Erziehen, ohne die Nerven zu verlieren - Tania García - E-Book

Erziehen, ohne die Nerven zu verlieren E-Book

Tania García

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Beschreibung

Nein sagen, gelassen bleiben: Dieses Buch zeigt, wie ElternKonflikte verständnisvoll lösen, Ängste und Aggressionen auffangen, Grenzen setzen und die Bindung zu ihrem Kind stärken können. Anhand von Alltagsbeispielen beschreibt Tania Garcia, die führende spanische Expertin für bindungsorientierte Erziehung, alle typischen Konfliktsituationen in der Familie und sofort anwendbare Methoden, um diese zu lösen. So lassen Eltern von Kindern zwischen 3 und 8 Jahren Gereiztheit und Wut hinter sich. Mit spannenden Erkenntnissen aus der Emotionsforschung.

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Für meine Kinder Uriel und Gadea, meine größten Lehrer und die reinsten und schönsten Menschen, die ich kenne. Für alle Kinder dieser Welt, die sie als Einzige retten können.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Es wurde größte Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten Angaben korrekt sind und dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Für dennoch wider Erwarten im Werk auftretende Fehler übernehmen Autorin, Redaktion und Verlag keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung. Dasselbe gilt für spätere Änderungen in Gesetzgebung oder Rechtsprechung. Das Werk ersetzt nicht die professionelle Beratung und Hilfe in konkreten Fällen. Das Wort Duden ist für den Verlag Bibliographisches Institut GmbH als Marke geschützt.

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Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Soweit in diesem Buch Personen erwähnt und ihnen von der Redaktion fiktive Namen, Berufe, Dialoge und Ähnliches zugeordnet oder diese Personen in bestimmte Kontexte gesetzt werden, dienen diese Zuordnungen und Darstellungen ausschließlich der Veranschaulichung und dem besseren Verständnis des Inhalts.

© Duden 2022

Dieses Buch von © Tania García erschien 2019 erstmals bei © Penguin Random House

Grupo Editorial, S. A. U.

Travessera de Gràcia, 47-49. 08021 Barcelona

Penguin Books ist Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe.

Die Autorin macht ihre Urheberpersönlichkeitsrechte geltend.

Bibliographisches Institut GmbH, Mecklenburgische Straße 53, 14197 Berlin

Redaktionelle Leitung Susanne Klar

Übersetzung aus dem Spanischen Emilia Gagalski und Margarita Ruppel

Lektorat Ulrike Schimming, www.letterata.de

Herstellung Alfred Trinnes

Layout und Satz Veronika Neubauer

Umschlaggestaltungzero-media.net, München

Umschlagabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-411-91422-7 (E-Book)

ISBN 978-3-411-75672-8 (Buch)

www.duden.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I \

eins Der Ursprung der Emotionen

zwei Kindliche Emotionen zulassen

drei Emotionale Begleitung: der Schlüssel zu allem

vier Das Selbstwertgefühl stärken

fünf Kinder und ihre Ängste

sechs Der Umgang mit aggressiven Kindern

sieben Stress bei Kindern abbauen

acht Alles fängt bei dir an!

II \ Erziehen, ohne die Nerven zu verlieren: die pädagogischen Herausforderungen von heute

eins Mobbing

zwei Digitale Medien

drei Geschwisterbeziehungen

vier Die Pubertät

III \ Anhang

Zum Abschluss

Ein Brief an alle Mütter und Väter

Quellen und Leseempfehlungen

Dank

Autoreninfo

Einleitung

Das Leben ist intensiv und flüchtig, wunderschön und zugleich so schwierig.

Noch herausfordernder wird es vermutlich, wenn wir zu Müttern und Vätern werden. Denn dies ist der Augenblick, in dem all die Gefühle ans Licht kommen, die wir in unserer Kindheit und Jugend empfunden, aber nicht ausgedrückt haben, und die also in unserem Inneren schlummern.

Plötzlich verlieren wir die Nerven bei Dingen, die vor unserer Elternschaft für uns nie ein Problem waren, von denen wir nun aber wie besessen sind. Einst entspannte Abläufe, wie zum Beispiel das Haus zu verlassen, um arbeiten zu gehen, sind nun für viele von uns der blanke Horror.

Sobald wir Eltern werden, scheint es, als müssten wir ständig etwas fordern: die Einhaltung von Regeln, Uhrzeiten oder Appelle an unsere Kinder. Es ist, als würden wir davon ausgehen, dass unsere Sprösslinge sich andernfalls in abhängige, unverantwortliche Menschen ohne Ziele verwandeln. Manchmal geht es sogar so weit, dass wir glauben, unsere Kinder könnten zu Erwachsenen werden, die anderen Menschen Böses wollten.

So wurde es uns schließlich von der Gesellschaft und unseren eigenen Eltern beigebracht. Viele von uns haben verinnerlicht, dass wir unseren Kindern überlegen sind, dass Kinder außerdem immer tun müssen, was wir sagen, und dass nur die Dinge akzeptabel sind, die von uns Erwachsenen gutgeheißen werden.

