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Was hat uns Jandl heute noch zu sagen? Sehr persönliche und höchst originelle Annäherungen der Luchterhand-AutorInnen an einen der wichtigsten Dichter deutscher Sprache.
Am 1. August 2025 hätte Ernst Jandl seinen 100. Geburtstag gefeiert. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat er die Lyrik revolutioniert: Seine Laut- und Sprechgedichte verbinden Poesie und Performance, Avantgarde und Populärkultur, sie schwanken zwischen der Liebe zur Sprache und ihrer Zertrümmerung, zwischen anarchischem Witz und existenziellem Ernst. Doch was haben sie uns heute noch zu sagen? Der Luchterhand Literaturverlag, in dem Jandls Werk seit über 50 Jahren beheimatet ist, hat seine deutschsprachigen AutorInnen gebeten, mit einem eigenen Text jeweils auf ihr Lieblingsgedicht aus dem Werk von Ernst Jandl zu reagieren – herausgekommen sind sehr persönliche und höchst originelle Annäherungen an einen der wichtigsten Dichter deutscher Sprache.
Mit Beiträgen von: Martin Becker, Kristine Bilkau, Marica Bodrožić, Melitta Breznik, Marie Gamillscheg, Christian Haller, Kerstin Hensel, Franz Hohler, Norbert Hummelt, Judith Keller, Terézia Mora, Christiane Neudecker, Hanns-Josef Ortheil, Angelika Overath, Christoph Peters, Benjamin Quaderer, Jaroslav Rudiš, Saša Stanišić, Michael Stavarič und Daniel Wisser
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Seitenzahl: 73
Veröffentlichungsjahr: 2025
Am 1. August 2025 hätte Ernst Jandl seinen 100. Geburtstag gefeiert. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat er die Lyrik revolutioniert: Seine Laut- und Sprechgedichte verbinden Poesie und Performance, Avantgarde und Populärkultur, sie schwanken zwischen der Liebe zur Sprache und ihrer Zertrümmerung, zwischen anarchischem Witz und existenziellem Ernst. Doch was haben sie uns heute noch zu sagen? Der Luchterhand Literaturverlag, in dem Jandls Werk seit über 50 Jahren beheimatet ist, hat seine deutschsprachigen AutorInnen gebeten, mit einem eigenen Text jeweils auf ihr Lieblingsgedicht aus dem Werk von Ernst Jandl zu reagieren – herausgekommen sind sehr persönliche und höchst originelle Annäherungen an einen der wichtigsten Dichter deutscher Sprache.
Martin Becker, Kristine Bilkau, Marica Bodrožić, Melitta Breznik, Marie Gamillscheg, Christian Haller, Kerstin Hensel, Franz Hohler, Norbert Hummelt, Judith Keller, Terézia Mora, Christiane Neudecker, Hanns-Josef Ortheil, Angelika Overath, Christoph Peters, Benjamin Quaderer, Jaroslav Rudiš, Saša Stanišić, Michael Stavarič und Daniel Wisser
Lieblingsgedichte, ausgewählt und kommentiert von Luchterhand-AutorInnen
Hrsg. von Christof Bultmann, Regina Kammerer, Martina Klüver und Miriam Spinrath
Luchterhand
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Copyright © 2025 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben | Köln
Umschlagabbildung: © Aleksandra Pawloff
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33234-1V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Vorwort
leben und schreiben
Ausgewählt und kommentiert von Martin Becker
wirklich schön
Ausgewählt und kommentiert von Kristine Bilkau
beschreibung eines gedichtes
Ausgewählt und kommentiert von Marica Bodrožić
da kommen sie gelaufen
Ausgewählt und kommentiert von Melitta Breznik
naturgedicht
Ausgewählt und kommentiert von Marie Gamillscheg
der greis
Ausgewählt und kommentiert von Christian Haller
märchenspur
Ausgewählt und kommentiert von Kerstin Hensel
zweierlei handzeichen
Ausgewählt und kommentiert von Franz Hohler
junger sperling
Ausgewählt und kommentiert von Norbert Hummelt
séance
Ausgewählt und kommentiert von Judith Keller
vogelgott
Ausgewählt und kommentiert von Terézia Mora
lichtung
Ausgewählt und kommentiert von Christiane Neudecker
wenn im theater vater und mutter sind
Ausgewählt und kommentiert von Hanns-Josef Ortheil
Züge der Zeit
Ausgewählt und kommentiert von Angelika Overath
älterndes paar – ein oratorium
Ausgewählt und kommentiert von Christoph Peters
beantwortung von sieben nicht gestellten fragen
Ausgewählt und kommentiert von Benjamin Quaderer
bahnfahrten
Ausgewählt und kommentiert von Jaroslav Rudiš
up and down: ein klaviersolo
Ausgewählt und kommentiert von Saša Stanišić
zertretener mann blues
Ausgewählt und kommentiert von Michael Stavarič
Herz
Ausgewählt und kommentiert von Daniel Wisser
BeiträgerInnen
Gedichtnachweise
das stück, darinich keine rolle spieleist meines.
