Erste Hilfe & Die Herrenausstatterin - Mariana Leky - E-Book

Erste Hilfe & Die Herrenausstatterin E-Book

Mariana Leky

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Beschreibung

Erste Hilfe fürs Herz – Zwei berührende und versponnene Romane von Bestsellerautorin Mariana Leky in einem Band! Erste Hilfe Die Erzählerin arbeitet aushilfsweise in einem Kleintierladen. Sie wohnt bei Sylvester, einem Frauenschwarm, der viel damit zu tun hat, sich vor seinen Verehrerinnen verleugnen zu lassen. Bei den beiden klopft eines Abends Matilda an, um zusammen mit dem größten Hund der Welt Unterschlupf zu suchen. Matilda hat ein Problem: Sie glaubt, den Verstand zu verlieren. Das durch Not und Zuneigung zusammengeschweißte Trio macht sich auf, ein unsichtbares Ungeheuer zu besiegen. Mariana Lekys erster Roman erzählt von Freundschaft und Angst: ein Erste-Hilfe-Kasten für die Tücken des ganz alltäglichen Lebens. Ihre zaghaften Helden halten zusammen, weil sie sich anders gar nicht zu helfen wissen – und verweisen damit bereits auf das liebenswert skurrile Personal aus ›Was man von hier aus sehen kann‹. Die Herrenausstatterin Katja Wiesberg verschwimmt die Welt vor Augen. Ihr Mann ist fort, sie ist ihren Job los und allein. Da sitzt auf einmal ein älterer Herr auf dem Rand ihrer Badewanne und stellt sich als Dr. Blank vor. Und noch ein Fremder taucht auf: ein Feuerwehrmann, der behauptet, zu einem Brand gerufen worden zu sein, und nicht wieder geht. Eine abenteuerliche Dreiecksgeschichte nimmt ihren Lauf, zwischen einer aus dem Alltag gefallenen Frau, einem überaus selbstbewussten Liebhaber und einem lebensweisen Toten. Mariana Lekys Roman entführt in eine Welt, die komischer und trauriger ist als unsere – und dabei geisterhaft menschlich.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Bücher

Erste Hilfe fürs Herz – Zwei berührende und versponnene Romane von Bestsellerautorin Mariana Leky in einem Band!

Erste Hilfe

Die Erzählerin arbeitet aushilfsweise in einem Kleintierladen. Sie wohnt bei Sylvester, einem Frauenschwarm, der viel damit zu tun hat, sich vor seinen Verehrerinnen verleugnen zu lassen. Bei den beiden klopft eines Abends Matilda an, um zusammen mit dem größten Hund der Welt Unterschlupf zu suchen. Matilda hat ein Problem: Sie glaubt, den Verstand zu verlieren. Das durch Not und Zuneigung zusammengeschweißte Trio macht sich auf, ein unsichtbares Ungeheuer zu besiegen.

Mariana Lekys Debütroman erzählt von Freundschaft und Angst: ein Erste-Hilfe-Kasten für die Tücken des ganz alltäglichen Lebens. Ihre zaghaften Helden halten zusammen, weil sie sich anders gar nicht zu helfen wissen – und verweisen damit bereits auf das liebenswert skurrile Personal aus ›Was man von hier aus sehen kann‹.

»Es ist nicht viel, was in einem Buch stehen muss, damit ein Lieblingsbuch daraus wird.« Süddeutsche Zeitung

Die Herrenausstatterin

Katja Wiesberg verschwimmt die Welt vor Augen. Ihr Mann ist fort, sie ist ihren Job los und allein. Da sitzt auf einmal ein älterer Herr auf dem Rand ihrer Badewanne und stellt sich als Dr.Blank vor. Und noch ein Fremder taucht auf: ein Feuerwehrmann, der behauptet, zu einem Brand gerufen worden zu sein, und nicht wieder geht. Eine abenteuerliche Dreiecksgeschichte nimmt ihren Lauf, zwischen einer aus dem Alltag gefallenen Frau, einem überaus selbstbewussten Liebhaber und einem lebensweisen Toten. Mariana Lekys Roman entführt in eine Welt, die komischer und trauriger ist als unsere – und dabei geisterhaft menschlich.

© Birte Filmer

Über die Autorin

Mariana Leky studierte nach einer Buchhandelslehre Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sie lebt in Berlin und Köln. Bei DuMont erschienen der Erzählband ›Liebesperlen‹ (2001), die Romane ›Erste Hilfe‹ (2004), ›Die Herrenausstatterin‹ (2010) sowie ›Bis der Arzt kommt‹ (2013). Ihr SPIEGEL-Bestsellerroman ›Was man von hier aus sehen kann‹ (2017) wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt, 2022 erschien ›Kummer aller Art‹ und wurde ebenfalls zum SPIEGEL-Bestseller.

Mariana Leky

Erste Hilfe

&

Die Herrenausstatterin

Zwei Romane in einem Band

Vollständige E-Book-Ausgabe der im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›Erste Hilfe‹ (© 2018) und ›Die Herrenausstatterin‹ (© 2020)

E-Book 2025

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

© 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Umschlaggestaltung ›Erste Hilfe‹: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlag ›Die Herrenausstatterin‹: Zero, München

Umschlagabbildung ›Erste Hilfe‹: Hand und Vogel: © Rüdiger Trebels, Vorlage für Vogel: © alinamaksimova/Fotolia.com, Pflanze: © ilbusca/istockimages

E-Book-Konvertierung ›Erste Hilfe‹: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-7558-1151-0

www.dumont-buchverlag.de

Mariana Leky

Erste Hilfe

Roman

Für Nicolas Dickner

Erstes Kapitel

in dem Matilda lieber nicht bleiben möchte. Es wird erklärt, warum Sylvester fast jede Nacht auf den Haaren der Erzählerin liegt.

»Ich liebe dich«, sagt Sylvester, und er sagt das, als würde ihn jemand dabei fotografieren. Wir sind in der Küche. Ich sitze auf der Spüle, Sylvester hat zerknittertes Geschenkpapier in der Hand. An dem Geschenkpapier hängt ein Kärtchen, »Alles Gute«, steht darauf.

Sylvester und ich sind kein Paar, und ich kann es nicht leiden, wenn Sylvester »Ich liebe dich« sagt. Vor allem, weil ich ihm dann »Ich liebe dich« zurücksagen soll, und zwar möglichst prompt.

Früher habe ich Sylvester gefragt, ob auch »Ich hab dich lieb« gilt, aber Sylvester behauptet, das gelte nicht. Früher habe ich Sylvester erklärt, dass »Ich liebe dich« sich abnutzt, je öfter man es sagt. Die Amerikaner beispielsweise, habe ich erklärt, sagen »Ich liebe dich« so oft, dass »Ich liebe dich« auf amerikanisch nicht mehr bedeutet als »Bis nachher«.

Es klingelt. Sylvester legt das glatt gestrichene Geschenkpapier auf den Kühlschrank, ich rutsche von der Spüle und gehe durch den Flur, in dem kleine Kartons mit Luftlöchern stehen. Sylvester geht mir hinterher, überholt mich und stellt sich vor die Wohnungstür. »Du willst also sagen«, sagt er, »dass du eine bist, die alles, was kostbar ist, verwahrt und aufspart für seltene Sonntagsbesuche.«

Um den Betrieb nicht aufzuhalten, weil es noch mal klingelt und seltene Sonntagsbesuche nach Kondensmilch klingt, sage ich Sylvester »Ich liebe dich« zurück, wie er es mir beigebracht hat, nicht zu laut, nicht zu leise, und Sylvester sagt: »Mit Namen.«

Ich sage: »Du hast auch nicht mit Namen.«

Sylvester sagt: »Natürlich habe ich mit Namen.«

Also sage ich: »Ich liebe dich, Sylvester«, wegen des Betriebes. Sylvester grinst, und ich frage: »Können wir dann jetzt bitte aufmachen?«

»Gern«, sagt Sylvester und öffnet die Tür.

