Hinterhaus - Lioba Werrelmann - E-Book

Hinterhaus E-Book

Lioba Werrelmann

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Beschreibung

Journalistin Carolin stolpert wider Willen in einen Kriminalfall, der sie tief in die Vergangenheit Ost-Berlins führt. In einem Hinterhaus in Prenzlauer Berg findet sie die Leiche eines seit Langem verschwundenen Jungen. Doch kaum jemand scheint sich an ihn erinnern zu wollen. Die Hausbewohner schweigen, und die Polizei ermittelt nur halbherzig.

Eigentlich hat Carolin andere Sorgen. Ihr Freund ist weg, sie hat keine Wohnung mehr und keinen Job. Aber ehe sie sichs versieht, ist sie dem Mörder zu nahe gekommen. So wird das Hinterhaus auch für Carolin zur tödlichen Falle ...

Ausgezeichnet mit dem GLAUSER-Preis als bestes Krimi-Debüt

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Seitenzahl: 377

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungDonnerstag, 30. September 2011Freitag, 1. Oktober 2011Samstag, 2. Oktober 2011Sonntag, 3. Oktober 2011Montag, 4. Oktober 2011Dienstag, 5. Oktober 2011Mittwoch, 6. Oktober 2011Donnerstag, 7. Oktober 2011Freitag, 8. Oktober 2011Samstag, 9. Oktober 2011Sonntag, 10. Oktober 2011Dezember 2011

Über das Buch

Carolin, Journalistin ohne großes Talent, ist frisch getrennt, ohne Obdach und ohne Arbeit. Unterschlupf findet sie bei einer etwas seltsamen Nachbarin im Hinterhaus. Dort, im Außenklo, stolpert Carolin über die Leiche eines seit zwanzig Jahren vermissten Jungen. Die Nachbarin wird verhaftet, und Carolin hockt nun allein im Hinterhaus. Doch das Böse ist noch da. Beängstigende Dinge geschehen, und ehe sie sichs versieht, ist Carolin in höchster Gefahr. Zum Glück gibt es Adrian, den brillanten Ex-Kollegen, den so leicht nichts abschreckt ...

Über die Autorin

Lioba Werrelmann, Jahrgang 1970, stammt aus dem Rheinland, hat Politische Wissenschaften studiert, volontierte und arbeitete in zwei Kölner Buchverlagen und ist seit 1989 für verschiedene Tageszeitungen, Radio- und TV Anstalten (WDR/ARD) als Redakteurin und Kommentatorin, vor allem in Köln und Berlin, tätig. 2014 erschien ihr autobiografisches Sachbuch »Stellen Sie sich nicht so an«. Ihr ehrenamtliches Engagement gilt Menschen mit angeborenen Herzfehlern. Bei Bastei Lübbe veröffentlicht sie nun ihren ersten Kriminalroman »Hinterhaus«.

LIOBAWERRELMANN

HINTERHAUS

KRIMINALROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

  

Originalausgabe

  

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

  

Copyright © 2019 by Lioba Werrelmann und Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Friederike Achilles, Köln

Titelillustration: © shutterstock / ZRyzner / DmitrievLidiyi / Thomas Sandberg

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-7217-5

  

Dieser Roman ist ein fiktionales Werk. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten der Figuren, einschließlich ihrer Vorgehens- und Handlungsweisen, mit verstorbenen oder lebenden Personen sind rein zufällig.

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

»Was macht der Krimi?«

»Hier ist er, Natalie.«

 

Wenn nur die Kälte nicht wäre. Die Enge hält er aus. Und auch den Geruch. Aber die Kälte! Am Anfang war es nicht so schlimm. Da war er berauscht. Ach was, berauscht. Da war viel mehr. Findet er ein Wort dafür? Wie von Sinnen. Ekstase. Ja, das sind die richtigen Worte. Wie von Sinnen. Ekstase. Lust. Vorsichtig bewegt er seine Zehen. An jedem einzelnen hat sie gesaugt. Er hatte nicht gewusst, dass man so etwas fühlen kann. So etwas! Ein Schauer läuft durch ihn hindurch. Seine Zehen. Und dann. Nie zuvor hat er so etwas erlebt. Was hatte er sich alles ausgemalt. Aber das! Seine Zehen. Und das andere. Er spürt sie noch. Ihren Mund. Ein kleiner erstickter Schrei entfährt ihm. Erschrocken hält er inne. Still sein. Nicht, dass jemand kommt. Wann kommt sie? Er zittert. Wenn nur die Kälte nicht wäre.

Donnerstag, 30. September 2011

Das kleine Schwein ist noch da. Es liegt im Schlafzimmer in der Ecke. Die Nase wie immer ein bisschen zerknautscht, die Stummelbeinchen halb in der Luft. Es liegt ganz still.

Der Rest ist weg. Das Bett, der Kleiderschrank. Das Bücherregal, alle Bücher. Der Drachenbaum. Die Kommode. Der goldene Spiegel. Sogar der Teppich ist weg, verschrammte Dielen. Alles weg.

Das Schlafzimmer ist leer. Die gesamte Wohnung ist leer. Es gibt keine Küche mehr, nur noch Abdrücke an den Wänden, wo die Schränke waren. Aus dem Zulauf fürs Waschbecken tropft es aufs Parkett.

Das Wohnzimmer: auch leer. Kein Sofa, kein Sessel, kein Fernseher. Kein Esstisch. Kein einziger Stuhl. Kein Klavier. Nicht ein einziges Bild. Alle Lampen sind abgeschraubt. Nackte Glühbirnen.

Allein im Badezimmer hängt noch der Alibert an der Wand. Im linken Fach sind meine Zahnbürste, mein Schminkkram. Das rechte Fach ist leer. Dort, wo Jens’ Aftershave stand: ein öliger Rand. Ein einzelnes dunkles Schamhaar klebt darin. Alles ist weg.

Fast alles.

Mitten im Flur stehen sieben Umzugskartons. Hastig gepackt. Einer ist nur halb zu. Anziehsachen sind drin, von mir. CDs, ein paar Bücher. Parfümflakons. Yogablöcke und -gurte. Alles, was ich besitze. In sieben Umzugskartons.

Alles andere ist weg. Der Flurspiegel. Die Hakenleiste für unsere Jacken. Der Läufer. Alle Bilder. Das Telefontischchen. Das Telefon. Die Splitbox. Der Anrufbeantworter. Alles weg.

Was, zum Teufel, ist hier passiert? Sind wir etwa ausgeraubt worden?

Aber wer hat dann die sieben Umzugskisten gepackt?

»Hallo«, rufe ich, leise, verzagt, »hallo? Jens, bist du zu Hause?«

Keine Antwort.

Ich stehe im Flur, und es fühlt sich an, als wäre ich in eine Zeitlupe geraten. Mein Gehirn funktioniert nicht mehr. Es nimmt zwar Dinge wahr, aber nur ganz langsam. Immer nur eins nach dem anderen. Als wäre da ein Filter, der dafür sorgt, dass ich alles nur nach und nach in mich aufnehme. Erst das eine. Dann das nächste. Doch es gelingt mir nicht, eine Verknüpfung herzustellen. Lauter Einzelbilder. Kein Verstehen.

Ich stehe einfach nur da und versuche zu denken. Lange.

Und dann verstehe ich.

