Eruptive Gisiaden - Paul Gisi - E-Book

Eruptive Gisiaden E-Book

Paul Gisi

0,0

Beschreibung

Paul Gisis Fantasie kennt kein Ende, wenn es ihm darum geht, seinem Herzen Luft zu machen und uns seine Ansichten in eruptiven Wortausbrüchen mitzuteilen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 204

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Konzert des Kosmos

Die elenden Scribenten

Erlöste Heiterkeit

Das zeitgenössische lyrische Gebrabbel

Neue Denk- und Gefühlsfreiheiten

Mystische Chiffren

Kürzelbriefe kontra Ausuferungsbriefe

Nachbemerkung

Konzert des Kosmos

18. 6. 2016

Lieber Ludwig,

das Elektroöfelchen spuckt behagliche Wärme aus, Du weisst es, ich fühle mich am wohlsten in meiner warmen Muschel. Bei Kerzenschein, Musik und mit Büchern. Antisthenes nachzusinnen – er war Schüler von Sokrates –, er begründete die Schule der Kyniker, sein Ideal ist der tugendhafte, sich selbst genügende, freie, bedürfnislose Weise; wie schön das tönt, doch da meldet sich mein Widerspruchsgeist, denn niemand genügt sich selbst, jeder Mensch ist von andern Menschen mitbestimmt, abhängig. Sich selbst genügsam ist nur Gott, könnte man sagen, ansonsten ist jeder Mensch auch durch die Gemeinschaft der Menschen (der Menschheit) und durch das Geschehen in der Welt mitbestimmt – einen (absoluten, existenziellen) „Sololauf“ gibt es nicht. Jeder Mensch ist ein Instrument im grossen Weltganzen, in der Harmonie, im Konzert des Kosmos, so denke ich. Und es gibt auch nicht die einzige mögliche Interpretation einer Sinfonie durch einen einzigen Dirigenten – jeder Dirigent sieht es nuancenreich anders. Im Lauf der Zeiten ändern sich auch die Spielweisen, das absolute Artefakt gibt es nicht. Auch die menschheitsbildenden Gemälde, Skulpturen und Dichtungen werden und müssen von jeder Zeitepoche wieder neu interpretiert und in neue Sinnzusammenhänge gestellt werden. Panta rhei – alles fliesst (wird Heraklit zugeschrieben).

Soeben habe ich Dein Mail gelesen – es ist für mich wunderbar, dass Du meine (letzten) Liebesgedichte „Lichthin in deinen schwarzen Pupillen“ für Books on Demand machst. Du kennst die Gedichte bis auf das letzte Kapitelchen „Im Erleuchtetsein der Liebe“, meine neusten Liebesgedichte aus diesem Jahr. Gerne hole ich Deinen Laptop wieder ab, Du wirst es mir sagen, wann es am besten ist (am Montag geht es mir nicht, da arbeite ich bei Brändle Druck in Mörschwil). Und an einem Vormittag ist es mir eigentlich immer ungünstig, da ich Schlafprobleme habe und meist erst gegen drei Uhr nachts einschlafe, dafür bis ca. 11 Uhr morgens im Bett bin. Ich könnte den Laptop auch einmal abends ca. 18 Uhr im Bahnhof St. Gallen abholen. Wir finden schon einen Termin.

Du bist ein Wunder an Güte und Entgegenkommen, ich danke Dir ganz herzlich.

Dass Du von Werner Bergengruen so viel kennst, freut mich, er ist wirklich ein sehr guter Schriftsteller und Dichter (ich habe siebzehn Bücher von ihm).

Im letzten Brief schrieb ich, dass ich den Schnupfen habe, ich schäme mich, Dir diese Bagatelle mitgeteilt zu haben, verzeih mir.

