Stellen Sie sich nicht so an. - Lioba Werrelmann - E-Book

Stellen Sie sich nicht so an. E-Book

Lioba Werrelmann

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Todkrank. Von heute auf morgen aus dem Leben gerissen. Ärzte, die nicht wissen, was sie tun. Krankenkassen, die notwendige Hilfe nicht bezahlen. Lioba Werrelmann leidet unter den Folgen eines angeborenen Herzfehlers. In diesem Buch schildert sie, wie es Patienten in Deutschland ergeht, wenn sie in kein festes Schema passen. Ein Buch vom Überleben – eindringlich, schockierend, Mut machend. Jedes 100. Kind in Deutschland wird mit einem Herzfehler geboren. Während noch vor fünfzig, sechzig Jahren neunzig Prozent dieser Kinder starben, bevor sie ein Jahr alt wurden, werden sie heute dank der modernen Medizin fast alle erwachsen. Doch die meisten sind nicht geheilt, ihre Herzen sind nur vorübergehend repariert. Viele ahnen nicht, dass sie erneut schwer erkranken können. Und die allermeisten Ärzte sind über-fordert – die Behandlung von Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern kommt im Medizinstudium nicht vor. Mit fatalen Folgen für eine rasant wachsende Patientengruppe. Denn schon jetzt leben circa 300.000 Menschen mit einem angeborenen Herzfehler in Deutschland. Und es werden jeden Tag mehr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 360

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lioba Werrelmann

»Stellen Sie sich nicht so an!«

Meine Odyssee durch das deutsche Gesundheitssystem

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoPrologVolle Pulle lebenNicht lebensfähigEine kleine SensationVon wegen Burn-outWie im FilmEine Nomadin auf der CouchDas Coming-outEin wenig liebevoller StromstoßAuf der KinderstationDer KnubbelDer Oma-KnopfEin smoothes LebenDrei Ausflüge und ein BlutbadPieksen lernenAuf der anderen SeiteEine neue böse FratzeTausend Volt, die DritteEine Reise und eine BootsfahrtHilfe, die Clowns sind daDreizehnmal verbranntDazwischenReha selbstgemachtKein CharakterkopfWieder daAus heiterem HimmelZeit gewinnenAbschiedWir sind vieleEpilogDank
[home]

Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. Hilde Domin

[home]

Prolog

Es beginnt alles damit, dass ich nicht mehr gehen kann.

Ich bin sehr groß, und ich liebe es, schnell zu gehen. An diesem Morgen ist es damit vorbei. Meine S-Bahn hält im Bahnhof Friedrichstraße im Tiefparterre. Die Treppe nach oben schaffe ich so gerade noch. Doch auf den nächsten Metern sacken mir die Beine weg. Mir wird schwindelig, schwarz vor Augen, und mein Herz rast zum Zerspringen.

Vor dem Bundespresseamt stehen niedrige Steinquader. Wenn es warm ist, sitzen hier mittags lauter schicke junge Menschen in Anzügen und Kostümen, essen Sushi und Salat und blicken auf die Spree. Die hier sitzen, haben es geschafft – ein Job im Regierungsviertel. Ich bin eine von ihnen, ich bin Hauptstadt-Korrespondentin. Bis zu diesem Morgen.

Ich sitze auf einem der Steinquader und kann nicht mehr gehen.

Ich sehe noch so aus wie immer, ich passe noch zu all jenen, die an mir vorbeihasten, dezenter Lippenstift, die Locken ordentlich geföhnt, ich trage meinen grauen Wollmantel, einen grauen ausgestellten Rock aus reiner Seide, kniehohe schwarze Stiefel. Doch ich gehöre nicht mehr dazu. Ich bin krank, von diesem Moment an ist es nicht mehr zu leugnen.

Ich sitze eine lange Weile auf dem Steinquader. Mein Herz beruhigt sich nicht mehr. Sobald ich versuche aufzustehen, rast es so wild und so chaotisch, dass mir die Knie wegknicken.

Irgendwann klappt es. Ich stehe auf, wackelig wie eine Oma. Gehe Schrittchen für Schrittchen auf die andere Straßenseite. Da fließt die Spree, und es gibt ein Geländer, an dem ich mich festhalten kann. Die Kollegen sitzen längst in der Frühkonferenz. Ich schleiche an der Spree entlang. Ein winziges Schrittchen nach dem nächsten. Es ist, als hätte man mir eine Plombe auf die Brust geschnallt, eine Plombe, die mein Tempo drosselt auf nahezu null.

Ich gehe noch genau zwei Tage arbeiten.

[home]

Volle Pulle leben

Bis zu jenem Moment im März 2011 hatte ich ziemlich genau das Leben geführt, das ich mir immer erträumt hatte.

An meiner Seite war ein Typ, der mich vollends begeisterte. Ein echter Traumtyp. Groß und durchtrainiert, mit Oberarmen so breit und hart wie Eisenbahnschienen. Ein klassisch schön geschnittenes Gesicht und ein umwerfendes Lächeln. Man konnte ihn nicht allein in den Supermarkt schicken, er wurde sofort angebaggert. Er konnte kochen, staubsaugen und Computer reparieren. Ich liebte seinen Duft und den Wirbel an seinem Hinterkopf. Ich liebte seine Hände und sein Lachen. Seinen scharfen Verstand. Er war der erste Mann, den ich traf, der genauso schnell dachte und handelte wie ich. Wir stritten auch viel. Doch um nichts in der Welt hätte ich ihn gehen lassen.

Ich hatte nicht nur einen Traumtypen, ich hatte auch einen Traumjob. Ich war Radio-Korrespondentin für den WDR im Hauptstadtstudio in Berlin. Ich war dort, wo ich immer hinwollte: im Zentrum der Macht.

Ich war rasende Reporterin und tagtäglich im Radio zu hören. Als Christian Wulff zwölf Stunden und drei Wahlgänge brauchte, um zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, war ich dabei und berichtete von morgens früh bis spät in den Abend. Am Ende schalteten sie mich nach Breaking-News-Art live ins laufende Programm. Als die SPD2009 ihr schlechtestes Wahlergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg einfuhr, meldete ich mich um 18.01 Uhr live aus der SPD-Parteizentrale und schilderte den WDR-Hörern, wie die erste Hochrechnung die Sozialdemokraten in Schockstarre versetzt hatte.

Ich reiste mit Politikern durch ganz Deutschland und um die halbe Welt, war oft erst nachts zurück im Hauptstadtstudio, machte dann noch meinen Bericht für die Frühsendungen fertig und saß wenige Stunden später morgens um neun wieder an meinem Arbeitsplatz.

Ich führte nahezu jeden Tag Live-Gespräche, erklärte, so gut es ging, wie der Berliner Polit-Betrieb funktioniert, sprach böse Kommentare zum Betreuungsgeld. Ich arbeitete manchmal fast rund um die Uhr. Es machte mir nichts aus. Ich liebte meine Arbeit so sehr, dass es sich anfühlte, als flöge ich.

