Erzähl mir was Schönes - Lioba Werrelmann - E-Book
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Erzähl mir was Schönes E-Book

Lioba Werrelmann

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Beschreibung

Ein wundervoller Roman über die Kraft der FreundschaftJulia und Isabelle sind Freundinnen seit Studientagen. Jetzt, mit Mitte 40, haben sie viel von dem erreicht, was sie sich einst erträumt haben. Da erkrankt Isabelle an Brustkrebs und stirbt. Julia, die immer im Schatten ihrer lebenslustigeren Freundin stand, gerät in eine tiefe Lebenskrise. Doch dann erkennt sie: Ihr Glück findet sie nur, wenn sie ausbricht aus ihrem Alltagstrott. Die Erinnerung an den Mut ihrer Freundin weist ihr den Weg ...

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

PROLOG

ERSTER TEIL

FRÜHLING

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

FRÜHLING

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

FRÜHLING

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

FRÜHLING

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

FRÜHLING

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

FRÜHLING

ZWEITER TEIL

SOMMER

HERBST

FÜNFZEHN JAHRE ZUVOR

HERBST

ZEHN JAHRE ZUVOR

HERBST

ZEHN JAHRE ZUVOR

HERBST

ZEHN JAHRE ZUVOR

HERBST

WINTER

Widmung

Für Vanessa,

die neben mir steht,

wenn die Lawine kommt.

Zitat

Nimm dir das LebenUnd lass es nicht mehr losDenn alles was du hastIst dieses eine blos

Udo Lindenberg

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR

Es ist einer der ersten kalten Oktoberabende. Die Straßenlaternen brennen bereits. In der Luft liegt etwas Schneidendes. Als wenn es bald Frost geben werde. Julia liebt diese Abende. Sie ist im Oktober geboren. Sie liebt die Dunkelheit, die Kälte, die schwere Nässe von Laub. Sie hasst den Sommer. Wenn alle gut drauf sind, bloß weil es warm ist und die Sonne scheint. Wieso muss man deshalb gut drauf sein? Sie hat einmal gelesen, die meisten Selbstmorde gebe es an strahlend schönen Sommertagen. Julia versteht das gut.

Aber jetzt ist Oktober, es ist kalt, sie rutscht über das feuchte Kopfsteinpflaster in der Altstadt. Die Redaktionskonferenz ist vorbei, sie hat kein Thema durchgekriegt, es ist nicht so schlimm. Denn neben ihr läuft Mark. Er hat die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht gezogen.

»Sch-Scheißwetter«, nuschelt er.

Julia sagt nichts. Ein paar Meter vor ihr leuchten schon die Fenster der »Pinte«. Die anderen sind weit hinter ihnen. Wenn sie es geschickt anstellt, kriegt sie gleich einen Platz direkt neben Mark. Und den, denkt sie bei sich und läuft ein bisschen schneller, wird sie auf keinen Fall wieder hergeben.

 

Sieben Wochen hat es gedauert, bis Mark überhaupt wusste, wer sie war. Bis er das erste Mal ihren Namen aussprach. Sieben Wochen, in denen Julia jeden Montag zur Redaktionskonferenz in der »Trompete« ging, jener linken, total anarchischen Zeitung, in die Meike sie geschleppt hatte, ausgerechnet.

»Ich habe ein Vorstellungsgespräch bei der ›Trompete‹«, hatte Meike verkündet, »ich bin so aufgeregt! Du musst mitkommen!«

Wie sich dann herausstellte, gab es bei der »Trompete« keine Vorstellungsgespräche. Irgendjemand war ans Telefon gegangen, als Meike anrief, und hatte gesagt, sie solle einfach mal vorbeikommen. Und da standen sie nun, in jenem halben Keller, der immer nach Rauch und Kaffee und Abfluss roch. Meike und Julia, die sich aus dem Uni-Vorbereitungskurs kannten, eine verlorener als die andere in dieser neuen Stadt, und die sich deshalb Freundinnen nannten, auch wenn sie beide wussten, dass das nicht stimmte. Meike in ihrem blauen Blazer und gebügelter Hose, Julia in ihrem selbst genähten Batik-Kleid, das so weit war, dass man gar nicht sehen konnte, wie mager sie war.