Vor der Tür steht Matilda und sagt: »Guten Tag, es tut mir leid, dass ich so wenig gesagt habe.«

Matilda sagt aber eigentlich nie viel, und wenn, dann sagt sie es sehr leise. Wir haben uns daran gewöhnt und halten unsere Ohren nahe an ihr Gesicht. Nur manchmal sagen wir: »ein bisschen, nur ein bisschen lauter bitte, Matilda.«

»Ihr spinnt ja«, sagt Matilda dann, »ich schreie.« Wir sagen, sie schreie ganz und gar nicht, dann redet sie ein bisschen lauter, wir lehnen uns zwei Sätze lang zurück, bis Matilda wieder leise wird.

»Komm rein«, sage ich. Matilda kommt rein und sieht verfolgt aus. »Du siehst irgendwie verfolgt aus«, sage ich.

»Was?«, fragt sie.

»Du siehst aus, als wäre jemand hinter dir her gewesen«, sage ich.

»Mir geht's gut«, sagt Matilda, schiebt Geschenkpapier und eine Schüssel zur Seite und stellt eine Tüte Milch auf den Tisch. Der Tisch ist voll mit schmutzigen Tellern, Töpfen und Schüsseln.

»Habt ihr überhaupt geschlafen?«, fragt sie. »Kaum«, sagt Sylvester und tut drei Löffel Nutella und die Milch in einen Topf.

Ich setze mich wieder auf die Spüle, Matilda stellt sich neben mich. Ich gucke sie an. Sie legt den Arm um meine Schulter und lächelt. »Guck nicht so«, sagt sie, »ich habe auch nicht viel geschlafen.«

»Ach so«, sage ich.

»War doch aber schön gestern«, sagt sie. »Klar war's schön«, sagt Sylvester, und ich sage, »eigentlich schon.«

Matilda und Sylvester gucken mich ernst an. Sie hatten darauf bestanden. Matilda ist gut im Beteuern, und sie und Sylvester hatten beteuert, dass sie alles übernehmen würden, das Kochen, das Reden, das Tanzen und das Nachschenken, und also sage ich, »ja, schön.«

Ich wollte meinen Geburtstag nicht feiern, weil mir Feiern immer missraten sind, und habe behauptet, die wirklichen Feste fänden im Kopf statt, weil ich das auf einer Postkarte gelesen hatte. Ich hatte das auch dieses Jahr behauptet, aber Matilda und Sylvester hatten gesagt, mit den Festen im Kopf sei das ja wohl so eine Sache.

Die Feste im Kopf seien Reinfeierfeste, untröstliche Veranstaltungen, bei denen alle Gäste auf zwanzig nach zwölf warten, weil man dann gehen kann. Also haben Matilda und Sylvester angefangen mit ihren Beteuerungen, sie würden schon reden, kochen, tanzen und nachschenken, und es ist dann auch alles gut gegangen, und um zwanzig nach zwölf hat keiner außer mir gewusst, dass es zwanzig nach zwölf ist.

Um zwanzig nach zwölf hat Sylvester die Nachbarin geküsst, die schon lange darauf gewartet hatte, von ihm geküsst zu werden. Sylvester und die Nachbarin standen in einem Türrahmen und küssten sich insgesamt bis viertel vor zwei. Sylvester hatte seine eine Hand im Nacken der Nachbarin und in der anderen ein halb volles Weinglas, das er wegen der Küsse der Nachbarin ab und zu vergaß und in eine Schräglage geraten ließ, dann ging ich hin und drehte Sylvesters Handgelenk wieder gerade.

Um zwanzig nach zwölf ließ Matilda den stehen, mit dem sie versucht hatte, sich zu unterhalten. Sie hatte beteuert, sich zu unterhalten, aber der, mit dem sie es versucht hatte, hatte immer »wie bitte« gefragt, »was bitte« und »noch mal«. Dabei hatte er immer hilfloser und trauriger ausgesehen, weil man sich ausschließlich freuen möchte, wenn Matilda versucht, sich mit einem zu unterhalten, weil man sie verstehen möchte und weil es riskant ist, zu nicken oder den Kopf zu schütteln und so zu tun, als hätte man etwas verstanden.

Matilda fängt an, das verklebte Geschirr einzuweichen. Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Handflächen und sehe ihr dabei zu. Matilda lächelt mich an. »Geh mal von der Spüle runter«, sagt sie, »sonst wirst du nass.«

»Ich kann mich nicht mehr bewegen«, sage ich und rutsche ein Stück zur Seite, um dem sauberen Geschirr Platz zu machen.

Sylvester stellt drei Tassen auf den Tisch und kippt Schokolade hinein. Die Schokolade ist dick und braucht lange, bis sie in der Tasse angekommen ist. Ich tue nichts und tippe Matilda auf die Schulter. »Jetzt sag doch mal«, sage ich.

Matilda dreht sich um und streicht sich mit dem Handgelenk eine Strähne aus der Stirn.

»Was denn?«, fragt sie und stellt einen nassen Teller neben mich.

»Was mit dir los ist«, sage ich.

»Mit mir ist ganz bestimmt nichts los«, sagt Matilda und kratzt in einer Schüssel. »Aber du siehst komisch aus«, sage ich. »Du siehst auch komisch aus«, sagt Matilda, »du musst dich mal ausschlafen.«

»Genau«, sagt Sylvester und rührt in seiner ledrigen Schokolade. Matilda wischt sich die Hände an der Jeans ab und streicht mir über die Wange.

»Bleib doch besser hier«, sage ich. Matilda setzt sich zu Sylvester an den Tisch und guckt in ihre Tasse. Sie überlegt etwas länger als sonst. »Nein«, sagt sie dann, »ich wollte nur ein bisschen aufräumen helfen.«

»Wie du willst«, sage ich.

»Bis dann«, sagt Matilda.

Ich gehe durchs Wohnzimmer, durch eine Landschaft aus kleinen Salzhügeln, die Sylvester auf die Rotweinflecken gestreut hat, und lege mich ins Bett.

Wir wohnen unter dem Dach, und über meinem Bett ist ein Fenster, aus dem man ins Blaue und sonst fast nichts sieht, außer ab und zu einem Flugzeug und ein paar Regenschlieren.

Als Sylvester zum ersten Mal in mein Zimmer kam, hat er sich aufs Bett gesetzt und gesagt: »Da kann man durchsehen.« Blödsinnigerweise hat er das gesagt, und ich habe blödsinnigerweise geantwortet, ja, da könne man durchsehen.

Seither gucken wir meistens zusammen durch das Fenster ins Blaue, bis man nicht mehr hindurchsehen kann, weil Sylvester das Licht anmacht und man nur noch mein Gesicht und ein aufgeschlagenes Buch vor Sylvesters Gesicht sieht. Ich lese im Fenster die Titel und Untertitel vor Sylvesters Gesicht in Spiegelschrift. Manchmal versuche ich mich am Text auf dem Buchrücken im Fenster, bis ich müde werde und das Umblättern der Seiten, das einzig übrig gebliebene Geräusch, immer lauter wird und sich immer mehr anhört, als würde Sylvester neben mir kein Buch lesen, sondern die Seiten eines Fotoalbums umblättern, das schon lange nicht mehr angesehen worden ist.

Ich habe noch nie tagsüber im Bett gelegen, höchstens bei Entzündungen. Matilda und Sylvester sitzen in der Küche und haben Sylvesters dickflüssige Schokolade ausgetrunken oder weggekippt und ich überlege, ob Matilda nicht doch hier bleiben sollte, weil sie aussieht, als sei etwas hinter ihr her, aber Matilda ist noch nie hier geblieben, egal wie spät es war. »Du kannst gerne hier schlafen, Matilda«, haben wir oft gesagt, weil man sich freut, wenn Matilda da ist, und gern hätte, dass Matilda so lang wie möglich bleibt, und Matilda hat gesagt, nein, sie gehe dann doch lieber nach Hause. Ich habe aufgehört zu beteuern, dass sie wirklich gerne hier schlafen könne, weil ich nicht gut im Beteuern bin und auch immer lieber nach Hause gehe.