Und zu allem Überfluss lebte ich damals im hipsten Viertel Deutschlands, in Prenzlauer Berg.

Ich werde nie den Morgen vergessen, als ich 2008 das erste Mal die Stargarder Straße entlangging. Es war Januar, es lag Schnee, die Sonne schien. Auf den kahlen Bäumen glitzerte das Eis, die renovierten Jugendstilhäuser blinzelten mir zu. Mittendrin die Gethsemanekirche, die schon in den frühen achtziger Jahren der Friedensbewegung ein Obdach geboten hatte. Im Herbst 1989 wurde hier Tag und Nacht gebetet. Direkt vor der Gethsemanekirche trieb die Stasi Hunderte Demonstranten auf die Ladeflächen hastig herbeigeholter Lkw, viele verschwanden für Wochen im Gefängnis. Heute heiraten hier die zugezogenen Schwaben und lassen im Ostergottesdienst ihre Kinder taufen. In den Garten der Gethsemanekirche hat man eine Bronzeplastik des »Geistkämpfers« von Ernst Barlach gestellt – um an die zu erinnern, die hier einst die Freiheit erkämpften.

An jenem Morgen war die Straße voll mit Menschen in meinem Alter, die meine Art Klamotten trugen und Latte-macchiato-Becher. Ich zog damals für den Job von Köln nach Berlin und wollte unbedingt eine Wohnung mit Garten. Ich hatte schon beinahe eine gemietet, in einem völlig verranzten Hinterhaus im Wedding. Meine Katzen sollten weiter Freigang haben. Aber irgendwie schauderte es mich doch, als mir klarwurde, dass alle Cafés drum herum zugezogene Vorhänge hatten. Nun also die Stargarder Straße und Latte macchiato. Was schon mal ziemlich gut war, denn der Typ an meiner Seite wollte nur da wohnen, wo er sich morgens gleich vor der Haustür Latte macchiato holen konnte. Nun ja, er hatte sich die Kaffee-Bars wohl etwas anders vorgestellt, schicker, mehr München-mäßig. Er würde sich nie wohl fühlen in der Stargarder Straße, er zog nie nach. Berlin und die Stargarder Straße waren ihm zu schmuddelig. Ich fand hier mein Zuhause. In einer Hinterhauswohnung, die einen riesigen Garten hatte. Die Wohnung war dunkel und billig renoviert. Der Garten war komplett schattig und eine Schlammwüste. Monatelang zog ich mir an jedem freien Morgen, von denen es wenige gab, meine Jeans direkt über die Schlafanzughose und begann, dieses Stück Land zu beackern. Mir ging ziemlich viel ein – zu dunkel, zu nass –, doch später blühten in meinem Hinterhausparadies Lilien und Rosen, Hibiskus, Jasmin und Bornholmer Margeriten, ich pflückte dort Minze für den Tee und beobachtete vergnügt, wie Herzgespann und Frauenmantel sich ihre Plätze suchten.

Latte macchiato gab es direkt im Vorderhaus. Im Café meiner Freundin Nicole, eine Rheinländerin wie ich. Sie war die Erste, die ich in der Stargarder Straße kennenlernte, am Tag der Wohnungsübergabe.

Der Typ an meiner Seite sah die Wohnung, die ich ausgesucht hatte, zum ersten Mal und war entsetzt. »Die Wohnung«, sagte er, »ist perfekt für dich und die Katzen.« Ich freute mich über den Garten, er hätte lieber ein Loft gehabt.

Es war einer von diesen dunklen Berliner Wintertagen, bitterkalt und ohne jede Sonne. In diesem Moment war auch die Stimmung zwischen uns deutlich abgekühlt. Wie immer brauchte er seinen Latte macchiato, und so landeten wir in Nicoles Café. Und dort stand sie hinter der Theke. Die kurzen blonden Locken unter einer dicken Wollmütze, strahlend grüne Augen und ein Lächeln so herzlich, wie nur Rheinländerinnen es zustande bringen. Sie plapperte auch gleich drauflos. Mit dieser Frau, dachte ich bei mir, möchte ich viel Zeit verbringen.

Und so kam es. Nicoles Café wurde mein Wohnzimmer. Über sie erfuhr ich alles, was rund um unser Haus geschah, über sie lernte ich alle Nachbarn kennen. Sie war Briefkastentante und Vertraute. Sie hütete meinen Wohnungsschlüssel für Gäste und die Putzfrau. Sie brachte mir abends ihre neuesten Kuchenkreationen zum Testessen. Unzählige Abende verbrachten wir auf dem Bürgersteig vor ihrem Café, Wein trinkend und mit den Vorübergehenden quatschend. Oder Wein trinkend in meinem Garten, Tom Waits hörend.

Jeden Montag und jeden Donnerstag machten wir zusammen Yoga, Anusara-Yoga, was ziemlich schweißtreibend ist und hübsche Oberarme macht. Wir waren fit wie Flummis.

Nicole sorgte auch dafür, dass ich meine Nachbarin Katja traf. »Ihr müsst euch kennenlernen«, sagte sie und verabredete uns miteinander in ihrem Café.

Sie war natürlich schon da, als ich kam. Katja ist immer superpünktlich, ich eher weniger. Sie nippte an ihrem doppelten Espresso und strahlte mich an. Die ganze Frau strahlte. Feuerrote Locken, ein zart gezeichnetes Gesicht. Jeder in der Stargarder Straße kannte sie, zumindest vom Sehen. Man konnte Katja nicht sehen und sie dann wieder vergessen. Ein Ostberliner Schriftsteller hatte sogar eine kleine Geschichte in einer Tageszeitung über sie geschrieben. Über die Frau mit den wilden roten Locken, die jeden Morgen mit ihrem Hund an seinem Fenster vorbeijoggte. »Danke«, schrieb der stille Bewunderer, »dass ich dich morgens sehen darf.«

Ich begann und beendete jeden meiner Tage mit einem Blick zu Katja. Wir konnten einander durch den Innenhof von Schlafzimmerfenster zu Schlafzimmerfenster sehen. Morgens schaute ich, ob sie schon auf war, abends, ob sie schon schlief. Katja machte es genauso. Wir arbeiteten beide viel, Katja war Heilpraktikerin und hatte ihre eigene Praxis, wir verbrachten gar nicht viel Zeit miteinander. Aber wir hatten einander im Blick, eigentlich immer.

Und dann war da noch Miranda. Sie wohnte schräg gegenüber. Wir lernten uns bei einem Naturheilkunde-Kurs kennen. Sie war genau wie Katja Heilpraktikerin, ich war nur interessiert. Miranda und ich waren beide groß und doch grundverschieden. Sie war dunkel und sehr schmal, ich war blond und nicht allzu schmal. Was auch daran lag, dass das, was sie abends als Hauptgericht aß, mir gerade so als Vorspeise reichte. Während ich für meinen Job so ziemlich alles gab, bestellte sie ihre ersten Patienten nicht vor elf Uhr. Miranda schlief gerne aus.