»Setzt euch«, sagte Ulf, der so eine Art Chef war, aber halt auch nur so eine Art, »wir haben gleich Redaktionskonferenz.«

Die fein säuberlich gehefteten Bewerbungsmappen in ihren Umhängetaschen hat sich nie jemand angeguckt.

Und was waren das überhaupt für Redaktionskonferenzen. Alle redeten lauthals durcheinander, es wurde Bier getrunken und gekifft. Julia ging wochenlang zu diesen Redaktionskonferenzen und sagte kein einziges Wort. Sie besah sich alles genau. Die schäbigen Möbel. Die voluminösen Computer. Die völlig schrägen Typen. Ulf, der damals, mit Anfang zwanzig, schon viel zu dick war. Ein Bär mit wilden langen Haaren, einer Art von Bart im Gesicht, der sich nicht entscheiden konnte zu wachsen, aber dann diese Grübchen und diese lachenden Augen. Ulf war der eine Redakteur bei der »Trompete«. Der andere war Mark. Ein sanfter Junge mit dunklen Locken und aufgeworfenen Lippen. Er schaute einen nie an. Er schien oft ganz weit weg zu sein. Manchmal stotterte er ein bisschen. Und doch. Wenn Julia zu Mark hinübersah, heimlich natürlich, so, dass er es nicht merkte, dann war da ein Knäuel in ihrem Bauch, das sich zusammenzog.

Ulf und Mark bekamen tatsächlich ein richtiges Gehalt. Ein paar Hundert Mark im Monat, immerhin. Alle anderen wurden pro Zeile bezahlt, das waren nur ein paar Pfennige. Und doch war nichts begehrter, als einen Artikel in der »Trompete« zu veröffentlichen. Eine Buchkritik. Eine Vorschau auf ein Konzert. Irgendetwas.

Bei der Berufsberatung hatte ein dünner Mann in Brille und Pullunder Julia erklärt, das mit dem Schreiben solle sie mal bitteschön vergessen. Das wollten alle. Das schafften nur die wenigsten. Und von ihrem Jahrgang gebe es eh zu viele.

Julia hatte sich höflich verabschiedet. Sie hatte ihm geglaubt. Und dann hatte Meike sie in die »Trompete« geschleppt.

Zu mancher Redaktionskonferenz erschienen zwanzig, dreißig Leute. Jeder konnte einfach reinkommen und Themen vorschlagen. Und alle konnten mit entscheiden. Sie stritten sich um die wenigen Seiten im Heft, sie rauften sich fast. Es war ein heilloses Geschrei. Viele kamen nie wieder.

Julia blieb.

Was natürlich auch, vielleicht sogar vor allem, an Mark lag.

Julia lauschte. Wochenlang. Und dann schlug sie ihr erstes Thema vor. Etwas völlig Blödsinniges sollte eingeführt werden. Ein Grüner Punkt auf Plastikverpackungen. Und eine neue gelbe Mülltonne, in der diese Verpackungen gesondert gesammelt werden sollten.

Die Redaktionskonferenz war fast vorbei, als Julia ihre Stimme erhob. Ihr Herz hämmerte wie verrückt.

»Totaler Schwachsinn«, erklärte Julia, »es gibt Befürchtungen, dass dieser Verpackungsmüll dann doch wieder mit dem anderen Müll verbrannt wird. Lieber sollte man diesen Müll direkt vermeiden.«

»Super Thema«, sagte Ulf, der irgendwie meistens das Sagen hatte, »mach das.«

Mark schaute auf. Er sah sie an. Zum allerersten Mal.

 

Der Artikel über den Grünen Punkt ist so gut wie fertig. Beinahe hätte Julia ihn zur Redaktionskonferenz mitgebracht. Dann hat sie es gelassen. Sie wird ihn morgen bringen. Vielleicht ist Mark dann allein da. Ganz vielleicht. Hoffentlich.

Sie hüpft die letzten Meter über das nasse Kopfsteinpflaster.