Jens ist weg. Und er hat mir nichts von sich dagelassen, abgesehen von einem verklebten Schamhaar und dem kleinen Schwein. Das hatte ich ihm einst zum Geburtstag genäht.

Damals war ich gerade achtzehn.

Als Jens das erste Mal vor mir stand, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

Ich war davon ausgegangen, dass es wieder der alte Sack sein würde, der mich untersucht. Der alte Sack von Orthopäde, der mich seit Jahren untersuchte, seit ich zu schnell gewachsen war. Ich war zu groß und viel zu dünn und hatte ständig diese Rückenschmerzen. Der alte Sack kniff mir in die Beine und sagte: »Du solltest Strumpfmodel werden.« Oder auch: »Ich will dich adoptieren.«

Und wie immer, wenn ich zum alten Sack musste, trug ich meine ausgeleiertste Öko-Baumwollunterhose und mein fiesestes Unterhemd, ein sehr weites, verwaschenes, mit Flecken, die nicht mehr rausgingen.

Und in genau diesen Ussels-Klamotten stand ich nun vor dem bestaussehendsten Orthopäden, den man sich nur denken kann. Ein Mann wie Tom Cruise, nur viel größer: durchtrainiert, tiefschwarzes Haar, ein kantiges Kinn und strahlend blaue Augen.

Er schaute mich nur an und sagte: »Drehen Sie sich um.«

Und dann: »Bücken Sie sich.«

Und ich bückte mich in meiner Bio-Baumwollunterhose, und er umfasste mich von hinten an den Hüften und sagte: »Sie sind ja ganz schief.«

In diesem Moment wusste ich es. Ich war gerade achtzehn, ich hatte keine Ahnung von Sex. Aber ich wusste es in diesem Moment: dass ich mit diesem bestaussehendsten aller Orthopäden schlafen würde.

Beim nächsten Mal wurde ich geröntgt. Ich trug nichts außer einem fast durchsichtigen Slip, den hatte ich extra bei H & M für diesen Anlass gekauft. Die Arzthelferin rümpfte die Nase. Den neuen Orthopäden bekam ich nicht zu Gesicht. Am Empfang drückte man mir ein Rezept in die Hand: sechsmal Krankengymnastik. Ich schlurfte aus der Praxis und fühlte mich betrogen.

Zwei Tage später stand er mittags vor meiner Schule. Er saß in einem Auto, das teuer aussah und ein offenes Verdeck hatte. Er trug ein grün-weiß geringeltes T-Shirt, eine Baseballkappe, eine schwarze Sonnenbrille. Natürlich erkannte ich ihn sofort.

»Dein Taxi ist da«, sagte er nur.

Seitdem sind wir zusammen. Papa rastete aus und gab mir sofort eine Woche Hausarrest. »Damit du den Lackaffen nicht mehr triffst.« Ich marschierte einfach zur Tür hinaus und fuhr mit Jens eine Woche nach Italien, im Cabrio. Als ich wieder auftauchte, war Papa ein Wrack und heulte vor Glück, weil ich wieder da war. Danach hat er nie wieder etwas gesagt wegen Jens. Auch nicht, als ich die Schule schmiss und mit ihm nach Berlin ging. Jens hatte dieses Wahnsinnsangebot, und natürlich hätte ich ihn nie im Leben ziehen lassen.

Niemals hätte ich ihn ziehen lassen.

Jetzt ist er weg. Abgehauen mit Sack und Pack, während ich beim Yoga war.

Meine Beine geben nach. Ich rutsche an der Wand entlang nach unten. Sitze im Flur auf dem Boden, starre auf die Umzugskisten. Starre. Versuche zu denken. Doch mein Gehirn ist leer. Keine Bewegung. Lange.

Irgendwann nestele ich mein Handy aus meiner Yogatasche. Rufe Henry an. Sie geht gleich ran, und zwei Minuten später höre ich sie die Treppe raufrennen.

»Das ist doch völlig unmöglich!«, brüllt Henry. »Man kann doch nicht in zwei Stunden eine ganze Wohnung ausräumen!«

»Doch«, sage ich, »guck doch.«

Und Henry guckt. Und guckt. Und dann drückt sie mich an ihren großen Busen und hält mich und wiegt mich, wiegt mich hin und her, denn nun habe ich angefangen zu heulen und höre gar nicht mehr damit auf.

Henry ist meine allerbeste Freundin. Sie ist meine Sonnenschein-Freundin. Meine Spaß-Freundin. Meine Jetzt-geht-es-ab-Freundin. Henry ist die Allerwundervollste. Henry halt.

Eigentlich heißt sie nicht Henry, sondern Henriette, aber Henriette geht natürlich gar nicht.

Henry ist höchstens eins sechzig groß, und irgendwie kommt es einem so vor, als wäre sie genauso breit. Wobei Henry nicht dick ist. Es ist nur alles so rund an ihr. Der Po. Die Hüften. Der Busen. Der vor allem.

Henry hat das Café im Erdgeschoss. Ein winzig kleines Café mit gerade einmal vier Tischen. Eine Kuchentheke, so niedrig, dass Henry ihren üppigen Busen drauflegen kann. Der Laden ist so klein, es gibt nicht einmal ein Klo. Henrys Café ist immer gerappelt voll.

»Komm«, sagt Henry, »komm mit, ich habe gerade Schokokuchen gebacken. Ist noch ganz warm.«

Das Café ist schon geschlossen. Es ist ein Tagescafé. Henry könnte sich dumm und dusselig verdienen, wenn sie den Laden auch abends öffnen würde. Aber das will sie nicht, auf gar keinen Fall. »Das ist vorbei«, sagt sie.

Wir sitzen in der Küche, das heißt, ich sitze auf dem großen blechernen Mülleimer, denn die Küche ist so winzig, dass kein Stuhl darin Platz hat. Es gibt nur einen schmalen Gang zwischen den Arbeitsplatten links und rechts, unter dem einzigen Fenster steht der eiserne Herd. Henry hockt auf einem Höckerchen zu meinen Füßen. Das braucht sie, um an die Regale über den Arbeitsplatten zu kommen. Sie streichelt meine Knie und sagt »Oje« und »Der kommt schon wieder« und »Wein doch nicht so«. Zwischendurch springt sie ständig auf, Henry sitzt nie lange still. Sie muss die winzige Spülmaschine einräumen, laufen lassen, ausräumen. Sie spült alles, was zu groß ist für die Spülmaschine, mit der Hand. Sie knetet Mürbeteig, schiebt Bleche in den heißen Ofen, schnippelt Gemüse, rührt Suppen um. Ich kenne sie nur so. Henry arbeitet eigentlich immer. Die Prenzlauer-Berg-Mütter, die tagaus, tagein mit ihren Babys und Zubehör das winzig kleine Café verstopfen, beneiden sie um ihre Freiheit.

Ich sitze auf der Blechtonne und heule und heule. Gleichzeitig esse ich fast den ganzen Schokoladenkuchen. Kuchen geht immer.

Zwischendurch rufe ich Jens auf dem Handy an. Einmal. Zweimal. Zigmal. Alles, was ich höre, ist eine automatische Stimme: »Dieser Anschluss ist zurzeit nicht erreichbar.«

»Vielleicht«, schluchze ich, »vielleicht ist er entführt worden.«

»Ach was«, sagt Henry.