Miranda war ein wenig bequem. Zugleich war sie der liebste und mitfühlendste Mensch, den ich kannte. Sie hielt es mit Typen aus, die ich schon längst rausgeschmissen hätte.

Und doch waren wir seelenverwandt. Als wir uns kennenlernten, stellten wir fest, dass wir beide zum Essen am liebsten zu Ton Gluay in unserer Straße gingen. Das war eine asiatische Garküche, die einem Türken gehörte. Ton Gluay, von dem niemand weiß, ob er wirklich so hieß, warf alles, was man essen wollte, in riesige Pfannen: Gemüse, Tofu, Chili, Ingwer und frischen Koriander. In Windeseile brutzelte er die köstlichsten Gerichte und verkaufte sie für vier Euro fünfzig. Später ist er bankrottgegangen.

Was mir schmeckte, schmeckte Miranda auch, ausgenommen rohe Tomaten. Wir trugen die gleiche Art von Klamotten. Der Typ an meiner Seite sah fast genauso aus wie der Typ, mit dem Miranda sich rumschlug. Wir liebten beide Tiere, vor allem Katzen. Vor allem aber nahmen wir das Gleiche wahr. Egal, was um uns herum passierte – uns reichte ein Blick, um uns zu verständigen. Wir wussten, wer wie drauf war, und was gleich passieren würde. Was andere nicht erahnten – für uns war es offensichtlich. Wir hatten andere Antennen als die meisten Menschen, feinere.

Nie zuvor hatte ich mich so wohl gefühlt wie in jenen Jahren in Berlin. In meiner dunklen Hinterhauswohnung, mit dem Traumtypen, dem Traumjob und Nicole, Katja und Miranda um mich herum. Ich führte ein rasantes, beschwingtes und vergnügtes Leben. Ich hatte vergessen, dass ich einst mit einem Herzfehler geboren worden war.

[home]

Nicht lebensfähig

Ich war ein liebes Baby. Ein sehr stilles.

Meine Mutter erinnert sich sehr gut an den Tag, an dem sie nach meiner Geburt aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Mit mir wurden noch zwei weitere Babys entlassen, die lagen auf einem großen Wickeltisch rechts und links von mir und ruderten mit Armen und Beinen. Ich lag ganz still.

»Warum bewegt mein Kind sich nicht wie die anderen?«, fragte meine Mutter den Arzt.

»Die anderen«, sagte der Arzt, »haben mehr Temperament.«

Die Kinderärztin, Frau Dr. B., sagte: »Was für ein schönes Kind.« Mehr sagte sie erst einmal nicht.

Mein Vater berichtet, ich habe immer lieb in meinem Kinderbett gelegen und an die Decke geguckt. Wenn man mit mir sprach und mich streichelte, lächelte ich. Ansonsten tat ich nichts.

Ich aß auch nicht. Ich bekam die Flasche, und nie schaffte ich die volle Portion. Ich war zu schwach, um zu trinken. Meine Mutter ging dann mit mir hinaus auf den Balkon. Ich atmete tief durch. Und dann bekam sie noch ein bisschen in mich hinein.

Das meiste habe ich dann später wieder ausgekotzt.

»Wir wussten«, sagen meine Eltern heute, »dass du krank warst. Du warst anders als dein Bruder.«

Zig Mal, sagt meine Mutter, sei sie bei der Kinderärztin Frau Dr. B. gewesen. Nie habe die etwas gesagt.

»Warum«, schimpfte mein Vater, »sagt sie uns nichts? Wir sehen doch, dass mit Lioba etwas nicht stimmt!«

Ich war ein knappes Jahr, als meine Mutter mit mir zu einem anderen Kinderarzt ging. Der fuhr sie an: »Sie haben zu wenig Zeit für das Kind. Das Kind ist faul und braucht Gymnastik.«

Meine Mutter suchte eine Gymnastiklehrerin für mich. Sie fand keine.

Einmal verbrachte ich ein paar Tage bei einer Tante. Als sie mich meinen Eltern zurückgab, schlug sie Alarm: »Ihr müsst mit dem Kind zum Arzt. Es ist wie eine Stoffpuppe. Es bewegt Arme und Beine nicht.«

Wenn ich auf einem Stuhl saß, banden meine Eltern mich fest, sonst wäre ich vornüber hinausgefallen. Ich lernte gehen und konnte doch kaum gehen. Jeder Bordstein war zu hoch. Sogar die Schuhe waren mir zu schwer. Ich lief durch den Garten in Pantöffelchen.

Ich fiel so oft hin, alle meine Hosen und Strumpfhosen waren an den Knien mehrfach gestopft.

 

Als ich anderthalb Jahre alt war, wurde meine Schwester geboren. Meine Mutter stellte das Neugeborene der Kinderärztin vor und nahm mich mit.

»Setzen Sie sich«, sagte Frau Dr. B. Und dann rückte sie endlich mit der Wahrheit heraus.

»Lioba hat etwas mit dem Herzen. Ich weiß es schon lange, aber ich konnte Ihnen nichts sagen. Sie waren wieder schwanger. Fahren Sie noch heute Nachmittag in die Kinderklinik, ich habe Ihnen dort um drei Uhr einen Termin gemacht.«

Mein Vater und mein großer Bruder fuhren mit. In der Kinderklinik warteten sie auf dem Flur. Der Kardiologe holte sie ins Behandlungszimmer. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich an ein EKG angeschlossen. Als das EKG geschrieben war, zeichnete der Kardiologe mein Herz an eine Tafel und erklärte meinen Eltern, wo das Blut zufließt und wo es abfließt.

»Lioba«, sagte der Kardiologe, »hat ein Loch in der Trennwand zwischen den Vorhöfen. Es ist ein Wunder, dass sie anderthalb Jahre alt geworden ist. Sie ist nicht lebensfähig.«

Und weiter sagte er: »Das Kind kann keine sechs Jahre alt werden, und das ist das Mindestalter für eine Herzoperation. Der Schaden ist zu groß. Geben Sie ihr alles, was sie will. Normalerweise sterben diese Kinder im ersten Lebensjahr.«

Zu Hause hat mein Bruder, der damals fünf war, mein Herz gleich nachgezeichnet. »Da«, sagte er, »fließt das Blut rein, und da fließt es raus.«

Vierzig Jahre später habe ich eine ganze Mappe mit Zeichnungen von meinem Herz. Fast jeder Kardiologe malt einem früher oder später ein Herz und meint dann, die Patientin, also ich, verstünde auf diese Weise, was los ist. Verdammt, es ist das Herz! Das Allerunbegreiflichste von der ganzen Welt. Und da malen die einem vier Beutel mit Strichen außen dran. Nur langsam erahne ich, wie er funktioniert, jener kleine, starke Muskel.

