Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland - Ernst Toller - E-Book

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland E-Book

Ernst Toller

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Beschreibung

Zeitlebens kämpfte Ernst Toller (1893-1939) für die Demokratie, für Freiheit und Selbstbestimmung, gegen Unterdrückung, Faschismus und Entrechtung. So wird er, der Sanfte und Nachdenkliche, im Jahr 1918 in München zu einem der Anführer der Räterepublik. Das basis-sozialistische Experiment scheitert nach wenigen Wochen, von reaktionären und präfaschistischen Freikorpstruppen niedergeknüppelt. Toller verbringt danach fünf Jahre in Festungshaft - literarisch seine produktivste Zeit. In der Haft entstehen seine bedeutendsten Bühnenstücke, die in nicht weniger als 27 Sprachen übertragen werden; und zum Ende der Dekade wird Toller der bekannteste lebende deutsche Dramatiker - bekannter als Carl Sternheim, Georg Kaiser oder Brecht.

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INHALT

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Autors

Erstes Kapitel – Kindheit

Zweites Kapitel – Student in Frankreich

Drittes Kapitel – Kriegsfreiwilliger

Viertes Kapitel – Die Front

Fünftes Kapitel – Ich will den Krieg vergessen

Sechstes Kapitel – Auflehnung

Siebtes Kapitel – Streik

Achtes Kapitel – Militärgefängnis

Neuntes Kapitel – Irrenhaus

Zehntes Kapitel – Revolution

Elftes Kapitel – Bayerische Räterepublik

Zwölftes Kapitel – Flucht und Verhaftung

Dreizehntes Kapitel – Eine Zelle, ein Hof, eine Mauer

Vierzehntes Kapitel – Standgericht

Fünfzehntes Kapitel – Antlitz der Zeit

Sechzehntes Kapitel – Fünf Jahre

Siebzehntes Kapitel – Blick Heute

VORWORT DES HERAUSGEBERS

»DIE ERSTE HITZEWELLE lag auf New York wie ein aufgehender Hefeteig. Die Luft war heiß und schwül, aber nicht so erstickend wie in der Nacht. ET war unruhig. Er ging im Zimmer auf und ab. Dann telefonierte er. Jetzt saß er am Schreibtisch und wühlte in Papieren herum. Schon stand er wieder auf. Ich war im nächsten Zimmer und lag bereits im Bett. Die Tür zwischen den beiden Zimmern stand offen. Noch eine halbe Stunde vorher hatten wir uns unterhalten, ich weiß nicht mehr, worüber. Und jetzt sagte er: ›Ich muss, ich muss, ich muss hin!‹« [Christiane Grautoff (1917–1974), die Lebensgefährtin Ernst Tollers]1

Wo es ihn, Ernst Toller, im Jahre 1937 hinzog, das war Spanien. Das Land wehrte sich gegen die aufkommende Franco-Diktatur, der Bürgerkrieg war in seiner heißesten Phase. Toller wollte dorthin, wollte dabei sein, um die demokratischen und freiheitlichen Kräfte zu unterstützen.

So war es immer: Toller kämpfe für die Demokratie, für Freiheit und Selbstbestimmung, gegen Unterdrückung, Faschismus und Entrechtung. So wurde er, der Sanfte und Nachdenkliche, im Jahr 1918 in München zu einem Anführer der Räterepublik. Das basis-sozialistische Experiment scheiterte nach wenigen Wochen, von reaktionären und präfaschistischen Freikorpstruppen und aus Berlin gerufenen Reichswehrverbänden niedergeschossen und niedergeknüppelt. Toller danach zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt – literarisch war es seine produktivste Zeit. Es entstanden Bühnenstücke, die in Berlin bald zu den meistgespielten der Weimarer Zeit werden sollten.

*

ERNST TOLLER wird am 1. Dezember 1893 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Samotschin in der damaligen preußischen Provinz Posen, heutiges Polen, geboren. Das Realgymnasium besucht er in Bromberg, heute Bydgoszcz. Später schreibt er darüber, dass die erzkonservativen Lehrer den Schülern zuallererst nationalistische und antidemokratische Wertvorstellungen einzutrichtern versuchten. Hauptanliegen der Schule sei es gewesen, die Schüler zum Militarismus zu erziehen. Tollers Widerstand regt sich, und er spielt schon jetzt mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen.