Herzlich allergrüssestens, Dein Paul

20. 6. 2016

Lieber Ludwig

heute korrigierte ich viereinhalb Stunden bei Brändle Druck in Mörschwil; nach etwa drei Stunden wurde es mir sehr schlecht und die Augen flimmerten, so dass ich kaum mehr etwas sah, doch ich stierte es bis zum Schluss durch; hoffentlich sind mir dadurch keine Fehler entschlüpft. Heute Abend kann ich nur schlecht lesen, die Zeilen hüpfen auf und ab. Der psychologische und finanzielle Druck ist mir einfach zurzeit zu gross. Kannst Du mir diesen Monat noch etwas Geld geben? Bald kommen ja auf Ende Monat wiederum die grössern Einzahlungen (Miete), und mein Kontostand ist schon massiv gesunken, obwohl ich mir diesen Monat sehr, sehr Mühe gab zu sparen.

Dieses massive Augenflimmern hatte ich jetzt schon das dritte, vierte Mal; einmal kam ich deswegen nur schlecht von St. Gallen nach Hause. Nächste Woche muss ich wieder zum Arzt, ich werde ihm das mitteilen – doch ich halte wenig von diesem Arzt, Dr. Moser in Wolfhalden. Einen neuen Arzt zu finden in Rorschach ist sehr schwierig; Pro Senectute gab mir eine Ärzteliste, zwei Ärzte habe ich bereits angefragt, doch bei beiden wurde mir gesagt, sie hätten einen Patientenstopp wie eigentlich alle Ärzte in Rorschach, sie nehmen keine neuen Patienten mehr, sie hätten bereits zu viele. Die Lage scheint prekär zu sein. Bei beiden wurde mir gesagt, sie nähmen nur noch notfallmässige neue Patienten auf, ich solle bei meinem Hausarzt in Wolfhalden bleiben. Da wird ein Arztwechsel schwierig.

Ich komme auch in die Situation, dass mir die Psychopharmaka, die ich zurzeit habe, etwas zu wenig helfen, die Angstzustände sind manchmal gar nicht schön. Doch bald kommen ja meine Liebesgedichte „Lichthin in deinen schwarzen Pupillen“, das wird mir bestimmt wieder Aufschwung geben.

Der „Simon“ macht mir ein bisschen Angst, denn er ist sehr freigeistig, grenzenlos, was viele nicht goutieren können, wollen. Er kommt und geht in eine Freiheit des Denkens, des Fühlens, des Sagens – deshalb wohl habe ich bis jetzt keine Reaktionen bekommen. Auch ein „Gisi-Gutgesinnter“ scheint bei „Simon“ irritiert, verunsichert, ist wohl baff und etwas konsterniert über meine Feurigkeit und Hemmungslosigkeit. Doch ich möchte von „Simon“ kein Wort zurücknehmen, ich stehe voll hinter ihm! Ich schreibe eben keine „brave“ Literatur für weltlose Töchter und pfarrherrliche Heuchler. – Dies verkrafte ich dann schon! Das „Verschmitzt-Liebliche“, das beim „Oleivo“ da ist, kommt beim „Simon“ nur am Rande ironisch vor, zeitweise „blutet“ er gar an der Schöpfung, in der Schöpfung. „Solche Töne“ wollen anscheinend viele Menschen gar nicht wissen, lesen. Wer den „Simon“ gelesen hat, kann danach keinen Jass mehr klopfen, dem hat es den Atem verschlagen. – Darf dies die Literatur nicht auch leisten? Nun, das letzte Wort über „Simon“ ist noch nicht gefallen – meine Zeitgenossen können dies auch nicht gültig in Anspruch nehmen; da werden die nächsten Jahrzehnte Kurskorrekturen vornehmen. Und das stimmt mich für meine nächsten Jährchen sicher.

Es ist schön, Dir, dem Ludwig, schreiben zu dürfen, auch wenn Du nicht alles billigst, verstehst Du doch unendlich viel. Ich wünsche Dir einen schönen Abend und grüsse ganz herzlich als Dein Paul (Simon Dach) ((google einmal Simon Dach))

21. 6. 2016

Mein lieber Ludwig

Nächsten Herbst liest der Schauspieler Philipp Langenegger eine oder ein paar Brosmeten von mir in einem Herisauer Kleintheater vor, in der alten Stuhlfabrik – mit andern Brosmeten von andern Leuten. Ich hätte selbst vorlesen können, doch ich delegierte es (inkl. Auswahl) diesem Schauspieler. Ich lese Prosa schlecht vor, und zurzeit will ich mir diese Energie, diese psychologische Last nicht aufbürden. Wenn ich mag, kann ich ja immer noch als Zuhörer kiebitzen gehen … Doch für mein Gefühl ist das alles noch weit weg, wie nicht existent.