»Doch, bestimmt!« Direkt hinter den Tränen wartet die Hysterie. Ich fühle sie, gleich ist sie da, riesengroß. Ich beginne zu kreischen: »Niemals hat er das aus freien Stücken getan! Er wurde gezwungen! Er sitzt irgendwo, gefesselt und verletzt!«

»Ojemine«, murmelt Henry, »beruhige dich.« Aber es hilft nichts.

»Wir müssen wieder hoch«, brülle ich, »Spuren sammeln!«

»Nein«, Henry streicht mir mit ihrer warmen, weichen Hand, an der ein bisschen Kuchenteig klebt, über die Wange, »nein, das müssen wir nicht.«

»Aber niemals würde er das von alleine tun!«

»Ach Liebes, du hast keine Ahnung, was Männer von alleine tun.«

Ich blinzele sie an, zwischen meinen Tränen, ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Aber ich ahne, dass Jens nicht entführt wurde. Und ich weine umso heftiger. Stunde um Stunde.

Am Ende hat Henry drei Torten gebacken und zwei Quiches, und die Suppe für den nächsten Tag ist auch fertig. Alle Teller, Tassen und Gläser sind gespült, alle Schüsseln und Kuchenformen. Henry hat den Boden gewischt, so gut es geht um mich herum, denn ich sitze immer noch auf der Blechtonne und heule.

Draußen ist es dunkel geworden.

»Süße«, sagt sie, »nimm das.« Und drückt mir eine Tablette in die Hand, sie ist klein und weiß und länglich und hat drei schmale Einkerbungen.

»Und dann?«, frage ich.

»Dann wird es dir besser gehen. Ein kleines bisschen.«

Ich kann mir das kaum vorstellen, aber ich schlucke die Tablette. Henry weiß einfach immer am besten, was richtig ist für mich.

Sie klettert auf das Höckerchen und kippt fast damit um, als sie sich streckt und reckt und so lang macht wie nur irgend möglich. Von einem der oberen Regalbretter holt sie einen kleinen Pappkarton. Er ist so schwer, er fällt ihr fast aus den Händen und auf mich drauf. Drin ist eine Tchibo-Luftmatratze. Henry hockt sich wieder hin und beginnt hineinzupusten. Es dauert, bis die Matratze aufgeblasen ist. Ich weine noch eine Weile, doch irgendwann fühlt es sich so an, als wären alle Tränen aufgebraucht. Der Blecheimer wird immer unbequemer. Und irgendwie wird mir auch ein wenig leichter zumute. So, als wäre ich ein Schwamm. Leicht und mit Löchern drin. Es fühlt sich ein bisschen an wie Betrunkensein.

»Henry, war in dem Schokokuchen Rum?«

»Nein«, sagt sie und lächelt, »nein, das nicht.«

»Ich bin müde.«

»Ja.« Sie streicht mir wieder über die Wange. »Das ist gut.«

Die Luftmatratze passt genau in den schmalen Gang zwischen den Arbeitstischen. Mit dem Kopf stoße ich fast an den Herd, der noch ein bisschen warm ist. Es fühlt sich gut an. Und sowieso fühlt sich jetzt gerade alles gut an. So leicht. So fluffig. Und ich bin so unendlich müde.

Ich bekomme nicht einmal mehr mit, wie Henry das Licht ausmacht und die Tür hinter sich schließt.

Freitag, 1. Oktober 2011

Als ich erwache, weiß ich einen Moment lang nicht, wo ich bin. Alles an mir ist steif. Und alles tut weh. Meine Zunge ist ein großes pelziges Tier. Meine Füße sind Eisklötze. Meine Hände auch. Irgendwie ist mir durch und durch kalt. Und während ich noch wach werde, auf der Luftmatratze in Henrys kleiner Küche, während das Morgengrau durch das vergitterte Fenster kriecht und der Kühlschrank brummt, während ich noch versuche zu verstehen, wo ich bin, was geschehen ist, während ich eigentlich noch ganz leicht schwebe zwischen Schlaf und Erwachen, kommt die Erinnerung. Sie ist eine Keule, die mich niederschlägt. Ein einziger Rumms, und der Schmerz ist da. So groß.

Jens. Jens ist weg.

Ich wimmere. Drehe mich auf der Luftmatratze zur Seite, will die Knie anziehen, mich klein machen, mich selbst umschlingen. Doch dafür reicht der Platz nicht. Ich ramme mit den Knien gegen ein eisernes Regal, es scheppert, eine Dose mit Besteck landet krachend auf meiner Hüfte.

»Hallo? Hallo? Ist da jemand?«

Ein großes schwarzes Etwas erscheint vor dem Küchenfenster. Es spricht. Es ist ein Kopf mit einem Motorradhelm drauf.

»Hallo? Frau Königsforst? Sind Sie das?«

Ich kenne die Stimme. Ich kenne dieses fiese Quaken mit dem nasalen Unterton. Es gehört zu Herrn Zikram, dem Hausverwalter. Am liebsten würde ich mich tot stellen. Aber er hat mich schon gesehen.

»Frau Königsforst! Nun verstecken Sie sich mal nicht! Ich sehe Sie doch!«

Er klopft nun gegen die Scheibe. Wenn er so weitermacht, ist gleich das ganze Haus wach.

»Das ist gut, dass ich Sie sehe! Nehmen Sie Ihre Kisten, sonst nehmen wir sie mit!«

»Meine Kisten? Was …?«

Mühsam rappele ich mich hoch. Mir ist ganz schwindelig. Die Küche bewegt sich. Oder ist es die Luftmatratze? Es fühlt sich an, als wäre ich auf einem Schiff. Ein Schritt. Noch einer. Die Türklinke will sich nicht fassen lassen. Entwischt mir nach links. Nach rechts. Dann bin ich draußen. Die Kacheln im Flur tanzen Ringelreihen. Die an den Wänden und die auf dem Fußboden. Es gibt eine Stufe zum Hof hinaus. Ich verpasse sie und schlage lang hin. Dem Zikram direkt vor die Füße.

»Frau Königsforst, also wirklich!«

Ich richte mich mühsam auf. Langsam legt sich der Schwindel. Ich könnte nun klar im Kopf werden. Die Situation begreifen. Aber ich begreife sie nicht.

Meine sieben Umzugskisten stehen mitten im Hof. Pjotr und Zlotka stehen daneben. Das sind die beiden kahlköpfigen und komplett tätowierten weißrussischen Hünen, die Zikram immer engagiert, wenn im Haus irgendwas zu tun ist. Ausmisten. Schlösser austauschen. Mieter vor die Tür setzen. Ein paarmal habe ich das in den letzten Jahren miterlebt. Aber es ist noch viel öfter passiert. Pjotr und Zlotka kommen meist im Morgengrauen, wenn die typischen Prenzlauer-Berg-Bewohner noch schlafen. So wie heute. Und heute bin ich es, die vor die Tür gesetzt wird. Langsam begreife ich.

»Herr Zikram …«, beginne ich.

Aber Zikram ist schon fertig. Er steht neben seinem Mofa und füllt auf dem Behälter, den er hintendrauf fest montiert hat und der aussieht wie ein Beautycase, ein Blatt Papier aus.

»So«, verkündet er, »die Kündigung war ja fristgerecht, das ist also okay.« Er setzt einen Haken auf sein Papier.

