Erregende Lektionen eines Dukes - Sophie Jordan - E-Book

Erregende Lektionen eines Dukes E-Book

Sophie Jordan

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Beschreibung

Für ihre Familie würde Marian alles tun! Aus Verzweiflung beschließt die junge Gouvernante, Mätresse zu werden. Doch in dieser zwielichtigen Welt kennt sie sich überhaupt nicht aus! Deshalb nimmt sie die Hilfe von Nathaniel, Duke of Warrington, in Anspruch: Der berüchtigte Schwerenöter soll sie in der Kunst der Verführung unterweisen. Einen sinnlichen Augenaufschlag, ein gehauchtes Wort, eine flammende Berührung – all das will sie perfekt beherrschen! Doch die erregenden Lektionen des Dukes stellen sie bald auf eine harte Probe. Sie merkt, dass sie sich seinem Charme kaum noch entziehen kann ...

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Seitenzahl: 374

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IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2019 by Sharie Kohler Originaltitel: „The Duke‘s Stolen Bride“ erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A. Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe 2023 in der Reihe HISTORICAL GOLD EXTRA, Band 155 Übersetzung: Annkatrin von Roth

Abbildungen: PeriodImages, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751517751

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzessinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Reality-Shows an.

1. KAPITEL

Marian Langley steckte in einer für sie höchst ungewöhnlichen und überaus unbehaglichen Lage. Jahrelang war sie als Gouvernante tätig gewesen und hatte junge Damen darauf vorbereitet, in die höchsten Ränge der Gesellschaft eingeführt zu werden. Würde war dabei stets ihr oberstes Gebot. Ihr Handwerkszeug.

Oder besser gesagt, so war es gewesen.

Sie war nicht mehr als Gouvernante angestellt. Diese Zeiten waren vorbei.

So viele Dinge waren jetzt vorbei. Bunte Erinnerungsfetzen, die auftauchten, wann sie wollten, quälten sie immer wieder. Papa war tot, und sie hatte ihre sichere Stellung aufgegeben und war nach Hause zurückgekehrt, um sich um ihre Familie zu kümmern. Sie seufzte schwer und betrachtete ihre momentane Situation: Sie versteckte sich unter einem Tisch in Colley’s Taverne. Gegenwärtig hatte sie ganz und gar nicht das Gefühl, dass sie sich um ihre Familie kümmern würde.

Es war einfach lächerlich.

Sie fühlte sich lächerlich und vollkommen würdelos. So tief war sie gefallen.

Sie hatte keinen Penny mehr in der Tasche, und wie sie nun feststellen musste, förderte Zahlungsunfähigkeit nicht gerade die Würde.

Im Gegenteil, sie zerstörte sie.

Aus keinem anderen Grund hatte sie die Knie an die Brust gepresst und hielt den Stoff ihrer nicht mehr makellosen Röcke mit beiden Händen fest umklammert, in der inbrünstigen, verzweifelten Hoffnung, dass dieser Moment vorübergehen möge, und zwar schnell.

Sie atmete stoßweise, ihre Brust hob und senkte sich im raschen Wechsel, was zum einen an ihren überreizten Nerven lag und zum anderen an dem wahnwitzigen Tempo, mit dem sie durch das Dorf und in Colley’s Tavern gerannt war, wo es den besten Shepherd’s Pie der Grafschaft gab.

Trotz ihrer Nervosität knurrte ihr der Magen schon bei der bloßen Vorstellung von Colleys köstlichem Pie. Sein würziger, reichhaltiger Duft stieg ihr in die Nase direkt von dem Tisch über ihr.

Der Magen knurrte ihr wieder und erinnerte sie daran, dass sie schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hatte.

Sie hielt den Atem an und richtete den Blick auf die Spitzen der abgenutzten Stiefel, die sie trug. Es waren die Stiefel ihres jüngeren Bruders. Sie hatte sie aus seinem Zimmer geholt – er war im Internat und konnte sie also derzeit ohnehin nicht tragen. Sie bezweifelte, dass sie ihm nach seiner Rückkehr passen würden. Burschen seines Alters wuchsen wie Unkraut.

Sie rümpfte die Nase und versuchte, den Schmutz und die verfaulten Essensreste um sich herum zu ignorieren. Der Wirt sollte mal ein ernstes Wörtchen mit seinen Angestellten reden, weil sie es versäumt hatten, unter den Tischen zu putzen.

Über die Essensreste hätte sie vielleicht hinwegsehen können, aber die beiden Beine, denen sie in ihrem Versteck immer wieder ausweichen musste, waren schwerer zu übersehen. Sie waren kräftig, die Schaftstiefel saßen wie angegossen. Sie starrte sie an, als ob sie sie dadurch irgendwie zum Verschwinden bringen könnte.

Ja, der Tisch war derzeit besetzt, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, sich darunter zu verstecken. Marian hatte einen flüchtigen Blick auf die Person am Tisch geworfen, bevor sie unter dem Tisch abgetaucht war. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Es war der nächstgelegene Tisch und der Kohlenhändler war ihr dicht auf den Fersen gewesen.

Sie hatte einen vagen Eindruck von der dunklen Gestalt des Mannes am Tisch gewonnen. Er hatte dunkle Augen. Und trug dunkle Stiefel, natürlich. Dunkel wie alles andere im schattigen Inneren der Taverne. Hoffentlich dunkel genug, um sie vor den Blicken des Kohlenhändlers, der sie verfolgte, zu schützen.

Unter dem Tisch war es alles andere als geräumig. Sie fürchtete, dass das Möbel sowohl ihren Körper als auch die langen, wohlgeformten Beine des Mannes kaum zu verbergen vermochte.

Der Mann schlug die Beine übereinander, eine Stiefelspitze stieß gegen ihre Hüfte – absichtlich, wie Marian vermutete.

„Au.“ Mit finsterer Miene rieb sie sich die betroffene Stelle.

„Was zum Teufel machen Sie da?“

Die Stimme klang tief und grimmig und war näher, als sie erwartet hatte – warmer Atem streifte ihr Ohr. Sie wandte den Kopf und sah direkt in ein Paar dunkler Augen. Einen Moment lang verschlug es ihr die Sprache. Er war jung und gut aussehend. Zwei Dinge, die sie nicht bemerkt hatte, als sie unter dem Tisch Zuflucht gesucht hatte. Was vielleicht keine gute Idee gewesen war.

Er schaute sie an, ihre Gesichter waren sich so nahe, dass sie mit den Nasen fast aneinanderstießen. „Sind Sie schwerhörig, Lady?“

Sie schüttelte sich und fand ihre Stimme wieder. „Ist es nicht offensichtlich, was ich hier tue?“

Er blinzelte nicht einmal, sondern starrte sie weiter auffordernd an und wartete, offensichtlich unzufrieden mit ihrer Antwort.