Sie hat den schweren Messingknauf schon in der Hand, sie will gerade die Tür zur »Pinte« aufstoßen, sie hört Gelächter, es riecht nach Bier und nach Zigaretten, sie weiß schon, welchen Tisch sie ansteuert, den ganz hinten, neben der Jukebox, hoffentlich ist er frei, da schießt ein Auto mitten auf den Bürgersteig, es schießt so dicht an die Hauswand, dass Mark zur Seite springen muss, damit es ihm nicht über die Füße rollt, Julia entfährt ein Schrei, was für ein Idiot ist das, will sie rufen, sie will Mark am Parka fassen und ihn zu sich ziehen, aber Mark steht da wie versteinert, und er schimpft kein bisschen, er scheint auch überhaupt nicht erschrocken oder gar böse. Er grinst. Mark grinst. Er grinst übers ganze Gesicht, seine aufgeworfenen Lippen zeigen einen Ausdruck des Erstaunens und der Begeisterung, den Julia noch nie an ihm gesehen hat.

»Hallöchen!«, tönt es aus dem Auto, die Seitenscheibe ist heruntergekurbelt, heraus schaut ein Mädchen, ganz blond, wippender Pferdeschwanz, und Augen, so blau, sie leuchten sogar in dieser dunklen Oktobernacht.

»Ist die Redaktionskonferenz etwa schon vorbei?«

Das Mädchen lacht. Ein Lachen, so laut, so unbeschwert.

»D-du«, stottert Mark, »du kommst genau richtig.«

 

Im Nachhinein wird Julia nie ganz genau erklären können, wie alles so gekommen ist. Denn natürlich ist Isabelle gleich mit in die »Pinte«, das Auto hat sie mitten auf dem Bürgersteig stehen gelassen. Und natürlich sitzt sie neben Mark, aber immerhin sitzt Julia auf der anderen Seite. Und natürlich hängt Mark an Isabelles Lippen, saugt jedes Wort, das sie sagt, auf, kann nicht genug hören von Isabelle und von Irland, wo sie gerade ein Jahr studiert hat, aber vor allem von Isabelle. Mark schaut Isabelle an. Unentwegt.

Und selbstverständlich findet Julia das alles zum Kotzen. Sie trinkt ihr Bier, sie trinken alle Bier, eins nach dem anderen, Isabelle erzählt, Mark starrt sie an mit großen Augen und verzückten Lippen, und beinahe fällt es Julia gar nicht auf. Sie guckt nun schon so lange stumpfsinnig in ihr Glas und überlegt, ob sie den nächsten Bus nimmt oder den übernächsten, da ist ihr plötzlich, als zwinkere Isabelle ihr zu. Kann das sein? Ja, tatsächlich. Isabelle zwinkert ihr zu. Was soll das?

Julia starrt immer noch in ihr Glas. Sie hört schon lange nicht mehr hin. Doch jetzt spitzt sie die Ohren. Was erzählt die da? Von Gnomen und Trollen und irischen Fabelwesen? Und dass es sie alle wirklich gibt? Ganz bestimmt?

Julia sieht zu Mark. Der hängt an Isabelles Lippen und nickt und grinst.

Da ist es wieder. Ein kleines Zwinkern. Ganz allein für sie.

»Und weißt du«, sagt Isabelle gerade, »dieser kleine Kobold, der für die Feen die Schuhe näht, der wohnte gleich bei meiner Gastfamilie, im Garten hinter einem großen Stein. Natürlich ist er sehr scheu und lässt sich nicht blicken, aber spätnachts, wenn der Mond hell schien, dann sah man manchmal so eine kleine weiße Rauchfahne, die kommt von seiner Pfeife. Das ist tatsächlich das Einzige, woran man erkennen kann, dass hinter dem Haus ein Leprechaun wohnt.«

Julia findet Isabelle immer noch zum Kotzen. Hätte die nicht in Irland bleiben können. Was taucht die ausgerechnet heute Abend hier auf. Und dennoch. Mark guckt und nickt und nickt. Und das ist einfach zu komisch.

»Und weil mir so langweilig war«, erzählt Isabelle weiter, »habe ich mich ausbilden lassen zur Exkursionsführerin für Kobolde, Feen und Elfen. Das ist in Irland eine staatlich anerkannte Ausbildung, und damit kann man richtig gut Geld verdienen. Natürlich nur, wenn man alle Naturwesen kennt und weiß, wo man sie findet. Also ehrlich gesagt«, fügt sie hinzu, und da ist es wieder, dieses Zwinkern, »ehrlich gesagt habe ich nur den ersten Teil geschafft, der zweite war schon viel zu schwierig. Aber kleine Kinder durfte ich herumführen, nur keine Erwachsenen.«

»Ta-tatsächlich!«

Mark, der die ganze Zeit mit offenem Mund gestaunt hat, hat etwas gesagt.