 

Unser Herz besteht aus zwei Vorhöfen und zwei Hauptkammern. Aus der Lunge fließt das mit Sauerstoff angereicherte Blut in den linken Vorhof. Sobald der voll ist, öffnet sich eine Klappe zur linken Herzkammer, es ist die Mitralklappe, das Blut fließt in die linke Herzkammer, und die Mitralklappe schließt sich wieder. Der Herzmuskel zieht sich kräftig zusammen, und die linke Herzkammer presst das frische, sauerstoffreiche Blut durch eine andere Klappe, die Aortenklappe, in die Aorta. Das ist unsere Hauptschlagader. Und sie versorgt so den gesamten Körper mit Sauerstoff.

Wenn das Blut den Sauerstoff überall hintransportiert hat, wo er hinsoll, fließt es durch die Venen zurück zum Herz. Diesmal geht es zuerst in den rechten Vorhof. Dort öffnet sich die Trikuspidalklappe zur rechten Hauptkammer, und sobald das Blut in der rechten Kammer ist, zieht sich wieder der Herzmuskel kräftig zusammen und katapultiert das alte, verbrauchte Blut durch die Pulmonalklappe in die Lunge. Wir atmen die verbrauchte Luft, das Kohlendioxid, aus und frischen Sauerstoff ein. Und los geht es von vorn.

Die beiden Vorhöfe liegen direkt nebeneinander, sind aber durch eine Wand getrennt, das sogenannte »Septum«. In den beiden Vorhöfen herrscht unterschiedlich starker Druck. Wenn im Septum ein Loch ist, führt das dazu, dass ein Teil des frischen, gerade mit Sauerstoff angereicherten Blutes vom linken Vorhof in den rechten Vorhof strömt. Es nimmt quasi eine verhängnisvolle Abkürzung. Denn vom rechten Vorhof fließt es direkt weiter in die rechte Hauptkammer und wieder zurück in die Lunge. Und so zirkuliert dieses frisch mit Sauerstoff angereicherte Blut völlig nutzlos zwischen Herz und Lunge hin und her. Es gelangt erst gar nicht über die Aorta in den für uns so lebenswichtigen großen Körperkreislauf. Das Herz arbeitet und arbeitet, und trotzdem wird der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Wie schlimm das ist, hängt davon ab, wie groß das Loch ist. Mit kleinen Löchern können Menschen oft ganz gut leben.

Mein Vorhof-Septum-Defekt war leider ziemlich groß.

Jeden Tag pumpte mein kleines Herz siebzig Liter Blut umsonst.

 

Meine Eltern waren Bäcker. Sie hatten damals gerade in einer Kleinstadt in der Nähe von Aachen ein Grundstück gekauft, ein Haus darauf gebaut und ihre Bäckerei eröffnet. Sie arbeiteten schwer und Tag und Nacht. Sie waren nur gesetzlich versichert. Jetzt hatten sie drei kleine Kinder, von denen eins todkrank war.

Zunächst wollten sie der Diagnose des Kardiologen in der Kinderklinik, der gesagt hatte, ich sei nicht lebensfähig, nicht glauben. Meine Mutter rief ihn an: »Nehmen Sie das zurück, ich kann damit nicht leben!«

»Ich kann Ihnen nichts anderes sagen«, antwortete er.

Meine Eltern fuhren in eine andere Klinik zu einem anderen Kardiologen. Der untersuchte mich wortlos und gab meinen Eltern zu verstehen, die Kinderärztin, Frau Dr. B., erhalte einen schriftlichen Bericht. Frau Dr. B. fand diesen Bericht jedoch nicht in ihrer Post. Fast täglich rief meine Mutter im Vorzimmer des Kardiologen an: »Wann kommt der Bericht?«

»Er ist unterwegs«, hieß es stets. Eine nähere Auskunft bekam sie nicht.

Den Brief mit dem Arztbericht hatte die neue Mitarbeiterin von Frau Dr. B. zusammen mit anderer Post in eine Kommode im Flur gesteckt. Dort würde er ein Jahr später auftauchen. Als alles vorbei war.

 

Mir ging es immer schlechter.

Der Sohn einer Kundin, der gerade Arzt wurde, erfuhr vom Unglück meiner Eltern. Abends, als der Laden schon zu war, klopfte er.

»Sie müssen«, sagte er, »an die Uniklinik nach Düsseldorf, da sind die besten Ärzte.«

Die Uniklinik Düsseldorf hatte 1947 als erste Klinik mit der Herzchirurgie in Deutschland begonnen. Nachzulesen ist das in einer Ausgabe des Spiegel aus dem Spätsommer des Jahres 1969. Der Spiegel berichtete damals über den 27-jährigen Kellner Gerd Kustermann. Kustermann litt unter einem deformierten Herz und einem schweren Herzklappenfehler. Zweimal war er auf der Arbeit zusammengebrochen und mit einem Kreislaufkollaps und einer akuten Herzschwäche ins Krankenhaus eingeliefert worden. Beim zweiten Mal hatte wenige Tage zuvor der Vertrauensarzt der AOK befunden, Kustermann sei wieder arbeitsfähig. Ein knappes Jahr nach seinem ersten Zusammenbruch war Kustermann Rentner – mit 27.

»Nur eine große Herzoperation«, schrieb der Spiegel, »könnte Kustermann vor zunehmendem körperlichen Verfall und vor dem Herztod retten.« Die Operation sei aufwendig und kompliziert, aber sie gehöre längst zum Routinepensum deutscher Herzchirurgen. Ihre Erfolgschance sei umso größer, je früher der Eingriff vorgenommen werde.

Doch Kustermann stand im Spätsommer des Jahres 1969 auf der Warteliste. Und es war nicht absehbar, ob er noch rechtzeitig einen OP-Termin bekommen würde. »Herzchirurgie«, befand der Spiegel, »ist noch immer Stiefkind der deutschen Medizin.« Während es in den USA für 200 Millionen Bürger 120 große Herzzentren gebe, müssten sich die 60 Millionen Bundesdeutschen mit fünf Herzzentren begnügen. Der Spiegel zitierte den »international anerkannten Herzchirurgen Professor Wolfgang Bircks (Düsseldorf)« mit der Aussage, mindestens 15 neue Herzzentren müssten in der Bundesrepublik eingerichtet werden, »wenn nicht weiterhin operable Herzkranke nur deshalb sterben sollen, weil ihr Herz nicht bis zum Operationstermin durchhält«. Gerade einmal 3000 Eingriffe, schrieb der Spiegel weiter, könnten im Jahr in Deutschland durchgeführt werden – nötig seien viermal so viele.