Bei Anbruch des Ersten Weltkrieges, Toller ist 20 Jahre alt, lässt er sich dennoch, wie viele Intellektuelle vom typischen ›Hurra-Patriotismus‹ anstecken und zieht als braver Soldat in die Schlacht. Er meldet sich freiwillig zum Fronteinsatz, kämpft bei Verdun, wird für seine Tapferkeit ausgezeichnet und bis zum Unteroffizier befördert. Gegen Kriegsende kollabiert er, psychisch und physisch. 1917 schreibt man ihn kampfunfähig, und er erhält die Erlaubnis, in München das Studium aufzunehmen. In blindem Patriotismus in den Ersten Weltkrieg gezogen, kommt er nun als Pazifist aus den Schützengräben zurück.

Toller beginnt Jura und Philosophie zu studieren, wird aber schon bald in das intellektuelle Netzwerk des Literaturwissenschaftlers Artur Kutscher hineingesogen, zu dem etwa auch Thomas Mann und Rainer Maria Rilke gehören. Regelmäßig beteiligt sich Toller an wöchentlichen Diskussionsrunden einer Gruppe linksorientierter Kriegsgegner im Gasthaus ›Zum goldenen Anker‹ in München, zu denen sich Ende 1917 meist mehr als 100 Personen einfinden. Unter ihnen Kurt Eisner, der die Diskussionsleitung innehat, Felix Fechenbach, Oskar Maria Graf und Erich Mühsam. Im Kreis dieser Freidenker, Revolutionäre, Sozialisten und Demokraten entwickelt sich Toller zu einer der treibenden Kräfte und zum Anführer der Münchner Räterepublik, der im Frühjahr 1919 nur eine kurze Existenz beschieden ist, bis sie von Freikorps- und Reichstruppen blutig niedergeschlagen wird. Die anschließende Festungshaft, zu der ihn das reaktionäre Regime verurteilt, verbringt Toller von 1919 bis 1924 in den bayerischen Gefängnissen Stadelheim, Eichstätt, Neuburg an der Donau, und die meiste Zeit in Niederschönenfeld in der Nähe von Donauwörth.

Das Regime kann ihn einsperren, aber seinen Geist nicht knechten. In der Haft entstehen Tollers bedeutendste Werke, die in Berlin, und bald auf den wichtigsten Bühnen der Welt, aufgeführt werden. In nicht weniger als 27 Sprachen werden in den Zwanziger Jahren Ernst Tollers Texte übertragen, und er wird bis Ende der Dekade der bekannteste lebende deutsche Dramatiker – bekannter als Carl Sternheim, Georg Kaiser oder Brecht.

Hitlers Plan der totalen Kontrolle und Machtübernahme durchschaut Toller früh, und er verlässt das Land rechtzeitig. Die 15-jährige Schauspielerin Christiane Grautoff2, in die er sich verliebt hatte, folgt ihm 1932 in die Schweiz, später nach Paris, London und Kalifornien. 1935, als Grautoff 18 Jahre alt ist, heiraten die beiden. In den USA wird Toller zum meist gehörten und gefeierten Repräsentanten eines anderen, eines humanen Deutschland. Immer wieder warnt und mahnt er vor der Appeasement-Politik der freien Nationen gegenüber Deutschland, erhebt seine Stimme in den Medien, und trifft sogar Präsident Roosevelt im Weißen Haus. Letztlich vergebens: Die westlichen Demokratien lassen sich von Hitler täuschen, vorführen und immer wieder vertrösten – nicht zuletzt weil riesige finanzielle Interessen der Amerikaner in Europa auf dem Spiel stehen. Tollers Appelle an die westlichen Demokratien, die Nichteinmischungspolitik aufzugeben, verhallen – bis es fast zu spät ist.

Auch in Spanien lassen die Demokratien einen Faschisten gewähren und das Volk niedermetzeln. Auch hier warnt Toller, auch hier vergeblich. Als am 19. Mai 1939 der Diktator Franco in Madrid mit einer Parade seinen Sieg feiert, fühlt sich Ernst Toller machtlos wie selten. Seine schon lange schwelenden Depressionen brechen aufs Neue aus. Drei Tage später nimmt er sich in einem Zimmer des Mayflower Hotels am Central Park in New York das Leben.

Ernst Toller gehört zu den großen deutschen Denkern und Freiheitskämpfern, die nicht vergessen werden sollen. Jeder Platz, jede Straße, jede Schule, die in diesem Land nach ihm benannt wird, symbolisiert ein Stück Freiheit, und den Kampf gegen Intoleranz, Demokratiefeindlichkeit und Engstirnigkeit. Am 1. Dezember 2018 jährte sich Ernst Tollers Geburtstag zum 125. Mal.