»Kündigung?«, murmele ich, »fristgerecht?«

»Ja, ja«, sagt Zikram, »der Herr Wächter war ja immer sehr ordentlich. Gekündigt zum dreißigsten Neunten.«

Ich schnappe nach Luft. Mir ist, als hätte einer der weißrussischen Hünen mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Dabei stehen die beiden ganz still neben meinen Kisten und verziehen keine Miene. Niemand hat die beiden je eine Miene verziehen sehen.

Jens hat die Wohnung schon vor Monaten gekündigt. Und ich hatte keine Ahnung.

»Leider wurde die Wohnung nicht fristgerecht geräumt«, fährt Zikram nun fort, seine kleine, manikürte Hand zeigt auf meine sieben Kisten. »Das werden wir wohl dem Hauptmieter in Rechnung stellen müssen, dem Herrn Wächter.«

Ah, Jens muss also die Hünen bezahlen, die in aller Frühe meine Habseligkeiten aus dem vierten Stock in den Hof geschleppt haben. Das wird der Zikram nicht zum Freundschaftspreis abrechnen. Ich fühle einen Moment lang so etwas wie Genugtuung. Aber nur einen Moment.

»Und leider hat die Frau Königsforst ihre Schlüssel nicht fristgemäß abgegeben.«

Zikram schaut mich an und versucht dabei, tadelnd zu gucken, aber dazu ist er viel zu wenig einschüchternd. Dieser kleine Mann hat wirklich alles getan, um das Äußerste aus sich rauszuholen. Die schwarzen Haare halblang und immer frisch gegelt. Die dünnen Beine in Markenjeans. Eine Lederjacke, wie es sie fertig abgenutzt zu kaufen gibt. Der schwarze Motorroller mit Beautycase. Ich konnte diesen seltsamen Hausverwalter nie ernst nehmen. Nicht ich, die ich mit Jens, dem bestaussehendsten aller Orthopäden, cool mitten in Prenzlauer Berg im vierten Stock im Vorderhaus wohnte, mit Stuck und Flügeltüren. So war das. Bis jetzt.

Jetzt steht der kleine Herr Zikram vor mir, er reicht mir nicht mal bis zur Schulter, und besiegelt das Ende meines bisherigen Lebens.

»Einmal Schlösser austauschen«, murmelt er vor sich hin, »macht vierhundertfünfzig Euro, zu zahlen innerhalb von vierzehn Tagen.«

Sagt es und überreicht mir einen Überweisungsträger. In dem Moment, in dem ich das Papier in der Hand halte, beugt er sich wieder über sein Beautycase.

»Sechs Uhr zwei«, notiert er, laut mitsprechend, »Zahlungsforderung vor Zeugen an Schuldnerin übergeben.« Er hält Pjotr und Zlotka seinen Stift hin, die kritzeln ihre Unterschriften aufs Blatt und marschieren zur Hoftür hinaus. Wie immer ein bisschen breitbeinig, weil die Oberschenkel sonst nicht aneinander vorbeipassen. Zikram würdigt mich keines weiteren Blickes, steigt auf sein Mofa und düst hinterher.

Das mit den Wutanfällen sieht man mir nicht an. Das wissen nur ganz wenige. Onkel Florian hat mal behauptet, meine Mama habe mich »das Trampeltier« genannt. Weil ich stundenlang mit den Füßen auf den Boden trampeln konnte, wenn mir etwas nicht passte. Später hat er dann behauptet, er habe das nie gesagt.

Ich habe gelernt, nur noch ganz selten wütend zu sein. Ich habe es mir fast abgewöhnt. Doch nun spüre ich eine Wut in mir, die heiß ist und groß und die mich mit all ihrer Macht erfüllt. Sie faucht und lodert. Ich spüre ihre zerstörerische Größe. Diese Wut will etwas zertrümmern. Jetzt. Sofort.

Ich denke in solchen Momenten nicht nach. Weil sie direkt vor mir steht, nehme ich eine meiner Kisten. Sie ist verblüffend schwer. Ich hieve sie hoch, so hoch, wie ich es schaffe, und dann schleudere ich sie mit aller Kraft gegen die Wand des Seitenflügels. Es scheppert ungemein. Keine Ahnung, was Jens in diese Kiste gepackt hat. Der Krach ist gigantisch.

Fast sofort geht ein Fenster im Erdgeschoss auf. Ein Gesicht erscheint, grau, schmallippig. Es ist Willi Schneider. Ich habe meine Kiste direkt gegen seine Küchenwand geschmissen. Man sieht ihn dort immer abends unter einer flackernden Neonröhre vorm Herd stehen.

»Aber Fräulein Königsforst«, sagt er, als er mich erblickt, »warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Im nächsten Moment ist er draußen. Er hat nichts an außer einem blau-weiß gestreiften Frotteebademantel und blauen Plastikschlappen. Seine nackten Beine sind seltsam weiß und unbehaart. Und sehr dünn. Genauso dünn wie seine Arme, die aus den Ärmeln seines Bademantels rausgucken. Willi Schneider fragt nichts. Er fängt sofort an aufzuräumen.

Es waren meine CDs, die ich gegen die Wand geschmissen habe. Außerdem etliche Parfümflakons. Und große Teile meiner Unterwäsche. Willi Schneider hat sich den zerbeulten Karton geschnappt, ihn halbwegs wieder zusammengesteckt, und nun sortiert er alles wieder ein. Die CDs. Die Wäsche. Die kaputten Flakons trägt er zu den Müllcontainern, immer nur wenige Scherben gleichzeitig, er balanciert sie auf seinen weißen, ausgestreckten Händen. Nach wenigen Minuten steht der Karton wieder neben den anderen, als wäre nichts passiert. Nur die Hauswand sieht aus wie angepinkelt, bloß dass es nicht nach Pisse stinkt, sondern nach Parfüm.

Es ist mir so peinlich, zu sehen, wie Willi Schneider meine Unterwäsche sortiert, ich möchte sie ihm am liebsten entreißen. Doch ich stehe nur da und tue nichts. Er hat eine Art, die Dinge zu regeln, die keinen Widerspruch zulässt. Von Willi Schneider heißt es, er sei vor der Wende Hausmeister gewesen in unserem Haus. Er hat schon immer für Ordnung gesorgt. Er tut es auch jetzt. Schnell, effizient, beinahe ohne Spuren zu hinterlassen. Und dann verschwindet er wieder in seine Wohnung, ohne ein weiteres Wort. Als hätte es diesen kleinen Zwischenfall nie gegeben.

Meine Wut weicht. Sie macht Platz für die Verzweiflung. Ich möchte Jens anrufen, ich will, dass er endlich ans Telefon geht. Aber mein Handy ist in Henrys Küche, und die Tür ist hinter mir zugefallen, ich komme nicht mehr hinein.

Ich könnte nun hochgehen, in den ersten Stock, Henry wecken. Doch das kommt nicht infrage. Henry ist meine beste Freundin, seit Jahren. Und doch kann ich die Male, die ich in ihrer Wohnung war, an einer Hand abzählen. Henry lebt nicht allein. Sie lebt mit ihrem Mann zusammen, Gunther. Gunther mag keinen Besuch. Und Gunther ist der furchteinflößendste Mann, den ich kenne. Nicht, dass er so aussähe wie Pjotr und Zlotka. Ganz und gar nicht. Gunther ist groß, das schon, aber das merkt man nicht, weil er so dünn ist. Er ist auch nicht kahl geschoren wie die weißrussischen Hünen, er trägt sein graumeliertes Haar lang und offen. Jens nennt ihn »Gandalf« und lacht sich schlapp drüber. Ich nenne ihn nicht so. Und ich lache auch nicht.