Sie zappelte ängstlich, weil sie befürchtete, dass Clite Oliver den Raum betreten und diesen Mann dabei erwischen würde, wie er unter den Tisch schaute.

„Ich befinde mich in einer schwierigen Situation“, gestand sie.

„Was für eine Situation ist das?“, fragte er mit tiefer, kultivierter Stimme, ganz und gar nicht amüsiert.

„Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Ich bitte Sie, Sir. Tun Sie so, als ob ich nicht hier wäre. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie bald in Ruhe lassen werde.“

Er nickte, als ob er verstanden hätte, aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, waren alles andere als verständnisvoll. „Sie lassen mich am besten jetzt gleich in Ruhe.“

Sie warf einen Blick über die Schulter und wurde mit einem Blick auf den dreckigen Boden belohnt. Noch keine Arbeiterstiefel, schwarz vom Kohlenstaub. Sie hatte jedoch keinen Zweifel daran, dass sie jeden Moment in ihrem Blickfeld auftauchen würden.

„Ich beschwöre Sie. Hören Sie bitte auf, mit mir zu reden“, zischte sie und sah ihn mit einem verzweifelten Kopfschütteln an. „Ich werde es wiedergutmachen.“

Nicht dass sie ihm auch nur einen Penny zu bieten gehabt hätte. Das war doch der Grund, aus dem sie in diesem Schlamassel steckte … und was sie überhaupt dazu gebracht hatte, vor dem Kohlenhändler zu fliehen.

Ihr Flehen und ihr leeres Versprechen schienen ihn in keiner Weise zu rühren. Mit seinen dunklen Augen starrte er kalt auf sie herab. Hoffnungslosigkeit wallte in ihr auf. In letzter Zeit hatte sie oft mit diesem dämonischen Gefühl zu kämpfen. Zu oft. Eigentlich die ganze Zeit. Sie weigerte sich, aufzugeben. Wenn sie die Hoffnung aufgab, bedeutete das, dass sie die Hoffnung für sie alle aufgab – für Charlotte, Eleanor und Phillip. Wenn sie aufgab, bedeutete das, dass sie alle verloren waren.

Marian konnte das nicht zulassen, musste sich zusammenreißen, es hing alles an ihr. Sie musste ihre Familie retten. „Bitte“, flüsterte sie erneut und schämte sich, weil sie sich kaum von einer gemeinen Bettlerin unterschied. So leise sie das Wort auch ausgesprochen hatte, es brannte ihr auf den Lippen und verletzte ihren Stolz.

Der Kohlenhändler durfte sie auf keinen Fall entdecken. Er würde keine Gnade walten lassen. Er war gefühllos. Von allen Menschen, denen sie Geld schuldeten – und es waren leider einige –, war er der hartnäckigste. Der rücksichtsloseste. Derjenige, dessen Augen Vergeltung versprachen … und Kummer. Es war ihm egal, wer ihr Vater gewesen war oder was Papa für die Gemeinde Brambledon getan hatte. Sie schuldeten dem Mann Geld. Er würde es bekommen oder irgendetwas Schlimmes würde passieren.

Der Gentleman, der sie unter dem Tisch anstarrte, sagte nichts. Er blinzelte, aber seine Miene blieb teilnahmslos. Und dann war er verschwunden.

Das Rascheln seiner Kleidung war zu hören, als er sich wieder aufrichtete. Schritte polterten über die alten Holzdielen, und sie zog die Knie enger an die Brust, als könnte sie sich damit irgendwie kleiner machen. Die gefürchteten kohlebefleckten Stiefel tauchten auf.

Sie holte scharf Luft und betete, dass der Gentleman, den sie immerhin bei einer bestimmt wohlverdienten Mahlzeit störte, sie nicht verraten würde.

Sie beobachtete, wie die Stiefel sich hin und her bewegten, während ihr Verfolger wohl den Blick durch den Raum schweifen ließ. Sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es Mr. Oliver war und dass allein sie es war, nach der er Ausschau hielt.

Ihre Augen weiteten sich, als die abgenutzten Stiefel auf den Tisch zukamen – auf sie zu. Herr im Himmel! Hatte der Mann am Tisch ihm ein Zeichen gegeben?

„Verzeihen Sie, Sir. Haben Sie ein Mädchen hier hereinlaufen sehen?“

Sie presste sich die zitternden Finger an die Lippen und hoffte auf die Verschwiegenheit des Mannes, dessen bestiefelte Füße sich in ihren Hintern bohrten.

Es war vielleicht eine Dummheit, sich vor ihm zu verstecken. Sie konnte schließlich nicht ewig vor Mr. Oliver davonrennen, aber als er ihren Namen auf der Dorfstraße gebrüllt hatte, hatte die Panik Oberhand gewonnen. Sie hatte einen Blick in seine gnadenlosen Augen geworfen, ihre Röcke gerafft und war weggelaufen.

Auf dem Tisch über ihr schrammte Besteck über einen Teller, und sie blickte nach oben, als könnte sie durch das Holz sehen.

Schließlich ergriff der Gentleman das Wort, und seine Stimme klang gereizt und arrogant. „Sehen Sie hier irgendwo ein Mädchen?“

Ihr Blick fiel wieder auf seine Stiefel, auf die wohlgeformten Beine, die von einem Paar teuer aussehenden Hosen umhüllt waren. Hoffnung flatterte wie ein Vogel in ihrer Brust. Unglaublicherweise schien er ihren Aufenthaltsort unter dem Tisch nicht zu verraten.

Auf diese Frage folgte ein langes Schweigen, und sie konnte fast vor sich sehen, wie der grobschlächtige Kohlenhändler wieder den Raum absuchte. „Nein, ich sehe sie nicht, aber ich weiß, dass sie hier hereingekommen ist. Ich habe sie gesehen, ich habe sie gesehen!“

Er trat vom Tisch weg, seine Stiefel stapften wieder im Kreis, offenbar war er nicht bereit aufzugeben.

„Vielleicht sollten Sie sich woanders umsehen und mich in Ruhe zu Ende essen lassen.“ Der Gentleman gab sich vollkommen höflich, aber seine Worte hatten eine unmissverständliche Botschaft.

Mr. Colley bemerkte den Kohlenhändler in diesem Moment. Seine Stimme ertönte, und Marian beobachtete, wie er beziehungsweise der Teil von ihm, den sie sehen konnte – seine Beine – auf Mr. Oliver zustürmte. „Was fällt Ihnen ein, Seine Gnaden zu belästigen? Verschwinden Sie sofort von hier, Mann.“

Seine Gnaden?