© Armin Fischer, Redaktion AuraBooks, 2019

1 aus: Die Göttin und ihr Sozialist. Christiane Grautoff – ihr Leben mit Ernst Toller. Biographie von Christiane Grautoff. Herausgegeben von Werner Fuld und Albert Ostermaier, Weidle-Verlag, 1996

2 Christiane Grautoff (1917–1974) lernte den fast vierzigjährigen Ernst Toller im Jahr 1932 kennen. Sie war damals vierzehn Jahre alt und ein Kinderstar auf Berliner Bühnen und beim Film. Bei Max Reinhardt hatte sie an dessen legendärer Sommernachtstraum-Inszenierung mitgewirkt, mit Henry Porten einen Film gedreht und mit Fritz Kortner Theater gespielt. Die blutjunge Grautoff, der vermutlich in Deutschland eine Bilderbuchkarriere offengestanden hätte, verliebt sich in den 24 Jahre älteren Schriftsteller, reist ihm 1932 ins Schweizer Exil hinterher, heiratet ihn 1935 in London und geht dann mit ihm nach Kalifornien. Dort und in New York verbringen sie gemeinsam die letzten drei Jahre bis zu Tollers Selbstmord. Christiane Grautoff wanderte später nach Mexiko aus, gründete eine neue Familie und ist die Großmutter von Christianne Gout, die in der Hauptrolle des Films »Amor & Salsa« (1999) von Joyce Bunuel brillierte.

VORWORT DES AUTORS

BIOGRAPHIEN erreichen selten die Kompliziertheit individuellen Daseins, viele Konturen des ›vollständigen Menschen‹ bleiben unbelichtet, alle Momente müssen, nach einem Wort Karoline von Günderodes, immer den einen bestimmen und begreiflich machen, insbesondere in einem Buch, das wie dieses den öffentlich wirkenden Menschen zeichnet.

Nicht nur meine Jugend ist hier aufgezeichnet, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Viele Wege ging diese Jugend, falschen Göttern folgte sie und falschen Führern, aber stets bemühte sie sich um Klärung und um die Gebote des Geistes.

Nicht Fehler und Schuld, nicht Versagen und Unzulänglichkeit sollten in diesem Buch beschönigt werden, eigene so wenig wie fremde. Um ehrlich zu sein, muss man wissen. Um tapfer zu sein, muss man verstehen. Um gerecht zu sein, darf man nicht vergessen. Wenn das Joch der Barbarei drückt, muss man kämpfen und darf nicht schweigen. Wer in solcher Zeit schweigt, verrät seine menschliche Sendung.

Ernst Toller

Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland

[1933, red.]

ERSTES KAPITEL – KINDHEIT

FRIEDRICH DER GROßE erlaubte meinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden in Samotschin, einer kleinen Stadt im Netzebruch, sich anzusiedeln. Mein Urgroßvater bezahlte eine Summe Geldes, dafür ward ihm der Schutzbrief eingehändigt. Auf diesen Akt war der Urenkel stolz, er sah darin Auszeichnung und adlige Erhöhung und prahlte damit vor den Schulkameraden.

Mein Urgroßvater väterlicherseits, der aus Spanien gekommen sein soll, besaß ein Gut im Westpreußischen. Von diesem Urgroßvater erzählten die Tanten, dass ihm das Essen auf goldenen Schüsseln und Tellern gereicht werden musste und seine Pferde aus silbernen Krippen fraßen. Die Söhne verkupferten erst die Krippen, dann versilberten sie die Schüsseln und Teller. Vom sagenhaften Reichtum des Urgroßvaters träumte der Knabe: Die Pferde fraßen den alten Mann, und er sieht zu, ohne Abscheu und ohne Mitleid, eher mit einem unerklärlichen Gefühl der Befriedigung.

Auf den Dachböden des Hauses verstaubten riesige vergilbte Folianten. Sie hatte der Großvater bei Tag und oft bei Nacht studiert, während die Großmutter im Geschäft stand, die Käufer bediente, Wirtschaft und Küche versah. Dieses Geschäft übernahm mein Vater, nachdem er als Primaner und Apotheker versagt hatte.

Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes und die Polen als geduldet. Deutsche Kolonisten siedelten ringsum in den flachen Dörfern, die wie vorgeschobene Festungen sich zwischen die feindlichen polnischen Bauernhöfe und Güter keilten. Die Deutschen und Polen kämpften zäh um jeden Fußbreit Landes. Ein Deutscher, der einem Polen Land verkaufte, ward als Verräter geächtet.

Wir Kinder sprachen von den Polen als ›Polacken‹ und glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde.

Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, ›gehütet und gepflegt‹. Den Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, dass sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hochleben.

*

Ich bin am ersten Dezember 1893 geboren.

Suche ich nach Kindheitserinnerungen, werden mir diese Episoden bewusst:

Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hofe unseres Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude.«

Ilse lässt meine Hand los und läuft fort. Ich begreife den Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos. Das fremde Mädchen ist längst mit Ilse davongegangen.