Gunther, von dem niemand weiß, wie alt er eigentlich ist, auf jeden Fall ziemlich alt, denn er ist deutlich älter als Henry, und die ist schon zehn Jahre älter als ich, Mitte vierzig, Gunther ist ein Guru. Ein echter. Er kann Dinge, die unsereins sich nicht einmal vorstellen kann. Er verfügt über magische Kräfte.

Nicht im Traum käme ich auf die Idee, morgens um sechs Henry zu wecken und damit Gunthers Zorn auf mich zu ziehen.

Und so sinke ich auf die Stufe an der Tür zum Hinterhof. Die Kälte, die mich geweckt hat, sie kriecht zurück in meine Glieder. Meine Hände und Füße werden wieder zu Eiszapfen. Meine Zähne klappern ohne jeden Rhythmus. Meine Welt existiert nicht mehr. Jens. Was ist mit ihm. Warum macht er all das. Ich fange an, mit dem Kopf gegen den Türrahmen zu schlagen. Es tut fast gar nicht weh. Ich schlage fester. Es soll wehtun. Es macht »poch«, und noch einmal »poch«, und dann wird mir klar, dass ich so die Nachbarn wecke. Sie werden bald herunterkommen. Sowieso. Der Tag beginnt. Und ich sitze hier vor den Trümmern meines Lebens. Sie werden mich anglotzen und Fragen stellen.

Ich weiß weder ein noch aus. Ich höre auf, mit dem Kopf gegen den Türrahmen zu schlagen. Ich sinke in mich zusammen. Und weine still vor mich hin. Meine Knie schlottern vor Kälte.

Unser Hinterhof ist ein typischer Berliner Hinterhof. Grau und ohne jedes Licht. Kaputtes Kopfsteinpflaster. Eine schmale Tür zum Seitenflügel, eine weitere schmale Tür ins Hinterhaus. Unzählige Fahrräder, die meisten verrostet und ausgeweidet. Die guten Räder tragen alle hoch in ihre Wohnungen. Mitten im Hof: ein windschiefer offener Schuppen für die Müllcontainer. Es sind zu wenige Container für die vielen Bewohner, sie quellen alle über. Nachts hört man die Ratten rascheln, und manchmal sieht man sie über den Hof huschen. Angeblich sind sie auch in den Erdgeschosswohnungen. Es stinkt immer ein bisschen im Hof. Nach Müll und nach Moder.

Der Hof ist ein unwirtlicher Ort. Keiner, an dem man sich länger als unbedingt nötig aufhält. Am Morgen dieses ersten Oktober bin ich hier gestrandet. Allein und obdachlos. Mein ganzer Besitz in sieben Umzugskartons, einer davon kaputt.

Ich sitze auf der Stufe zum Hof, weine und bin der festen Überzeugung, dass es schlimmer nicht kommen kann.

Dann poltert jemand die Treppe im Seitenflügel hinunter. Gila erscheint.

Sie hat die blond gefärbten Haare straff nach hinten gebunden und trägt ihre Laufklamotten: hautenges T-Shirt, kurze Hosen. So dreht sie jeden Morgen ihre Runde durch Prenzlauer Berg. Und jeder starrt sie an. Es gibt sogar Fotos von ihr im Internet und immer wieder Berichte in den Lokalzeitungen. Es liegt nicht daran, dass sie so hübsch ist. Dabei ist sie das zweifellos. Das herzförmige Gesicht. Die geschwungenen Brauen. Der Kirschmund. Die zarte, man könnte auch sagen rappeldürre Figur. Dabei ist Gila fast eins achtzig groß. Aber das alles ist es nicht. Es ist ihr rechtes Bein. Sie hat keins. Sie hat rechts nur einen Oberschenkelstummel. Ein Motorradunfall vor vielen Jahren. Seither trägt sie eine Prothese, gut sichtbar für jedermann. Sie will sich nicht verstecken. Sie hat es mir einmal erklärt. Ihre Botschaft lautet: Seht her, ich bin ein Krüppel, und ich bin schön.

Gila ist eine echt harte Frau. Eine eisenharte Frau. Ich muss es wissen. Sie ist meine Chefin.

Sie schaut mich an, dann guckt sie rüber zu den Kisten.

»Ich weiß nicht, was du da machst«, sagt sie, »ist mir auch egal. Aber heute Abend bist du da. Pünktlich.«

Noch ein kurzer Blick in mein verquollenes Gesicht, auf meine zerknautschten Klamotten.

»Und zwar ausgeschlafen und gewaschen.«

Und dann ist sie zur Hoftür hinaus, die Prothese ein schimmernder Schatten.

Verdammt, denke ich, das hatte ich fast vergessen. Heute ist Freitag.

Ich arbeite nicht viel. Immer nur einen Tag in der Woche. Immer freitags. Immer nachts. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das heute schaffen soll. Völlig am Ende. Und obdachlos.

Ich habe nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Denn im nächsten Augenblick poltert schon wieder jemand die Treppe hinunter.

Es ist das unsagbar schlecht gelaunte Ehepaar aus dem zweiten Stock im Vorderhaus. Sie streiten sich unentwegt. Das heißt: Sie streitet mit ihm. Sie beschimpft ihn. Wann immer die beiden auftauchen, hört man sie zetern, den Kopf mit dem grauen Dutt in den Nacken gelegt, die Worte herausspeiend, spuckend, wenn man nah dran ist, sieht man feine Tröpfchen spritzen. Er, geduckt und kahlköpfig, mit einem weichen Gesicht und hängenden Mundwinkeln, sagt meist kein einziges Wort.

Ich habe mir angewöhnt, ihn mitleidig anzugucken. Manchmal, bilde ich mir ein, guckt er zurück. Doch seine Mundwinkel bleiben immer unten. Er lächelt nie.

Niemals haben die beiden irgendjemandem Guten Tag gesagt. Oder gar mit jemandem gesprochen. Alles, was wir über sie wissen, wissen wir von Zikram. Der kleine Hausverwalter steht auf Henry, und immer, wenn er hier zu tun hat, krallt er sich stundenlang an ihrem Kuchentresen fest und nippt ewig an einem Espresso. Henry hasst Zikram, wie wir alle. Er steht im Weg rum und vertreibt mit seinem dämlichen Gequatsche Henrys hippe Gäste. Aber wie wir alle würde sie sich niemals mit Zikram anlegen. Allein schon wegen Pjotr und Zlotka.

Immerhin wissen wir dank Zikram über fast alles im Haus Bescheid. Die schlecht gelaunten Alten aus dem zweiten Stock sind ihrer Tochter hinterhergezogen. Sie haben ihr Haus im Münsterland verkauft, um sich hier in Berlin um ihr Enkelkind zu kümmern. Das Enkelkind kennen wir alle. Wir hören es nämlich ständig schreien. Die Tochter hat fast niemand je gesehen. Sie ist irgendwie klein und blond. Ich glaube, Jens hat ihr mal mit irgendwas geholfen.