„Ich suche nach der Langley-Göre. Ich habe gesehen, dass sie hier hineingelaufen ist!“

„Wie Sie sehen können, ist sie nicht hier. Gehen Sie jetzt und kommen Sie nicht wieder, es sei denn als zahlender Kunde.“

Sie konnte sich gut vorstellen, wie Mr. Oliver den Wirt mit sturem Gesichtsausdruck anblickte. Der Mann würde sich nicht ewig vertrösten lassen. Das wusste sie. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, um ihn zu besänftigen. Sie hatte das wenige Geld, das sie hatten, für Lebensmittel verwendet, aber die Lage wurde immer verzweifelter. Der Kohlenhändler musste bezahlt werden.

„Ich weiß, dass sie hier irgendwo ist“, brummte Mr. Oliver. Seine Stiefel entfernten sich vom Tisch und scharrten über den Boden.

„Sie ist nicht hier“, schnauzte Mr. Colley. „Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich Jasper aus der Küche hole, um Sie rauszuwerfen.“

Jeder kannte Mr. Colleys Neffen, Jasper. Er war so groß wie ein Lastkahn. Und auch nicht besonders klug. Er liebte es, mit den Jungs zu ringen, ob sie nun wollten oder nicht. Oft zwang er jemanden in eine Schlägerei. Er machte das schon seit seiner Kindheit, und es schien ihn nicht zu kümmern, dass er schon lange kein Kind mehr war.

Sie beobachtete, wie Mr. Oliver sich zurückzog, stieß den angehaltenen Atem aus und ließ den Kopf erleichtert auf die Knie sinken.

„Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Noch ein wenig Pastete? Frischen Wein?“

„Nur Privatsphäre. Bitte, Colley.“ Das „Bitte“ klang eher wie ein nachträglicher Einfall. Es klang widerwillig.

„Natürlich, Euer Gnaden.“ Mr. Colley schlurfte davon.

Sie hob den Kopf und starrte auf die Unterseite des Tisches, als könnte sie durch ihn hindurch in das Gesicht des Gentlemans sehen.

Euer Gnaden.

Er war einer von denen. Oh. Oje. Sie bedeckte ihren Mund wieder mit den Fingern. Ein hartherziger, snobistischer Adliger. Sie hatte für aristokratische Familien gearbeitet. Sie hatte jahrelang mit ihnen zu tun gehabt. Eine Begegnung mit einem seiner Klasse sollte sie nicht so sehr einschüchtern. Selbst wenn sie ihm zu Füßen saß wie eine niedere Bettlerin.

Seine tiefe Stimme umschmeichelte sie. „Sie können jetzt herauskommen, Mädchen.“

2. KAPITEL

Seine Worte vibrierten in Marian, zogen an ihr wie ein unsichtbarer Faden und drängten sie zum Handeln. Sie kämpfte gegen den Impuls an und blieb an Ort und Stelle, umklammerte ihre Knie fester, was lächerlich war. Sie konnte sich nicht ewig unter diesem Tisch verstecken, egal wie sehr sie sich schämte.

„Kommen Sie schon, Mädchen. Sie sind nicht schüchtern. Das hat man gemerkt, als Sie hier reingeplatzt sind und mich aufgefordert haben, nicht mit Ihnen zu reden.“

Sie zuckte zusammen und biss sich auf die Lippen. Er hatte recht. Sie war herrisch gewesen. So wohl sie sich bei ihrem früheren Arbeitgeber auch gefühlt hatte, so hatte sie doch dort nie so gesprochen oder einen solchen Ton angeschlagen.

„Ich weiß, dass Sie da sind. Sie sitzen auf meinen Stiefeln.“

Als sie ein Mädchen gewesen war – sehr jung, noch bevor Charlotte oder Nora laufen gelernt hatten, noch bevor ihr Bruder geboren worden war –, hatten Papa und Mama ihr eine geschnitzte Holzmarionette zum Geburtstag geschenkt. Diese Marionette war keine Puppe mit einem unheimlichen, übertriebenen Lächeln. Es war ein weißer Elefant mit einem sorgfältig gemalten rot-goldenen Sattel. Das prächtige Ding hatte gelenkige Beine und bewegbare Ohren. Sie hatte gelernt, mit der Marionette umzugehen. Sie hatte nachts in ihrem Bett mit ihm gespielt, ihn für sich tanzen lassen und ihm Befehle erteilt, indem sie an seinen fast unsichtbaren Fäden zog.

Sie fühlte sich jetzt wie diese geliebte Marionette. Auch wenn sie sich unter dem Tisch verstecken wollte, wurde sie von dieser Stimme herausgezerrt, gezogen, gezwungen.

Als sie unter dem Tisch hervorkam, richtete sie sich auf und strich mit einer Hand über die Vorderseite ihres hoffnungslos zerknitterten Rocks. Einst war dieses Kleid modisch gewesen und so frisch wie ein junger Morgen. Sie war stets makellos gekleidet gewesen – erst als Kindermädchen und dann als Gouvernante der Schwester des Duke of Autenberry.

Jetzt bot sie allerdings einen ganz anderen Anblick. Sie musste vollkommen durcheinander und ungepflegt wirken, was sie maßlos ärgerte.

In diesem Zustand, der ihr vollkommen zuwider war, war sie gezwungen, vor diesem Mann zu stehen, der in seinem dunklen Jackett und seiner Brokatweste hervorragend aussah und offenkundig vermögend war.

Er griff mit seinen langen Fingern nach seinem Weinglas. Sein Siegelring funkelte im Licht der Laterne. So akkurat er auch gekleidet war und so gehoben er sprach und sich tadellos benahm, sein Gesicht hatte seit mindestens einer Woche keinen Rasierer mehr gesehen. Auch sein Haar konnte einen Schnitt vertragen. Ob Adliger oder nicht, in den Ballsälen Londons würde man ihn wegen seines verwegenen Auftretens mit Argwohn betrachten.

Sie strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Störrisch fiel sie ihr gleich wieder vor die Augen.

In diesem Moment wollte es ihr nicht so recht gelingen, sich daran zu erinnern, dass sie vor einem Jahr noch ganz selbstverständlich mit Leuten seines Standes zu Abend gegessen hatte. Clara und ihre Familie hatten sie nie wie eine Gouvernante behandelt. Sie hatte sich wie eine Dame gekleidet und war mit Höflichkeit und Respekt behandelt worden.

Jetzt fühlte sie sich wie eine Bäuerin, die vor dem Gutsherrn steht. Ihr Blick flackerte zu dem üppigen Mahl vor ihm. Die Portion Shepard’s Pie war groß genug, um ihre ganze Familie zu ernähren. Selbst wenn ihr Bruder anwesend gewesen wäre, hätte es gereicht, und er war ein berüchtigter Nimmersatt.