Marie spricht auf mich ein, sie nimmt mich auf den Arm, sie zeigt mir die Korallen, ich mag nicht die Korallen, ich zerreiße die Kette.

*

Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die anderen »Polack« schreien, schreie ich auch »Polack«, er ist trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen, ich weiß es von Stanislaus.

Auf dem Marktplatz wird das Pflaster aufgebrochen, Gräben werden geschaufelt. Es ist Feierabend, die Arbeiter haben Spaten und Hacken in einen kleinen Schuppen getan, aus rohen Brettern gezimmert. Sie sind in die Kneipe gegangen, einen heben. Stanislaus und ich sitzen im Graben. Unser Versteck ist ein schmaler Schacht, mit Pfählen verschalt.

Stanislaus zielt und spuckt.

»Heute Nacht wird ein Arbeiter sterben«, sagt Stanislaus, »zur Strafe. Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber lass sie nur graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Im Stall steht sein weißes Pferd, dagegen ist das Pferd vom Herrn Rittmeister ein Ziegenbock. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd, reitet nach oben und verjagt euch. Euch alle. Dich auch.«

Ich möchte Stanislaus fragen, wann es ›soweit‹ ist, Stanislaus weiß mehr als ich, sein Vater ist Nachtwächter, aber die Lippen von Stanislaus pressen sich, und sein Mund wird hart und abweisend.

»Spuck jetzt, einen Murmel als Einsatz!«

Ich spucke und verliere. Nachts träume ich, dass Stanislaus auf dem Markt steht und auf dem Horn seines Vaters bläst. Aus unserm Schacht springt im Galopp ein weißes Pferd, auf dem braunen Sattel, rechts und links, oben und unten, sitzen Kaiserbilder. Jetzt ist es ›soweit‹, denke ich.

*

Ich sammle Kaiserbilder. Im Geschäft meiner Eltern gibt es viele verlockende Dinge, Bindfaden und Bonbons, Limonaden und Rosinen, große und kleine Nägel, aber am schönsten sind die Kaiserbilder. Wenn auch am schwersten zu stehlen. In jeder Tafel Schokolade liegt eins. Der Schokoladenschrank ist verschlossen, der Schlüssel hängt an einem Bund, den Mutter an ihrer blaugewürfelten Umhängeschürze trägt. Früh, wenn ich aufwache, arbeitet Mutter. Sie arbeitet im Laden, sie arbeitet im Getreidespeicher, sie arbeitet in der Wirtschaft, sie schickt den Armen Essen und lädt die Bettler zum Mittag, und wenn der Knecht aufs Feld geht, den Acker zu pflügen und das Korn zu säen, misst sie ihm das Korn zu. Abends liest sie bis tief in die Nacht, oft schläft sie ein über einem Buch, und wenn ich sie wecke, bittet sie:

»Lass mich lesen, Kind, es ist meine einzige Freude.«

»Warum arbeitest du immer, Mutter?«

»Weil du essen willst, Kind.«

Wenn Mutter nicht achtgibt, stehle ich erst die Schlüssel, dann aus den Schokoladentafeln die Bilder, Schokolade nur nebenbei. Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern. Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare, die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in der anderen einen goldenen Feuerhaken.

Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo.

*

Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße. Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, dass ihre Straße ›Totenstraße‹ heißt, sie stehen vor den Türen und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte.

»Warum tust du das?«

»Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen, Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit ihnen in den Himmel zum lieben Gott.«

»Was tun sie da?«

»Pellkartoffeln fressen sie nicht.«

Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter, sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartoffeln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen.

»Lang zu«, sagt endlich Stanislaus’ Mutter, »essen elf sich satt, wird es auch für zwölf reichen.«

Stanislaus pufft mich in die Seite:

»Braten und Gebackenes kannst du dir malen.«

»Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes, Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.«

Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus.

»Was musst du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter, »du isst den armen Leuten ihr bisschen Brot weg.«

»Warum haben sie so wenig?«

»Weil der liebe Gott es so will.«

*

Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bisschen Spazierenfahren, ehe sie ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin bleiben oder in den Himmel fliegen.

Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub.

Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter Mensch?‹

*

Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst, immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich und jagt mich ins Bett zurück.

»Warum brennt es, Jule?«

»Weil Gott strafen will.«

»Warum will Gott strafen?«

»Weil kleine Kinder zuviel fragen.«

Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten Balken und Steinen, sie sind noch heiß.

»Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist in ihrem Bett verbrannt.«

Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen.

Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock, mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner Hand.

Herr Levi kommt. Er lacht.

»Schöne Sachen machst du.«

Ich rühre mich nicht.

»Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.«

Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi.

Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis zum Abend.