Die Haustür wird leise zugezogen. Kurz darauf klopft es. »Ja«, sage ich. Sylvester kommt rein, lässt sich rücklings aufs Bett fallen und bewegt sich nicht mehr.

»Du liegst auf meinen Haaren«, sage ich.

Sylvester setzt sich mühsam auf und lächelt mich an.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt er.

Sylvester kenne ich von einem Plakat. Es hing an der Bushaltestelle. Auf dem Plakat war eine leere Wohnung mit Parkett, Kisten und einer Zimmerpflanze. Sylvester saß mit einer Frau auf einer Kiste und freute sich, weil er eine Bank hat, die für einen da ist. Weder die Frau noch Sylvester sahen aus wie Leute auf Plakaten, damit man nicht denkt, dass die Bank nur für Leute auf Plakaten da ist.

Ich kannte das Plakat genau, weil man sich um acht Uhr morgens am liebsten vor das nächstliegende stellt und das so lange anguckt, bis der Bus kommt.

Daher wusste ich, dass Sylvester ein blaues und ein grünes Auge hat, dass seine Haare blond gefärbt sind und sein linker oberer Eckzahn schief ist. Ich kannte die Telefonnummer des Plakatdruckers von Sylvesters Plakat und ich wusste, dass es auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt war.

Weil ich außerhalb der Bushaltestelle nichts von dem Plakat wusste, habe ich Sylvester nicht erkannt, als er sich an den Cafétisch neben mir setzte. Weil ich jeden Tag ein paar Minuten lang aber einiges von dem Plakat mit Sylvester darauf wusste, kam er mir diffus bekannt vor, wie einem später jemand bekannt vorkommt, der in der zehnten Klasse von der Schule abgegangen ist und den man acht Jahre später plötzlich hinter einem Schalter sieht. Sylvester war kein abgegangener Mitschüler, und ich überlegte weiter bis tief in die Grundschule hinein, weil er mich von dem Tisch neben mir aus anguckte, als hätten wir früher zusammen ein Baumhaus gebaut oder uns sonstwie gemeinsam verdreckt oder verschrammt.

Sylvester setzte sich an den Tisch neben mir, trank Kaffee und versuchte manchmal, Dinge aufeinander zu stapeln, die sich nicht stapeln lassen.

»Darf ich?«, fragte er, als er irgendwann zwischen Montag und Freitag vor meinem Tisch stand.

»Bitte sehr«, sagte ich. Sylvester setzte sich hin.

»Du hast da eine Feder auf der Schulter«, sagte Sylvester. »Oh«, sagte ich.

»Du hast überhaupt oft Federn an dir dran«, sagte Sylvester und lächelte.

»Kleintierbedarf«, sagte ich.

»Ach so«, sagte Sylvester.

Zuerst haben wir nicht viel gesagt und dann sehr viel. Zuerst haben wir uns nur gegenüber gesessen, Sylvester hat versucht, den Salzstreuer auf den Zuckerstreuer zu stellen, und mich angesehen und sonst nichts getan, ich habe den Salzstreuer angesehen, so lange, bis die Reiskörner im Salz sich bewegt haben wie Mehlwürmer, und sonst nichts getan.

Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu fragen, warum Sylvester mich anguckt, als hätten wir einen Baumhausbau oder eine ganze verschrammte Kindheit hinter uns, und versucht, Sylvester möglichst genauso anzugucken, was mir nicht gut gelungen ist. Ich habe es seither oft probiert.

Von dem Plakat hat Sylvester nichts gesagt. Dann hat er angefangen, sehr viel zu erzählen, von acht Geschwistern, zwei Vätern, drei Stiefmüttern und einer gerade abgelegten Meisterprüfung zum Konditor. Er hat mit zwölf Zigaretten und Salz- und Zuckerstreuer auf der Marmorplatte diverse Dramen zwischen acht Geschwistern, zwei Vätern und drei Stiefmüttern nachgestellt. Weil zu Dramen auch immer das Umfallen gehört, ist sehr viel Zucker, Salz und Tabak auf die Tischplatte und dann in unsere Ärmel geraten.

In Sylvesters Dramen auf dem Marmortisch rannten Väter, Geschwister und Stiefmütter hin und her, Sylvester hatte jeden Tag ein neues Drama.

Hinterher haben wir uns Zucker, Salz und Tabak von den Ärmeln geschüttelt, und erst viel später habe ich erfahren, dass nichts davon stimmt.

Wenn man Sylvester darauf hinweist, dass etwas oder einiges von dem, was er erzählt, nicht stimmt oder gar nicht stimmen kann, wenn man ihm mit Fragen und Beweisen kommt, kümmert Sylvester das nicht, er hat keine Angst, überführt zu werden. Als ich viel später gesagt habe: »Sylvester, du hast nicht acht Geschwister, sondern gar keine und auch keine Stiefmütter, du hast keine zwei Väter, sondern nur einen einzigen herkömmlichen Vater, und ein Konditor hast du immer nur werden wollen«, hat Sylvester gefragt, ob er das wirklich alles behauptet habe.

Sylvester hat keine Angst, überführt zu werden, und er kam jetzt oft an meinen Tisch.

»Meine Großtante hat sich aufgehängt«, sagte Sylvester, nachdem ich gesagt hatte, dass ich umziehen müsse. Ich hatte gerade gesagt, dass der Vermieter Eigenbedarf angemeldet habe, als Sylvester mich unterbrach und sagte, seine Großtante habe sich aufgehängt.

»Das tut mir leid«, sagte ich.

Ich wusste nichts von einer Großtante, weil eine Großtante nie in Sylvesters Dramen vorgekommen war, nie wurde ein Salzstreuer oder eine Zigarette stellvertretend für eine Großtante auf dem Cafétisch hin- und hergeschoben. Ich überlegte, ob das mit der Großtante stimmen könnte.

»Ich habe sie nicht besonders gemocht«, sagte Sylvester.

»Trotzdem tut es mir leid«, sagte ich.

»Sie hat eine schöne Wohnung«, sagte Sylvester, »aber man kann sie nur zu zweit bezahlen.«

»Ach so«, sagte ich. »Ja«, sagte Sylvester und versuchte, den Salzstreuer auf den Zuckerstreuer zu stellen. Es ging nicht.

»Möchtest du einziehen?«, fragte er.

Zweites Kapitel

in dem aufwendige Schleifen gebunden und Meerschweine nicht gut ertragen werden. Es bieten sich günstige Gelegenheiten, etwas zu sagen.

Matilda kaufte Sachen für Fische. Als sie zum ersten Mal an die Kasse kam, mit einem Tropfsteinimitat für Aquarien, fragte sie, ob ich es einpacken könne. Wir hatten kein Geschenkpapier, weil eigentlich niemand Kleintierbedarf eingepackt bekommen will und man Kleintiere wegen der Luftlöcher im Karton nicht in Geschenkpapier packen kann. Ich besorgte Geschenkpapier für Matilda und wickelte ihr Wasserfilter und Fischfutter ein. Ich band aufwendige Schleifen um die Pakete, um mir und Matilda Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, aber keiner sagte etwas. Wir lächelten uns an. Manchmal hielt sie ihren Zeigefinger auf den Knoten, über dem ich eine weitere aufwendige Schleife band.

Ich hoffte, dass sie irgendwann mehr sagen würde als »Dieses hier, bitte«, wenn sie mit einem Zubehör für Fische an die Kasse kam, und »Vielen Dank«, wenn ich es ihr eingepackt und das Wechselgeld zurückgegeben hatte, obwohl das »Vielen Dank« immer besonders war. Matilda sagte »Vielen Dank«, als hätte ich ihr nicht das Wechselgeld gegeben, sondern ihr in letzter Sekunde die Tür eines Busses aufgehalten, den sie auf keinen Fall verpassen durfte. Das »Vielen Dank« klang benommen, als hätte sie nicht rennen müssen, um durch die aufgehaltene Bustür zu schlüpfen, sondern die ganze Zeit an der Bushaltestelle gestanden und nur vergessen einzusteigen, und es klang überhaupt nicht, als hätte ich ihr das Wechselgeld zurückgegeben.

