 1807 nach 10stündiger Debatte das Gesetz durchzubringen. Danach setzte er sich weiter für die Abschaffung der Sklaverei überhaupt ein, die erst in seinem Todesjahr verboten wurde.

11 Albert Schweitzer (1875-1965), Theologe, Organist und Arzt, übernahm 1913 die Leitung eines Hospitals in Lambarene in Zentralafrika.

12 Kiril war seit 1938 Metropolit von Plovdiv und wurde 1953 zum Patriarchen von Bulgarien gewählt. Er starb 1971. Sein Widerstand gegen die Judenvernichtung ist singulär.

13 Martin Luther King (1929-1968) war Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.

14 Augustinus (354-430), zuletzt Bischof in Hippo in Nordafrika, ist der bedeutendste lateinische Kirchenvater.

15 Der Italiener Thomas von Aquin (ca. 1224-1274) war der bedeutendste Philosoph des Hochmittelalters, lehrte in Köln und vor allem in Paris.

16 Martin Luther (1483-1546) schrieb mit »Von der Freiheit eines Christenmenschen« eine faszinierende christliche Schrift und warb in seiner Schrift »Dass Jesus ein geborner Jude sei« (1523) für Verständnis für Juden und um Juden. Im Alter aber schlug seine Zuwendung um in Judenhass. Er schrieb unverantwortliche Bücher wie »Von den Juden und ihren Lügen« (1543), in denen er die Fürsten zur Vertreibung von Juden aufforderte.

17 Gerhard Tersteegen (1697-1769), niederrheinischer Pietist und Mystiker. Seine Anhänger nannten sich nach Ps 35,20 die »Stillen im Lande«, weil sie sich ebenso wie diese von ihren Gegnern verleumdet sahen.

18 Nikolaus von Zinzendorf (1700-1760) gründete mit Auswanderern der Böhmischen Brüder Herrnhut als ein Zentrum des Pietismus und der Herrnhuter Brüder. Seine Blut- und Wundenfrömmigkeit galt aber schon immer als etwas exzentrisch.

19 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) begründete in seinen Reden »Über die Religion« (1799) die Religion eigenständig im Gefühl unabhängig von Metaphysik und Moral.

20 Karl Barth (1886-1968) begründete den Glauben in einer Offenbarung ebenfalls unabhängig von Metaphysik und Moral, verstand sich aber als Antipode von Schleiermacher, der vom Menschen her die Religion »von unten« versteht und den Glauben »nicht von oben« allein von Gott her begründet.

21 Rudolf Bultmann (1884-1976) veröffentlichte auf dem Höhepunkt der Macht Hitlers sein Programm einer Entmythologisierung des Neuen Testaments (1941) – m.E. auch als Widerspruch zum Nationalsozialismus, der das Christentum für völlig überholt betrachtete und die theologischen Fakultäten schließen wollte.

22 Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) sprach von drei evidenten religiösen Grunderfahrungen: Das Staunen, dass etwas existiert, ein unbedingtes Sicherheitsgefühl und ein Schuldbewusstsein. Das Schuldbewusstsein wird im Folgenden »Gewissenserfahrung« genannt, »Sinnerfahrungen« werden als vierte Grunderfahrung hinzugefügt.

23 Vgl. Jer 31,33-34.

24 Röm 1,20.

25 Vgl. W. Leidhold, Gottes Gegenwart. Zur Logik religiöser Erfahrung, Darmstadt 2008.

26 Vgl. Hj. Sundén, Gott erfahren. Das Rollenangebot der Religionen, Gütersloh 1975.

27 Ps 36,10. Das Psalmwort meint ursprünglich schlicht: Wir leben im Licht Gottes, wurde aber in seiner Wirkungsgeschichte so gedeutet, dass wir im Lichte Gottes die Welt erkennen.