Sie wandte den Blick von der verlockenden Mahlzeit ab, damit der Mann nicht die hungrige Sehnsucht in ihren Augen sah.

Ihr Blick fiel auf seine Hand. Er hielt sein Glas locker und drehte es gemächlich auf dem Tisch. Sie atmete tief ein und versuchte, sich nicht von ihm aus der Fassung bringen zu lassen – auch wenn das alles andere als leicht war.

Warum sollten manche Menschen alles haben und andere nur durch den Umstand ihrer Geburt so wenig? Warum sollte er ein so privilegiertes Leben führen, während sie keine Ahnung hatte, woher sie und ihre Geschwister die nächste Mahlzeit bekommen sollten?

Sie atmete aus und verdrängte die unerwünschten Gefühle. Es hatte keinen Sinn, über Dinge zu weinen, auf die sie keinen Einfluss hatte. Das war ihr Los im Leben, und sie musste das Beste daraus machen.

Er musterte sie, und sein Gesichtsausdruck konnte nur als gelangweilt bezeichnet werden.

Marian dachte fieberhaft über eine Erklärung für ihr Verhalten nach, die nicht einen ganz so schlechten Eindruck hinterlassen würde. Auch wenn sie nicht glaubte, ihm etwas vormachen zu können, dafür war ihr Auftritt zu eigenartig und ihr Aussehen zu verwahrlost.

Man hatte ihr eine Galgenfrist gewährt. Sie war dem Kohlenhändler für einen weiteren Tag entkommen. Das war alles, was zählte. Jede noch so kleine Demütigung war es wert. Sie überlebte in diesen Tagen einfach, so gut sie konnte.

„Äh, danke.“ Natürlich war sie ihm ihren Dank schuldig. Er hatte es ihr ermöglicht, unter seinem Tisch unbemerkt zu bleiben.

Er starrte sie nur mit diesem unendlich finsteren Blick aus seinen dunklen Augen an. Was ihr anfing, auf die Nerven zu gehen.

Sie schwiegen einander an. Sie wankte auf ihren Füßen. Ihre schlammigen Stiefel scharrten über die Holzdielen, was ihr in der Stille als unpassend laut auffiel.

Sie faltete die Hände ordentlich vor sich, während sie darauf wartete, dass er etwas sagen würde. Irgendetwas. Sein Blick folgte der Bewegung ihrer Hände.

Sie hockte nicht mehr zusammengekauert unter einem Tisch, verloren im tiefen Schatten. Er hatte sie jetzt voll im Blick und musterte sie von Kopf bis Fuß, schätzte sie ein und machte keinen Hehl daraus.

Er rieb sich beiläufig das Ohr und schaute … desinteressiert drein.

Sie verspürte einen vollkommen unangemessenen Stich.

Jeder in diesem Dorf schien nicht aufhören zu können, sie anzustarren, zu glotzen und sie mit einer Erwartung anzustieren, als ob sie plötzlich anfangen würde zu singen oder zu tanzen oder ihr ein zweiter Kopf wachsen würde. Sie schien für alle eine einzige Vauxhall-Vorstellung zu sein. Sie warteten mit angehaltenem Atem auf ihre nächste Darbietung.

Schließlich brach er das Schweigen. „Sie bedanken sich bei mir? Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie mir in dieser Angelegenheit keine Wahl gelassen.“

„Natürlich hätten Sie mich bloßstellen können.“ Sie legte den Kopf schief. „Aber das haben Sie nicht. Dafür bin ich Ihnen dankbar.“

Er lehnte sich zurück und legte einen langen Arm auf die Rückenlehne des Nachbarstuhls. Sie war sich der Kluft, die sie in diesem Moment trennte, sehr wohl bewusst. Er, dieser mächtige Mann mit seinen dämonisch dunklen Augen, könnte sie aus einer Laune heraus in jeder Hinsicht zermalmen und müsste dafür keine Konsequenzen fürchten. Sie hingegen war vollkommen machtlos und ihm ausgeliefert.

Verbitterung regte sich in ihrer Brust.

Eine Zeit lang hatte sie mit Männern seinesgleichen an einem Tisch gegessen, nur um dann alles zu verlieren. Das Dach über dem Kopf. Das elegante Schlafgemach mit einem stets prasselnden Feuer im Kamin. Die schönen Kleider, die ihr zur Verfügung gestellt worden waren. Die neuesten Bücher, die sie in aller Ruhe hatte lesen können. Köstliche Küchlein am Nachmittag – mehr als sie jemals auf einmal hätte essen können. Sie waren jeden Tag zum Tee serviert worden. Es war ihr immer schwergefallen, sich bedienen zu lassen oder halb gegessenes Gebäck zurück in die Küche gehen zu lassen.

Wie prekär das Leben doch war, vor allem für ihr Geschlecht, und dass sich in einem Augenblick das ganze Leben ändern konnte.

„Sie sind der Verdorbene Duke.“ Mr. Colley hatte ihn mit „Seine Gnaden“ angesprochen. Er konnte niemand anderes sein. Schließlich gab es in dieser Gegend nicht viele Dukes, und im ganzen Reich konnte es nur einen Duke mit einem solchen Beinamen geben. „So werden Sie von allen hier genannt.“ In ihrer Stimme klang ein schwacher Vorwurf und vielleicht noch etwas anderes mit. Vielleicht Enttäuschung.

Sie hob das Kinn. Wenn sie sich schon so weit vorwagte, dann sollte sie es auch mit einer gehörigen Portion Unerschrockenheit tun. Das war schließlich alles, was sie noch hatte. Tapferkeit. Und offenbar auch die Fähigkeit, sich unter Tischen unsichtbar zu machen.

Er war kürzlich in Haverston Hall eingezogen. Der verstorbene Mr. Haverston hatte das Anwesen dem Duke of Warrington hinterlassen. Offenbar gab es eine lose Familienverbindung zwischen ihnen.

Das Herrenhaus lag hoch oben auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Das imposante Gebäude hatte die meiste Zeit ihrer Mädchenzeit leer gestanden. Sie und andere Kinder aus dem Dorf hatten in den weitläufigen, überwucherten Gärten getobt und gespielt, waren durch den Hof gelaufen und hatten durch die schmutzigen Fenster gespäht.

Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob der Duke den Besitz hatte instand setzen lassen, seit er ihm gehörte, oder ob die Gärten immer noch von Unkraut überwuchert waren.

In der Tat kursierten zahlreiche Geschichten über diesen Duke of Warrington. Sie hatte von den Frauen gehört, die ihn regelmäßig besuchten. Sie fuhren zu jeder Tages- und Nachtzeit in großen Kutschen durchs Dorf.

Man munkelte, dass nicht alle sein Haus auch wieder verlassen hätten. Frauen gingen hinein, aber nicht alle kamen wieder heraus.