Ich arbeite drei Tage in der Woche aushilfsweise im Geschäft von Herrn Mohn. Er ist groß, und ich vermeide es, ihm zu nahe zu kommen, aus Angst, er könne nachgeben, wenn man ihn berührt, aus Angst festzustellen, dass sein Körper widerstandslos ist wie ein Teig. In dem Geschäft ist es warm, es riecht nach Gewächshaus, Kleintierfell und Trockenfutter. Alles ist voll gestellt bis unter die Decke, und die Decke ist voll gehängt mit leeren Volieren und geflochtenen Katzentransportboxen in allen Größen. Das Schaufenster ist voller Aquarien. An den Wänden stehen Käfige mit Vögeln, Hamstern, Meerschweinen und Zwergkaninchen, Regale mit Vollnahrung und Ergänzungsfutter, Spielzeug für Hunde, Katzen und Vögel, mit Roll-, Nylon- und Lederleinen für kleine und mittelgroße Hunde, mit Lecksteinen und Wetzsteinen, Katzenshampoo und Hundebürsten, mit Laufrädern, Kleintiertränken, Katzenbäumen, Zierfischfutter und Nistmaterial. Für die Kartons mit den Luftlöchern, in denen man Vögel, Kaninchen, Hamster oder Mäuse transportieren kann, ist nirgendwo mehr Platz. Ich lagere die Kartons in unserem Wohnzimmer und bringe jeden Morgen zwei Kartons jeder Größe mit.

»Ich finde trotzdem alles mit einem Griff«, sagt Herr Mohn. Weil ich auch mit mehreren Griffen nichts finde, versuche ich immer wieder, alles nach Tieren zu ordnen, aber es hält nie. Ich versuche jeden zweiten Tag, alles nach Tieren zu ordnen, und während ich Filter und Pumpen für Aquarien und Snacks für ältere Hunde sortiere, versuche ich, mir einzuprägen, was man gibt oder appliziert, damit das Fell glänzt oder die Fischfarbe nicht blass wird, worauf welches Tier gegen Zahnstein kauen und was welches Tier bei Antriebsarmut schlucken muss.

Es ist eng und laut vom Gezwitscher der Sittiche und Finken, vom Gurgeln der Aquarien, vom Quieken der Meerschweine und der Kinder, die auf ein Meerschwein oder ein Kaninchen zeigen, das sie unbedingt haben wollen und kein anderes. All das erträgt Herr Mohn an empfindlichen Tagen nicht. An empfindlichen Tagen erträgt er nichts, keinen Ton, dann bleibt seine Tür zu und er kommt nicht heraus. An empfindlichen Tagen ruft er mich ab und zu im Geschäftsraum an, der direkt an sein Büro grenzt, um Anweisungen zu geben oder mir zu sagen, dass ich eigentlich ja gar keine ausgebildete Zoofachverkäuferin sei und man das merke, »an allen Ecken und Enden merkt man das«, sagt er.

Ich ertrage alles gut, bis auf das Quieken der Meerschweine. Immer, wenn ich für ein Kind ein Meerschwein einfange und in einen Karton packe, kribbeln meine Handflächen. Ich ertrage Meerschweine nicht gut. Das Quieken von Meerschweinen ist wahrscheinlich das Geräusch, das man im Kopf hat, wenn man verrückt wird.

Herr Mohn meint, Kinder seien Laufkundschaft, obwohl viele und oft dieselben Kinder kommen, aber sie kaufen nichts und bekommen nur zu Weihnachten, zum Geburtstag oder bei einer Eins etwas gekauft. »Wir leben von der Stammkundschaft«, sagt Herr Mohn.

Auf dem Boden liegen dicke Teppiche. Ich habe mehrfach gesagt, dass ohne die Teppiche alles besser wäre, weil sie nicht in das Geschäft passen und wir alle drei Stunden saugen müssen. Herr Mohn sagt, die Teppiche blieben, wo sie seien, »Teppiche dämpfen«, sagt er. Ich warte darauf, dass sich jemand aus der Stammkundschaft über die Teppiche beklagt, weil sich darin vieles einnisten kann, oder weil die Teppiche alles noch enger machen, so eng, dass einem eigentlich die Ohren zufallen müssten, wie in einem Flugzeug müsste man eigentlich immer schlucken, um die zugefallenen Ohren wieder aufzukriegen. Aber die Stammkundschaft, von der wir leben, muss nicht schlucken. Die Stammkundschaft blinzelt nicht einmal. Sylvester sagt, er glaube, die Stammkundschaft habe keine Lider.

Ich muss die Namen der Stammkundschaft und ihrer Tiere kennen und alles über Mundfäule, Kiemenwürmer und Zecken wissen. Ich muss auch das Schlimmere wissen, ich muss wissen, was welchem Zwergkaninchen oder Hamster wann wegoperiert oder weggestrahlt wurde, und manchmal muss ich auch wissen, was bei der Stammkundschaft selbst wann wegoperiert oder weggestrahlt wurde, was ausgeschält oder ersetzt werden musste.

Am Anfang habe ich jeden Abend nach Geschäftsschluss meine Muttermale begutachtet und nachgesehen, ob irgendetwas von mir sich langsam verbiegt oder ersetzt werden muss, weil ich den ganzen Tag mit der Stammkundschaft zusammen war, von der wir leben. Ich habe damit aufgehört, weil ich jeden Abend nach Geschäftsschluss nicht sicher war, ob ich nicht etwas übersehen hätte, das dringend weggestrahlt oder ausgeschält werden müsste. Ich hätte gern, dass mal jemand käme, um von seinem prächtigen Sittich zu erzählen oder seinen munteren Goldfischen, aber die Stammkundschaft erzählt lieber von allem, was ersetzt werden muss, was blass, verbogen oder antriebslos ist. Matilda war die einzige Kundin, die aussah, als habe sie nichts zu tun mit irgendetwas, das langsam blasser wird oder antriebsarm ist.

Immer, wenn keine Kunden da sind oder ich keinem helfen kann, übe ich, Springmäuse, Sittiche oder Zebrafinken einzufangen, denn ich bin nicht gut darin. Man muss die Hand eine Weile in den Käfig halten, lässig, wie man beim Autofahren eine Hand aus dem Fenster hält, bis sich die Tiere an die Hand im Käfig gewöhnt haben, und dann muss man zugreifen. Es hat lange gedauert, bis ich zugegriffen habe. Nymphensittiche fange ich immer noch nicht, nur Herr Mohn fängt sie. Nymphensittiche sind die größten Tiere, die wir im Geschäft haben. Wir haben kein Tier, das weit über den Knöchel geht.

Als Matilda zum vierten Mal in das Geschäft kam, übte ich, eine Springmaus einzufangen, und ich übte weiter, weil Matilda immer alles allein fand, obwohl sonst niemand etwas allein findet. Sie ging die Regale entlang, ich versuchte, die Springmaus zu fangen, und als ich sie hatte, kam ein Kind herein. Das Kind ging zu dem Käfig mit den Meerschweinen und den Zwergkaninchen und öffnete ihn. Ich hielt die Springmaus fest. Das Kind nahm ein Meerschwein aus dem Käfig und steckte es sich unter seine Jacke. Das Herz der Springmaus in meiner Hand klopfte schnell. Das Kind lief aus dem Geschäft. Matilda guckte ihm hinterher und dann zu mir. Ich ließ die Springmaus los und schaute Matilda an. Matilda ging zur Kasse, ich ging auch zur Kasse.

»Dieses hier, bitte«, sagte Matilda und legte eine Folienrückwand mit Süßwassermotiv auf den Tresen. Ich schnitt das Geschenkpapier zurecht. Matilda lächelte mich an. »Jetzt haben wir ein Geheimnis«, dachte ich.