War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan, also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln, an die verbrannte Frau Eichstädt.

Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt.

»Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie.

Mein Herz klopft. Noch wage ich es nicht. Wenn ›Er‹ nun aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe Gott! Zur Strafe, dass du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den ›lieben Gott‹ herunter. Ich zerschlage das Glasröhrchen. ›Er‹ rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. ›Er‹ rührt sich nicht. Ich spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf los. ›Er‹ rührt sich nicht. Vielleicht ist ›Er‹ schon tot. Mir ist leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde ich den ›lieben Gott‹ begraben.

Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, dass ich den ›lieben Gott‹ totgeschlagen habe.

*

Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die ›evangelische‹, Stanislaus in die ›katholische‹, ich in die ›jüdische‹. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere.

Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer seine Aufgabe nicht gelernt hat, muss seine Hände vorstrecken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf, »zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den nimmt Herr Senger auf die Knie, er muss seine Backe an die Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er.

In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen.

»Ich habe Fleisch.«

»Ich habe Käse.«

»Was hast du drauf?«

»Er hat gar nichts drauf.«

Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot in den Sand und weint.

Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine Eltern erlauben nicht, dass ich mit Kurt spiele, seine Mutter wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.«

Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich.

»Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift schrill.

»Hast du Flöhe?«

»Fahr weiter.«

»Bist du schmutzig?«

Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech.

»Wenn Max doch sagt, dass alle armen Leute schmutzig sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?«

»Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.«

*

Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich frage Stanislaus, warum die anderen so schreien.

»Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.«

»Das ist nicht wahr!«

»Dass wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl wahr, wie?«

*

Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft hinter ihm her und singt:

»Jiddchen, Jiddchen, schillemachei,

reißt dem Juden sein Rock entzwei,

der Rock ist zerrissen,

der Jud hat geschissen.«

Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!«

*

»Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »dass die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.«

»Quatsch! Gib sie mir.«

»Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?«

»Rufst du nicht auch Polack?«

»Das ist etwas anderes.«

»Ein Dreck! Wenn du’s wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.«

Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpasst, gehe ich zum Heiland und bete.

»Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, dass die Juden dich totgeschlagen haben.«

*

Abends im Bett frage ich Mutter:

»Warum sind wir Juden?«

»Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.«

Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte nicht, dass die Kinder hinter mir herlaufen und ›Jude‹ rufen.

*

Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen. Dort versammeln sich die ›Wahren Christen‹. Sie blasen Posaune und singen Haleluja, sie knien sich hin und schreien: »Dein Reich ist nahe, o Zion!« Sie umarmen sich und küssen sich und blasen wieder Posaune. Ich will auch ein wahrer Christ werden, darum gehe ich in den Schuppen. Der Herr Vorleser streichelt mich, schenkt mir Zucker und sagt, ich sei »auf dem rechten Wege«.

»Wir werden alle in Liebe und Eintracht das heilige Weihnachtsfest feiern«, sagt er.

»Ja«, sage ich.

»Und du, mein Kind, wirst dieses Weihnachtsgedicht aufsagen.«

Ich bin selig, ich bin kein Jude mehr, ich werde ein Weihnachtsgedicht aufsagen, keiner darf mir mehr »Jude, hep, hep!« nachrufen. Ich nehme meine Trompete und blase wie er die Posaune, dann spreche ich mit lauter, feierlicher Stimme das Weihnachtsgedicht. Am andern Tag sagt mir der Herr Vorleser, es täte ihm leid, aber dem Herrn Heiland sei es angenehmer, wenn Franz das Gedicht aufsage.

*

Alle Erwachsenen sind schlecht, alle. Sie sind stärker als wir, aber man kann sie überlisten, wenn man schlau ist. Unsere Räuberbande ist schlau. Ich bin der Hauptmann. Jeder Räuber trägt einen kurzen Holzsäbel, nur ich trage einen langen, der alte Hordig hat ihn geschnitzt. »Wie ein Offizier siehst du aus«, sagt er und versteckt die Zigarren, die ich für ihn gestohlen habe.

Wir brechen den Schrank auf, in dem Mutter die eingemachten Früchte verwahrt, wir kosten von jedem Topf, und wenn die Früchte zu sauer sind, gießen wir Essig hinein. Wir schleichen uns abends an die Häuser heran, reißen die Türen auf, die Klingeln schrillen, wir stürzen davon und freuen uns über die schimpfenden Ladenbesitzer. Wir spannen Bindfaden über die Straße und johlen, wenn jemand hinfällt. Wir stehlen Geld, kaufen Zigaretten und rauchen sie, und keiner wird sagen, dass ihm übel ist. Wir haben allen Erwachsenen den Krieg erklärt. Der Streit unter uns ist vergessen, wir haben den großen Indianerschwur getan, dass dieser Krieg nicht enden soll.