Für heute nur dieses Kurznotat.

24. 6. 2016

Lieber Ludwig,

Freitagnachmitag: Jetzt höre ich Jules Massenets romantische Oper „Esclarmonde“ – den „Cid“, diese Kriegsgurgel, die Du heute auf dem Klosterplatz open air die Première hörst, habe ich nicht; ich nehme an, es ist ein eindrückliches Erlebnis. Massenet schrieb über zwanzig Opern, sehr vielschichtige, es umfasst die verschiedenartigsten stilistischen Aspekte vom sensationellen Schauspiel der Grossen Oper über das Musikdrama zum Verismus, wobei allerdings die Tendresse und Sentimentalität der Opéra lyrique die stilistische Dominante bilden. „Manon“ und „Werther“ sind seine populärsten Opern. Mir ist „Esclarmonde“ seit Jahrzehnten ans Herz gewachsen; das belkantistische Element dominiert. Und das Orchester ist virtuos brillierend, besonders in den Ballettszenen.

Und zwischendurch muss ich in den Waschraum flitzen, ich mache Wäsche, „Simon der Dichter“ ist halt eben noch Hausmann, verflixt (ich müsste wie früher die Noblen Dienstpersonal haben …).

Samstagabend: In der Zeitung kam natürlich ein Bild von „Le Cid“, ich schüttelte den Kopf: Was sollen diese zwei Eisenstangengerüste? Provinziell blamabler, billiger geht’s nimmer!

Ich bin froh, dass ich diese Baugerüste nicht stundenlang anschauen musste, bei teilweise noch leichtem Regen. Da geniesse ich weiterhin die Opern in meinem Tusculum, in meiner Muschel mit Wein und Pfeife.

Den Umbruch für „Lichthin in deinen schwarzen Pupillen“ habe ich bereits gemacht (es hat 120 Seiten), jetzt kommen in den nächsten Tagen noch die Feinstkorrekturen … Ich glaube, das wird ein guter, starker Lyrikband!

Es war schön, Dich am Freitagabend rasch zu sehen – und ich danke Dir nochmals für Deine grosszügige Unterstützung, ohne die es mir nicht ginge.

Es wäre herrlich, wenn für „Lichthin“ der Umschlag ein Duden-Gelb, poetischer ausgedrückt ein warmes Sonnenblumen-Gelb, ein Teichrosen-Gelb bekommen könnte, wiederum mit einem Deiner genialen Pendelbilder (auch ein Indisch-Gelb wäre ansprechend).

Ich wünsche Dir von Herzen einen schönen Samstagabend und grüsse als Dein sehr dankbarer Paul

(Brief von Albert Rutz:)

28. 6. 2016

Lieber Pablo!

Du hast vollkommen recht! Ich bin ein miserabler Faulpelz – Du schreibst mir ellenlange grossartige, kristalline Briefe – bei Dir zittert das Haus, Du schlägst Dich mit Anwälten & dem Teufel herum – und ich reagiere mit keiner Silbe!!

Und ich muss sagen, ich lese sie mit wahrem Staunen, mit tiefer Zustimmung, Deine Briefe – ich glaube, Dein wahrer Roman sind Deine Briefe, Pablo!

Und ich empfinde es als eine Ehre, einer ihrer Empfänger, eines ihrer Ziele zu sein.

Und natürlich begleite ich auch Deine Werke mit Neugier und Begeisterung – wobei, Du selber, so wie Du als Mensch, als Künstler, Dichter, als Kauz, als Sonderling bist – liegst mir weitaus am meisten am Herzen. Und ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin, der Dich, epi-phan & phäno-menal, so sieht.