»Vielen Dank«, sagte Matilda und suchte nach ihrem Portemonnaie. Sie hatte eine große Tasche, in der das Portemonnaie immer ganz unten war. Manchmal legte sie Dinge aus der Tasche auf den Tresen, um an das Portemonnaie zu kommen, sie legte ein Adressbuch auf den Tisch, Taschentücher, manchmal Briefe oder Handschuhe.

Als Matilda bezahlt hatte, kam Herr Mohn aus dem Büro. »Guten Tag«, sagte er.

»Guten Tag«, sagte Matilda.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich.

»Auf Wiedersehen«, sagte Matilda und ging aus der Tür.

»Wer ist das eigentlich?«, fragte Herr Mohn. »Stammkundschaft«, sagte ich. »Eine ausgesprochen hübsche Kundin ist das«, sagte Herr Mohn. »Ja«, sagte ich, stolz, als hätte ich irgendetwas damit zu tun, dass Matilda die schönste Kundin war, die jemals in das Geschäft gekommen ist.

Als Matilda gegangen war, rief mich Herr Mohn im Geschäftsraum an. »Kommen Sie mal bitte herein«, sagte er. Ich dachte, vielleicht weiß Herr Mohn über das Meerschwein unter der Jacke des Kindes Bescheid, weil er vielleicht irgendwo eine winzige kompromittierende Videokamera installiert hat.

Ich gehe selten und nur nach Aufforderung in sein Büro. Ich klopfe nicht an, denn Herr Mohn hat eine Doppeltür, gegen die man laut und womöglich zu laut schlagen müsste. Ich kenne mich aus mit Doppeltüren, auch meine Mutter hat eine Doppeltür. Herr Mohn und meine Mutter brauchen ihre Doppeltüren für unterschiedliche Fälle. Herr Mohn braucht seine, damit nichts hineindringt, falls draußen einer schreit, meine Mutter braucht ihre, damit nichts hinausdringt, falls drinnen einer schreit. Draußen schreit aber nie einer und drinnen auch nur selten.

Herr Mohn hatte nichts gesehen oder installiert, sondern fragte mich, was er mich immer fragt, erst über das berufliche und dann das private. Beruflich fragt mich Herr Mohn nach dem, was ich welchem Stammkunden verkauft habe und was bestellt werden muss. Ich antworte ihm, wie er es mir beigebracht hat, nicht zu laut und nicht zu ausführlich. Privat fragt mich Herr Mohn nach meiner Mutter und ob sie ihm etwas verschreiben könne.

»Ich brauche etwas gegen die Empfindlichkeit«, sagt Herr Mohn und deutet auf die Doppeltür und das Telefon, das unter zwei Kissen steht.

Wenn man Herrn Mohn etwas referiert oder erzählt, hört er an empfindlichen Tagen mehr darauf, wie laut man es ihm sagt, als darauf, was man ihm sagt, deswegen vertut er sich mit den Bestellungen und mit meiner Mutter. Ich erkläre Herrn Mohn immer wieder, dass meine Mutter nichts verschreiben, sondern nur zuhören kann. »Sie hört sehr gut zu«, sage ich und stelle mir vor, wie Herr Mohn sich auf die Couch vor meiner Mutter legt und ihr von seinem Leben erzählt, in dem etwas verbogen ist oder ersetzt werden muss. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter in ihrem Sessel sitzt und darüber nachdenkt, wie sie Herrn Mohn, der vor ihr liegt, am besten beibringen könnte, wie man möglichst am Leben bleibt.

Ich sage: »Meine Mutter kann nichts verschreiben, aber sie hört zu«, und Herr Mohn sagt: »Ich weiß ja, aber ich möchte etwas zum Einnehmen.«

Herr Mohn möchte das Psychische lieber vermeiden, und ich eigentlich auch, weil bei mir zu Hause immer alles psychisch war und überhaupt erst ernstlich und packend wurde, wenn es ins Psychische spielte. Ich sage dann: »Fragen Sie doch einfach mal Ihren Hausarzt.«

Weil Herr Mohn sich an empfindlichen Tagen nur die Lautstärke merkt, habe ich das schon öfters vorgeschlagen. Der Hausarzt von Herrn Mohn meint aber, dass die Empfindlichkeit von selber abklinge, weil er natürlich insgeheim auch meint, dass die Empfindlichkeit ins Psychische hineinspielt, und weil Hausärzte von Natur aus meinen, das Psychische klänge von selber ab.

Drittes Kapitel

in dem Sylvester mit einem neuen Leben nach Hause kommt. Die Erzählerin widmet sich lieber dem größten Hund der Welt, und am Schluss kann außer Sylvester niemand einschlafen.

Sylvester kommt einmal im Monat mit einer neuen Inkarnation. Er legt sich vor ein Medium, das ihm erzählt, wer alles und wo überall er schon gewesen ist in, wie das Medium schätzt, bisher mindestens acht Leben.

Ich habe Sylvester gefragt, warum er das wissen will. Sylvester hat gesagt, weil es nicht schade und dass das Medium noch einen Platz frei habe, falls ich auch wissen wolle, wer alles und wo überall ich schon gewesen sei.

Ich stehe am Küchenfenster und sehe Sylvester beim Nachhausekommen zu. Ich sehe zu, wie Sylvester in den Manteltaschen und in drei großen Tüten nach seinem Haustürschlüssel sucht, Sylvester hat alles immer gerade noch gehabt und jetzt nicht mehr, Haustürschlüssel, Eintrittskarten oder Kopfschmerzen.

Ich sehe Sylvester gern beim Nachhausekommen zu, und da ich ihm meistens nur einmal pro Tag dabei zusehen kann, muss es lange dauern. Ich glaube nicht, dass wir uns beide das Nachhausekommen ansehen, trotzdem suche ich manchmal ausführlich nach dem Schlüssel, falls Sylvester am Küchenfenster steht und mir zusieht. Ich grabe Tüten um und ziehe die Hosentaschen nach außen, damit es länger dauert.

Ich verfolge fast jeden Tag, wie Sylvester nach Hause kommt, Sylvesters Weggehen verfolge ich nicht.

Matilda sitzt am Küchentisch und liest in einem Ratgeber, den das Medium Sylvester geliehen hat, von dem Sylvester sagt, dass er nicht schade, besonders wenn man von irgendetwas verfolgt würde. »Ich werde nicht verfolgt«, hat Matilda gesagt, »das habe ich euch doch gestern schon gesagt«, und jetzt liest sie trotzdem darin.

Sie guckt zu mir herüber. »Schöne Ohrringe, übrigens«, sagt sie.

Ich fasse mir an die Ohrringe, die heute Morgen in das Frühstück geplatzt sind. Sylvester und ich dachten, es sei Matilda, aber dann war es jemand von der Expresspost, den wir noch nie gesehen hatten, weil noch nie jemand etwas verschickt hatte, das schnell bei uns ankommen musste. Die Ohrringe sind ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk. Sie sind steif und sternförmig und sehen aus, als könne man damit Plätzchen ausstechen.

»Hast du dich schon bedankt?«, fragt Matilda.

»Noch nicht«, sage ich.

Sylvester kommt rein, lässt die Tüten auf den Boden und sich auf den Küchenstuhl fallen, strahlt uns an und sagt, das Medium habe nicht nur einen, sondern sogar noch zwei Plätze frei.

Matilda hebt Sylvesters Beine vom Küchenstuhl, setzt sich hin und legt Sylvesters Beine auf ihre Knie. Ich ziehe eine Tafel Schokolade aus einer der Tüten und setze mich auf den Tisch. Sylvester sagt, Matilda und ich sollten das nächste Mal unbedingt mitkommen.

Ich will lieber nicht wissen, was alles und wo überall ich schon gewesen bin, weil ich nicht mal weiß, ob es stimmt, dass man schon mal jemand gewesen ist, und ich dem Medium nicht mit Fragen und Beweisen kommen könnte, wie ich Sylvester mit Fragen und Beweisen komme, wenn er Dramen erzählt. Womöglich redet einem das Medium ein persönliches Drama von vor tausend Jahren auf den Leib, und dann sitzt man da und macht sich Gedanken über den, der man mal war, ohne zu wissen, ob es überhaupt stimmt, dass man schon mal jemand gewesen ist.