Viele von uns Eltern haben gelernt, ihre Kinder zu ignorieren, wenn sie wütend sind, wenn sie weinen, wenn sie keine Lust haben, etwas zu tun, wenn sie neidisch oder intolerant sind. Uns wurde eingetrichtert, dass Kinder umso weniger entschlossen und schlechter auf das Leben vorbereitet werden, je mehr Unterstützung sie erfahren. Man hat viele von uns Müttern und Vätern glauben gemacht, dass hartes Durchgreifen am besten funktioniere, dass die Kinder umso stärker würden, je schwerer wir Erwachsene es ihnen machen. Da wir die wahren Gefühle unserer Kinder (und unsere eigenen) nicht kannten, haben wir diesen Lehren geglaubt. Dabei ist uns Eltern durchaus bewusst, dass wir selbst Unterstützung, Gespräche, Empathie und Liebe am meisten gebraucht hätten, als wir uns in unserer eigenen Kindheit und Jugend traurig, wütend und unverstanden gefühlt haben. Wir erinnern uns genau daran, wenn uns damals in Momenten voller Verärgerung liebevolles Verständnis, ein offenes Ohr, eine Umarmung oder Beistand entgegengebracht wurden. Wir klammern uns mit unserem ganzen Schmerz und unserer Liebe an diese Erinnerungen, sobald ein Elternteil von uns geht (oder womöglich schon gegangen ist).

Unsere größte Aufgabe als Eltern ist es heute also, uns wirklich bewusst zu machen, dass dieser alte Erziehungsansatz für Jungen und Mädchen schädlich ist.

Die Ansicht, Kinder sollten das Ebenbild ihrer Eltern sein, schadet ihnen nämlich: Dadurch werden die Kinder unsicher, fühlen sich unterlegen und entwickeln ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Dies prägt dann nicht nur ihre Kindheit und Jugend, sondern auch ihr Erwachsenendasein.

Diese Theorien, die nur auf den elterlichen Interessen beruhen und die wahren Gefühle und Bedürfnisse der Kinder ignorieren, trennen uns von unseren Kindern und lassen die emotionale Bindung zu ihnen verkümmern, bis diese fast völlig verschwindet.

Im Leben ist niemand besser als der andere. Genauso wenig sind Mütter und Väter ihren Kindern überlegen. Wir Eltern sind dazu da, unseren Sprösslingen den Weg zu weisen sowie mit gutem Beispiel und Gelassenheit voranzugehen. Wir sind dazu da, damit sie etwas lernen können, ohne Schaden zu nehmen. Wir sollten an ihrer Seite sein, ohne dass sie uns vormachen müssen, so zu sein, wie wir sie haben wollen. Sie sollen nicht ständig ihre tiefsten Gefühle verdrängen müssen.

Alle Menschen sollten geliebt, respektiert und akzeptiert werden, so wie sie sind.

Aber viele Eltern haben gelernt, ihre Kinder auf eine adultistische und verhaltensbezogene Weise zu erziehen. Adultismus bezeichnet das ungleiche Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern. Die Eltern gelten dabei aufgrund ihres höheren Alters immer als die Besseren und Kompetenteren, Kinder hingegen werden u. a. als unreif und rücksichtslos angesehen. Erziehen Eltern adultistisch, erwarten sie, dass sich ausschließlich die Kinder ändern, ohne dass die Eltern dabei an die Entwicklungsphasen ihres Gehirns oder ihrer emotionalen Fähigkeiten denken. Sie erwarten von den Kindern Dinge, die sie entweder nicht wollen oder noch gar nicht können. Diese Erziehungsmethode hat nur das Wohlergehen und Interesse der Erwachsenen im Blick.

Dieses Buch nun stellt dir all das notwendige theoretische und praktische Know-how für eine kindgerechte Erziehung zur Verfügung. Es zeigt dir, dass es nicht darum geht, dein Kind zu verändern, zu formen und zu modifizieren, sondern dass die eigentliche Arbeit bei den Eltern selbst liegt (wie auch bei den pädagogischen Fachkräften, die mit Kindern zu tun haben). Die pädagogischen Strukturen müssen sich umfassend verändern, da Menschen nicht glücklich sein können, wenn man sie zwingt, etwas zu tun oder zu fühlen, was sie nicht möchten, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen und man ihnen nicht zuhört, wenn sie es brauchen. Ebenso wenig werden Kinder glücklich, wenn sie kontrolliert werden und Angst vor strafenden oder kritisierenden Eltern haben, weil sie offen sagen, was sie denken, und in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Unterdrückung leben.

Wenn Kinder vorgeben müssen, anders zu sein, als sie sind, entwickeln sie sich nicht vollständig und werden zu verkrampften Erwachsenen.

Genau das passiert nämlich, wenn Kinder und Jugendliche nicht ausdrücken können, was sie fühlen: Sie verstecken ihr wahres Ich.

Um dich bei der großen Aufgabe der kindgerechten Erziehung zu unterstützen, erzähle ich dir in diesem Buch die Geschichte meiner Protagonistin Alexandra, von ihrer Kindheit in den 1980er-Jahren bis in die Gegenwart. Mit ihrer Hilfe wirst du mehr Verständnis für dein Kind und für dich selbst aufbringen.

Zunächst allerdings müssen wir uns als Mütter und Väter bewusst machen, dass wir selbst uns ändern sollten und diese grundlegende Lebensveränderung auch wirklich wollen. Das bedeutet, dass wir unser Erwachsenen-Ego tatsächlich hintenanstellen, um eine echte Verbindung zu unseren Söhnen und Töchtern aufbauen zu können. Wir müssen uns klarmachen, dass wir niemanden kontrollieren sollten, denn wir haben nur unser eigenes Leben in der Hand, nicht aber das unserer Kinder.