*

Vater schenkt mir einen jungen Hund, er ist kaum zwei Monate alt, braune Tupfen klecksen auf seinem weißen Fell, ein kleines, weiches Pelzbündel, das ich auf den Schoß nehmen, auf der Erde rollen, in die Luft werfen kann. Ich bin Lehrer Senger und nenne den Hund Puck, ich befehle ihm, dass er ›schönmacht‹, dass er die Pfote gibt und gehorcht, er gehorcht nicht, ich bade ihn in kaltem Wasser, »zur Strafe«, sage ich.

Am andern Morgen ist der Hund tot. Ich lade die anderen Jungen ein, schaufle neben der Eismiete ein Grab für den Hund, feierlich tragen wir den Sarg zu Grabe, ich bin der Pastor, ich rede wie Lehrer Senger, ich sage: »Der Hund brauchte nicht zu sterben, er hat nicht gehorcht, jetzt hat er seine Strafe.«

Vater ruft mich in sein Zimmer.

»Ein Brief kam von der Polizei, du hast ein Tier zu Tode gequält, dafür kommst du ins Kittchen.«

Kittchen nennen wir das Polizeigefängnis, eine kleine Hütte auf dem Hof vom Bürgermeister. Die Hütte hat kein Fenster, nur eine Tür mit zwei Riegeln und zwei Schlössern, darin werden die Landstreicher eingesperrt. Gendarm Manthey führt sie am Schlafittchen hinein, schließt die Tür zu und sagt: »So.«

Ich weiß nicht zu antworten. Ich sehe hinter mir den Gendarmen, er packt mich, er führt mich durch die Stadt, an allen Freunden vorbei, auch am Lehrer Senger, auch an Gott, der wieder lebt, die Tür vom Kittchen schließt er zu und sagt: »So.«

Ich bin allein, ich bin im Dunkel.

Ich habe Angst. Ich verstecke mich. Ich schreie:

»Ich laufe in den Wald und komme nicht mehr wieder.«

*

»Warum spielst du nicht mehr mit uns?« sagt Frieda.

»Weil ich nicht will.«

»Komm, spiel mit mir.«

Frieda nimmt mich bei der Hand. Es ist Sommer. Wir haben Ferien. Wir gehen vor die Stadt und stehlen in Mannheims Garten Äpfel, wir laufen ins Feld, der Roggen riecht wie frisches Brot, wir verstecken uns im Roggen. Frieda kuschelt sich an mich, ich nehme sie in den Arm, wie die Großen es tun, ich küsse sie auf den Mund.

»O weh, du hast mich auf den Mund geküsst, jetzt bekomm’ ich ein Kind«, sagt Frieda.

Am nächsten Tag besucht mich Frieda.

»Du, ich hab’ ein Kind«, sagt sie.

»Ist es schon gekommen?« frage ich.

»Du bist aber dumm. Ich hab’s im Bauch, wie kann ich es da sehen, es ist schon so groß«, und sie umkreist die Masse des Kindes mit den Händen in der Luft.

»Es ist ja größer als du«, sage ich erschreckt.

Frieda läuft davon. Am nächsten Tag gehe ich zu Frieda.

»Ist es da?«

»Nein, ich denke, es kommt morgen.«

»Weiß dein Vater es schon?«

»Meinem Vater sag’ ich es nicht. Er hat Anna ‘rausgeschmissen, die hat auch ein Kind bekommen.«

In der Früh warte ich vor Friedas Haus und pfeife. Frieda kommt zum Fenster, sieht mich, streckt mir die Zunge hin und geht weg. Ich warte. Frieda geht aus dem Haus, geht an mir vorbei, das Kind ist vergessen.

*

Ich bin neun Jahre alt, als ich die Volksschule verlasse und zu Herrn Pfarrer Kusch in die Knabenschule geschickt werde. Stanislaus besucht mich nicht mehr.

»Du bist was Besseres«, sagt er, »außerdem ist dein Vater Stadtverordneter geworden, das kommt gleich hinter dem Kaiser, adiö.«

Bisher haben wir mit allen Jungen gespielt, jetzt sehen wir hochmütig auf die Kinder der armen Leute, die in die Volksschule gehen und nicht lateinisch lernen.

Pfarrer Kusch unterbricht alle zehn Minuten den Unterricht.

»Ich habe es auf dem Herzen«, sagt er, greift nach der Medizinflasche und trinkt einen kräftigen Schluck.