Sie hatte über solche albernen Geschichten stets die Augen verdreht. Nur weil niemand die Abreise der Frauen beobachtet hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie nicht gegangen waren.

Mrs. Pratt, eine Nachbarin und die größte Klatschtante im ganzen Land, hatte Marian und ihren Schwestern mehrere anspielungsreiche Häppchen zu diesem Thema vorgesetzt.

Charlotte und Nora hatten gebannt gelauscht. Mrs. Pratts kleiner Hof lag näher an Haverston Hall, sodass sie ihr Geplapper als Wahrheit ansahen, in der Annahme, dass sie eine Zeugin der Geschehnisse war, von denen sie immer so aufgeregt erzählte.

„Ich bin sicher, dass diese Frauen abgereist sind, als Sie schon fest geschlafen haben.“ Marian hatte versucht, diesem Unsinn einen Riegel vorzuschieben. Sie wollte nicht, dass ihre Schwestern alles vorbehaltlos glaubten, was sie hörten, vor allem nicht aus dem Munde einer Frau, die eine Vorliebe für Klatsch und Tratsch hatte.

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Mrs. Pratts Gesicht lief rot vor Ärger darüber an, dass Marian sich weigerte, ihr zu glauben. „Ihre Schreie hätten dein Blut zum Gerinnen bringen können.“

„Schreie?“, fragte Nora mit großen Augen.

„Aye.“ Mrs. Pratt lehnte sich näher zu ihnen. „Als Mr. Pratt vor dem Abendessen die Schweine fütterte, konnte er sie vom Herrenhaus hören, ihre Hilferufe hallten durch die Luft wie die Schreie einer Banshee.“ Sie nickte heftig, und ihre Wangen bebten bei dieser Bewegung.

„Ich bin sicher, es war nur der Wind“, meinte Marian beschwichtigend. „Er heult durch das Auenland. Wenn Frauen vermisst würden, hätte man das bemerkt und würde entsprechende Nachforschungen anstellen.“

„Wer würde einen so mächtigen Mann wie ihn befragen?“ Mrs. Pratt schnaubte. „Was bist du doch für ein naives Fräulein, bei all deinen Reisen um die Welt. Wer würde es wagen, ihn mit solchen Fragen zu belästigen?“

Marian hatte das Gerede als anzüglichen Klatsch abgetan und ihren Schwestern eingebläut, nicht alles zu glauben, was man ihnen versuchte weiszumachen.

Nur jetzt, da sie vor ihm stand, war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob nicht doch etwas dran war an den Geschichten über ihn.

„Verdorbener Duke?“, fragte er. „So nennen sie mich also?“ Er wirkte keineswegs verärgert, eher leicht amüsiert. „Interessant.“

„Sie meinen, Sie wussten es nicht?“

„Wer würde denn so dreist sein, mich so anzusprechen?“ Er sah sie an und meinte: „Außer Ihnen.“

Sie musterte ihn einen Moment, um zu sehen, ob er noch mehr zu diesem Thema sagen würde. Als er schwieg, fügte sie hinzu: „Beleidigt Sie dieser Spitzame?“

„Spitzname“, wiederholte er sinnierend und klang dabei fast ein wenig bedrückt. „Das klingt so freundlich und sanft. Nicht das, was einem in den Sinn kommt, wenn man das Wort ‚verdorben‘ hört.“

„Beleidigt es Sie?“, hakte sie nach.

Nach einem kurzen Moment antwortete er ihr: „Ich bin kein Mann, der sich beleidigen lässt, Mädchen.“

Mädchen. Dieses eine Wort hatte die Macht, sie klein und unbedeutend erscheinen zu lassen.

„Sind Sie nicht?“ Sie runzelte die Stirn. „Wie eigenartig. Kann das überhaupt möglich sein? Jeder ist verletzlich.“

Er betrachtete sie noch einmal eingehend, bevor er abwinkte. „Ich nicht.“

„Unfug“, erwiderte sie schnell.

Er legte den Kopf schief, und sie hatte das Gefühl, dass sie ihn überrumpelt hatte. „Sie widersprechen mir, Mädchen?“

Schon wieder das Mädchen. Als wollte er sie kleiner machen, als sie war.

„Ich widerspreche Ihnen, ja“, entgegnete sie, nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen. Er mochte ein Duke sein, aber er war nicht ihr Herr – egal, was sie ihm schuldig war.

„Man müsste sich schon anstrengen, um sich daran zu stören“, sagte er zögerlich, als würde er sich wundern, dass er dieses Gespräch mit ihr führte. Und in der Tat war das Gespräch für zwei Fremde ziemlich persönlich, intim. Obwohl, wenn man bedachte, wie sie sich kennengelernt hatten, war es vielleicht nicht ganz so intim.

„Oh. Und es ist Ihnen wirklich egal?“ Welch ein Glück für ihn. Nur die ganz Privilegierten konnten es sich leisten, sich nicht darum zu scheren, was andere von ihnen dachren. Diesen Luxus besaß sie nicht.

Er griff nach seinem Weinglas. Er hob es an und betrachtete die rote Flüssigkeit darin. „Ich kümmere mich um meine Ländereien. Trinke ab und zu einen guten Wein. Esse gern gut. Genieße hin und wieder erstklassigen Sex.“ Sein Blick fiel wieder auf sie, intensiv und prüfend. „Es gibt kaum etwas anderes, was mich interessiert.“

Vor Empörung schnappte sie nach Luft. Dieser Schuft! Wenn er sie schockieren wollte, hatte er es geschafft.

Sie konnte sich nicht vorstellen, derartig ignorant und selbstbezogen zu sein. Sie sorgte sich zu sehr. Um viele Dinge. Die Liste war endlos, aber an erster Stelle standen die Menschen. Ihre Familie.

„Das ist sehr traurig.“

Er verspannte sich, und sie wusste sofort, dass ihm ihre Worte nicht gefallen hatten. Im Gegensatz zu dem, was er behauptet hatte, hatte sie offenbar einen Nerv getroffen – und sie war froh darüber.

„Ich bin nicht diejenige, die sich vor Gläubigern unter Tischen versteckt. Sie machen einen traurigen Eindruck auf mich.“

In seiner Stimme schwang eine gehörige Portion Verachtung mit. Sie zuckte zurück, aber das hatte er gewollt. Er wollte sie in ihre Schranken weisen.

„Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Hilfe.“ Sie versuchte so viel Würde auszustrahlen, wie sie aufbringen konnte, und erinnerte sich daran, dass er nicht besser war als sie selbst. Der Zufall seiner Geburt hatte ihn an die Spitze der sozialen Hierarchie katapultiert, aber das war auch schon alles. Eine Laune des Schicksals hätte dafür sorgen können, dass er derjenige gewesen wäre, der sich vor einem Gläubiger unter einem Tisch verstecken musste. Und nicht sie.