»Ja, toll, nicht wahr?« Isabelle lacht, und sie zwinkert nun so sehr, dass Julia schon vom Zusehen fast schwindelig wird. Dieses Zwinkern, das Mark nicht sieht. Das ganz allein für Julia ist.

»Wenn du willst«, Isabelle ist nun ganz dicht an Mark herangerückt, ihre Gesichter berühren sich fast, das gefällt Julia gar nicht, und was soll das, da ist ein Fuß, der sie tritt, unter dem Tisch, ganz leicht, aber immerhin, »wenn du willst«, sagt Isabelle gerade noch einmal, »zeige ich dir den Leprechaun. In Irland.«

»In Irland«, echot Mark, und seine Augen glänzen noch mehr, obwohl das eigentlich kaum geht.

»In Irland«, antwortet Isabelle, »ich zeig ihn dir.«

Das ist der Moment, in dem Julia sich an ihrem Bier verschluckt. Mark und Isabelle zusammen in Irland! Ja, geht’s noch!

»Und du«, Isabelle stupst Julia ihren Zeigefinger mitten auf die Brust, »du kommst mit.«

Julia hustet und spuckt ihr Bier über den Tisch.

»Das wird lustig«, ruft Isabelle.

Der Glanz in Marks Augen ist nun noch größer. Das Verzücken auf seinen Lippen auch.

Julia wischt hastig mit dem Ärmel ihres Sweatshirts das Bier auf. Ein Wisch, und es bleiben nur noch feuchte Schlieren. Sie macht diese eine Bewegung mit ihrem Arm und trifft zwei blitzschnelle Entschlüsse. Erstens: Ab sofort will sie kein bisschen mehr für Mark schwärmen. Zweitens: Vor dieser Isabelle muss sie sich unbedingt in Acht nehmen.

Und doch, auf dem Heimweg im Bus hat sie dieses Zwinkern vor Augen. Und ob sie will oder nicht, ein kleines, ein winzig kleines Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Diese Isabelle.

 

Isabelle, die spät in dieser Nacht in ihrem Auto sitzt, ein bisschen betrunken, vielleicht sogar sehr betrunken, lieber nicht darüber nachdenken, Isabelle zwinkert immer noch. Doch jetzt zwinkert sie die Tränen weg. Sie hat solche Sehnsucht. Wenn sie an Irland denkt, an das, was dort war, daran, weshalb sie nun wieder hier ist, früher als geplant, weshalb sie Hals über Kopf abreisen musste, dann wird sie so traurig, dass sie einfach nur noch weinen möchte. Sie will aber nicht weinen. Nicht deshalb. Und sowieso.

Isabelle zwinkert. Wie einfach hier alles ist. Man geht in eine Kneipe und flirtet. Und nichts ist dabei. Sie könnte diesen Typen, diesen Mark, mit nach Hause nehmen, ohne dass groß etwas passieren würde. Außer dass die Neue womöglich total ausflippen würde. Diese Julia. Mann, ist die verknallt. Der kommt das Verknalltsein ja quasi zu den Ohren heraus! Irgendwie ist die ja wohl nicht von dieser Welt. So ätherisch. So durchschaubar. Fast durchsichtig. Wie kommt die klar in ihrem Leben?

Isabelle reißt das Steuer herum. Beinahe hätte sie sie nicht gesehen. Polizei, ein Stück voraus. Seit wann machen die hier Alkoholkontrollen? Sie wendet, nimmt den Umweg durch den Wald. Noch mal davongekommen.

Sie zwinkert. Sie schnieft. Warum tut das so weh? Mit einem Mal hat sie Julia wieder vor Augen, dieses blasse, stille Mädchen. Das auch einen Schmerz mit sich herumträgt. Gut verborgen. Aber Isabelle hat ihn gesehen. Es ist nicht so, dass sie Julia nett findet. Es ist eher so, dass sie sie sieht. Und vielleicht mag sie sie deshalb doch. Zumindest ein bisschen.

Isabelle zwinkert. Gleich ist sie zu Hause. Sie ist müde. Und womöglich doch sehr betrunken, oje. Diese Julia aber, die wird sie demnächst noch ein wenig mehr ärgern. Die kann doch nicht so blass bleiben. So weltfremd. Da muss doch was zu machen sein.