Du vereinst viele Persönlichkeiten in Dir, sowohl als Mensch wie als Künstler. Du bist ein Einsiedler, ein Wüstling, ein Säufer, ein Asket, Du redest mit Engelszungen oder speist Feuer wie ein rasender Lindwurm. Mit immer neuen Verwandlungen, neuen Metamorphosen schlägst Du in Bann, schlägst Du in die Flucht. Du oszillierst zwischen Windstille & Orkan, zwischen Eule und Tintenfisch ... Eigentlich kannst nur Du selber Dir gerecht werden, andere können das nicht. Man kann einen Liter nicht mit einer Unze messen, eine Jungfrau nicht als Schlagschatten verwenden. Rhinozerosse traben durch Mühlheim, während ein rostiger Nagel in meines Vaters Kommode quietscht. Der Belehrungen müde, schneuzte er sich ins Haar. Dann brach man auf gen Sansibar...

Du siehst, ich verfalle spontan in den 'Simon'-Slang ... Er ist ein Füllhorn, ein Tintenfass, ein Pulverfass, eine surrealistisch-dadaistische Strolchiade ... Chapeau!

Und weiter stürmst Du zum nächsten Werk ... Ich beneide Dich um Dein Ungestüm, Pablito!

Und demnächst müssen wir unser 'Streitgespräch über den Tod' weiterführen – dazu kommt mir nämlich eine Menge Gedanken in den Sinn!

Empfange dieses auf Bastseidenpapier gekritzelte Kurznotat von Deinem saumseligen Pflastertreter & Frauenverführer, Bücherfresser & Biertrinker, der sich lieber in Strassencafés setzt als in den Drehfauteuil – ergebenst, Dein Don Praeter Propter Alibaster

11. 7. 2016

Lieber Ludwig

„Lichthin in deinen schwarzen Pupillen“ ist wohl als mein Liebesgedichtetestament anzusehen – und Das letzte Wort dort heisst „stumm“, was (eben stumm geworden) wohl mein letztes Wort in diesem „Liebesbereich“ sein wird. Es ist nicht verwunderlich, nach fünfundzwanzig Jahren, ein paar hundert Liebesgedichte geschrieben zu haben, „stumm“ geworden zu sein. (Ich bin ja nicht mehr der Jüngste.) „Auf deinen Fingerbeeren tanzt das Weltall“ umfasst meine Liebesgedichte von 1995 bis ca. 2011, „Lichthin“ jene zwischen ca. 2011 bis heute, 2006, das letzte Kapitel „Im Erleuchtetsein der Liebe“.

Ich freue mich riesig, wenn das Büchlein kommt!

Marcel und ich waren noch nicht bei der Caritas-Verkaufsstelle in St. Gallen, ich hoffe, es zeichnet sich dadurch eine Entspannung ab, denn die Haushaltkosten verschlingen zu viel Geld.

Hast Du noch Kontakt mit Albert Rutz? Er ist ein ausgekochter „Oblomow“, ein Langweiler und Faultier, jetzt geht er wieder auf Reisen, da wirkt er ganz munter. Er lebt für sein Tagebuch und seine Reisen, ist doch auch etwas. Er schrieb mir einen langen Brief in Vorfreude, wohin er überall gehen wird und wo er bei einer Bahnhofsuhr ohne Zeiger, irgendwo in einem Dörfchen, dessen Name ich nun vergessen habe, sein Bierchen trinken wird.

Bis zu meinem ca. 45 Lebensjahr reiste ich jedes Jahr einige Wochen, das hat sich nun geändert, ich habe kein Geld mehr für Reisen, für Ferien. Im Grunde genommen macht das mir nichts aus, ich reise gern in meinem Drehfauteuil sitzend in meinen Büchern. Nur manchmal kribbelt es mich leicht zu verreisen … Wieder einmal nach Südfrankreich … Doch letztlich ist das keine Wehmut für mich, da ich genügend Welten in mir habe.