Dafür müssen wir aus unseren Handlungen lernen und uns vor allem unserer Gefühle bewusst werden. Erst dann können wir erkennen, wie unverhältnismäßig unsere alltäglichen Reaktionen gegenüber unseren Kindern oftmals sind, wenn wir uns ihnen gegenüber adultistisch verhalten, uns selbst nicht im Griff haben, uns an der beschränkten Kenntnis unserer eigenen Gefühle orientieren und völlig unwissend sind, was unsere Söhne und Töchter von uns brauchen, wenn sie von ihren Gefühlen überwältigt werden.

Viele Mütter und Väter sind im Grunde nicht glücklich, wenn sie auf eine solche Weise erziehen. Sie versuchen, die Kinder zu zwingen, das zu tun, was sie selbst wollen. Sie verlangen, dass sie ruhig sein sollen, dass sie aufhören zu weinen und zu wüten, dass sie Hausaufgaben machen oder sich nicht mit ihren Geschwistern streiten sollen. Diese Eltern sind unglücklich, weil sie strafen, schreien, drohen, erpressen, fordern, manipulieren und sogar physische Gewalt anwenden (Klapse, Kniffe, an den Haaren ziehen usw.). Diese über kurz oder lang schädlichen Handlungen sind nur von der Gefühlslage der Eltern und ihrem Wollen sowie von ihrem Bedürfnis nach Kontrolle geleitet.

Kontrolle ist eines der größten Übel, das sich den Erwachsenen eingebrannt hat. Ihnen wurde beigebracht, dass sie Kinder kontrollieren müssten. So sind viele Techniken der „sanften“ Kontrolle entstanden, in denen sie „nicht strafende“ Konsequenzen, Belohnungen oder Methoden nutzen. All dies führt zu einer großen Verwirrung bei den Eltern, bei pädagogischen Fachkräften und natürlich auch bei den Kindern. Man lässt sie im Glauben, dass solche Methoden sowohl für die einen als auch für die anderen gut seien. Dabei ist nichts weiter von der Realität entfernt als diese Überzeugung.

Eltern sollten lernen zu erziehen, ohne zu kontrollieren.

Denn selbst wenn sie die Kontrolle hinter zufriedenen Gesichtern, positiven Verstärkern und beruhigenden Sätzen verstecken, fordern Erwachsene dennoch, dass ihre Kinder tun sollen, was sie wollen, dass die Sprösslinge gehorchen, mitarbeiten und anderes mehr. Diese versteckte Art der Kontrolle und des emotionalen Missbrauchs macht Jungen und Mädchen unglücklich, da nicht ihre Bedürfnisse im Vordergrund stehen, sondern die der Erwachsenen.

Mit der Kontrolle ihrer Söhne und Töchter zeigen Eltern lediglich, dass sie sich selbst nicht zu kontrollieren wissen, dass sie andauernd die Nerven verlieren, weil sie ihre eigenen Gefühle nicht kennen. Durch das Zähmen und Herumkommandieren der Kinder steigern sie ihr eigenes Selbstwertgefühl. So gewinnen sie den Eindruck, dass endlich irgendjemand ihre Worte hört und ihre Erwartungen erfüllt. Auf diese Art schaffen sie jedoch einen Teufelskreis: Die Kinder werden später zu Erwachsenen, die ihre eigenen Gefühle ebenfalls nicht kennen und dann wiederum ihre Kinder kontrollieren müssen.

Kinder müssen lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Sie sollen sich selbst und ihre Gefühle lieben, sollen Nein sagen können und ihre Empfindungen, Vorlieben und Interessen verstehen.

Dafür müssen sie authentisch sein und fühlen dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden. Sie sollten keine Angst vor der Reaktion oder Missbilligung der Eltern haben müssen und in ihrem Tun und Fühlen nicht manipuliert werden. All dies sollten unsere Kinder gemeinsam mit uns Müttern und Vätern lernen. Wir unterstützen sie, indem wir mit Liebe, Orientierung, Respekt, Empathie, Verständnis, Toleranz und mit gutem Beispiel erziehen und nicht mit Groll und Kontrolle.

Viele von uns Eltern neigen jedoch zu der Überzeugung, dass Kinder, die nicht kontrolliert werden, später Probleme bekommen. Dabei besteht das einzige Problem gerade darin, dass durch die Kontrolle das wahre Wesen der Jungen und Mädchen im Verborgenen bleibt.

Wenn ich mit Eltern darüber spreche und sie frage, was sie sich für ihre Kinder im Leben wünschen, sind sich alle einig: Glück. Nicht den besten Uniabschluss, den besten Job, das große Geld oder das Eigenheim. Mütter und Väter halten das Glück für das Wichtigste im Leben ihrer Kinder.

Auch versichern mir die meisten Eltern, dass sie zum Glück ihrer Kinder gern mit einer respektvollen Erziehung beitragen würden, aber Angst davor haben. Sie haben Angst, nachgiebig zu sein, Angst, dass die Kinder ihnen entgleiten. Sie glauben, wenn sie aufhörten, zu bestrafen, zu schreien, sie auf den „Stillen Stuhl“ zu setzen und ihnen beizubringen, das zu tun, was Erwachsene wollen, dass sie als Eltern versagen und dass ihre Kinder – und sie selbst – immer unglücklich sein werden. Hätten sie die Gewissheit, dass ihre Kinder dadurch zu Menschen werden, die für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen, dann würden sie sie zweifelsohne mit Respekt und Empathie erziehen. Darin sind sich alle einig.