»Ich will nicht zu dem Medium, weil ich keine Lust habe, plötzlich jemand gewesen zu sein«, sage ich und gebe Sylvester die Schokolade. Zartbitter kann ich nicht leiden, Zartbitter ist keine Schokolade. »Außerdem gerät man ja schon in Beweisnot, wenn man sich nur im akuten Leben aufhält.«

»Verstehe ich nicht«, sagt Sylvester.

»Kann ich hier schlafen?«, fragt Matilda plötzlich.

»Klar«, sagen wir.

»Du schläfst doch aber nie woanders«, sagt Sylvester.

»Bei mir sind die Maler«, sagt Matilda.

Matilda hat keine Maler erwähnt, die in nächster Zeit bei ihr sein würden. Wir kennen niemanden, bei dem die Maler sind. »Was denn für Maler?«, fragt Sylvester.

»Maler eben«, sagt Matilda.

»Ach so«, sage ich.

Sylvester sagt kurze Zeit nichts und fängt dann wieder damit an, dass das Medium nicht schade, und hält Matilda die Schokolade hin. »Danke«, sagt Matilda und hält sie fest.

»Es wäre doch schön«, sagt Sylvester, »wenn wir wüssten, dass wir uns schon mal begegnet wären, ich bin mir sicher, dass wir uns schon mal gekannt haben.«

Sylvester sagt, er glaube, dass ich die eine Hälfte von Bonnie und Clyde gewesen sei, weil das Medium heute gesehen habe, Sylvester sei die andere Hälfte gewesen.

Ich sage, dass ich mir das nicht denken könne, weil ich es schon nicht gut ertragen kann, wenn jemand ein Meerschwein stiehlt. Sylvester sagt, das sei ja gerade das Interessante: dass man wahrscheinlich jemand gewesen ist, der man sich nie zutrauen würde gewesen zu sein.

»Wäre es nicht gut«, fragt Sylvester, »wäre es nicht insbesondere für dich gut zu wissen, dass du mal ein Kapitalverbrecher oder Pirat gewesen bist?«, fragt er, »findest du nicht, das gäbe dir ein bisschen Pepp?«

»Ich will überhaupt keinen Pepp«, sage ich und werfe Sylvester einen Pfannenkratzer gegen den Bauch. Sylvester grinst.

Matilda gibt mir die Schokolade, sie ist warm, weil Matilda sie gut festgehalten hat. Matilda mag keine Schokolade, weil sie gehört hat, Schokolade mache unruhig.

»Tempeltänzerin fände ich interessant«, sagt Matilda, weil Sylvester neben einer Hälfte von Bonnie oder Clyde, neben einem Schiffskellner auf der Titanic, neben einem Jünger Jesu und neben einem Sklaven im Matriarchat auch schon Tempeltänzerin gewesen ist.

»Kann man auch ein Tier gewesen sein?«, fragt Matilda. Das könne man gewesen sein, sagt Sylvester. »Auch ein Hund?«, fragt Matilda.

»Ja, bestimmt auch ein Hund«, sagt Sylvester, »Herrgott«, sagt er und wirft den Pfannenkratzer zurück in die Spüle, denn er will nichts mit Hunden zu tun haben, seit Matilda mit Hunden zu tun hat, insbesondere mit einem Hund hat Matilda zu tun, mit dem Hund, der der größte Hund der Welt ist.

Als Matilda mit dem Hund in Herrn Mohns Geschäft kam, sagte sie: »Das ist er. Der größte Hund der Welt.«

 Der größte Hund der Welt ging mir bis knapp unters Knie. »Ein irischer Wolfshund«, sagte Matilda. »Er wächst noch. Wir müssen mit einem Riesen rechnen.«

Der Hund war sehr plötzlich aufgetaucht. Er war geblieben, weil Matilda ihn nicht abschlagen konnte und wahrscheinlich auch nicht abschlagen wollte, insgeheim weil sie findet, der Hund sei nicht nur der größte, sondern auch der schönste der Welt. Sylvester fand das nicht. Ich hatte »geht so« gesagt. Matilda war lange Zeit die Einzige, die den Hund schön fand. Der Hund war das Geschenk von einem, den Matilda mal geliebt hatte und jetzt nicht mehr, und der versuchte, sie mit dem Hundegeschenk zurückzubekommen, was Sylvester das Dämlichste fand, was man sich überhaupt vorstellen könne. Sylvester hat aber keine Vorstellung davon, wie dämlich man wird, wenn man jemanden zurückbekommen will. Sylvester will nie jemanden zurück, Sylvester wird immer nur zurückgewollt. Die Frauen, die Sylvester mal geliebt hat und die ihn zurückwollen, haben Hunde bisher zurückgehalten und stattdessen zu Gesprächen gegriffen, zum Schweigen oder stummen Nicken am Küchentisch oder zu mir.

Der Hund ging mir bis knapp unters Knie, als Matilda mit ihm in das Geschäft kam, und seither haben wir ihn herumgetragen, hinauf in Matildas oder unsere Wohnung und wieder herunter. Insbesondere Sylvester musste ihn tragen, weil der Hund ihm zwar nur bis knapp zur Unterschenkelmitte ging, aber so viel wog wie ein halber erwachsener Mensch. Die Pfoten des Hundes waren untertassengroß, und vor lauter Wachstum musste er halbtags schlafen und durfte keine Treppen steigen, weil die Knochen weich waren. Während der Hund schlief und wuchs, trug Sylvester ihn in den Armen durch Treppenhäuser, Matilda lief hinter ihm her die Treppen hoch und runter und erzählte Sylvester Geschichten, die den Hund interessant machen sollten. Matilda hatte extra für Sylvester englische Gedichte aus dem 13.Jahrhundert übersetzt, in denen der Hund besungen wurde, und sagte sie auf, während Sylvester vor ihr her den schlafenden Hund mit den weichen Knochen trug, »ein Lamm im Hause / ein Löwe auf der Jagd«, deklamierte Matilda.

Der Hund wuchs schnell. Als Matilda mit ihm in Herrn Mohns Geschäft kam und hinterher zu uns nach Hause, ging er Sylvester bis knapp zur Unterschenkelmitte, und kurze Zeit später war er über Sylvesters Knie und Matildas und meiner Oberschenkelmitte. Der Hund wuchs nicht als gesamter Hund, sondern abwechselnd an verschiedenen Stellen. Zuerst wuchsen ihm die Beine, zum Glück alle vier gleich schnell, dann die Ohren, so sehr, dass wir sie ihm auf dem Kopf zusammenbanden, wenn er fraß. Vor lauter Wachstum musste der Hund viel fressen, Matilda schaffte Fleisch in Plastiktüten heran. Sylvester und ich weigerten uns, die Plastiktüten hochzutragen, sie waren blutig und breiig und manchmal noch warm.

Der Hund wuchs immer weiter und beängstigend hoch, aber Matilda sagte: »Damit habe ich gerechnet.«

Sylvester sagte, er sei sich gar nicht mehr sicher, ob das überhaupt ein Hund sei. Ich sagte, meine Eltern hätten mir als Kind das Märchen von Familie Fischl vorgelesen, die plötzlich einen Drachen im Haus hatte, der so groß wurde, dass er irgendwann Familie Fischl samt Haus plus Garage auf dem Rücken trug. Matilda streichelte den großen verstruppten Kopf des Hundes und sagte: »Wachse nur weiter«, unnötigerweise sagte sie das.

Der Hund bellte nie. Sylvester fand das ein weiteres Indiz dafür, dass es überhaupt kein Hund sei. Matilda behauptete, er belle sehr wohl, aber nicht vor Fremden.