Nun freue ich mich uneingeschränkt auf „Lichthin in deinen schwarzen Pupillen“, das ich ein paar Zeitungen und Zeitschriften und ein paar Freunden und Freundinnen verschicken werde, da mit einem Kurzbrief. Ich habe auch einen Lyrikerfreund im Tessin (der auf alternative Weise selbstverköstigend lebt und im Selbstverlag schon Gedichte publiziert hat), der sich immer freut, wenn was von mir kommt. Sein ringgeheftetes Werk „wieder wunder werden“, gesammelte Werke 2003 bis 2011, ist wirklich ein schönes, gutes Büchlein, Gedichte einer schönen Seele. Wenn Du es beziehen möchtest, melde Dich doch unter Nennung meines Namens (E-Mail-Adresse folgt), er heisst Felix Güntert, sein Künstlername ist rhino c. rastlos (er ist noch jung, sein Geburtsjahr kenne ich nicht). Seine ersten Werke heissen „pianted“, „wahrheit eines reisenden“ und „Die wunderbare Schizophrenie des Seins“. In „wieder wunder werden“ fasst er alles zusammen. Seine Gedichte gefallen mir, auch wenn sie da und dort noch recht holprig und naiv sind. Felix Güntert ist eine schöne Seele, wie man sie sonst kaum anzutreffen vermag. Ich mag ihn; es gibt auch einen Briefwechsel mit ihm (einmalig bei mir gebunden).

Lieber Ludwig, so viel, so wenig für heute Montag Nacht. Ich wünsche Dir einen guten Dienstag, herzlich grüsst Dein Paul

(Brief von Albert Rutz:)

29. 6. 2016

Lieber Pablo!

Das freut mich…!

Ich betrachte mich wirklich als zu Deinem ‚Inner Circle‘ gehörig.

Und wie ich Dir geschrieben habe – es drängte mich schon seit Tagen, seit Wochen, Dir auf Deine offenen, klaren Briefe zu antworten – manchmal frage ich mich, wie es Dir gelingt, einen so klaren Kopf zu bewahren bei all den Stürmen, die Du zur Zeit durchzustehen hast. Deine finanzielle Situation, Deine Gesundheit – also das hat mich wirklich sehr betroffen gemacht, von Deinem ‚Augenflimmern‘ zu lesen. Das ist eine ernste Sache! Aber Deine Erklärung – allem voran Stress – finde ich absolut plausibel. Dann die Sache mit Marcel, an dem Du, wie ich weiss, sehr hängst. Gottlob gab es da wenigstens etwas Entspannung!

Da keine Zeit zu haben wirklich kein Argument ist, sputete ich mich gestern, Dir sofort zu antworten & wenigstens eine Antwort, ein ‚Kurznotat‘ zu schicken!

Nichtsdestotrotz möchte ich anmerken, dass ich in den letzten zwei Wochen mehrmals ‚in die Sätze‘ kam, und zwar der ganzen Technologie wegen. Windows 10 hat mich ausser Atem gehalten, meine externe Smartphone-Tastatur streikte, mein Handy hatte Macken – & ich schreibe wahnsinnig gerne mit dem Handy auf dieser Tastatur, die nicht mehr als ein Stück Karton ist, etwas salopp gesagt. Ich sitze den ganzen Tag am Bildschirm, deshalb geniesse ich es, wenigstens am Abend, in der Nacht, ohne Computer auszukommen – ich finde es sehr ‚intim‘, so, in der Stille der Nacht, am Stubentisch, nicht am Büropult sitzend, zu schreiben… Aber eben – da gab es einen längeren Unterbruch.

Anderseits haben sich diverse Ereignisse in meinem äusseren Leben überschlagen – ein Hexenschuss kam hinzu – und ich kam wieder tagelang nicht zum Tagebuchschreiben, und das beunruhigt mich immer sehr. Wieso, das weiss ich nicht … Ist es eine Art Sucht, ein Zwang?! Wirklich festhalten kann man die Ereignisse ja sowieso nicht – aber sicher werde ich mir ihrer viel stärker bewusst beim Versuch, sie festzuhalten.