Die Angst ist durchaus nachvollziehbar: Gesellschaftliche Überzeugungen sind sehr tief verwurzelt und es kostet viel Überwindung, aus festgefahrenen Strukturen auszubrechen, selbst wenn diese nachweislich falsch sind. Jahrelange Untersuchungen und Studien in den verschiedensten Fachgebieten (Neurowissenschaften, Psychologie, Biologie, Psychiatrie, Medizin usw.) haben gezeigt, dass eine kontrollierende, angstbasierte Erziehung und die Missachtung der kindlichen Gefühle und Bedürfnisse eine Reihe negativer Folgen für die psychische Entwicklung der Kinder nach sich zieht. Diese Rückstände sind schwer aufzuholen und bestehen manchmal sogar lebenslang. Im Verlauf dieses Buches werde ich dir einige dieser Folgen vorstellen.

Durch eine emotionale Erziehung sollen die Kinder verstehen, dass Gefühle zum Leben dazugehören.

Damit du diese bei deinem Kind anwenden kannst, musst du diese Erziehung jedoch zunächst einmal selbst verinnerlichen. Bekanntermaßen gibt es keine effektivere Methode, etwas zu begreifen, als es am eigenen Leib zu erfahren. Du solltest dich selbst verstehen, wissen, welche Gefühle du empfindest, woher sie kommen und wie du auf sie reagierst. Du solltest wissen, wie du dich beruhigen und kontrollieren kannst. Zudem solltest du erkennen, wie wichtig deine Gefühle für die Entwicklung der Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls deines Kindes sind. Nur so kannst du ihm die notwendigen Werkzeuge an die Hand geben, damit es seine Gefühle kennenlernt, die Widrigkeiten des Lebens gelassen übersteht, sich behauptet sowie sich und andere respektieren kann. Nur dann kann dein Kind das Leben in seiner Ganzheit genießen und eine positive Einstellung, Respekt und Empathie in Beziehungen entwickeln. Es wird glücklich sein und von den Menschen geleitet werden, die es am meisten lieben: seine Mutter und sein Vater.

Diesen Weg wirst du mit diesem Buch beschreiten. Ich habe es mit meiner ganzen Liebe, Professionalität und Erfahrung geschrieben, nachdem ich jahrelang – und noch immer – unzähligen Eltern und pädagogischen Fachkräften dabei geholfen habe, sich selbst zu verändern.

Alles, was du hier erfährst, kannst du in jeder Entwicklungsphase deines Kindes anwenden, denn meine Grundsätze passen in jedem Alter und helfen dir immer.

Wie anfangs bereits gesagt: Das Leben wird herausfordernder, wenn wir Kinder bekommen. Wenn wir bei der Erziehung aber unseren Kindern folgen, wenn wir ihre Eigenarten verstehen und auf ihre Bedürfnisse eingehen, ihnen Gelassenheit, Unterstützung und Respekt entgegenbringen, wenn wir zulassen, dass sie ihre Gefühle ausdrücken und wir sie als gleichwertige Menschen betrachten (und als die Menschen, die wir am meisten lieben), dann wird das Leben nicht nur viel einfacher, sondern nimmt auch an Bedeutung zu, und wir werden viel glücklicher.

John Ruskin soll sinngemäß einmal gesagt haben: „Es gibt keinen Reichtum, außer dem Leben.“ Also lass uns das Leben gemeinsam mit unseren Kindern genießen. Alle Phasen vergehen irgendwann, wir überstehen die schwierigen Momente, und unsere bedingungslose Liebe (die Liebe, die nicht urteilt, ganz gleich, ob wir wütend oder fröhlich sind), die wir ihnen heute entgegenbringen können, trägt sie in die Zukunft.

Vielen Dank, dass du dieses Buch in deinen Händen hältst. Ich hoffe, dass es dein Herz und deine Gefühle lenkt und dass du eine Verbindung zu dir selbst und deinen Kindern aufbauen kannst.

Liebste Grüße und ein glückliches Leben.

Alexandra und die Silvesterfeier

Es war der letzte Tag des Jahres 1986, und Alexandras Zuhause platzte vor Menschen aus allen Nähten: Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Großeltern, Nachbarinnen und Nachbarn, dazu noch ihre Schwester Carolina und ihre Eltern.

Vor Kurzem erst war Alexandra sechs geworden und blickte dem Jahreswechsel sehr nervös entgegen. Alle wuselten herum, und sie ließ sich von der aufgeregten Stimmung mitreißen. Ihre älteren Cousinen putzten sich im Badezimmer heraus und sangen lauthals ein angesagtes Pop-Lied mit dem Titel „Wen interessiert’s“ mit.

Sie fand das Lied lustig, und tief in ihrem Inneren hatte sie das Gefühl, dass es für sie gemacht war. Alexandra hatte immer den Eindruck, dass die Dinge, die ihr Angst machten, für ihre Eltern keine Rolle spielten oder von ihnen gar nicht wahrgenommen wurden. Wenn sie weinte, aus welchem Grund auch immer, meinten die Eltern bloß, sie solle damit aufhören, oder machten sich über den Grund für ihr Weinen lustig und sagten den Satz, den Alexandra am allerwenigsten mochte: „Große Mädchen weinen nicht.“ Nie fand sie Trost, und ihre innere Traurigkeit machte sich immer mehr bemerkbar.

Ihre drei Jahre ältere Schwester Carolina war ganz anders. Carolina weinte niemals, und wenn sie doch mal den Drang verspürte, biss sie die Zähne zusammen und verkniff es sich. Die Eltern waren immer sehr stolz auf sie.

Die beiden Schwestern waren gern zusammen, spielten miteinander, redeten über die Schule und ihre Freunde, lächelten einander verschwörerisch zu, wenn sie ihr Gemüse in der Serviette versteckten.