In der Medizinflasche ist gar keine Medizin, wir haben es bald heraus, in der Medizinflasche ist Schnaps. Einmal vergisst Pfarrer Kusch die Flasche, wir gießen den Schnaps aus und füllen die Flasche mit Wasser. Pfarrer Kusch sagt: »Ich habe es auf dem Herzen«, aber wie er trinkt, verzieht sich sein Gesicht, er springt auf, greift nach dem Rohrstock, er hat es gar nicht mehr auf dem Herzen, wir müssen unsere Hände hinhalten, jeden schlägt er darauf, nur Helmut nicht, der hat ihm ein Huhn mitgebracht, zu Helmut sagt er:

»Du hast gewiss damit nichts zu tun.«

*

Hinter der Schule liegt ein Tümpel, die Pratsche. Im Winter friert die Pratsche zu. Vor Schulbeginn laufen wir Schlittschuh. Auf dem Eis warnt ein Stock, mit Stroh umbunden, dort ist das Eis dünn.

»Lauf da nicht hin«, rufe ich Max zu.

Aber schon ist Max eingebrochen bis zur Brust, ich springe hin, er zieht mich ins Wasser, mit letzter Anstrengung ziehe ich ihn heraus. Pfarrer Kusch befiehlt, dass ich mir trockene Kleider zu Haus anziehe und dann zu Herrn Sel, dem Vater von Max, gehe.

»Wo ist die Rute?« schreit Herr Sel. Max muss am nächsten Tag, an Kaisers Geburtstag, im Bett bleiben, wir haben frei. Ich besuche Max. Seine Tante hat eine Schachtel Schokoladenfedern dagelassen, darauf steht ›Für den Lebensretter‹. Max sieht böse auf die Schokolade, dann auf mich.

»Ich wär’ auch ohne dich herausgekommen«, sagt er, »mehr als die Hälfte der Schokolade kriegst du nicht.«

Nachmittags schickt mich Mutter in den Saal, wo der Bürgermeister und die Stadtverordneten und der Kriegerverein Kaisers Geburtstag feiern. Vater ist sehr stolz, ich werde dem Bürgermeister vorgestellt, der Bürgermeister sagt:

»Du bist ein kleiner Held.«

Ich sage: »Max sagt, er wäre auch allein herausgekommen«, und wie ich den Saal verlassen habe, werfe ich die Schokolade fort.

*

Die Großen sind unsere Feinde, nur Jule, unsere alte Köchin, versteht mich. Ihr sage ich meine ersten Verse, die ich im Frühling bei einer Spazierfahrt durch die blühende Kirschenallee dichte. Ich sitze neben dem Kutscher, im Wagen die anderen Kinder singen und sind fröhlich, ich singe nicht mit, ich bin nicht fröhlich, ich will nicht wie sonst die Zügel der Pferde führen, nicht die Sonne freut mich noch der Frühling, mich ergreift eine schmerzlich-süße Traurigkeit, und während der Himmel blau und strahlend uns überglockt, denke ich an Krähen, an Nebel, an den Tod.

Das Gedicht lese ich Jule vor.

Jule ist gerührt und weint.

»Willst du einen Eierkuchen essen oder ein Kotelett?«

»Ich werde ein Märchen schreiben, Jule, man wird es in Berlin spielen, und du wirst in der Kaiserloge sitzen.« Jule erzählt niemandem, wie alt sie ist. Fragt man sie, gibt sie zur Antwort: »Über mein Alter ist noch keiner nicht gefallen« und bekreuzigt sich. Jule hat einen Bräutigam, von Beruf Schneidermeister in Margonin, ach, er lebt nur in ihrer Phantasie, Freunde meines Vaters haben ihn erdichtet. Aber das menschliche Herz ist größer als die Lüge. Jule liebt den Bräutigam, trotzdem sie ihn nur einmal gesehen hat. Der fremde Mann, ahnungslos für diese Rolle bestimmt, weiß nichts von der erwachten Liebe, aber Jule glaubt an sie. Die Großen vergessen den Scherz einer Stunde, ich gebe ihm Dauer und besessenes Leben, ich schreibe die schönsten Liebesbriefe, ich bringe sie Jule, ich lese sie ihr vor, ich preise mit ihr die Treue des Bräutigams, ich weine mit ihr über das Schicksal, das ihn fernhält, ich hasse mit ihr die Menschen, die neidisch sich ihrem Glücke sperren. Jule ist selig, und ich bin es mit ihr, wir haben ein Geheimnis, wir hüten es mit großer Würde. Die Menschen lachen, ich lache längst nicht mehr, ich werde böse, wenn die Menschen Jule verspotten.