Der Düsseldorfer Professor Bircks berichtete im Spiegel, die Ärzte in Düsseldorf leisteten »das Doppelte der Wochenstunden eines normalen Arbeiters«. Und dennoch müsse man fünf bis sechs Jahre warten, wenn man in Düsseldorf an der Herz-Lungen-Maschine operiert werden wolle. Die Konsequenz nannte der Professor auch: »Todesfälle von Patienten auf der Warteliste werden durchschnittlich zwei- bis dreimal im Monat registriert.«

Ein gutes Jahr nachdem der Artikel erschienen war, wurde ich geboren.

 

Eines Tages kam der Postbote in den Laden und zählte meiner Mutter tausend Mark auf die Theke. Das Geld war von meiner Großtante Marie. Meine Mutter rief sie sofort an.

»Was soll das?«, fragte sie.

»Nimm Lioba«, sagte Tante Marie, »und geh mit dem Geld zu einem guten Arzt.«

Meine Mutter vereinbarte einen Termin für mich in Düsseldorf. »Wir zahlen bar«, sagte sie sofort.

Meine Eltern waren so verzweifelt, sie schrieben sogar an Christiaan Barnard in Südafrika. Barnard war der berühmteste Herzchirurg jener Zeit, er war der Erste, der 1967 ein Herz verpflanzt hatte. Den Brief an Barnard übersetzte eine Kundin auf der Brötchentheke ins Englische. Barnard schickte ein Telegramm zurück. »Wir können Ihre Tochter hier operieren«, schrieb er, »diese Operation ist aber auch in Deutschland möglich.« Jahrzehnte später habe ich dieses Telegramm im Keller meiner Eltern gefunden.

Ein Kind aus Norddeutschland, aus der Heimat meines Vaters, wurde für eine Herzoperation zu Christiaan Barnard nach Südafrika geflogen. Die Zeitungen waren voll davon. Das Kind kam zurück und starb. Meine Eltern verwarfen den Gedanken an Christiaan Barnard.

 

Wenige Tage vor Weihnachten im Jahr 1972 brachte meine Mutter mich zum ersten Mal in die Uniklinik Düsseldorf. Die Untersuchung zahlte sie privat. Mein Opa fuhr mit. Mein Vater lag mit Lungenentzündung im Bett. Eigentlich hätte er so kurz vor Weihnachten Tag und Nacht durcharbeiten müssen. Jetzt mussten meine Eltern sich von einem anderen Bäcker beliefern lassen. Es war eine Katastrophe. Und doch war das alles nichts im Vergleich zu dem, was sie meinetwegen durchmachten.

Der Arzt, der mich untersuchte, war erschüttert. »Ich habe selber ein Enkelkind in dem Alter«, sagte er, »und es ist kurz vor Weihnachten. Aber ich muss es Ihnen sagen: Es duldet keinen Aufschub.«

 

In jener Zeit arbeiteten die Ärzte, die damals schon in der Lage waren, aufwendige Herzoperationen durchzuführen, am äußersten Level. Sie konnten nur ein Viertel der Patienten operieren, die eine Operation gebraucht hätten. Sie mussten abwägen, wen sie wann operierten. In meinem Fall haben sie sicherlich auch überlegt, ob man die Operation hinauszögern kann. Je kleiner das Kind und das Herz, desto gefährlicher der Eingriff. Gleichzeitig konnten sie nicht warten, bis es vielleicht zu spät war.

Für meine Eltern zählte nur eins: dass ich bald operiert wurde. Dass ich überlebte.

Bis zu meiner Operation vergingen weitere vier Monate. Vier quälend lange Monate, in denen ich wuchs, aber nicht gedieh. Nach wie vor konnte ich kaum essen. Was ich aß, erbrach ich meist. Es war das Ende der Wirtschaftswunderzeit, und ich, die Bäckerstochter, war unterernährt, weil ich zu schwach war, um zu kauen und zu schlucken.

Es gibt ein Foto, auf dem zieht mein Bruder mich auf einem Holzpferd durch den Garten. Ich war zwei Jahre alt und konnte kaum gehen.

Ärzte sprechen in solchen Fällen von »Gedeihstörungen«. Sie sind nicht typisch für Kinder mit einem Vorhof-Septum-Defekt, im Gegenteil, sie sind eher selten. Sie treten nur auf, wenn das Loch in der Herzwand sehr groß und das Herz dadurch extrem überlastet ist.

 

Im Januar 1973 kam ich zu einer Voruntersuchung drei Tage lang ins Krankenhaus, die Düsseldorfer Ärzte schauten sich mit Hilfe eines Katheters mein Herz genau an. Dabei wird eine Sonde durch ein Loch in der Leiste oder in der Armbeuge bis zum Herzen geführt. »Bei der Aufnahmeuntersuchung fanden wir ein freundliches 2,3 Jahre altes Mädchen vor«, heißt es im Arztbericht, zwei Seiten lang, mit der Schreibmaschine getippt. Die Diagnose eines Vorhof-Septum-Defektes, also eines Lochs in der Trennwand zwischen den Herzvorhöfen, wurde bestätigt. Weiter steht im Arztbericht: »Da sich eine Druckerhöhung im kleinen Kreislauf nachweisen ließ, ist die operative Korrektur des Herzfehlers in absehbarer Zeit vorgesehen.«

Übersetzt bedeutet das: Es hatte sich bereits ein sogenannter »Lungenhochdruck« gebildet, bei dem das Herz sich sehr anstrengen muss, um das Blut in die Lungengefäße zu pumpen.

Ein Lungenhochdruck ist eine typische Folge des Herzfehlers, wie ich ihn hatte. In den allermeisten Fällen tritt dieser Lungenhochdruck jedoch erst nach vielen Jahren auf, wenn die Patienten jenseits der 40 sind. Ich hatte ihn bereits mit zweieinhalb.

Eine Weile kann ein Herz den Lungenhochdruck aushalten, aber wenn ein solcher Zustand zu lange anhält, nimmt das Herz irreparablen Schaden. Wenn ich nicht rechtzeitig operiert worden wäre, wäre ich herzinsuffizient geworden. Und das hätte meinen sicheren Tod bedeutet.

Der Bericht über die Katheteruntersuchung ist einer der wenigen Arztberichte aus jener Zeit, die erhalten geblieben sind. Fast alle anderen medizinischen Unterlagen sind verlorengegangen oder nach 30 Jahren vernichtet worden. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie noch einmal gebraucht würden.

Meine Mutter hat nie vergessen, wie sie mich damals nach der Herzsondenuntersuchung aus der Klinik abholte. Die ganze Fahrt über weinte ich und schrie. Sie wickelte mich in ihren grünen Poncho, und ich kotzte ihr den Poncho voll. Irgendwann hielt sie einfach an, vor einem Haus mit einem niedrigen Gartenzaun. Sie hielt mich über den Zaun, und ich erbrach mich in den Garten.

Ich war zwei Jahre alt, ich war schwer krank, und ich war gerade drei Tage ganz allein in einer Universitätsklinik gewesen. Denn Eltern blieben in jener Zeit außen vor.