Sie schliefen in getrennten Zimmern, obwohl sie ihre Eltern schon oft gebeten hatten, zusammen in einem Zimmer schlafen zu dürfen. Die hatten das jedoch abgelehnt und zu Carolina gesagt, dass sie sonst auch zu einer „Heulsuse“ werde wie ihre kleine Schwester. Außerdem seien die beiden schon zu groß dafür.

Weinen wurde in ihrem Zuhause nicht gern gesehen. Alexandra schien die Einzige zu sein, die das tat. Doch sie fühlte sich dabei nie frei. Immerzu wurde sie kritisiert, und so fühlte sie sich leer, einsam und entmutigt.

Das alte Jahr verging, und zwischen dem Feuerwerk der Nachbarn, dem Geschrei im Haus und den beschwipsten Erwachsenen fühlte sich Alexandra so einsam wie nie zuvor. Sie war traurig und hatte niemanden, den sie umarmen konnte. Es wurde noch schlimmer, als sie keine Lust auf Gambas hatte und ihre Großeltern zu meckern begannen. Ihre Oma meinte, Alexandra sei undankbar, denn nur wenigen Kindern sei so ein Genuss vergönnt, ihr Opa hingegen meinte, Frauen würden von Gambas hässlich werden. Alexandra wäre gern in der Nähe ihrer Schwester gewesen, doch die saß am anderen Ende des Tisches und lachte mit ihren Cousinen und Cousins. Alexandra konnte niemandem ihr Herz ausschütten, und so überkam sie ein Gefühl der Machtlosigkeit. Sie brach in Tränen aus, ohne ein Wort hervorzubringen. Alle schienen so glücklich zu sein, und sie verstand noch immer nicht, was Glück war, zumindest nicht so, wie sie dachte, dass es sein müsste. Sie wurde auf ihr Zimmer geschickt, um sich „die Flausen aus dem Kopf zu schlagen“. Sie wollte unbedingt im Wohnzimmer bleiben und zusammen mit allen anderen die traditionellen Glockenschläge zählen. Doch ihre Eltern ließen nicht mit sich reden.

Als Mitternacht vorbei war, begann Alexandra das Jahr 1987 nicht zusammen mit den anderen, sondern damit, sich mit ihrer Bettdecke die Tränen zu trocknen. Noch am Morgen zuvor hatte die Mutter ihr, während sie ihr sanft die Haare gebürstet und den Zopf geflochten hatte, gesagt, dass man ein Jahr immer mit einem neuen Vorsatz beginnen müsse. In diesem Moment, als sie weinend in ihrem Bett lag, konnte sie nur an ihren größten Herzenswunsch denken: sich von ihren Eltern immer geliebt und verstanden zu fühlen.

I \ eins

Der Ursprung der Emotionen

Was sind Gefühle?

Kein Mensch kann ein Leben ohne Gefühle führen. Die Gefühle gehören untrennbar zu uns und entstehen in uns.

Alles, was wir denken, sagen, entscheiden oder tun, wird unmittelbar durch unsere Emotionen gesteuert. Ein Gefühl zu erleben ist für uns also genauso essenziell und unentbehrlich wie essen oder schlafen.

Trotz dieser wissenschaftlich bewiesenen Tatsache herrscht in der Gesellschaft immer noch viel Unwissen über die Gefühle und ihre Eigenschaften. Unsere Gefühlskultur ist nicht gerade ausgeprägt, und das wirkt sich negativ auf alle Bereiche aus, sowohl auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern als auch auf jegliche andere Art von Beziehung.

Emotionen spielen in unserem Leben rund um die Uhr eine Rolle.

Jahrzehntelang haben die Menschen sich dagegen gesträubt, sich von ihren Gefühlen leiten zu lassen. Gefühle sind nicht erwünscht. Wenn sich jemand von einem Lied gerührt zeigt, verurteilen wir das noch immer als „sentimental“. Weinenden Kindern sagen wir, sie sollen still sein. Und über diejenigen, die wegen eines wichtigen Ereignisses am nächsten Tag nicht einschlafen können, machen wir uns lustig.

Bis heute wird eine strikte Trennungslinie zwischen Emotion und Verstand gezogen. Viele Menschen denken nach wie vor, dass Entscheidungen ausschließlich verstandesgemäß getroffen werden sollten und Emotionen lediglich eine vorübergehende Modeerscheinung sind. Tatsächlich aber sind beide Fähigkeiten in unserem Gehirn verortet und arbeiten zusammen. Beide sind für ein erfülltes Gefühlsleben unentbehrlich.

Wie funktioniert unser Gehirn?

Bekanntermaßen ist unser Gehirn ein äußerst komplexes Organ. Es besteht aus verschiedenen Teilen, von denen jeder seine eigenen Funktionen hat, allesamt davon sind wichtig. Ich werde nur kurz die beiden Bereiche erläutern, die aktiv an den Emotionen beteiligt sind und somit auch daran, wie wir mit unseren Kindern in Beziehung stehen: die Großhirnrinde (der zerebrale Kortex) und das limbische System.

Die Großhirnrinde ist für den Verstand zuständig. Es ist der rationale Teil unseres Gehirns. Hier laufen die komplexen Prozesse des Menschseins ab, wie sprechen, erinnern und verstehen.

Jede Information, die in der Großhirnrinde verarbeitet wird, ist vorher von anderen Bereichen des Gehirns empfangen worden. Dieses teilt sich in zwei sehr unterschiedliche Hälften auf: die rechte und die linke Hemisphäre. In der ersten sitzt die Kreativität (musikalisches Gehör, Intuition und Vorstellungskraft, künstlerische Ader usw.), in der zweiten findet das logische Denken statt (Logik, Sprache, wissenschaftliche und mathematische Fähigkeiten usw.). Die beiden Hälften sind durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden. Im Idealfall befinden sich beide Bereiche im Gleichgewicht. Dann haben wir unsere Emotionen gegenüber unseren Söhnen und Töchtern im Griff.