Jens. Da ist er wieder, der Faustschlag in meinen Magen. Ein Hieb, der mich auf meiner Stufe vornüberkippen lässt. Was ist mit Jens. Was ist mit mir. Was soll bloß werden. Ich hocke auf der Stufe, krümme mich.

Im nächsten Moment ist die Alte aus dem zweiten Stock über mich drübergefallen.

Sie ist so mit Zetern beschäftigt, dass sie mich nicht sieht. Ein Knie rammt zwischen meine Schultern, mein Kopf schlägt wieder gegen die Wand, alles wird grau.

Es ist ein wirklich seltsames Gefühl, wenn eine alte Frau über einen fällt. Auf mir drauf ist etwas sehr Schweres und zugleich Weiches. Ihr Rock fühlt sich rau an in meinem Gesicht. Ich sehe nichts mehr. Es ist, als hätte jemand einen Vorhang fallen lassen. Einen Moment lang ist die Welt draußen weg. Kein trister Hinterhof mehr. Nur Grau, kratziges Grau, das schwach nach Mottenpulver riecht.

Dann beginnt sie zu schreien. Es ist nicht einfach nur ein Schrei. Es ist eine Kaskade von Schreien. Schrill und spitz und sehr, sehr laut.

Zugleich schlägt sie nach mir, als sei ich ein Hund, der sie von hinten angefallen hat. Ich krümme mich noch mehr, halte, so gut es geht, schützend die Hände vor meine Ohren, vor mein Gesicht.

Sie hört gar nicht mehr auf.

Dann ist er zur Stelle. Ein schweres Keuchen. Hände, die nach ihr greifen.

Sie rappelt sich hoch. Der Vorhang lichtet sich. Der Hinterhof. Die Müllcontainer. Die Stufe, auf der ich sitze. Etwas fühlt sich nass an in meinem Gesicht.

Sie richtet ihre Sachen. Schlägt seine helfende Hand weg. Beide wenden mir den Rücken zu, schauen mich keinen Moment an.

Er hat eine Mülltüte fallen gelassen. Konserven, leere Joghurtbecher liegen auf dem Pflaster. Er sammelt alles ein, hektisch, eilt sich, zu den Containern zu kommen.

Sie ist schon halb auf der Straße. Er trippelt ihr hinterher.

Ich bleibe zurück wie ein Stein, der im Weg liegt.

Dann ist es wieder still im Hinterhof.

Ich betaste mein Gesicht. Alles nass. Habe ich mich verletzt? Blute ich?

»Die Alte hat auf dich draufgepinkelt.«

Eine körperlose Stimme. Sie kommt aus dem Hinterhaus. Die schmale Tür steht offen, dahinter ein Schatten.

»Ist wohl inkontinent. Du solltest dich waschen.«

Der Schatten löst sich aus dem Dunkel, tritt in den Hof. Mandy. Mandy aus dem Hinterhaus. Die Frau, die man so gut wie nie sieht. Ich weiß nichts über sie. Nur ihren Namen. Und den weiß ich nur deshalb, weil Henry sie manchmal erwähnt. »Ich habe Mandy schon lange nicht mehr gesehen«, sagt sie manchmal, »hast du sie gesehen?« »Nein«, antworte ich dann. Jens und ich sind hier vor sechzehn Jahren eingezogen, und die Male, die ich Mandy gesehen habe, kann ich an zwei Händen abzählen. Nie haben wir miteinander gesprochen. Immer ist sie an mir vorbeigehuscht, geduckt, verschlossen, stumm. Mandy ist ein farbloser Schleier, mehr nicht.

Nun steht sie vor mir.

Ihre Haare sind grau, und doch ist ihr fast weißes Gesicht ohne jede Falte. Ich weiß nicht, ob sie alt ist oder jung, und ich weiß nicht, ob sie dick ist oder dünn. Sie hat etwas Massiges. Allein schon wegen der vielen Klamotten, die sie übereinanderträgt. Ein offener Armeemantel. Darunter Pullover, lange Herrenhemden. Jeans. Braune, abgestoßene Stiefel mit offenen Schnürsenkeln.

Sie sieht aus wie ein Penner.

Doch ihre Stimme. Ich liebe Stimmen. Das bringt der Job so mit sich. Ich achte auf Stimmen. Doch eine Stimme wie diese habe ich nie zuvor gehört. Mandys Stimme ist ein tiefer, melodiöser Gong. Sie ist weich und voll, sie füllt den Hinterhof und schwingt leicht zwischen den engen Mauern. Eine Stimme wie dunkler Honig.

»Komm«, sagt die Stimme.

Später, wenn die Polizei mich fragen wird, wie es dazu kam, dass ich in Mandys Wohnung zog, werde ich darauf keine zufriedenstellende Antwort geben können.

»Das hat sich so ergeben«, werde ich sagen. Und wenn sie nachfragen, werde ich antworten: »Sie hat einfach meine sieben Umzugskartons in ihre Wohnung getragen. Und ich wusste doch nicht, wohin.«

Die Wahrheit jedoch ist, dass es allein Mandys Stimme ist, der ich folge. Ihrem honigsüßen Klang. Und so kommt es, dass ich zwölf Stunden, nachdem Jens heimlich unsere gemeinsame Wohnung aufgelöst hat, ein neues Zuhause habe. Bei Mandy im Hinterhaus, Erdgeschoss links.

Das Erste, was mir auffällt, ist der Geruch. Irgendwie süßlich. Fast lecker. Aber auch seltsam, völlig unbekannt. Was ist das bloß.

Dann fällt mir auf, wie groß die Wohnung ist. Ach was, groß. Sie ist riesig. Es gibt einen schmalen Flur, der ist so lang, wie das Haus breit ist. Dieser Flur ist völlig leer. Grauer Linoleumboden, eine einzelne Glühbirne, die von der Decke baumelt, sonst nichts. An der rechten Flurwand sind zig Türen. Eine neben der anderen. Es sind schöne alte Holztüren, weiß gestrichen, manche haben Glaseinsätze. Doch kein Licht fällt hindurch. Die Türen sind alle zu. Es gibt nur eine einzige Tür in die andere Richtung, Richtung Hinterhof. Diese Tür ist offen, und Mandy trägt schon meine Kisten hinein.

Ich folge ihr und luge vorsichtig ins Zimmer. Es ist ein enger, dunkler Schlauch. Erst nach einer Weile, nachdem meine Augen sich an das spärliche Licht gewöhnt haben, erkenne ich Details. Ein schmales Bett. Eine Kleiderstange, halb voll. Einige Kissen auf dem Boden. Ebenfalls auf dem Boden: ein Schallplattenspieler, Schallplatten. Ich trete ins Zimmer und sehe: Es gibt ein Fenster. Doch dieses Fenster ist fast vollkommen verhängt mit einem schweren Tuch. Nur an einer Seite schimmert ein wenig Licht hindurch.

Mandy hat meinen Blick bemerkt.

»Du kannst es gerne wegmachen. Aber dann sehen dich alle.«

Ich trete noch ein bisschen näher, linse durch den schmalen Spalt. Das Fenster geht direkt hinaus in den Hinterhof. Wenn ich es öffnen und den Arm hinausstrecken würde, könnte ich fast den Müllschuppen berühren. Schräg am Müllschuppen vorbei sehe ich das dunkle Rechteck von Henrys Küchenfenster.