Das Ganze ist auch merkwürdig, da ich es fieberhaft schreibe, auch mit Gusto, aber kaum je wiederlese. Wenigstens bis jetzt. Das ist echt ein Projekt für die ‚Pan-sionierung‘ – da etwas Ordnung reinzubringen! Eigentlich halte ich es mit Léautaud, der bei der Erwägung, ob er sein Literarisches Tagebuch tel-quel veröffentlichen solle oder erst, nachdem er es überarbeitet habe, der Unmittelbarkeit und der Ehrlichkeit, der Aufrichtigkeit auch den Vorzug gab. Beim Überarbeiten besteht die grosse Gefahr des Verfälschens; sei es, dass man selber die ‚Dinge‘ zurechtrückt, oder dass Dritte, was ja sehr oft geschieht und geschah, das machen.

Anderseits denke ich aber auch, also jeden ‚Kafi‘ muss man nicht für die Ewigkeit aufbewahren! Aber wo ist die Grenze? Was ist wichtig, was ist unwichtig? Thomas Manns Tagebücher (die ich kaum kenne) strotzen ja meines Wissens von Trivialitäten – anderseits gebe ich da ausnahmsweise Marcel Reich-Ranicki recht, der dafür hielt, gerade bei einem Mann, einem Autor wie Mann sei es wertvoll zu sehen, wie er im Alltag getickt habe. (Sinngemäss).

Léautaud gebe ich in einem weiteren Punkt völlig recht: Er sagte, man müsse sich immer sofort hinsetzen und seine Notate machen – ‚au fraiche‘ – ‚al fresco‘. Das sehe ich auch so. Am nächsten Tag, nach zehn Tagen sowieso, sieht man das, was passierte, schon wieder völlig anders. Ganz abgesehen davon, dass man das meiste schon wieder vergessen hat. Ich glaube, auch deshalb versetzt es mich in erhebliche Unruhe, wenn ich nicht zum Schreiben komme.

Was Du zu Salinger sagst – Der Fänger im Roggen – kann ich gut nachvollziehen. Ich habe das Buch seinerzeit verschlungen – vor vierzig Jahren! – und irgendwann verspürte ich Lust, das Buch wiederzulesen. Es packte mich jedoch überhaupt nicht… Warum es damals ein Kultbuch war – keine Ahnung. Es war sehr erfrischend… Ich glaube, Ulrich Plenzdorf traf in seinen „Neuen Leiden des jungen W.“ genau diesen Ton … Sicherlich zeigt der Fall, dass auch ‚Kultbücher‘ ein endliches Leben haben. Und als Schreiber & Schriftsteller können wir uns natürlich nur wundern, Pablo, wie man es schafft, vom Erfolg eines praktisch einzigen Buches leben zu können, wie es bei Salinger der Fall zu sein scheint. Es gab noch zwei, drei andere Titel und Erzählungen von ihm – ich habe sie zwar, habe sie aber noch nie gelesen. Und auch ein Erinnerungsbuch von einer seiner Ex-Geliebten; wenn, dann würde ich mich zuerst daran machen.

Also – warum sich mit Büchern quälen, die einem nicht liegen, wenn es doch so viele herrliche Bücher gibt?! Wie gesagt, im Augenblick bin ich wieder tief in Stendhal versunken, und dank ihm stiess ich auf die „Vertraulichen Briefe aus Italien“ von De Brosses, da Stendhal so grosse Stücke auf den Mann hält. Bin erst an der Einleitung zum Ersten Band, aber es reizt mich. (Abermals 17./18. Jahrhundert; das scheint meine Zeit zu sein. Und die Antike. Wer weiss – vielleicht war ich um die Zeitenwende Flötenspieler bei Trimalchio, und im 18. Jahrhundert Kaleschendiener auf einem französischen Schloss. Ein gewisser Casanova, damals völlig unbekannt, gab mir einen Dukaten Trinkgeld. Das war eine Seltenheit, aber solche Hoheiten hält man in Ehren, mögen andere sie verunglimpfen oder nicht!)