Sie straffte die Schultern und verließ hoch erhobenen Hauptes dieTaverne.

3. KAPITEL

Nate musste sich unbedingt von diesem verdammten Dorf fernhalten.

Bis jetzt hatte er Brambledon auf seinem Weg nach Haverston Hall umgangen. Das Letzte, was er wollte, war, sich mit den Einheimischen auseinanderzusetzen. Es lag ihm nicht, sich mit Menschen eingehender zu befassen, wenn es nicht unbedingt sein musste – nicht einmal mit denen seines eigenen Ranges. Vor allem mit denen seines eigenen Ranges nicht. Die meisten von ihnen waren unausstehlich. Aufgeblasene Wichtigtuer, denen man nicht eine Minute zuhören konnte.

Mit Ausnahme von Pearson, seinem Sekretär, hatte Nate mit nur wenigen Menschen Kontakt, und das war ihm auch lieber so. Er war nicht gesellig. Das wusste er. Er bedauerte es nicht, auch wenn Pearson darauf bestand, ihn einen Misanthropen zu nennen.

Er hasste die Menschen nicht. Er mied nur ihre Gesellschaft.

Er wusste, dass Männer Freunde hatten. Lebenslange Freunde, die sie in der Schule kennengelernt hatten. So war es bei den meisten. Nur bei ihm nicht. Für Nate war die Schule kein Ort gewesen, an dem man Freundschaften pflegte.

Als Junge war er recht klein und schmächtig gewesen. Seine Eltern hatten ihn im zarten Alter von sechs Jahren ins Internat gesteckt, damit sie sich nicht um ihn kümmern mussten, während sie ihren Interessen nachgingen. Gelegentlich holten sie ihn nach Hause. Ein paarmal im Jahr hatte er eine kurze Pause von dem Spott und Hohn seiner Klassenkameraden. Seine Altersgenossen genossen nichts mehr, als ihn, den Kleinen, Zarten, zu quälen … und zu schlagen. Es gab keine Hilfe, keinen Ausweg für ihn. Es war einfach sein Leben. Ein freundloses, einsames Leben voller Misshandlungen.

Als er endlich achtzehn Jahre alt geworden war, durfte er die Schule verlassen. Ironischerweise war er, nachdem er von seinem Martyrium befreit gewesen und seinen schikanierenden Mitschülern entkommen war, in die Höhe geschossen. Jetzt war er breitschultrig und beinahe zwei Meter groß und konnte sich verteidigen.

Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er einige dieser Jungs in der Stadt gesehen. Sie lächelten alle, als wäre nie etwas gewesen, und klopften ihm auf die Schulter, als wären sie alte Freunde und hätten ihm nie auch nur ein Haar gekrümmt. Als hätten sie ihm keinen Schmerz zugefügt.

Er hatte diese bitteren Jahre nicht vergessen. In der Tat, das hatte er nicht. All die kleinen verwöhnten Jungs aus seiner Kindheit und Jugend waren nun bereit, seine Freunde zu sein, aber er hatte keine Verwendung für sie. Niemals würde er sie in sein Leben lassen, da blieb er lieber allein.

Der Hunger hatte ihn heute Abend ins Dorf getrieben. Mehrere von Haverstons Angestellten, einschließlich der Köchin, hatten gekündigt, nachdem er angekommen war. Offenbar hatten sie etwas gegen ihn. Er schnaubte. Und jetzt wusste er auch, was es war. Sie sind der Verdorbene Duke.

Er hatte die Köchin noch nicht durch eine neue ersetzt, die ihm ein appetitliches Menü hätte zubereiten können. Er war der Verlockung eines guten Essens erlegen und hatte sich aus Haverston Hall hinausgewagt. Offenbar war das ein Fehler gewesen. Lektion gelernt.

Hätte er sich an seine Gewohnheiten gehalten, dann hätte ihn ein unerzogenes Dorfmädchen mit einer bissigen Zunge nicht in seiner Ruhe gestört, während er versuchte, sein Abendessen zu genießen.

Er konnte sie immer noch vor seinem geistigen Auge sehen. Feurige Augen. Die Strähnen ihres blonden Haares fielen ihr unordentlich ums Gesicht. Ihr Kleid war schmutzig, weil sie auf dem Boden unter dem Tisch gehockt hatte. Sie war hübsch, aber nicht nach seinem Geschmack.

Er mochte seine Frauen lieber gepflegt. Anständige Gespielinnen, die wussten, was sie taten, und die kein loses Mundwerk hatten. Er heuerte sie für ihre Dienste an, und wenn sie fertig waren, gingen sie wieder. Es war ein Geschäft. Ein einfaches Geschäft. Keiner wurde verletzt. Beide Seiten waren mit der Vereinbarung zufrieden, und jeder bekam, was er wollte.

Keine dieser Frauen war wie die kleine Vagabundin, die es gewagt hatte, sich unter seinem Tisch zu verbergen, um dann als Dank auch noch frech zu werden.

Er hätte sie an den Kohlenhändler, der hinter ihr her gewesen war, verraten sollen. Das wäre das einzig Richtige gewesen. Schließlich war er ihr nichts schuldig.

Er war sich nicht sicher, warum er ihr geholfen hatte. Vielleicht war es etwas in ihren Augen gewesen, mit denen sie ihn so flehentlich angesehen hatte. Er hatte ihre Farbe in dem schummrigen Licht, das in der Taverne herrschte, nicht erkennen können, aber sehr wohl den Schimmer der Verzweiflung in ihrem Blick.

Bevor es ihm überhaupt bewusst geworden war, hatte er genau das getan, was sie verlangte, und geschwiegen. Dann, nachdem die Gefahr gebannt gewesen und der Kohlenhändler verschwunden war, hatte er sich mit ihr unterhalten. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so viele Worte mit einer Frau gewechselt hatte.

Er mied vielleicht den ton und die Menschen an sich, aber Frauen hatte er in seinem Leben reichlich. Oder besser gesagt, in seinem Bett. Um Sex zu haben, musste man kein Gespräch führen. Er redete nie ausführlich mit einer seiner Geliebten. Es war unnötig.

Verdammter Mist. Hätte er in Haverston Hall eine anständige Köchin gehabt, wäre er nicht gezwungen gewesen, sein warmes Zuhause zu verlassen.

Zuhause. Das Wort klang hohl.

All die Jahre, die er in der Hölle – in der Schule – verbracht hatte – er konnte nicht behaupten, dass er je ein Zuhause gehabt hätte, aber Haverston Hall war immer der Ort für ihn gewesen, der einem Heim am nächsten kam. Er hatte dort einen inzwischen lang zurückliegenden Sommer mit Mr. Haverston, einem entfernten Cousin seiner Mutter, verbracht. Ein Sommer, in dem er glücklich gewesen war, frei von den Tyrannen in der Schule. Ein Sommer, in dem er Haverstons Patentochter Mary Beth kennengelernt hatte.