[home]

Eine kleine Sensation

Lassen Sie das Kind niemals schreien«, hatten die Ärzte meinen Eltern gesagt, »jede Aufregung kann zu viel sein.« Ab da nahm meine Mutter mich überallhin mit, egal, wo sie gerade zu tun hatte. Im April 1973 kam sie gerade vom Finanzamt, mich hatte sie wie immer dabei. Zu Hause stand mein Vater weinend an der Ausrollmaschine.

»Was hast du?«, wollte meine Mutter wissen.

»Die Klinik hat angerufen«, antwortete er, »es gibt einen Operationstermin.«

Der Termin war da, endlich, doch für meine Eltern war das kein Grund aufzuatmen. Sie fürchteten, dass ich die OP nicht überleben würde. Es war, als liefe die Zeit, die sie mit mir hatten, ab.

Meine Mutter hat damals alles aufgeschrieben. Vierzig Jahre später, im Frühherbst 2013, halte ich ihren Bericht in den Händen. Es sind zehn dünne Seiten, eng mit Schreibmaschine beschrieben. Ich erkenne das Schriftbild. Später sollte ich meine ersten Artikel für die Lokalzeitung auf derselben Schreibmaschine tippen.

»Das Herz unseres Kindes«, schrieb meine Mutter, »hatte sich unter dem ständigen Überdruck so vergrößert, dass es wie ein Luftballon vorstand. Der überhitzte Kreislauf ließ das Kind kaum schlafen, so als würde ein Erwachsener ständig starken Kaffee trinken. Es rief die ganze Nacht: ›Mama, klopft immer noch!‹ Damit meinte es das rasende Herz, welches es am Schlafen hinderte.«

Meine Eltern mussten zusehen, wie meine Kräfte schwanden. »Es wurde Frühling 1973, aber die Eltern des Kindes sahen es nicht. Der Anblick der blühenden Natur tat so weh«, schrieb meine Mutter weiter. »Wenn die Kleine im Garten stand, fiel sie vom Wind um, ein zu Herzen gehender Anblick. Sie wurde überwiegend gefahren und getragen. Keine Belastung war mehr erlaubt.«

Tag für Tag warteten meine Eltern auf die Post, auf den OP-Termin. Sie wussten, ohne Operation würde ich keine drei Jahre alt werden. Doch auch der Brief mit dem OP-Termin ging verloren. Als die Klinik anrief, war die Aufnahme für den nächsten Tag geplant.

»Vielleicht war es Gottes Fügung, dass der Brief verlorenging«, schrieb meine Mutter, »wir hätten sonst täglich Abschied genommen.« Und dennoch: »Als der telefonische Termin kam, riss es uns um. Wir konnten nicht mehr denken und mussten doch handeln.«

Längst hatten sie besonders schöne Kleidchen und Spielsachen für mich gekauft. Ich sollte mich freuen und ihren Schmerz nicht wahrnehmen.

 

Wo waren in dieser Zeit meine Geschwister? Was haben sie getan? Meine Schwester war gerade ein Jahr alt. Mein Bruder hat sich einmal beschwert: Meine Mutter hatte ihm schon lange morgens keinen Tee mehr gekocht. Sie hatte es vergessen. All ihr Denken, Sinnen, Hoffen und Bangen galt mir.

 

Die Fahrt zur Klinik war die reinste Strapaze. Endlich angekommen, ließ ich alle Bemühungen der Schwestern, mit mir zu sprechen, an mir abprallen: »Lioba verkroch sich wie eine Schnecke, als wisse sie alles.«

Die Operation zahlten meine Eltern privat. Als sie mich in die Klinik brachten, fragte mein Vater, ob nicht doch die gesetzliche Kasse die Kosten übernehmen könne.

»Klar«, antwortete einer der Ärzte, »Sie können das Kind hierlassen. Es bekommt ein Kassenbett, und nach einer Woche können Sie es wieder abholen. Unbehandelt.«

Ich hätte auf der Warteliste gestanden. Und ich wäre womöglich auf der Warteliste gestorben.

»Wenn das so ist«, sagte mein Vater, »dann sind wir Privatpatienten.«

Meine Eltern planten zu der Zeit den zweiten Bauabschnitt ihres Hauses. Der erste Kredit war bereits bewilligt. Jetzt zahlten sie mit dem Geld die Herzoperation ihrer Tochter. Der zweite Bauabschnitt musste warten.

Meine Mutter schickte man zur Klinikkasse. Dort unterschrieb sie, dass sie ab sofort jeden dritten Tag unaufgefordert fünfhundert Mark überweisen würde.

 

Den Tag vor der Operation verbrachten meine Eltern bei mir im Krankenhaus. »Was sie malte«, erinnerte sich meine Mutter, »habe ich verwahrt, was sie sagte, aufgeschrieben. In den Ruhezeiten des Kindes gingen wir zur Kapelle und flehten inständig um Gottes Segen für unser Kind. Beim Abschied beteten wir mit unserem Kind und segneten es, denn wir glaubten an die elterliche Segensgewalt.«

Und dann: »Wir wurden noch einmal darauf hingewiesen, dass es menschlich kaum möglich wäre, dass das Kind diesen Eingriff übersteht. ›Sie haben ja noch zwei Kinder‹, wurde uns gesagt, ›Sie wissen, was wir Ihnen damit sagen wollen.‹«

 

Eine Operation am offenen Herzen eines zweieinhalbjährigen Kleinkindes hatte damals nichts mit Routine zu tun. Weltweit waren nur wenige spezialisierte Zentren überhaupt in der Lage, eine solche Operation durchzuführen. Düsseldorf war eines dieser Zentren.

Für die Operation wurde mein Körper heruntergekühlt. Es ist wie beim Winterschlaf einer Schildkröte: Der Stoffwechsel wird auf ein Minimum reduziert. Diese sogenannte Hypothermie hatte Ernst Derra, einer der Pioniere der deutschen Herzchirurgie, 1955 erstmals in Europa genutzt, um genau jenen Herzfehler, den ich auch hatte, in einer Operation am offenen Herzen zu beheben. Derra war bis zum Jahr 1969 der Leiter der gesamten Chirurgie in Düsseldorf, er sorgte dafür, dass dort überhaupt eine medizinische Universität entstand. Derra war auch einer der Ersten, die damit begannen, mit Hilfe der Herz-Lungen-Maschine Operationen am offenen Herzen durchzuführen. Sein Schüler und Nachfolger war Wolfgang Bircks, ebenfalls ein Pionier der Herzchirurgie mit sagenhaftem Ruf. Er war einer der allerbesten seiner Zunft. Er war es auch, den drei Jahre zuvor der Spiegel mit den Worten zitiert hatte, jeden Monat stürben Patienten auf der Warteliste, weil ihr Herz nicht bis zum Operationstermin durchhalte. Und er war es, der mich operierte.