Stendhal – bei einem Eintrag gab es eine Verweisung – Siehe… Ich schlug nach und las: „Dom Pedro Soundso; Stendhal traf ihn in Altona. Dom Pedro sagte ihm, immer, wenn er in eine fremde Stadt komme, erkundige er sich zuerst nach den zwölf reichsten Einwohnern, den zwölf schönsten Frauen und nach dem verschrieensten Menschen der Stadt. Dann suche er zuerst den verschrieensten Menschen auf, danach die zwölf schönsten ‚Frauenzimmer‘, und zuletzt mache er sich an die Millionäre.“

Das ist doch herrlich! Stendhal – das ist gehobene Verruchtheit, schöngeistige Durchtriebenheit & leidenschaftliche Schwärmerei!

So viel für jetzt und heute – mein Laptop ist übrigens bei Fust zum „Aufpeppen“; ich habe die Gelegenheit im Büro noch genutzt für diese Eildepesche, diesen ‚gemorsten Alpsegen‘ –

gehab‘ Dich wohl, lieber Freund,

Dein

Hinrich von & zu Hohenlautern

20. 7. 2016

Lieber Herr Gisi,

Haben Sie vielen Dank für Ihren neuen Lyrikband “Lichthin in deinen schwarzen Pupillen”, in dem ich schon einige Perlen an Liebesgedichten entdeckt habe. So beispielsweise das Gedicht “Du”, das ein wenig an den Franziskanischen Sonnengesang erinnert und das ich mir für mein Irsee-Seminar “Literarische Techniken” aufheben werde. Ihre Gedichte sind überhaupt wunderbare Beispiele für den Lakonismus in der modernen Lyrik.

Ich habe mir erlaubt, Sie im Anhang noch auf zwei literarische Veranstaltungen hinzuweisen: auf die diesjährige Verleihung des Bodensee-Literaturpreises und auf das 20jährige Jubiläum der Signathur Schweiz, die Sie sicherlich kennen. Es würde mich sehr freuen, Sie an einer der beiden Veranstaltungen (oder gar an beiden?) anzutreffen.

In diesem Sinne sehr herzlich

Mario Andreotti

31. 7. 2016

Lieber Ludwig,

vergangene Nacht um 2 Uhr las ich das Buch von James Boswell, „Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen“ und das Tagebuch zu den Hebriden zu Ende; dieses Buch hat mir Albert Rutz zum Geburtstag geschenkt, eines seiner Lieblingsbücher. Ich habe ihm bereits über zehn Seiten zu diesem Buch geschrieben, sehr differenziert, sehr lobend, aber auch sehr negativ kritisch. Er hat alles sehr gut aufgenommen, auch wenn er nicht überall meiner Meinung ist. Doch ein Buch „unkritisch“ lesen, kann ich unmöglich.

Jetzt lese ich als Amüsement in den „Gesammelten Erzählungen“ von Urs Widmer, ein Schweizer Autor, der mir bis anhin immer eher gegen den Strich ging; doch ich muss sagen, diese Erzählungen haben eine kauzige Vielfalt, wie sie mir gefällt.

Zwischendurch lese ich immer wieder im zweibändigen philosophischen Werk von Jean Gebser, „Ursprung und Gegenwart“: ein intellektuell hochinteressantes Buch. Das Kapitel „Vom Wesen des Schöpferischen“ wird so eingeleitet: „Im Schöpferischen ist der Ursprung Gegenwart“ – ein Satz, bei dem ich taumle vor Freude!

Und nochmals zwischendurch lese ich in meinem Christoph Martin Wieland – und Ludwig Weibel.

Auch wenn ich vorderhand nichts mehr schreibe, dreht sich bei mir fast alles um Literatur, um Lektüre. Ich denke oft an Deine ungebrochene Schöpferkraft, Dich bewundernd. Nach meinem Burn-out glaubte ich, nicht mehr lange zu leben, da u.a. mein Blutdruck gefährlich hoch war. Inzwischen ist mein Blutdruck dank Pillen o.k., und auch meine Depressionen sind – dank Pillen, halt immer noch – derart, dass ich mit ihnen umzugehen weiss. Ich kann mit ihnen umgehen auch dank Deiner finanziellen Hilfe. Ohne sie wäre ich verloren …

Im Herbst erscheint eine gewaltige Appenzeller Anthologie, „Literaturlandschaft“, in der ich auch mitvertreten bin.