Sie verbrachten ihre Tage damit, im See zu angeln, den Jahrmarkt im Dorf zu besuchen und über Piraten zu reden. Ihre Faszination für Piraten konkurrierte mit seiner eigenen. Sie war seine erste richtige Freundin, und er wollte sich nie wieder von ihr trennen. So jung wie er war, hatte er damals schon gewusst, dass er einmal um ihre Hand anhalten würde.

Als er sie im zarten Alter von zwanzig Jahren fragte, ob sie seine Frau werden wolle, willigte sie ein. Obwohl sie sich zu dem Zeitpunkt seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, sagte sie Ja. Er glaubte, ihre Ehe würde erfüllt sein von der Freude, die sie in jenem Sommer miteinander geteilt hatten. Er dachte, dass sie glücklich sein, dass sie eine Familie miteinander gründen würden.

Stattdessen musste er feststellen, dass Mary Beth nur noch ein Schatten ihres alten Ichs war und kaum noch Erinnerungen an ihren gemeinsamen Sommer hatte. Trotzdem war es ein schwerer Schlag für ihn gewesen, sie zu verlieren, als sie versuchte, ihr Kind auf die Welt zu bringen.

Als Haverston verstorben war und ihm das Gut hinterlassen hatte, hätte Nate nicht überraschter sein können. Der alte Mann war zwar erbenlos geblieben und ihm freundlich gesinnt gewesen, aber Nate hatte nicht damit gerechnet, dass er ihm sein Anwesen vermachen würde.

Nate hatte sich um der alten Erinnerungen willen auf dem Gut niedergelassen. Als ob er hier seine Jugend wiedererleben könnte, die Tage, an denen er mit Mary Beth herumgetollt war.

Als ob er wieder der Junge werden könnte, der er einst gewesen war. Unbeschwert. Sorgenfrei.

Frei von Schmerz und Verlust.

Er schnaubte und griff nach seinem Weinglas und stürzte den letzten Rest davon hinunter. Sentimentaler Unfug.

Die Vergangenheit konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Es gab keinen Ort, der frei von Schmerz und Verlust war. Er existierte für ihn nicht.

Als er nach seiner Ankunft durch das Haus mit seinen verlassenen Zimmern und über das verwilderte und von Unkraut überwucherte Grundstück gegangen war, hatte er den Ort aus jenem längst vergangenen Sommer kaum wiedererkannt. Mary Beth konnte er in den nun muffigen Räumen und schattigen Fluren nicht mehr sehen. Nicht so, wie sie damals gewesen war – ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar, das über all seine Streiche lachte und seine kindlichen Träume von der hohen See teilte.

Er wusste, dass er das Haus einrichten und renovieren sollte – ihm wieder zu seinem früheren Glanz verhelfen. Er könnte es, wenn er die Motivation dazu gehabt hätte. Wenn Mary Beth und ihr Baby noch gelebt hätten, hätte er es vielleicht für sie getan.

Das Haus passte besser zu ihm, so wie es jetzt war. So wie er jetzt war. Der Verdorbene Duke.

Sie sind der Verdorbene Duke.

Das Dorfmädchen hatte kein Blatt vor den Mund genommen, als es ihm diesen Beinamen um die Ohren schleuderte. Sie hatte ihn wissen lassen, was hinter seinem Rücken über ihn gesagt wurde – und dann hatte sie die Frechheit besessen, ihn traurig zu nennen. Ihn! Dabei war sie diejenige, die sich so offensichtlich in einem traurigen, verzweifelten Zustand befand.

Jetzt war ihm der Appetit vergangen, er ließ ein paar Münzen auf den Tisch fallen und erhob sich. Er war in seinem Leben schon oft beleidigt worden. Sein Status und seine Stellung schützten ihn nicht davor. Worte, die weitaus hässlicher als „traurig“ waren, hatte man ihm an den Kopf geworfen. Und doch war es ihm unter die Haut gegangen.

Sein Stiefvater hatte es mehr als jeder andere genossen, ihn mit Schimpfwörtern zu überhäufen, als Nate noch jünger gewesen war – jetzt traute er sich das nicht mehr. Der Mann hatte nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Nate gemacht. Nate hatte keine Erinnerung an seinen richtigen Vater. Er war gestorben, als Nate noch in den Windeln lag, aber sein Stiefvater hatte ihn immer voller Geringschätzung behandelt. Es war, als ob Nates bloße Existenz dazu diente, ihn daran zu erinnern, dass seine Frau vor ihm mit einem anderen zusammen gewesen war – mit jemandem, der zufällig ein Duke gewesen war und einen höheren Rang eingenommen hatte als er. Irrational, aber Ressentiments folgten selten logischen Gesichtspunkten.

Als er die Taverne verlassen hatte, sah er das Mädchen nirgends. Sie war verschwunden. Ein paar Leute flanierten auf der Straße, aber sie war nicht darunter.

Ein Bursche holte sein Pferd, und Nate befand sich bald auf dem Heimweg. Er stellte den Kragen seines Mantels auf und zog seinen Hut tiefer, als ein feiner Sprühregen einsetzte.

Als er Haverston Hall erreicht hatte, war ihm kalt. In der Halle nahm ihm ein Diener Mantel, Mütze und Handschuhe ab. Er sehnte sich nach der Wärme eines Feuers und begab sich in den Salon. Schnurstracks ging er zum Kamin und streckte seine Hände den Flammen entgegen.

„Ah, da sind Sie ja.“ Pearson betrat den Raum. Sein Vater war der Stallmeister von Warrington gewesen, aber Pearson hatte kein Interesse daran gezeigt, in seine Fußstapfen zu treten. Als Nate ihm eine Stelle als sein Sekretär anbot, hatte er gerne angenommen.

„Hier bin ich“, bestätigte Nate gedankenverloren und drehte seine Hände um, damit auch die Rückseiten warm wurden.

„Warum so bedrückt? War das Abendessen nicht zufriedenstellend?“

„Doch, es war besser als alles, was ich hier bekommen hätte, ganz sicher.“

„Dann …“

„Man nennt mich den Verdorbenen Duke. Wussten Sie das?“, fragte er. „Ich nehme an, deshalb hat die Köchin gekündigt.“

Auf seine Erklärung folgte Schweigen, und Nate sah über die Schulter. Ein Blick in Pearsons Gesicht verriet ihm, dass das Mädchen – oder war sie nicht eigentlich schon eine junge Frau gewesen? – ihm die Wahrheit gesagt hatte – nicht, dass er daran gezweifelt hätte. Sie war ihm nicht wie eine Lügnerin vorgekommen. Wenn überhaupt, dann war sie zu offenherzig gewesen.