28 Vgl. die Sprachhermeneutik von Gerhard Ebeling (1912-2001), deren Grundgedanken mir wichtig sind.

29 Ex 20,13-14.

30 Phil 4,7.

31 So das Münchhausen Trilemma des Philosophen Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968. Dieses Trilemma findet sich schon bei dem Religionsphilosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843), der daraus nicht die religionskritischen Konsequenzen von Hans Albert zieht. Fries unterscheidet drei Formen, in denen die Wirklichkeit zugänglich wird: Das Wissen bezieht sich auf sinnliche Erscheinung, Ahnung auf Übersinnliches im Sinnlichen, das Ding an sich aber ist nur im Glauben als Gefühl gegeben.

32 So P. Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg / München 1971, 395-406: »Das Symbol gibt zu denken.«

33 Mein Versuch, den christlichen Glauben evolutionär zu deuten, ist durch die universalgeschichtliche Hermeneutik von Wolfhart Pannenberg (1928-2014) inspiriert, die allerdings auf die Geschichte der Natur ausgeweitet wird. Beeinflusst hat mich ferner der amerikanische Physiker und Theologe Ralph Wendell Burrhoe, Toward a Scientific Theology, Belfast u.a. 1981, auch wenn ich dessen Gedanken manchmal direkt widerspreche: Gott ist nicht Selektion, er verbirgt sich in ihr als deus absconditus.

I. Meditationen über Gott

Wer ist Gott?

22.

Was ist Gott?

Das Leben ist eine Hypothese, um Grundbedingungen des Seins zu entsprechen.Von elementaren Prozessen bis zu komplexen Neuronen muss sich ihnen alles anpassen. Unbewusst vollzieht sich in uns dieser Prozess mit allen Nerven und Organen, mit Denken, Handeln und Fühlen.

Nur wir haben die Chance, diesen Prozess bewusst zu machen. Nur uns erscheint, woran sich alles anpassen muss, als letztgültige Wirklichkeit. Nur wir begreifen, dass unsere Gedanken über sie Teil eines unendlichen Prozesses sind, um sie zu erfassen.

Aber erst wenn die letztgültige Wirklichkeit uns als Ruf entgegentritt und unser Leben zur Antwort wird, verwandelt sie sich in »Gott«. Erst dann erkennen wir: Die Wirklichkeit ist nur eine Hypothese, um Gott zu entsprechen.

23.

Wer ist Gott?1

Philosophen definieren Gott durch Eigenschaften: Er ist der eine und einzige Gott. Er ist zeitlos und ewig. Er ist raum- und körperlos. Er ist Person. Er ist vollkommen. Er hat die Welt geschaffen. Er lenkt die Welt.

Wenn man in der Welt nach einem Gegenstand mit diesen Eigenschaften sucht, wird man ihn nicht finden. Gott ist kein Gegenstand der Welt, sondern Bedingung dafür, dass die Welt existiert.

Bilden wir zwei Mengen, eine Menge aus allem, was existiert, eine andere aus allem, was nicht existiert, – dann gehört Gott nicht zur Menge der Dinge, die existieren wie Berge, Zahlen, Zahnschmerzen, Menschen und Tiere.

Auch können wir ihn nicht zur Menge nicht existierender Dinge rechnen wie den ›vergesslichen Schrank‹ oder das ›runde Viereck‹.

Gott ist kein Ding, das wir in Kästen einordnen können. Vielleicht ist er dem Kasten vergleichbar, in den wir alles Seiende einordnen. Noch angemessener ist die Vorstellung, dass er außerhalb aller Kästen steht: Er entscheidet, was existiert.

24.

Warum ist Gott der eine und einzige Gott?

Das Wunder, dass etwas existiert, ist überall dasselbe Wunder. Es ist nicht anders in fernen Planeten und kleinsten Molekülen. Das Geheimnis des Seins ist durchgehend eins. Gott ist der eine Gott.

Die ganze Wirklichkeit ist eine Singularität. Selbst wenn mehrere Welten nebeneinander existierten, wäre ihre Koexistenz singulär. Selbst wenn viele Welten nacheinander existierten, wäre ihre Folge singulär. Das Geheimnis des Seins ist singulär. Gott ist der einzige Gott.