 

Am Tag der Operation sollten meine Eltern zu Hause bleiben. Sie waren trotzdem im Krankenhaus. Am Abend vorher hatten sie auf dem Petersberg in der Nähe von Fulda angerufen. Dort steht die Kirche der heiligen Lioba. Sie hatten den Pfarrer gefragt, ob er am nächsten Tag für mich beten könne, und er hatte es versprochen. »Die heilige Lioba«, sagte er, »ist eine mächtige Schutzpatronin, sie wird helfen.«

Meine Eltern saßen in einem Warteraum der Klinik und beteten und weinten. Wenn sie aus dem Fenster schauten, sahen sie weiße und schwarze Wagen die Klinik verlassen, Krankenwagen und Leichenwagen. »Lieber Gott«, betete meine Mutter, »lass uns Lioba in einem weißen Wagen wiederbekommen.« Mein Vater sagt, er sieht die Wagen heute noch vor sich, ganz so, als sei es erst gestern gewesen.

Die Operation dauerte sieben Stunden. Sie schnitten mich einmal ganz auf, die gesamte rechte Seite von der Mitte des Rückens unter dem rechten Arm hindurch bis zum Brustbein. Ich war zweieinhalb Jahre alt und eigentlich noch zu klein, um in der damaligen Zeit an der Herz-Lungen-Maschine operiert zu werden; ich war zu leicht. Kinder mussten für eine solche Prozedur mindestens 15 Kilogramm wiegen, ich wog 13 Kilo. Das klingt schwer für ein zweijähriges Kind, aber ich war schon fast so groß wie eine Vierjährige, knapp einen Meter.

Sie versuchten zunächst, das Loch in meinem Herzen zuzunähen. Doch dazu war das Loch zu groß, das elastische Herzgewebe verzog sich. So trennten sie die Nähte wieder auf und setzten einen Kunststoff-Flicken ein, fünfmarkstückgroß. Damals wusste man noch nicht, wie so ein Kunststoff-Flicken sich auf Dauer verhalten würde. Was würde passieren, wenn das Kind und damit auch das Herz wächst? Könnte der Flicken ausreißen? Heute weiß man, dass der Flicken an Ort und Stelle bleibt und dass das Herzgewebe darüberwächst. Damals jedoch war es ein Wagnis.

»Nach sieben Stunden«, schrieb meine Mutter, »wurden wir zum leitenden Herzchirurg gerufen. Wir sind nicht fähig, die Türklinke zum Sprechzimmer zu betätigen, wir können keinen klaren Gedanken fassen. Was kommt jetzt auf uns zu? Abgespannt und ausgelaugt sieht er uns an: ›Wir haben alles getan, der Defekt ist verschlossen, Herzschlag und Kreislauf sind normal. Jetzt muss das Gewebe die Plastik, die wir eingesetzt haben, annehmen. Das Kind liegt auf der Intensivstation, Sie können nichts tun. Fahren Sie nach Hause, nehmen Sie die anderen Kinder und stürzen Sie sich in die Arbeit!‹«

An jenem Tag im April 1973 funktionierte mein Herz zum ersten Mal in meinem Leben normal.

 

Jahre später, der zweite Bauabschnitt war längst fertig, meine Eltern hatten dort Mietwohnungen gebaut, stellte sich ein möglicher Mieter vor. Ich war sieben oder acht Jahre alt, und als ich ihn sah, wurde ich kreideweiß und drückte mich an die Wand. Kaum war er zur Tür hinaus, bettelte ich meine Eltern an: »Nehmt ihn nicht als Mieter, der kommt und schneidet mir den Rücken auf.« Der Mann hatte eine Erinnerung in mir wachgerufen. Eine Erinnerung an etwas, an das ich mich eigentlich nicht erinnern konnte.

Ich werde noch jahrzehntelang Alpträume haben von Männern, die mit Messern um mich herumstehen und mich aufschneiden wollen.

 

Am Tag nach der OP kam die Kinderärztin Frau Dr. B. zu meinen Eltern nach Hause. Sie saß auf der Eckbank in der Küche. Sie sagte nicht, warum sie gekommen war. Sie sagte es erst später. Fünfmal hatte sie ein Kind zu einer solchen Herzoperation überwiesen, und keines der Kinder war zurückgekommen. Meist waren sie innerhalb der ersten 24 Stunden nach der OP gestorben. Sie wollte bei meinen Eltern sein, wenn der Anruf kam.

Ich aber lebte.

Und mit jedem weiteren Tag wuchs die Chance, dass ich überlebte.

 

Meine Eltern durften mich nicht sehen. Sie fuhren trotzdem ins Krankenhaus, man ließ sie nicht einmal auf den Flur. Ich hätte ihre Gegenwart spüren können, und ich durfte mich kein bisschen aufregen.

»Sie dürfen nicht kommen«, hatte der leitende Chirurg gesagt, »aber Sie dürfen immer anrufen.« Und das taten sie. Wenn mein Vater nachts um halb drei aufstand, um Brötchen zu backen, rief er als Erstes in der Klinik an. Er sprach dann mit der Nachtschwester, und sie beruhigte ihn. »Lioba schläft«, sagte sie, »es ist alles in Ordnung.«

Wenn meine Mutter um halb fünf aufstand, um den Laden aufzuschließen, rief sie ebenfalls als Erstes auf der Intensivstation an. Sie riefen eigentlich ständig an. Und die Schwestern gaben immer freundlich Auskunft.

Nach zehn Tagen ließ man meine Mutter zum ersten Mal zu ihrem Kind. Für zwanzig Minuten. Die Schwestern gaben mir vorher ein Beruhigungsmittel und sahen auf die Uhr.

»In der sterilen Wäsche sah Lioba aus wie das reinste Engelchen. Sie lag wie hingemäht, nicht fähig, die Ärmchen hochzuheben. Zum kurzen Aufrichten bekam sie ein Luftpolster in den Rücken.«

Aber ich hatte rosa Bäckchen. Bislang hatte meine Mutter ihre Tochter nur blass und gelb im Gesicht gekannt.

Später sollten meine Eltern etwas mitbringen, an das ich mich erinnern konnte. Die Ärzte wollten wissen, ob ich die OP ohne geistige Schäden überstanden hatte. Bis heute passiert es, dass vor allem ältere Patienten durch den Einsatz der Herz-Lungen-Maschine geistige Schäden erleiden. In der damaligen Zeit, als die Herz-Lungen-Maschinen technisch bei weitem nicht so ausgereift waren wie heute, fürchtete man dieses Risiko stets, und man fürchtete es besonders bei Kindern.

Meine Eltern brachten meine weißen Sommersandalen mit und legten sie auf die Bettdecke. »Aber, Mama«, sagte ich, »da ist doch die Schnalle kaputt.« Das war der Moment, in dem die Ärzte in Jubelschreie ausbrachen.