„Ah. Das wissen Sie nun, ja?“ Pearson runzelte die Stirn und rieb sich den Nacken. „Wer hat es Ihnen gesagt?“

Denn es war eindeutig nicht die Art von Dingen, über die man sich in einer höflichen Konversation austauscht, aber seine Unterhaltung mit der dreisten Göre war auch nicht höflich gewesen. Was ihn nur noch mehr ärgerte. Wer war sie, dass sie sich mit solcher Selbstverständlichkeit in sein Leben einmischte?

Das ist sehr traurig.

Ihre Worte nagten immer noch an ihm … was, wie ihm bewusst war, in direktem Widerspruch zu seiner Behauptung stand, dass er sich um nichts scherte.

Offensichtlich kümmerte es ihn genug, sonst hätte er sich nicht so geärgert.

„Jemand aus dem Dorf“, antwortete er ausweichend.

Pearsons Augen weiteten sich. „Das überrascht mich aber. Nun, derjenige muss den Gerüchten über Sie nicht viel Bedeutung beigemessen haben, wenn er Ihnen das direkt ins Gesicht gesagt hat.“

„Eigentlich denke ich, dass sie den Gerüchten sehr wohl Glauben schenkt.“

„Sie?“

„Ja.“

„Wie überaus unerschrocken.“ Pearson nickte fast beeindruckt.

Nate gab einen verstimmten Laut von sich und wandte sich wieder dem Feuer zu. „Eher töricht, würde ich sagen“, murmelte er.

„Hm. Was immer sie auch sein mag, sie hat Eindruck auf Sie gemacht.“

Dem konnte er nicht widersprechen – so gern er es auch getan hätte.

4. KAPITEL

Marian verdrängte die Gedanken an den Verdorbenen Duke mit seinen teuflischen dunklen Augen und den gnadenlosen Kohlenhändler aus ihren Gedanken, als sie in ihre gemütliche Küche trat.

Endlich war sie zu Hause. Auch wenn es im Haus nur ein bisschen wärmer war als draußen, war sie endlich daheim und froh darüber.

Die Küche war ihr Lieblingsraum im Haus. Sie war voll von schönen Erinnerungen, an denen sie sich laben konnte. Erinnerungen an die Zeit, als Mama noch lebte. Ihre Mutter stammte aus einem vornehmen Elternhaus und war entsprechend erzogen worden. Trotzdem hatte sie die meiste Zeit in der Küche verbracht und gemeinsam mit der Köchin köstlich duftende Mahlzeiten zubereitet und herrliche Kuchen gebacken.

Marian konnte sich Mama jetzt vorstellen, wie sie in ihrer gestreiften Schürze am Arbeitstisch stand, mit Mehlflecken auf der Nase und mit den Händen tief im Teig, während sie über eine von den Anekdoten der Köchin lachte.

Marian stand in der Türschwelle, lehnte sich leise seufzend mit einer Schulter an die Wand und betrachtete die gegenwärtige Szene. Der Raum wirkte jetzt ein wenig kleiner, ein wenig dunkler – auf jeden Fall nicht mehr so gemütlich wie früher.

Bevor sie Gouvernante geworden war und ihr Zuhause hatte verlassen müssen.

Bevor ihr Papa gestorben war und sie zurückgekehrt, um sich um die Familie zu kümmern.

Dieser Gedanke ließ sie zusammenzucken. Sich um die Familie zu kümmern.

Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr das besonders gut gelang. Es war eine enorme, kaum zu bewältigende Aufgabe. Der Lohn, den sie als Lehrerin für einige Kinder der Gegend verdiente, reichte kaum aus, um über die Runden zu kommen. Kohle war nur eines der vielen Dinge, die sie brauchten, und auch nicht das wichtigste. Essen. Die Instandhaltung des Hauses.

Und Eton, natürlich. Phillip musste die Schule beenden, und da er erst dreizehn Jahre alt war, würde das noch eine Weile dauern. Er musste dortbleiben, wenn er irgendeine Zukunft haben sollte. Wenn überhaupt einer von ihnen eine Zukunft haben sollte.

Die Köchin war auch weg. Sie war schon sehr alt gewesen und hatte zu ihrer Tochter und deren Familie nach Dorset ziehen wollen. Sie hatten noch eine neue Köchin eingestellt, aber nach Papas Tod konnten sie sich einen solchen Luxus nicht mehr leisten.

So viel Veränderung. So viel verloren. So viel Kummer.

Es lag an ihr, für alle zu sorgen. Sie musste ihren Geschwistern helfen, das durchzustehen. Und sie würden es durchstehen. Irgendwie. Sie würden es schaffen, sie musste nur fest daran glauben.

An dem Tag, an dem ihr Vater zusammengebrochen war, hatten sie nicht nur ihn, sondern auch ihre Lebensgrundlage verloren. Als einziger Arzt der Stadt war er ein Mann mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln gewesen. Sie hatten immer Bücher, Kleidung und andere Dinge zur Verfügung gehabt, die sie sich jetzt nicht mehr gönnen konnten. Jetzt gab es nur noch Entbehrungen, und oft hatten sie nicht genug zu essen. Es war nicht leicht, Zuversicht zu bewahren.

Nora und Charlotte saßen so nah am Kamin, wie sie sich trauten, ohne dass ihre Röcke Feuer fingen. Marian beobachtete sie unbemerkt von der Tür aus. Sie waren mit ihren Näharbeiten beschäftigt. Das spärliche Licht im Raum zwang sie, sich tief über den Stoff zu beugen, um die Nadel an der richtigen Stelle anzusetzen.

Marian runzelte die Stirn. Sie würden blind sein, bevor sie alt waren, wenn sie bei so schlechtem Licht nähten und den Rücken ständig krumm hielten.

Nicht, wenn ich es verhindern kann, schwor sich Marian. Sie waren ihre Schwestern, und sie würde sie vor einem solchen Schicksal bewahren. Sie würde ihre Schwestern retten und ihrem Bruder ermöglichen, die Schule zu beenden. Irgendwie.

Sie räusperte sich, um sich zu sammeln, bevor sie zu ihren Schwestern trat.

„Es ist fast dunkel. Legt das Nähzeug weg“, wies sie die beiden an.

Das musste sich Nora, ihre jüngste Schwester, nicht zweimal sagen lassen. Sie sah auf und warf ihre Näharbeiten erleichtert zur Seite. Sie war zwar eine tüchtige Näherin, aber sie liebte diese Aufgabe nicht. Sie tat nur das Nötigste und nicht einen Stich mehr.