Das limbische System wird auch „das emotionale Gehirn“ genannt, da es für Gefühle zuständig ist. Während der Kortex der gefurchte Teil des Gehirns ist, befindet sich das limbische System direkt darunter und umfasst den Thalamus, den Hypothalamus, den Hippocampus und die Amygdala. Dieser Bereich des Gehirns steht mit vielen anderen Gehirnregionen in Verbindung. Fast unser gesamtes zerebrales System ist mit dem limbischen System verbunden, weshalb der gesamte Mensch von Emotionen beeinflusst wird. Weder die Großhirnrinde noch das limbische System können allein funktionieren. Sie brauchen sich gegenseitig.

Emotion und Verstand lassen sich also nicht trennen.

Wir sollten beide wertschätzen, da sie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gleichermaßen prägen. Nur mit diesem Wissen können wir unsere Kinder auf emotionale Weise erziehen.

Emotion und Verstand arbeiten eng zusammen

Während das emotionale Gehirn durch die Emotionen unser Überleben und unsere Gesundheit sichert, beherbergt also die linke Gehirnhälfte unseren Verstand. Sie durchdenkt eine Situation, sobald sie Informationen darüber erhält, welche Emotion wir gerade empfinden. Deshalb ist es wichtig, dass wir unseren Gefühlen genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie unseren Gedanken.

Verstand und Gefühl im Gleichgewicht zu halten, ist unser wichtigstes Ziel: Wir können nur eine optimale Beziehung zu unseren Kindern entwickeln, indem wir in jeder Situation unser Bestes tun und wirklich konsequent sind. Damit geben wir unserem Nachwuchs auch folgende Lehre auf den Weg:

Sind unsere beiden Gehirnhälften im Gleichgewicht, erkennen und verstehen wir unsere Emotionen und können sie, falls nötig, regulieren. So wissen wir immer, was mit uns los ist, und treffen die richtigen Entscheidungen, nachdem wir darüber nachgedacht haben, was wir fühlen, ohne uns vom ersten primitiven Impuls leiten zu lassen.

Durch das Zusammenspiel von Emotion und Verstand können wir zudem jede Situation auskosten, uns selbst voll und ganz kennenlernen und sind uns in jedem Augenblick bewusst, was wir wollen. Unsere Entscheidungen sind dann immer von unseren eigenen Überlegungen geleitet und nicht von dem, was andere denken oder gutheißen könnten.

In Alltagskonflikten mit unseren Kindern kann dieser Prozess hilfreich sein. Stellen wir uns vor, dass ein achtjähriges Mädchen sich nicht die Zähne putzen möchte. Die Eltern haben es ihr schon mehrmals gesagt, und sie spielt einfach weiter mit ihrem Mittelalterschloss. Ohne eine Verbindung zwischen Emotion und Verstand würden Eltern meist so handeln:

»Die Eltern sagen es einmal freundlich, und ihre Tochter reagiert nicht. (Weiter unten gehe ich genauer darauf ein, aber ich möchte kurz erwähnen, dass Kinder „sich nicht taub stellen“ oder „ihre Mutter/ihren Vater ignorieren“, sie sind vielmehr im Spiel und ihrer Fantasie versunken, was wiederum ihrem Gehirn Nahrung gibt.)

»Die Eltern sagen es ein zweites Mal, und die Tochter reagiert nicht. Hier sendet das emotionale Gehirn das Signal der Verärgerung. Dieses erste Warnsignal ist mit dem Wohlbefinden verbunden: Das Gehirn warnt vor einer möglichen Gefahr.

»Die Eltern sagen es ein drittes Mal, und da das Mädchen weder reagiert noch das macht, was sie in diesem Augenblick möchten, explodieren sie. Der Ärger hat ihr Gehirn in Beschlag genommen. Obwohl der Verstand vorhanden ist, können sie ihn nicht nutzen und merken nicht, wie die Emotion sie vereinnahmt. Sie packen die Tochter am Arm, zerren sie ins Badezimmer, sagen ihr, dass sie es satthätten, dass das Kind nicht höre, und dass sie ihr das nächste Mal das Spielzeug wegnähmen und es der Nachbarin schenken würden. Das Mädchen fängt an zu weinen, putzt ihre Zähne, versucht, sich zu erklären, aber die Eltern hören nicht einmal zu. Das Herz rast, der Ärger hat sich in Wut verwandelt, und sie sagen ihr, dass sie ohne Mucks sofort ins Bett gehen solle.

»Als die Tochter bereits schläft und die Eltern sich wieder beruhigt haben, setzt ihr Verstand ein. Ihnen wird klar, dass ihr Verhalten und ihre Worte komplett übertrieben und verletzend waren. Sie haben sich einzig und allein von den Emotionen leiten lassen, erst vom Ärger, dann von der Wut. Dieses Verhalten hat ihre Tochter nicht verdient. Also bekommen sie Gewissensbisse, fühlen sich schrecklich und entwickeln eine Angst, die sie in Alarmbereitschaft versetzen wird, sobald sie ihrer Tochter sagen müssen, dass sie ihre Zähne putzen soll.