Viele Götter wären Teile der Welt. Gott ist nichts in der Welt, er ist der Grund aller Dinge und ihrer Singularität; darum ist er der eine und einzige Gott.

25.

Ist Gott ewig?

Gott hat die Zeit geschaffen. Unsere Gedanken stranden, wenn wir nach dem Anfang aller Anfänge fragen. Wir fragen: Was war vorher? Doch wenn Gott den Anfang geschaffen hat, gab es vorher weder ein Vorher, noch gab es ein Nachher.

Gott hat die Zeit geschaffen. Vorher und Nachher hören auf, wenn alles zu Ende geht. Alles ist dann zugleich, sofern es Sinn macht, jenseits der Zeit von Gleichzeitigkeit zu reden.

Wer die Zeit geschaffen hat, kann nicht in die Zeit eingeordnet werden. Jenseits der Zeit ist Gott der Grund aller Zeit. Alle Zeit steht in seinen Händen.2

26.

Wo ist Gott?

Gott ist weder Körper noch bewegt er sich im Raum. Trotzdem lokalisieren wir ihn.

Einige denken: Gott ist das Zentrum der Wirklichkeit. Alles ist für ihn gleich nah und gleich fern. Gott ist, was die Welt im Innersten zusammen hält.

Andere denken: Gott ist das höchste Gut, die oberste Instanz oder der Gedanke, über den hinaus nichts Höheres gedacht werden kann. Gott ist der Gipfel des Seins in einer Pyramide, die nach oben strebt.

Manche denken: Gott ist die Tiefe, ist Grund und Abgrund des Seins. Er ist das Fundament. Ohne ihn ist alles auf Sand gebaut.

Doch der den Raum geschaffen hat, hat im Raum keinen Ort. Ohne ihn gäbe es kein Oben, kein Unten und keine Mitte.

Ein berühmter Weiser wurde als Kind von einem Rabbi gefragt: ›Wenn du mir sagst, wo Gott ist, dann gebe ich dir einen Gulden.‹ Er aber antwortete: ›Und wenn du mir sagst, wo er nicht ist, dann gebe ich dir zwei Gulden.‹3

27.

Ist Gott Person?

Haben wir Gott nach unserem Bilde als Person geschaffen? Oder schuf er den Menschen nach seinem Bilde? In einigen Religionen ist Gott ein unpersönliches Wesen, in anderen eine Person wie wir.

Unbestreitbar ist: Gleiches wird durch Gleiches angezogen. Verstehen zwischen Menschen, solidarisches Handeln, erotische Faszination, alle Formen von Liebe erkennen im anderen Menschen das menschliche Antlitz: Sein Schmerz ist unser Schmerz, seine Freude unsere Freude. Sein Leben findet Resonanz in unserem Leben. Spiegelneuronen sind Spuren davon im Gehirn.

Haben wir solch eine Verwandtschaft auch mit dem Universum? Werden beim Staunen über die Ordnung der Natur »Spiegelneuronen« des Geistes aktiviert? Die Wissenschaft offenbart eine Welt voll Symmetrien und Feinabstimmungen. Das periodische System der Elemente ist ein Kunstwerk, das Ökosystem des Lebens ein unwahrscheinliches Gewebe. Schon die einfache Wiederkehr des Morgens, das Erwachen des Lebens im Frühling, machen diesen Kosmos zur Heimat.

Hinter dieser Ordnung steckt keine Person wie wir, aber etwas Verwandtes. Es lässt sich deuten, als spiegele sich in ihr eine Person. Zugrunde liegt unbestreitbar Erfahrung von Resonanz.