Der Hund bewegt sich immer noch langsam und rennt nur, wenn Matilda mit ihm über den Acker läuft. Matilda fährt den Hund jeden Abend zum Acker, ich fahre manchmal mit. Der Hund rennt über den Acker und über angrenzende Äcker, manchmal so weit, dass man ihn kaum noch sehen kann, und es sind diverse Äcker nötig, damit der Hund kleiner wird. Wenn der Hund über die Äcker rennt, kleiner wird und wieder größer, sieht Matilda aus, als dächte sie, dass alles so weitergehen könne.

Der Hund hatte Janosch geheißen, als Matilda damit gewonnen werden sollte, Matilda fand, das gehe nicht, weil man aus Janosch zweimal rauswächst. Matilda war fast doppelt so alt wie zu der Zeit, als sie zum zweiten Mal aus Janosch herauswuchs, und fast doppelt so alt sein reicht nicht zwangsläufig aus für Wiederannäherungen, also hieß der Hund Januar.

Weil Matilda gut im Beteuern ist, war Januar irgendwann der schönste Hund der Welt. Alle fanden das irgendwann, »was für ein schönes Tier«, sagten alle, die Matilda besuchten, »nicht wahr«, sagte Matilda, »nicht wahr«, sagte ich, und Sylvester sagte: »Geht so.«

Matilda schläft jetzt hier. »Willst du ein eigenes Bett?«, habe ich gefragt, überflüssigerweise, denn wer nie woanders schläft, will zumindest ein eigenes Bett, wenn er woanders schläft.

»Was wird aus Januar?«, hat Sylvester gefragt. »Den müssen wir noch holen«, hat Matilda gesagt, »wir« hat sie gesagt, obwohl Januars Knochen längst nicht mehr weich sind, er nirgendwo mehr hingetragen werden muss und außerdem so viel wiegt wie ein ganzer erwachsener Mensch mit Gepäck. Sylvester ist mitgegangen, Januar zu holen, und ich habe überlegt, was aus den Malern werden soll.

Der Hund schläft nicht ein, der Hund fällt um und schläft übergangslos. Er ist vor Sylvesters Bett gefallen, in dem jetzt Matilda liegt. Vielleicht schläft sie noch nicht und guckt an die Decke. An die Decke, an die Sylvesters Frauen gucken, wenn Sylvesters Gesicht nicht in meinem Fenster ist, sondern vielleicht an ihrer Schulter oder sonstwo an ihrem Körper. Matilda guckt an die Decke, an die Sylvesters Frauen gucken, wenn er mit ihnen geschlafen hat oder wenn sie sich fragen, warum er nicht mit ihnen geschlafen hat.

Sylvesters Frauen denken viel über Sylvester nach, wenn sie bei ihm sind, und noch mehr, wenn sie nicht bei ihm sind. Manchmal sitzen sie am Küchentisch und erzählen mir alles, wovon sie glauben, dass Sylvester es denkt, und ich glaube, es ist viel zu viel, von dem sie denken, dass Sylvester es denkt. Sylvesters Frauen erzählen mir Sylvesters Gedanken, weil sie glauben, dass ich mich darin auskenne. Sie fragen mich, ob sie recht haben mit dem, wovon sie denken, dass Sylvester es denkt. Sylvester zu fragen haben sie aufgegeben, weil er nicht antwortet, und ich glaube, sie denken, dass er vor lauter Denken nicht zum Antworten kommt.

Jetzt liegt Matilda in Sylvesters Bett, der Hund davor und Sylvester auf meinen Haaren.

»Du liegst auf meinen Haaren«, sage ich.

Sylvester setzt sich mühsam auf. Sylvester war schon eingeschlafen.

»Warum schläft Matilda hier?«, frage ich. »Keine Ahnung«, sagt Sylvester nach einer Weile, »da sind weit und breit keine Maler.«

Sylvester fällt zurück auf das Kopfkissen. Sylvester hat keine Lust, sich mit mir zu unterhalten, auch nicht über Matilda, wahrscheinlich, weil ich nicht wissen will, wer ich mal gewesen bin.

Ich schlafe nicht ein, obwohl Sylvester das Licht längst an- und wieder ausgemacht hat. Neben Sylvester nicht einschlafen zu können ist aber immer noch besser, als ohne Sylvester nicht einschlafen zu können. Ohne Sylvester wartet man auf den Schlaf wie auf einen Bus, der heute ausnahmsweise nicht fährt, alle wissen, dass er heute nicht fährt, weil alle Busfahrer streiken, alle haben sich frühzeitig nach anderen Verkehrsmitteln umgesehen, weil sie sich frühzeitig kundig gemacht haben, nur man selbst hat kein Radio gehört und die Tageszeitung nicht gelesen und steht an der Haltestelle, bewegungslos wie ein verschneites Pony, während alle anderen längst da sind, wo sie hinwollten.

Sylvester schläft, Matilda schläft vielleicht nicht und guckt an die Decke. Ich stehe auf, gehe durchs Wohnzimmer und klopfe leise an Sylvesters Tür.

»Komm rein«, sagt Matilda. Sie hat die Jalousien nicht heruntergezogen, es ist ziemlich hell. Januar steht bewegungslos in der Mitte des Zimmers wie ein Couchtisch, bei dem sich jemand vermessen hat. »Hallo«, sagt Matilda. »Hallo«, sage ich.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragt Matilda. »Du schläfst ja auch nicht«, sage ich. »Das macht nichts«, sagt Matilda, »damit habe ich gerechnet.«

»Möchtest du irgendwas?«, frage ich. »Nein, danke«, sagt Matilda.

»Soll ich noch mal mit Januar rausgehen?«, frage ich, denn Januar steht immer noch herum. »Nein, danke«, sagt Matilda.

Von Sylvesters Fenster aus sieht man andere Fenster, hinter denen alle schlafen, weil sie ihr Radio gehört und ihre Tageszeitung gelesen haben, und hier schläft nur Sylvester und Januar nicht und Matilda nicht und ich nicht.

»Na gut«, sage ich, »dann schlaf schön, Matilda«, und Matilda sagt: »Schlaf du auch schön, und danke, dass ich hier schlafen kann.«

»Klar«, sage ich und streiche über Januars Kopf. Ich frage mich, ob und wer Januar mal gewesen sein könnte.

»Was ich noch fragen wollte«, sagt Matilda.

»Was denn?«, frage ich.

»Ob ich wohl morgen noch mal hier schlafen kann?«, fragt Matilda.

»Klar«, sage ich.

»Dann ist ja gut«, sagt Matilda.

»Ja«, sage ich.

»Und vielleicht auch übermorgen?«, fragt Matilda.

»Und vielleicht auch übermorgen«, sage ich, »wie du möchtest.«

»Dann ist ja gut«, sagt Matilda.

Viertes Kapitel

in dem Platzmangel herrscht und Matilda erklärt, wie man nicht mehr über eine Straße kommt. Sylvester isst trotzdem weiter. Ein Cowboy kommt vorbei.

Jetzt ist Winter. Matilda hat sich auf den Winter gefreut, weil Leute in Cafés und im Bus sich mit beschlagenen Brillen freundlicher bewegen. Sie tasten herum, und wenn sie etwas gefunden haben, eine Bushaltestange oder eine Caféstuhllehne, wischen sie sich die Brillen an Schals ab und setzen sie schnell wieder auf, weil sie fürchten, dass jemand, der sie schon oft hier gesehen hat, womöglich ausruft, dass sie ohne Brille viel jünger aussähen, oder eine Bemerkung macht zur tatsächlichen Größe der Augen.

Matilda hat sich auf den Winter gefreut, weil man im Winter auf der Straße sein Gesicht merkt, den Atem der Leute sieht und sonst nicht viel, weil man nicht wie im Sommer mit den Unterarmen an Tischplatten festklebt und stattdessen mit den Schneidezähnen kleine Hautfetzen von den Lippen ziehen kann.