Das war der Anfang.

 

Am nächsten Tag bringt Julia ihren ersten Artikel in die »Trompete«. Ihren allerersten Artikel überhaupt. Über den Grünen Punkt. Sie hat keine Ahnung, wie man so einen Artikel schreibt. Also hat sie es so gemacht, wie sie denkt, dass man es machen könnte. Es sind genau sechzig Zeilen geworden, fein säuberlich zu Hause auf der Schreibmaschine getippt.

Mark ist nicht da, also hat sie den Artikel mit zitternden Fingern Ulf überreicht, der jetzt quälend lange braucht, um ihn zu lesen, und sich dabei immer wieder mit der Hand durch die ungewaschenen Haare und übers Gesicht fährt. Julia wird ganz kribbelig bei diesem Anblick. Sie steht völlig verloren mitten im Raum, weiß nicht wohin mit ihren Händen, mit ihren Blicken, mit sich selbst, da geht die Tür auf, und herein stürmt Isabelle. Ihr voraus stürmt ein strubbeliges graues Etwas, das so viel Fell hat, dass es nach allen Seiten hin schwabbelt und schwingt, ein rennender Mopp auf vier Füßen. Julia will noch zur Seite gehen, wie es ihre Art ist, aber es ist zu spät, der rennende Mopp hat sie entdeckt und springt an ihr hoch, bellt ein verblüffend helles Bellen und leckt mit Inbrunst ihre linke Hand und, als sie die wegzieht, ihre linke Hüfte.

»Gisela!«, ruft Isabelle und lacht, und sie lacht noch mehr, als Julia ihre Hand an ihrer Cordhose abwischen will und sie gleich wieder wegzieht, denn die Cordhose ist auch ganz nass vor lauter Hundesabber.

»Entschuldige«, Isabelle lacht immer noch, »das tut sie sonst nie!« Sie sagt das so, als habe sie etwas sehr Lustiges gesagt.

Julia kann Hunde nicht leiden, erst recht nicht, wenn sie an ihr hochspringen und sie vollsabbern, aber immerhin, Isabelle hat sich entschuldigt, wenn auch nur so halb, und Ulf liest immer noch ihre sechzig Zeilen und fährt sich gerade zum x-ten Mal mit der Hand über Kopf und Gesicht. Am liebsten würde sie verschwinden. Weg von Ulf, der liest und liest, und weg von dieser lachenden Isabelle und ihrem sabbernden Hund. Aber nun steht sie hier, und sie kommt nicht weg, und weil sie noch nie einen solchen Hund gesehen hat, mit so viel schwabbeligem Fell, fragt sie höflich: »Was ist das für ein Hund?«

Isabelle könnte nun sagen, dass das ein Straßenköter ist. Dass Gisela ihr eines Tages mitten in dem Dorf, in dem sie als Kind lebte, begegnet ist. Dass der winzig kleine Hund ihr gefolgt ist bis nach Hause. Und dass Isabelle, die damals fünfzehn war und noch zur Schule ging, sie ins Fundbüro in der Stadt bringen musste. Ihre Mutter hatte darauf bestanden. Isabelle könnte erzählen, dass sie jede Nacht wach gelegen und an den kleinen, strubbeligen Hund gedacht hat. Dass sie ihre Mutter überredet hat, noch einmal zum Fundbüro zu fahren. Und dass Gisela noch da war. Das alles könnte sie erzählen. Doch stattdessen sagt sie mit sehr ernstem Gesicht: »Das ist ein tibetischer Schlangenhund.«

»Ehrlich!«, ruft Julia aus, die nun wirklich überrascht ist. »Wo kriegt man die denn her?«

Und Isabelle mit dem gleichen sehr ernsten Gesicht: »Aus Tibet natürlich.«

Julia will gerade fragen, ob Isabelle tatsächlich schon einmal in Tibet war, aber Isabelle lacht nun so sehr, dass selbst Julia schwant, dass sie gerade fürchterlich verulkt wird. Die Schamesröte steigt ihr ins Gesicht, da hört sie Ulf sich hinter ihr räuspern.

»Hm«, nuschelt Ulf, er hält ihren Artikel über den Grünen Punkt immer noch in den Händen, ganz zerknittert sind ihre sechzig Zeilen mittlerweile, »hm, ganz o. k., drucken wir so.«