E.J.
Liebe Leser, Leserinnen, letztendlich:
liebe Lesenden,
dass ottos mops kotzt war für meine Töchter, als sie noch klein waren, das pure Entzücken. Es war der spielerische Beweis dafür, dass Sprache lebt und Ungehöriges raus muss. Da wussten sie noch nichts von »Literatur«, »Lyrik«, »kultureller Provokation« oder »politischer Avantgarde«. Was sie wussten: dass dieser Satz sitzt, und zwar auf so unverschämte Weise, dass man gar nicht genug von ihm kriegen kann. Was sie verstanden: dass man mit Sprache spielen darf und sich die Dinge dadurch verrücken.
Ernst Jandls Mops-Gedicht ist mittlerweile ein Klassiker, in unzähligen Publikations-Varianten erhältlich – und eigentlich wollte ich es in diesem Vorwort nicht erwähnen, natürlich nicht. Zu oft gehört. Zu oft gelesen. Nicht wirklich neu. Und Neues oder besser gesagt: Unbekannteres von Jandl werden Sie auf den nächsten Seiten auf jeden Fall entdecken. Wir bei Luchterhand haben unsere deutschsprachigen Autor:innen nach ihren Jandlschen Lieblingsgedichten gefragt – und danach, was sie damit verbinden. Es kamen sehr persönliche Antworten, die einiges über die Wirkkraft von Ernst Jandls Texten sagen. Um Terézia Mora das Wort zu geben, die sich für das Gedicht »Vogelgott« entschieden hat: »Ich habe es (…) immer mal wieder zitiert, nie mehr auf einer Bühne, immer nur aus einem Gespräch heraus: Freunden und Fremden, Katholiken, Nichtkatholiken und Atheisten, Leuten, die gerade erst Deutsch lernen – und ihre Gesichter leuchten jedes Mal auf.«
So ist das nämlich mit Jandl. Man muss ihn unbedingt ernst nehmen. Man darf ihn lieben. Das gilt auch für jene Gedichte, die inzwischen zum allgemeinen Kulturgut geworden sind. Otto: ogottogott. Das gilt für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Arbeiter, Angestellte oder Schriftstellerinnen.
Lesen Sie, jandeln Sie, immer wieder!
Ihre Regina Kammerer
Ausgewählt und kommentiert von Martin Becker
leben und schreiben
was ich schreibe
ist nicht mein schicksal
was ich schreibe liegt außerhalb
meiner kreatürlichen existenz
mein schicksal kann davon zehren
was ich schreibe
und es kann ebenso
daran zerren
aber keine zeile wird am humbug
meines lebens verrotten
kein werk mein leben krönen
Mit 17 Jahren wurde ich Schriftsteller. Und zwar so: Ich rauchte die erste Zigarette vor meinem Badezimmerspiegel im Souterrain des Reihenhauses, ließ mir beim Kleinstadtfriseur die Haare ratzekurz rasieren, kaufte mir bei C&A in Lüdenscheid einen stark reduzierten Schal mit Karomuster (der nicht auswaschbare Fleck war Ketchup oder Blut), schnitt mit der Küchenschere viele kleine Löcher in den Stoff, hängte mir den Fetzen um den Hals, flanierte durch die Stadt und war ein Künstler.