Und so würden sich Eltern verhalten, wenn sie ihre Emotionen kennen und verstehen würden, was diese ihnen in jedem Augenblick sagen möchten:

»Es ist Zeit, schlafen zu gehen, und die Tochter sollte sich die Zähne putzen und ins Bett gehen. Sie spielt ganz ruhig mit ihrem Mittelalterschloss, und die Eltern stellen sich vor, wie ihr Tag wohl gelaufen ist: Sie war in die Schule und musste dort essen, weil niemand sie früher abholen konnte. Am Nachmittag hatte sie noch Englisch- und Klavierunterricht. Zum ersten Mal an diesem Tag hat sie Zeit zu spielen. Die Eltern möchten ihr freundlich mitteilen, dass sie bald schlafen gehen und vorher noch ihre Zähne putzen muss. Sie geben ihr einen Kuss und sagen ihr, dass sie ihr, wenn sie möchte, beim Spielen zuschauen.

»Das Mädchen ist einverstanden und findet es toll, dass ihre Mama oder ihr Papa, ohne zu urteilen oder sich zu ärgern, ihr beim Spielen zuschauen. Dann finden die Eltern, dass es reicht. Es ist spät geworden, und das Kind wird nicht genug Schlaf bekommen. Der nächste Tag wird für ihre Tochter sehr anstrengend.

»Sie gehen zu ihr, umarmen sie und erklären ihr, wie wichtig es sei, schlafen zu gehen. Sie erzählen ihr von den Vorteilen und vom gegenwärtigen Moment (nicht von der Vergangenheit). Sie drohen nicht mit all dem Schlechten, was geschehen wird, wenn sie es nicht tut. Sie sagen ihr, dass sie sie begleiten und bei ihr bleiben, bis sie eingeschlafen sei.

»Die Tochter wird wütend und möchte nicht schlafen gehen. In diesem Augenblick werden die Eltern wütend, obwohl sie vorher die ganze Zeit ruhig waren. Sie erkennen diese Wut und machen sich bewusst, was sie in ihnen auslösen kann. Sie atmen tief durch1 und beruhigen sich. Die Eltern wissen, wie sie ihrer Tochter helfen können, ihre eigene Wut zu besänftigen. Sie helfen ihr, diese besser zu verstehen. Sie beruhigen ihre Enttäuschung und erklären ihr, was gut daran ist, wenn sie mit dem Spielen aufhört und schlafen geht.

»Gemeinsam gehen sie ins Badezimmer, machen Witze über die Zahnbürste, und die Eltern bleiben bei ihr, bis sie einschläft. Danach werden sie froh sein, dass sie ihre Wut so gut im Griff hatten und dass sie ihrer Tochter zeigen konnten, wie sie mit ihrer eigenen Wut umgehen kann.

Die gemeinsame Arbeit von Emotion und Verstand besteht aus zwei Phasen. In der ersten erhalten wir Informationen zu unserem Wohlergehen, wir spüren die Emotion und bewerten, was gerade mit uns geschieht. In der zweiten Phase müssen wir einschätzen, ob es sich bei der Ursache für unsere Emotion um eine echte Bedrohung handelt, damit wir über unsere weiteren Handlungen und Worte entscheiden können. Im Umgang mit unseren Kindern erreichen wir die zweite Phase meist gar nicht. Unsere Kommunikation besteht dann aus Erwartungen, Bestrafungen und Drohungen, wodurch sich die Beziehung zu unserem Kind immer mehr verschlechtert.

In dem vorangegangenen Beispiel konnten die Eltern, nachdem sie die zweite Phase erreicht und nachgedacht haben, feststellen, dass keine Gefahr bestand und sich alles im Guten regeln lässt, ohne sich selbst und andere zu verletzen. Wut kann uns nämlich entweder auf eine echte Lebensgefahr hinweisen, oder sie kann ein Zeichen für uns sein, dass unsere Wahrnehmung von bestimmten Umständen übertrieben ist. Die Lösung besteht darin herauszufinden, womit wir es zu tun haben, und mit diesem Wissen richtig umzugehen.

Im Zusammensein mit unseren Kindern sollten wir lernen, jedes Gefühl entsprechend einzuordnen, damit wir sie so erziehen können, wie sie es brauchen und verdient haben.

Genauso benötigen wir diese Einordnung, um mit uns selbst und unserem Leben im Allgemeinen zufrieden und emotional ausgeglichen zu sein. Dafür sollten wir die Emotionen in unserem Inneren fließen lassen, sie als Teil unseres Körpers spüren. Die Kunst besteht darin, uns selbst kennenzulernen und unsere eigenen Emotionen zu verstehen. Wir sollten wissen, wie wir sie mäßigen können, je nachdem, was sie uns vermitteln.

Die Funktion der Emotionen

Die Gesellschaft, in der wir leben, kategorisiert gern. Wir haben uns daran gewöhnt, über Dinge zu sprechen, bevor wir sie überhaupt kennengelernt haben, ihnen ein Adjektiv aufzudrücken und sie zu beurteilen, ohne überhaupt aus eigener Hand erlebt zu haben, wovon wir sprechen.

Emotionen sind einer der Bereiche des menschlichen Lebens, in dem wir diesen Fehler begehen. Es fängt bereits damit an, dass wir zwischen guten und schlechten, positiven und negativen Emotionen unterscheiden. Zorn, Wut und Ärger beispielsweise werden als schlecht bewertet. Wenn unsere Kinder diese empfinden, wollen wir, dass sie sich so schnell wie möglich wieder beruhigen. Wenn wir solche Emotionen durchleben, werten wir uns selbst ab, sobald sich der Sturm gelegt hat. Freude oder Glück, als gut empfundene Emotionen, sind wiederum angenehm. Allerdings sehen wir auf Menschen herab, die solche positiven Emotionen überschwänglich ausdrücken, so als würden sie etwas Illegales tun. Wenn unsere Kinder solche Emotionen so zeigen, bitten wir sie, dass sie sich beruhigen und sich „zusammenreißen“. Der Gefühlsausbruch unserer Kinder beschämt uns, weil uns beigebracht wurde, unsere Emotionen zu verstecken.