Jetzt sieht Matilda aus, als habe sie nicht bemerkt, dass Winter ist. Wir sitzen im Café gegenüber dem Geschäft, an dem Tisch, auf dem Sylvester diverse Dramen nachgestellt hat, es ist Mittagspause und eine knappe Stunde Zeit. Wir haben die Beine neben dem Tisch übereinander geschlagen, weil Januar sich darunter gelegt hat.

»Ich habe gut geschlafen«, sagte Matilda, als sie heute morgen aus Sylvesters Zimmer in die Küche kam, obwohl man sehen konnte, dass das nicht stimmte. »Bist du heute in deiner Mittagspause wieder im Café?«, fragte sie, obwohl sie weiß, dass ich in allen Mittagspausen dort bin. »Und Sylvester«, sagte sie, »Sylvester soll auch dabei sein.«

Durch das beschlagene Caféfenster haben Sylvester und ich zugesehen, wie Matilda mit einem Taxi vorgefahren und noch eine Weile darin sitzen geblieben ist. Als sie ausgestiegen war, hupte der Taxifahrer. Matilda drehte sich um, der Taxifahrer winkte lange, und Matilda winkte lange zurück.

Jetzt sitzt Matilda uns gegenüber und sieht aus, als habe jemand anderes sie in ihre Daunenjacke gesteckt, der sie jetzt nicht mehr herausholt. Sie versucht, nicht verfolgt auszusehen. Sie lächelt mich an.

»Du hast da eine Feder in den Haaren«, sagt sie. Ich fahre mir durch die Haare.

Matilda fragt, ob Herr Mohn mir wieder von seiner Empfindlichkeit erzählt habe. »Matilda«, sage ich, »das ist doch völlig egal.«

Matilda sagt nichts mehr und streichelt Januar unter dem Tisch den Kopf. »Kann ich wohl die nächsten Jahre bei euch bleiben?«, fragt sie dann.

»Natürlich«, sage ich.

»Warum eigentlich?«, fragt Sylvester.

»Bist du sicher, dass du nicht verfolgt wirst?«, frage ich, obwohl keiner von uns jemals verfolgt worden ist. Wir werden nicht verfolgt und nicht bedroht, bei uns sind keine Maler, und eigentlich schickt auch nie jemand etwas, das schnell bei uns ankommen muss.

»Ich würde einfach gerne bei euch bleiben«, sagt Matilda. »Aber du schläfst doch nicht gerne woanders«, sagt Sylvester, und Matilda sagt: »Ich bin verrückt geworden.«

»Was?«, fragen wir, denn Matilda hat das ziemlich laut gesagt.

»Gestern um kurz nach fünf«, sagt Matilda.

»Was ist denn passiert?«, fragt Sylvester.

»Eigentlich nicht viel«, sagt Matilda.

Ich überlege mir eine Frage und alles, was nach der Frage kommen könnte, deswegen sage ich nichts und deshalb sagt Matilda: »Es ist aber nicht so schlimm.«

Sylvester erklärt gern etwas, bei Todesfällen beispielsweise oder wenn jemand sagt, dass er in ihn verliebt sei, fängt Sylvester mit Erklärungen an. Jetzt erklärt er, wenn man verrückt sei, könne man nicht behaupten, dass man verrückt sei. Solange Matilda sagen könne, dass sie verrückt sei, »solange du das so herumposaunen kannst«, sagt er, sei sie nicht verrückt. Außerdem habe Matilda ganz offensichtlich Angst vor dem Verrücktsein, und jemand, der sich mit einem ernsthaften Verrücktsein herumschlage, habe keine Angst davor, weil er schon mitten im Verrücktsein drin sei. Zudem, erklärt Sylvester, erscheine Leuten mit ernsthaftem Verrücktsein das Verrücktsein aus irgendeinem verborgenen Grund attraktiv, im Verborgenen, sagt er, erscheine es Leuten mit ernsthaftem Verrücktsein erstrebenswert, sich aus der Realität auszuklinken. Matilda, sagt Sylvester, behaupte erstens von sich, verrückt zu sein, und zweitens sehe sie, wie sie da so sitze in ihrer Daunenjacke und verfolgt und verfroren, nicht aus, als finde sie ein ernsthaftes Verrücktsein auch nur im Allerverborgensten attraktiv, und sei es aus all diesen Gründen nicht. Sylvester sagt das alles, als habe er es schon oft erklärt, wie ein Schularzt, der einem beibringt, wofür man die Schluckimpfung braucht.

Er hat jetzt zu Ende erklärt und schiebt Zucker- und Salzstreuer vor sich her. Ich sage Sylvester nicht, dass er Unrecht hat und ich glaube, man kann auch verrückt sein, wenn man es weiß und unattraktiv findet.

»Was ist denn passiert, außer eigentlich nicht viel?«, frage ich.

Wir beugen uns weit über den Tisch so nahe wie möglich an Matildas Gesicht, und Matilda erzählt, warum sie glaubt, dass sie gestern verrückt geworden sei. Nach zwanzig Minuten greifen wir uns immer wieder in den Nacken, denn Matilda hat noch nie so viel am Stück gesagt. Der Kellner sieht ab und zu herüber. Wir haben die Köpfe zusammengesteckt und sehen aus, als beschreibe Matilda Sylvester und mir ein aufwendiges Weihnachtsgeschenk für jemanden in der Nähe.

 

Gestern um kurz nach fünf ging Matilda um den Häuserblock, weil sie nicht mehr über die Straße kam. Sie ging immer herum um den Häuserblock gegenüber dem Geschäft, und wenn ich mich ans Schaufenster gestellt und die Zeit ab fünf Uhr nicht mit einer Neulieferung Zebrafinken verbracht hätte oder damit, einen Sittich einzufangen und in einen Karton zu packen und zwei Schleierschwänze zu fischen, wenn ich nicht Bestellungen aufgegeben und gesaugt und versucht hätte, alles nach Tieren zu ordnen, wenn ich nicht unbedingt den blanken Spiegel auf der Personaltoilette hätte blank putzen müssen, hätte ich Matilda und Januar die gegenüberliegende Straße entlanggehen sehen können, wie sie immer in die gleiche Richtung gingen, hinter der einen Ecke verschwanden und hinter der anderen wieder hervorkamen.

 

Mindestens achtmal müssen sie die Straße entlanggegangen sein. Vielleicht hat der Änderungsschneider sie dabei gesehen, die Apotheker oder die Friseure auf der gegenüberliegenden Seite des Geschäfts. Sie könnten Matilda gesehen und sich natürlich nichts dabei gedacht haben, weil man achtmal hintereinander dieselbe Straße entlanggehen kann, ohne dass jemand sich etwas dabei denkt. Vielleicht wartet die, die wiederholt eine Straße entlanggeht, auf jemanden oder etwas, vielleicht will sie irgendwo nicht zu früh ankommen oder kann sich nicht entscheiden, ob sie die Daunenjacke kürzen, die teure Apothekergesichtscreme kaufen oder die Haare stufen lassen soll. Man kann aus allen möglichen herkömmlichen Gründen die Straße wiederholt entlanglaufen, nur Matilda wusste, dass ein Notfall eingetreten war, der ihr mit Verrücktsein kam und der Unmöglichkeit, über die Straße zu gehen.

 

Sylvester stellt den Zuckerstreuer auf den Salzstreuer. Es hält nicht. »Was für ein Verrücktsein?«, fragt er. Matilda streichelt unter dem Tisch Januars Kopf, deswegen ist ihr Kopf sehr nahe über der Tischplatte.

»Ein eher plötzliches und eher wahlloses«, sagt Matilda, »eins, das sich nicht ankündigt, das einfach prompt da ist«, sagt sie. Sie sagt das wie ein Tourist, der beklaut worden ist, obwohl er extra keine Kamera um den Hals hatte.

Der Kellner, der denkt, Matilda erzähle Weihnachtsgeschenke, kommt an den Tisch und fragt, ob es noch etwas sein dürfe.

»Nein, danke«, sagen Matilda und ich. »Ja«, sagt Sylvester und bestellt Quarkkeulchen auf Erdbeersoße.