Mandys Fenster ist so schmutzig, ich habe nie gedacht, dass dahinter jemand lebt. Es schien mir zu einem Lagerraum zu gehören. Tatsächlich ist das hier Mandys Schlafzimmer.

Sie hat bereits begonnen, das Bett abzuziehen.

»Du hast doch Bettwäsche?«

Ich schaue zu den Kartons.

»Vermutlich. Ja.«

»Gut.« Sie nimmt ihr Wäschebündel. »Ich bin in der Küche. Gegenüber.«

Ich sinke auf das Bett. Die Matratze ist weiß, wie unberührt. Kopfkissen und Plumeau duften nach Weichspüler. Überhaupt scheint das ganze Zimmer bis auf das Fenster wie frisch geputzt. Kein bisschen Schmutz, kein Staubkörnchen, nirgends. Nur die Wände sind irgendwie komisch. Es ist keine Tapete drauf. Auch kein Rauputz wie bei uns im Vorderhaus. Nein, es scheint, als seien die Wände mit einer Art Folie bezogen. Einem gummiartigen, klebrigen Bezug. Ich streiche mit dem Finger darüber und ziehe ihn schnell zurück.

Ich könnte nun meine Kisten auspacken. Meine Klamotten, so gut es geht, mit auf die halb leere Kleiderstange hängen. Nach Bettwäsche suchen. Das Bett beziehen.

Ich tue nichts von alldem.

Ich sinke auf dem Bett zusammen, ziehe die Knie an den Bauch. Ich weine. Ich wimmere leise vor mich hin. Ich fühle mich vollkommen erschöpft.

So liege ich, lange. Starr und innerlich leer. Ohne jede Idee, wie es jetzt weitergehen soll.

Es ist das Geräusch. Ein tiefes Brummen. Wie von einem Staubsauger. Nur tiefer. Und nicht ganz so laut. Aber laut genug, um mich aus meiner Starre zu lösen. Ich liege immer noch in Mandys Bett. In meinen Klamotten, die ich seit gestern trage. Ich stinke. Ich bin völlig verschwitzt. Und war da nicht etwas mit meinem Gesicht? Die alte Frau und ihr kratziger Rock fallen mir ein. Ich würge, muss mich fast übergeben.

Die Küche ist tatsächlich direkt gegenüber. Ein Raum, noch kleiner als das Schlafzimmer, bis an die Decke vollgestopft. Ein altmodischer Gasherd. Ein grüner Kühlschrank. Eine monströse dunkelbraune Anrichte. Ein einfaches Spülbecken. Mittendrin: ein ausladender runder Tisch mit Glasplatte und Häkeldeckchen darunter. Davor ein beigefarbenes Sofa. Mandy liegt darauf und hat einen Laptop auf dem Schoß, auf dem Kopf ein Headset. An ihren Füßen steht das Gerät, das mich mit seinem Lärm geweckt hat. Es ist ein hüfthoher grauer Kasten, der warme Luft auspustet.

»Mandy«, sage ich, »ich muss duschen.«

»Halbe Treppe hoch«, sagt sie, ohne vom Laptop aufzusehen.

»Halbe Treppe – was?«

»Moment.« Sie drückt noch ein paar Tasten, dann nimmt sie das Headset ab. »Ich vergaß, du kommst ja aus dem Vorderhaus.«

Sie hat jetzt nicht mehr ganz so viele Klamotten an, und ich erkenne, dass sie ganz und gar nicht dick ist, sondern im Gegenteil sehr dünn. Ihre Arme sind lang und sehnig, fast ausgezehrt. Sie zieht eine Strickjacke über ihr T-Shirt, greift nach einem großen Schlüssel, der an einem Haken neben der Küchentür hängt, und geht hinaus. Ich folge ihr in den leeren Flur, ins Treppenhaus. Einige Stufen hinauf. Auf dem ersten Treppenabsatz schließt sie eine niedrige weiße Tür auf, gibt mir den Schlüssel. »Handtücher sind vorne links.« Damit ist sie weg.

Ich muss den Kopf einziehen, um durch die Tür zu treten. Der Raum dahinter ist winzig und zugleich sehr hoch. Weit über mir: eine kleine Luke, halb offen. Kalter Wind weht herein. Vor mir: ein schwarzes Klosett ohne Deckel. Man kann sich nur seitlich daraufsetzen. Denn direkt vor dem Klosett ist eine Duschkabine eingebaut. Eine von diesen Dingern, die einen integrierten Wasserkreislauf haben, unten drunter ist der Pumpkasten. Eine Dusche für Orte, an denen keine Dusche vorgesehen war.

Es ist nicht so, dass ich so ein Teil noch nie gesehen hätte. Jens und ich waren mal in Holland in einem sehr billigen Hotel, da hatten wir auch so eine Kabine. Sie stand mitten im Zimmer, direkt vor dem Bett. Wir hatten eine Menge Spaß damit. Ich habe geduscht, und Jens hat mir zugeguckt und sich dabei einen runtergeholt. Zwischendurch haben wir gevögelt, auch in der Kabine. Am Ende ist eine Seitenwand herausgebrochen, und Jens hat das restliche Wochenende damit verbracht, die Kabine zu reparieren.

Diese Kabine sieht genauso aus wie die damals in Holland. Nur dass sie viel sauberer ist. Außen hängt ein schmales Eisenregal mit Handtüchern. Und Seife und Shampoo und Lotion. Ich ziehe mich aus, hänge meine Klamotten über das Regal. Steige vorsichtig in die Kabine, lehne mich nirgendwo an. Der Wasserstrahl ist dünn und nur lauwarm. Und doch. Ich dusche alles von mir ab. Den Schweiß. Die Tränen. Die Pisse. Die vor allem.

Ich kann kaum noch meine Hand vor Augen sehen. Das Mini-Badezimmer hat sich in eine Dampfsauna verwandelt. Ich mag meine stinkigen Klamotten nicht wieder anziehen. Also husche ich schnell durchs Treppenhaus zurück in Mandys Wohnung. Halb nackt, nur in ein Handtuch gewickelt. Niemand hat mich gesehen. Ich bin mir ganz sicher.

Ich durchwühle meine Kisten. Finde Unterwäsche, eine saubere Jeans, einen Pullover. In der Küche hat Mandy roten Früchtetee gekocht. Sie wärmt gerade auf dem Gasherd eine große Dose Ravioli auf. Der graue Kasten brummt immer noch.

Ich lasse mich auf das Sofa fallen und zeige auf das Ungetüm.

»Muss das sein? Das ist so furchtbar laut.«

»Das hier«, sagt Mandy und stellt zwei verschiedenfarbige Suppenteller auf den Tisch, »ist das Hinterhaus. Nordseite. Das Ding bleibt an.«

Ich sage nichts mehr. Versuche noch einmal, Jens anzurufen. Vergeblich.

Seit Jahren habe ich keine Ravioli aus der Dose mehr gegessen. Papa hat sie manchmal gemacht, als ich noch klein war. Aber nur ganz selten. Wenn der Lektor da war und er keine Zeit hatte. Sonst hat Papa immer für mich gekocht. Fleisch, Kartoffeln, Gemüse. Jeden Tag. Er wollte immer, dass ich was auf die Rippen bekomme. Doch ich wuchs und wuchs und blieb klapperdürr. Daran hat sich nie etwas geändert.