»Antworte gar nicht, wenn sie dich fragen«, sage ich zu Jule, »oder binde ihnen einen Bären auf, sag, dein Bräutigam ist fort, nach Amerika.«

Ich bekomme noch mehr Eierkuchen als früher, doch nicht um der Eierkuchen willen bleibe ich der Liebesbote. Bald genügt es mir nicht, dass dieser Bräutigam als gewöhnlicher Schneider den Handwerkern und Kaufleuten Anzüge anmisst. Ich lasse den Schneidermeister ins Heer eintreten, binnen wenigen Wochen avanciert er zum Leutnant, zum Major, zum General. Jule, der kein Fleischermeister ein Bruststück für ein Lendenstück verkaufen kann, die mit Feldherrnblick die Hühnerscharen übersieht, jene im Stall lässt, die Eier legen werden, und die Faulen herausjagt, glaubt alles. Der General wird geadelt, der Baron ein Herzog, am Ende wählt ein fernes Land, das ich Mariko nenne, den Herzog zum Kaiser. Ich ernenne Jule zur Kaiserin von Mariko, mich zum Minister des exotischen Landes. Eine unterirdische Bahn, zu der mich eine unsichtbare und allen geheime Treppe führt, verbindet unser Haus mit der Hauptstadt von Mariko. Der Kaiser ist ein frommer Mann, er bekriegt die Heiden und tauft sie, der Krieg währt niemals lange, seine Dauer richtet sich nach meinem Appetit auf Sandtorten. Ich komme zu Jule in die Küche und verschließe die Tür.

»Majestät«, rufe ich, »ein Telegramm ist da.«

»Lies es vor«, sagt Jule und wischt sich die nassen Hände an der Küchenschürze.

»Geliebte Juliana«, lese ich, »in blutiger Schlacht habe ich die Heiden geschlagen, müde vom heißen Kampf sehne ich mich nach einem Kuchen von Deiner Hand, back sofort eine gute Sandtorte und übergib sie meinem Minister Ernst.«

Schweigend entnimmt Jule dem Speiseschrank Eier, Zucker und Mehl, schweigend rührt sie den Teig. Kein scheltender Einspruch meiner Mutter kann sie hindern. Mit hinkendem Schritt geht sie an den Herd, das großflächige Gesicht mit der fleischigen Nase und den wasserblauen Augen rötet sich, die blonden Haare, die in dünnen Strähnen fest um den Kopf sich legen, glänzen von duftendem Öl. Ich nehme die Sandtorte in Empfang, ich verbeuge mich tief, in der Kinderstube warten meine Freunde, die Marikaner, wir verzehren den Kuchen an Kaisers statt.

Eine Kaiserin muss Orden tragen. Ich stehle meiner Schwester papierne Kotillon-Orden, mit Nadeln hefte ich sie auf ein Sofakissen, um den Spazierstock meines Vaters winde ich ein Taschentuch und ernenne den geschmückten Stock zum Degen, ich führe Jule unter den Weihnachtsbaum, in feierlichen Worten begrüße ich sie, ich heiße sie niederknien, ich schlage sie mit dem Degen auf die Schulter, schlage sie zum Ritter und verleihe ihr die vom Papst und vom Kaiser gesandten Orden. Jule, vom Vater befragt, ob ich sie wirklich zum Ritter geschlagen habe, antwortet: »Und wie hat er mich geschlagen!«, und sie lehnt stolz und höhnisch die tausend Mark ab, die Herr Müller ihr zahlen will, wenn sie ihm einen Orden verkauft.

Eines Tages wird Jule krank, die in ihrem Leben nie krank war, nur Kranke pflegte, die Mutter, den Vater, uns Kinder, die nie vor Ansteckung Furcht empfand, die an unseren Betten wachte, Nacht um Nacht. Der Arzt kann sie nicht retten, Jule, im Fieber, weiß nicht, dass der Tod naht. Sie arbeitet, wie sie ihr Leben lang gearbeitet hat. »Was wollen Sie in der Küche, Frau Toller«, ruft sie, »das mache ich alles alleine«, sie kocht und brät, sie schilt die nachlässigen Hausmädchen, sie rennt zum Wagen, dem Vater eine Pelzdecke um die Füße wickeln, dass er sich nicht erkälte – so stirbt sie.

Nach ihrem Tod finden wir in Kisten und Kästen ihre Habe, Geld hat sie nie gespart, aber Dutzende von Strümpfen, Dutzende von Kattunhemden und Flanellunterhosen, Dutzende von Röcken und Blusen zur Aussteuer gekauft. Sie hatte sich gewünscht, als Jungfrau begraben zu werden, im bräutlichen Gewände, den Myrtenkranz auf dem Kopf, der Pfarrer sollte ihrem Sarg vorangehen, auf ihrem Grabstein die Inschrift künden: »Hier ruht die Jungfrau Juliane Jungermann.«