Ich hingegen war äußerst übel gelaunt. »Böse Mama«, sagte ich, »ich habe immer nach dir gerufen, aber du bist nicht gekommen, böse Mama.«

 

Einundzwanzig Tage nach der Herzoperation wurde das Gebet meiner Mutter erhört: Ich kam in einem weißen Wagen nach Hause, in einem Krankenwagen. »Das Kind«, sagten die Ärzte, »wird zum frühestmöglichen Zeitpunkt entlassen. Es braucht jetzt Mutterliebe. Es muss gedeihen.«

Mein Bruder war inzwischen sechs und durfte im Krankenwagen vorne sitzen. Meine Mutter kniete die gesamte Fahrt über neben der Bahre, auf der ich lag. Ich bestand nämlich darauf, ihre Daumen mit beiden Händen zu umklammern.

Zu Hause lag ich tagsüber in einem Segeltuchbett in der Küche. Die Küche war direkt hinter dem Laden, so konnte meine Mutter immer nach mir sehen. Die Kunden brachten Blumen. Ich aß und nahm jeden Tag hundert Gramm zu.

»Lioba hatte keine Muskeln mehr«, schrieb meine Mutter, »wenn man sie aufrichtete, ging sie steif und gestützt.«

Jetzt erst lernte ich richtig laufen, ich brauchte drei Monate dafür. Ich fiel noch viele Male hin, meine gesamte Kindheit hindurch sollte ich die kaputten Knie und die gestopften Strumpfhosen nicht mehr loswerden. Aber ich lief.

Eines Tages versuchte ich, den Wickeltisch hochzuklettern, auf dem meine Schwester gerade eine neue Windel bekam. Frau Dr. B. war zufällig da. Meine Mutter wollte mich zurückhalten. »Lassen Sie sie«, sagte die Kinderärztin. Ich kletterte hoch und setzte mich neben meine kleine Schwester. Als sei es das Normalste von der Welt.

 

Die Rechnung der Klinik belief sich auf 28000 D-Mark. Die gesetzliche Krankenkasse meiner Eltern beriet sich in einer Sondersitzung und beschloss, 6000 Mark zu übernehmen. Den Rest zahlten meine Eltern. Die Anästhesie-Ärztin hatte nur ein winzig kleines Honorar abgerechnet. »Dieser Frau«, sagten die Gutachter von der Krankenkasse, »können Sie einen Orden geben.« Was meine Eltern nicht wussten: Es war die Nichte einer Kundin, die nur wenige Straßen weiter wohnte und jeden Morgen Brötchen kaufte.

 

Ich wuchs heran wie fast jedes andere Kind auch. Ich wurde mehr behütet und umsorgt als meine Geschwister. Ich schämte mich im Schwimmunterricht wegen der großen Narbe, die hinten aus dem Badeanzug rausguckte. Ich war nicht besonders sportlich. Aber ich war vollkommen gesund. Die Herzoperation brauchte ich nicht einmal zu vergessen, denn ich hatte keine bewusste Erinnerung daran. Die OP war ein Gruselmärchen, das meine Eltern erzählten. Es hatte nichts mit mir zu tun.

[home]

Von wegen Burn-out

An jenem Tag im März 2011, als ich kaum noch gehen kann, sage ich abends der Sekretärin, ich käme am nächsten Morgen nicht rein, sondern ginge direkt zur ersten Pressekonferenz. Ich will nicht, dass jemand mitbekommt, wie lange ich brauche, um mal eben vom ARD-Hauptstadtstudio rüber in den Bundestag zu gehen, quasi nur über die Straße und ein bisschen die Spree entlang. Also mache ich mich am nächsten Morgen sehr früh auf den Weg, diesmal nicht mit der Bahn, sondern mit dem Auto. Ich parke unten im Parkdeck des ARD-Hauptstadtstudios. Fahre mit dem Aufzug nach oben. Und gehe zur ersten PK. Ganz langsam. Mein Herz hämmert und stolpert bei jedem Schritt, als wolle es gleich explodieren.

Ich bin nicht völlig ahnungslos. Doch ich will nicht glauben, was nicht zu fassen ist. Und ich bin nicht die Einzige. Vier Wochen vorher war ich bei meiner Hausärztin. Ich fühlte mich seit langem, als hätte ich eine schwere Grippe, nur ohne Grippe. Ich war total schlapp, bekam kaum Luft, schlief bei der Tagesschau schon ein. Meine Hausärztin ist eine dieser schon etwas ältlichen Ost-Ärztinnen. Eine, die viel gesehen hat und die wenig umhaut. Ihre Praxis liegt im nördlichen Ende von Prenzlauer Berg an der Grenze zu Pankow, abgenutzter Linoleumboden, viele alte Patienten, vor allem montags viele Typen in Blaumännern, die sich Atteste holten, und natürlich Karrieretussen wie ich. Sie guckte mir tief in die Augen, sagte, ich bräuchte mal eine Pause, und verschrieb mir ein Antidepressivum. Es war das Frühjahr 2011, und alle großen Zeitungen brachten Artikel zum Thema Burn-out. Jeder hatte plötzlich Burn-out. Jetzt hatte ich auch eins.

Ich wusste, dass ich keins hatte. Ich bat sie, ein EKG zu machen. Sie machte eins. Und am nächsten Tag noch eins. Sie entdeckte nichts Auffälliges. Ich bat sie, ein Langzeit-EKG zu machen. Sie machte auch ein Langzeit-EKG und schickte es irgendwohin zur Auswertung. Dabei ging es dann erst einmal verloren. Am Ende habe ich das Antidepressivum geschluckt. Weil ich zu erschöpft war, um weiter mit der Ärztin zu diskutieren. Es ging mir immer noch elend, aber mit dem Antidepressivum war es mir egal.

Ich hatte klein beigegeben. In den Monaten danach würde ich lernen, nie mehr klein beizugeben. Ich würde eine echte Querulantin werden. Ein Schreckgespenst für Ärzte und Krankenschwestern. Ich würde misstrauisch sein bis zum Gehtnichtmehr und alles, was man mir sagt, was ich tun und was ich lassen soll, zigmal gegenchecken. Ich würde die Ärzte wechseln, wenn auch manchmal zu spät. Ich würde eine furchtbare Person werden. Und nur so würde ich überleben.

Wäre ich lieb und folgsam geblieben, ich wäre gestorben. Oder ein sabberndes Etwas geworden.

 

An meinem letzten Arbeitstag im März 2011, von dem ich noch nicht ahne, dass es mein letzter sein wird, rufe ich zum x-ten Mal bei meiner Hausärztin an. Zum x-ten Mal bitte ich die Sprechstundenhilfe, nach dem verschollenen Langzeit-EKG zu suchen. Diesmal findet sie es.

»Bitte«, sage ich, »faxen Sie es mir auf die Arbeit.«

»Na gut.«