Könnte es aber, schießt es mir durch den Kopf, falls ich länger hier bleibe.

Denn nach den Ravioli gibt es Nachtisch. Schokopudding mit Sahne. Für jeden zwei Becher. Und noch mal extra Sahne obendrauf, aus der Sprühdose.

Mandy kocht, deckt den Tisch, räumt ab. Alles mit großer Selbstverständlichkeit. Als hätte ich immer schon hier gewohnt. Oder als wären wir allerbeste Freundinnen.

Nichts davon stimmt.

Ich schaue sie an.

»Warum tust du das? Warum nimmst du mich bei dir zu Hause auf?«

Sie schaut mich nicht an. Sie schaut in ihre Tasse mit dem roten Tee. Leckt Sprühsahne von ihrem Löffel.

Und dann sagt sie: »Einmal habe ich jemanden nicht hereingeholt.«

»Und dann?«, frage ich.

Doch mehr sagt sie nicht.

Und ich frage nicht nach.

Schicke eine SMS an Jens. Was ist bloß mit ihm.

Später, viel später, werde ich mich oft fragen, was geschehen wäre, wenn ich nachgehakt hätte. Nicht lockergelassen hätte.

Sie hätte mir nichts gesagt, beruhige ich mich dann, es hätte nichts geändert.

Wahrscheinlich ist es so. Doch ich werde es nie erfahren.

Ich habe kein Fahrrad mehr. Jens hat es mitgenommen. Na gut, er hatte es bezahlt. Aber irgendwie war es schon meins. Langsam reicht es mir. Meine Verzweiflung weicht wieder der Wut. Ich muss dringend in die Charité, mit Jens sprechen. Ach was, sprechen. Ihn zur Rede stellen. Ihm die Meinung sagen. Was fällt dem überhaupt ein. Damit kommt er mir nicht durch.

Mandy hat ein Fahrrad. Es ist nicht ganz so kaputt wie die anderen Fahrräder im Hof. Es hat nur einen aufgeschlitzten Sattel und eine Kette, die sich durchtritt.

»Ist noch von meiner Mutter«, sagt Mandy und streicht über den rostigen Lenker, »sei vorsichtig damit.«

Ich rumpele damit die Dunckerstraße runter, in die Stargarder, die Gleimstraße, am Mauerpark entlang. Ich nehme mich vor den SUVs der Prenzlauer-Berg-Mütter in Acht. Von denen sieht man meist nur die Hinterköpfe, weil sie vollauf damit beschäftigt sind, den Kindern auf dem Rücksitz Anweisungen zu geben. Für Fußgänger und Radfahrer sind sie brandgefährlich. Und ja, ich gebe es zu, ich mag keine Mütter. Ich mag, vielleicht, Kinder. Aber Mütter mag ich nicht.

Ich schaffe es bis in den Gleimtunnel und bin in einer anderen Welt.

Fast dreißig Jahre lang hat der Gleimtunnel Ost von West getrennt, und er tut es bis heute. Man braucht nur wenige Augenblicke, um mit dem Fahrrad durch ihn hindurchzubrettern, über das historische Kopfsteinpflaster, vorbei an den gusseisernen, über hundert Jahre alten Säulen mit ihren kunstvollen Kapitellen. Doch sobald man durch ist durch den Gleimtunnel, ist das Leben ein anderes.

Einst mussten die Arbeiter aus dem Prenzlauer Berg durch den Tunnel, um in den großen Fabriken im Wedding zu arbeiten. 1961 wurde der Tunnel dichtgemacht. Bis 1990 gab es hier kein Durchkommen mehr, nur unterirdisch, durch heimlich gegrabene Fluchttunnel.

Heute geht hier keiner mehr freiwillig von Ost nach West. Der Wedding ist so abgewrackt, dass jeder, der kann, macht, dass er wegkommt. Mittendrin: die Charité, Ort der beispiellosen Karriere des Herrn Prof. Dr. Jens Wächter.

Zu Hause in Bergisch Gladbach hätte Jens das nie geschafft. Professor der Orthopädie mit Lehrauftrag an der Uni – in Westdeutschland brauchte man dazu Beziehungen und, noch besser, eine Ahnenreihe hochangesehener Doktoren und Professoren. Im Osten reichte in den Neunzigern ein westdeutscher Lebenslauf.

»Ihr kommt alle hierher, mit euren tollen Verträgen«, sagte Henry damals zu mir, »und schnappt euch die Jobs, die die, die hier schon immer leben, niemals kriegen würden.« Kann sein, dass sie recht hat. Ich wollte nie darüber nachdenken.

»Prof. Wächter« steht auf einem schmalen Schild an einem Parkplatz im Innenhof der Charité, doch der Parkplatz ist leer. Kein 911er weit und breit. Das heißt, natürlich stehen hier mehrere Porsche, die von den Kollegen, aber der knallrote von Jens, der ist nicht da.

Ich weiß, das ist echt prollig, ein Porsche 911, aber Jens mag ihn so, und wir zwei sehen einfach spitze darin aus. Er allein natürlich auch.

In dem Moment, in dem ich das denke, ist er da. Der fieseste aller Gedanken. Der heimtückischste. Der, der dich killt, in einer Sekunde.

Was, wenn Jens gar nicht alleine in seinem 911er sitzt. Jetzt, in diesem Moment. Was, wenn jemand neben ihm sitzt. Eine Frau. Eine andere Frau. Auf meinem Platz.

Der Gedanke zwingt mich in die Knie. Ich lasse Mandys Rad vor dem Schild mit Jens’ Namen fallen und sinke zu Boden. Kauere mitten auf dem leeren Parkplatz, das Herz ein hektisch pumpender Blasebalg, die Lungen aneinandergeklatscht, ohne jede Luft.

»Einatmen«, sagt eine Stimme neben mir, »und ausatmen. Ja, Fräulein Königsforst, so ist es schön, einatmen, ausatmen, prima.«

Eine federleichte Hand liegt auf meiner Schulter. Es ist die von Professor Dreiklang. Jens’ Vorgänger in der Charité. Seit Jahren emeritiert. Die Hand ist dünn und knöchern und dunkelbraun. So wie der ganze Mann. »Seit der Alte auf seinem Segelboot lebt«, hatte Jens mal erzählt, »sieht er aus wie eine ägyptische Mumie.«

Jens hatte recht. Professor Dreiklang sieht tatsächlich mittlerweile aus wie eine ägyptische Mumie. Wie eine höchst lebendige. Eine, die mein Fahrrad packt und mich mit sanfter Bestimmtheit vom Charitégelände schiebt.

»Professor Dreiklang«, stammele ich, »was tun Sie denn hier?«

»Ich«, sagt Professor Dreiklang, und sein knöcherner Griff um meinen Oberarm wird noch ein bisschen knöcherner, »ich begleite Sie ein Stück.«

»Nein, nein«, sage ich und versuche, meinen Oberarm aus dem Mumiengriff zu wenden, »ich muss nach Jens sehen, ich bleibe …«

»Das«, erwidert die Mumie und verstärkt ihren Griff noch mehr, »müssen Sie nicht. Sie müssen jetzt einfach nur nach Hause fahren.«