Ich schrieb in einer Nacht ein Theaterstück, klaute meinem Vater zwanzig Mark aus der Brieftasche, trug das Drama zu einer Druckerei, wo es teuer gebunden wurde, und schickte es an den größten Verlag, der mir einfiel. Als die Absage kam, trank ich meinem Vater eine Kiste Bier weg, zerschlug das Leergut auf dem Tisch in der Galerie einer lokalen Künstlerin und inszenierte die Uraufführung des Stücks ganz allein. Die Leute klatschten eifrig, die Presse kam, ich trug meinen Schal mit Löchern und Ketchupfleck und der Fotograf der Lokalzeitung bat mich, für das Bild zu lächeln, aber das war ausgeschlossen, ich schaute ernst in die Kamera.
Und an den Sonntagen stand ich früh auf und sah Aufzeichnungen von Konzerten Neuer Musik im Fernsehen, und ich wartete auf die Bachmann- und Nobelpreisvergaben und nahm mir den Applaus zu Herzen, der zwar noch den Anderen gehörte, aber bald schon, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, mir ganz allein. Und in der Schule lasen wir Beckett, Kafka und Jandl (es ging um einen lehrer, der wie käse aussieht, und ich beschloss, auch poesie zu schreiben, einen ganzen band, und ich würde meine gedichte aus prinzip auch nur in kleinschreibung verfassen, das verstärkte den eindruck, es ernst zu meinen mit dem schreiben und dem leben), und bald organisierte ich wöchentlich Lesungen in der Kleinstadt, um mein immergleiches Programm vorzutragen (mehr als drei, vier Geschichten hatte ich natürlich nicht) wie ein Tourneetheaterensemble, das zufällig in der Provinz landet.
Und meine Eltern nickten, so gut und so lange sie noch nicken konnten. Und ich war felsenfest davon überzeugt, dass nun, wo ich ein richtiger Künstler war, der ungekrönte König unserer kleinen Stadt, mir und ihnen nichts, rein gar nichts mehr passieren konnte.
Aber das war ein Trugschluss.
Viel später, als es das Reihenhaus samt der verdorbenen Bierkästen und dem löcherigen Schal nicht mehr gab und alle schon unter der Erde waren und meine Haare längst wieder lang, war mir der Humbug peinlich. Dabei hatte ich wirklich nur schreiben wollen, um dem Leben zu entgehen, das um mich herum langsam und garstig am Verrotten war.
Ausgewählt und kommentiert von Kristine Bilkau
wirklich schön
für friederike mayröcker
einfachheit macht das komplizierte schön, who knows
kompliziertheit macht das einfache schön, who knows
einfach kompliziert sein ist vielleicht weniger schön
einfach einfach sein ist vielleicht auch nicht so schön
vielleicht verlangt das komplizierte
nach einer einfachen darstellung, um schön zu sein
so wie vielleicht das einfache, um schön zu sein
nach einer komplizierten darstellung verlangt
jedenfalls haben manche das einfache lieber
als das komplizierte
und andere das komplizierte
lieber als das einfache
wenn dann das einfache das komplizierte ist
haben die die das einfache lieber haben das komplizierte lieber
und wenn das komplizierte das einfache ist
haben die die das komplizierte lieber haben das einfache lieber
so haben vielleicht alle alles gern, aber keinesfalls
sollte einer den anderen wegen seiner vorliebe schelten,
sondern ihn gelten lassen
und sich selber auch, das allein
wäre dann erst wirklich schön.