Resonanz setzt zwei Pole voraus. Die Bewegung kann von beiden Polen ausgehen. Zunächst ist es der Mensch, der die Welt mit seiner Bewegung ›auflädt‹, sodass es scheint, als begegne er in allem sich selbst. Manchmal aber übernimmt die Wirklichkeit die aktive Rolle und macht den Menschen zu ihrem Echo, sodass er ausruft: Hier ist heiliger Boden! Ich muss mein Leben ändern! Dann ist es so, als höre ein ICH ein ewiges DU.

28.

Ist Gott vollkommen?

Gottes Vollkommenheit besteht nicht darin, dass er die Welt vollkommen geschaffen hat. Seine Vollkommenheit besteht darin, dass er eine Sehnsucht nach Vollkommenheit weckt, die nur durch ihn gestillt wird.

Alles ist Mittel zum Zweck. Nur Gott ist Selbstzweck. Alles ist wertvoll im Blick auf anderes. Nur Gott ist Selbstwert. Alle Fragen nach Sinn stranden im Sinnlosen. Doch seine Gegenwart ist ewige Erfüllung, so wie die Gegenwart der Geliebten für einen Augenblick Ewigkeit ist.

29.

Hat Gott die Welt geschaffen?

Schöpfung ist kein Urknall am Anfang unseres Universums, sondern das Wunder, dass etwas existiert. Es durchzieht alle Welten, alles, was zufällig geschieht, und alles, was Gesetzen folgt. Es erschüttert alles, was Ordnung hat, und alles, was chaotisch ist.

Dieses Wunder erfasst auch uns. Was Menschen mit Notwendigkeit denken, gilt in allen möglichen Welten: Logik und Mathematik, Quantität und Relation, Kausalität und Substanz, Zeit und Raum. Wir sind die Schöpfer einer Welt mit notwendigen Strukturen und haben doch keinen Halt in uns. Wir könnten auch nicht sein.

Dass unsere Gedanken eine Welt schaffen, wir jedoch uns selbst nicht schaffen können, weckt eine Ahnung weit überlegener Gedanken, die auch uns geschaffen haben. Gewiss ist nur: Wir bauen eine Welt und teilen sie mit anderen, ohne in der geschaffenen Welt Schöpfer unsrer selbst zu sein.4

30.

Lenkt Gott die Welt?

Gott bestimmt alle Wirklichkeit. Es gibt kein Staubkorn, das nicht durch ihn existiert, kein Naturgesetz, das nicht sein Gedanke ist, keine Sekunde, die er nicht geschaffen hat. Nichts geschieht ohne ihn. Nichts existiert ohne ihn.

Wenn Gott interveniert, unterbricht er sein eigenes Handeln. Wenn er nicht interveniert, wirkt er trotzdem überall. Zufälle verteilt er so, dass sie die Schöpfung bereichern, Notwendigkeiten so, dass sie den Zufall lenken. Greift er ein, wird es von keiner Messung bemerkt. Keiner kann eine Messung mit gleichem Ergebnis wiederholen, sollte er wirklich auf einen Eingriff Gottes gestoßen sein.

Das Problem liegt bei uns: Wir können Gott nicht erkennen, obwohl er überall da ist. Wir erkennen ihn nicht in sinnlosen Schmerzen, nicht im Dunkel der Depression, nicht in der Zerstreuung des Alltags. Wenn wir um sein Handeln bitten, bitten wir darum, ihn erkennen zu können, der in jedem Geschehen verborgen ist.

Gott kann nicht intervenieren, weil er überall da ist. Gott ist überall, weil er überall interveniert. In manchen Ereignissen lässt er sich leichter finden. Dann sagen wir: Gott hat gehandelt. Er, der überall da ist, ist an einer Stelle sichtbar geworden.

31.

Muss man von Gott in neuen Formeln sprechen?

Viele neue Formeln für Gott haben Theologen und Philosophen ausgedacht.

Gott ist das Geheimnis der Welt.5 Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit.6 Gott ist etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.7 Gott ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält.8 Gott ist der Grund des Seins.9 Gott ist die Tiefe des Seins.10