Ende August treffe ich den Schauspieler Philipp Langenegger in St. Gallen, es geht um seine Vorlesung von Brosmeten von mir (und andern Brosmisten) im November im Herisauer Kleintheater „Alte Stuhlfabrik“.

In der heutigen Sonntagsausgabe des St. Galler Tagblatts ist ein Artikel von Rainer Stöckli drin über eine „Handschrift“-Faksimile-Lyrikanthologie von 1986, in der ich auch vertreten bin, er zitierte einige Namen, doch mich hat er nicht erwähnt; dieser Stöckli ist und bleibt halt ein abgefeimter arroganter Schurke, der mich schneidet. Vielleicht verstehst Du meinen Hass auf diese st.güllische Schickeria, die mich seit Jahrzehnten links liegen lässt. Nun, ich brauche dieses Gesocks nicht! Die ganze Kulturmafia hier kann mir den Buckel runterrutschen. Ich bin, mit Peter Huchel gesagt, nicht gewillt um Milde zu bitten.

Ludwig, ich wünsche Dir von Herzen einen ganz schönen Abend und morgen am 1. August alles Gute, Dein dankbarer Paul

Du winkst dem Wind zu

es ist

als ob aus dunklen Höhlen

dir jemand zuriefe

FORT MIT DENKEN

VERSTAND

UND VERNUNFT

(pg)

2. 8. 2016

Lieber Heiliger Ludovico

Ich habe das Gesamtwerk von Johannes vom Kreuz in vier Bänden in meiner Studierstube, er war für mein Leben stets ein Wegbegleiter, und nun beginne ich nochmals, alles von ihm zu lesen. Wie wohltuend ist sein Werk in all dieser heutigen Scharlataneriewelt der Scheingrössen. Zuerst wollte ich Thomas Merton lesen, doch nun begebe ich mich zu seinem grössten Lehrer, Johannes vom Kreuz. Ich beginne mit „Empor den Karmelberg“, fahre dann weiter mit „Die dunkle Nacht“ (und die Gedichte), „Das Lied der Liebe“ und „Die lebendige Flamme“, seinen Briefen und Anweisungen. Johannes vom Kreuz, der spanische Mystiker aus dem 16. Jahrhundert, hat mir mehr zu sagen als viele, viele Flittchen und Glimmerwürmchen der Literatur aus dem 20. Jahrhundert! Ich denke mir, das 20. Jahrhundert hat, weltweit gesehen, eine enorm starke Literatur entwickelt, doch ein Johannes vom Kreuz nimmt es mit allen auf, um es einmal so zu sagen. Einen Urs Widmer zu lesen ist ja sacktoll, doch es vergehen keine paar Jahrhunderte (oder bei ihm bloss Jahrzehnte), da interessiert sich kein Mensch mehr für ihn. Nach der Lektüre von Johannes vom Kreuz begebe ich mich nochmals zu seinem grössten Schüler, Thomas Merton aus dem 20. Jahrhundert. Es ist doch schön, um grössere Dimensionen zu wissen.

Ich bastle innerlich an einer Brosmete herum, „Blick aus dem Fenster“, und was ich da alles sehe: das Sternbild „Die grosse Waage“, Runkelrüben, Brühwürstchenkessel, Frachtschiffe, ein Opernhaus, Losverkäufer, Faltbootfahrer, Maskenbälle, Spieldosen, Keilschriften, Tintenfische, Nadelbäume, Schabrackenschakale, Purpurmäntel, indische Tempelanlagen usw., ich hoffe, im August kann ich wieder Brosmeten schreiben. Ich habe manche Ideen.

Doch hier ist auch immer die Gefahr nahe des Sichwiederholens, da ich schon seit vielen Jahren Brosmeten schreibe. Doch ich kenne noch manche „Auswege“.

Mich fasziniert, wie Du lebst. Ich grüsse Dich herzlich, Dein kleiner Paul

6. 8. 2016

Lieber Zeus Ludovico

Es ist immer wieder verwunderlich, ein bestimmtes Buch zu ergreifen und zu lesen, heute nahm ich die Lektüre von Carl Spitteler wieder auf; seit 1971 habe