Es gibt also weder gute noch schlechte Emotionen, sondern einfach nur Emotionen.

Sie helfen uns dabei, uns anzupassen, Entscheidungen zu treffen, Konflikte zu lösen und letztendlich zu leben.

Alle Emotionen sind notwendig, denn sie liefern uns Informationen darüber, wer wir sind und wer wir sein wollen, wie wir die Welt wahrnehmen und was um uns herum passiert.

Sie verbinden das, was wir im Inneren fühlen, mit dem, was im Außen wirklich passiert.

Wenn wir uns nicht intensiv mit unseren Emotionen auseinandersetzen, kann es passieren, dass wir diese Realität verzerren. Dann formen wir sie nach unseren Wunschvorstellungen. Es kann zudem sein, dass wir uns an das Gefühl klammern, das uns überkommt, ohne die Information dahinter zu verarbeiten.

Entscheidend ist jedoch, dass wir nicht ununterbrochen nach Perfektion streben – sowohl nach unserer als auch der unserer Kinder – und Situationen nicht idealisieren. Wir sollten uns selbst genau kennenlernen und unsere Innenwelt mit der Außenwelt in Gleichgewicht halten. Emotionen sind Zeichen, die zu Reaktionen in unserem Körper führen. Sie dienen dazu, uns das Überleben zu sichern. Sie wachen über unsere Sicherheit und informieren uns darüber, dass es etwas gibt, das wir beachten sollten.

Der Ablauf ist folgender:

Wir erleben eine Situation

»das Gehirn löst mittels Botenstoffen eine Emotion aus und informiert uns so, wie es um unser Wohlergehen bestellt ist

»unser Körper reagiert auf die empfangene Information, indem er eine Reihe an Mechanismen aktiviert, die sich je nach Emotion und von Mensch zu Mensch unterscheiden (Schweißausbruch, Luftnot, errötete Wangen, steigender Puls usw.)

»wenn wir rein emotional handeln, würden wir impulsiv mit Worten, Gesten und Taten reagieren. Doch wenn Emotion und Verstand im Einklang stehen, können wir die Gefühle verarbeiten, überdenken und filtern, weil wir zunächst in uns hineinspüren.

»anschließend gehen wir ruhig, vernünftig, stimmig und respektvoll mit der Situation um und suchen nach eventuell nötigen Lösungen.

Wenn ein 16-jähriger Sohn beispielsweise fragt, ob er freitags lange weggehen darf, weil all seine Freundinnen und Freunde es tun, empfinden Eltern meist schreckliche Angst. Sie wollen am liebsten, dass er gar nicht ausgeht, weil er viel zu jung ist. Diese Angst führt dazu, dass sie impulsiv fragen, was er sich dabei denke, dass er noch viel zu jung sei. So verschließen sie die Tür für einen Dialog und beiderseitiges Verständnis. Würden sie das Geschehene richtig einordnen, wäre ihnen klar, dass ihr Junge sich mitten in der sozialen Entwicklung befindet.

Die Pubertät ist eine Entwicklungsphase, in der das Gehirn Hunderte von neuronalen Verbindungen neu herstellt, und viele Gefühle und Entscheidungen des Teenagers basieren auf dem, was sein soziales Umfeld macht.

Für ihn ist es unglaublich schmerzhaft, nicht mit all seinen Freundinnen und Freunden zusammen zu sein. Deshalb durchlebt er ganz andere Gefühle als seine Eltern: Er empfindet Trauer, Frust und Wut, während Vater oder Mutter von der Angst beherrscht werden. Diese Angst trübt ihren Blick und verhindert, dass sie mit ihrem Kind mitfühlen.

Obwohl sie ihrem Sohn nicht erlauben, freitags lange wegzubleiben, weil sie um seine Sicherheit besorgt sind (und nicht um ihr eigenes Wohl), sollten sie sich seinen Gefühlen gegenüber öffnen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind sollte nicht von Ängsten und furchtbasierten Handlungen geprägt werden, sondern von der Bindung zueinander. Auch wenn die Antwort auf seine Bitte ein Nein sein sollte, ist es ein entscheidender Unterschied, wenn die Eltern ihre Angst filtern, unterdrücken, reflektieren und sich beruhigen. Denn sie wissen ja, dass an sich keine Gefahr besteht und dass sie immer mit ihrem Kind sprechen können. Dabei sollten sie daran denken, was und wie es fühlt. Sie sollten freundlich und emphatisch bleiben und auch seinem Frust und seiner Wut, ganz gleich, wie heftig sie auch sein mögen, mit Ruhe und Respekt begegnen.

Neben unseren eigenen Emotionen sollten wir auch die Emotionen der anderen, vor allem unserer Kinder, verstehen und uns in sie hineinversetzen können.

Gefühle und ihr sozialer Einfluss

Menschen unterscheiden sich durch ihre Gene, ihre Erziehung, Lebenserfahrung, Persönlichkeit und ihre Eigenarten, aber sie haben alle etwas gemein (außer der Tatsache, dass sie Menschen sind): die Emotionen. Sie alle erleben Emotionen und passen sie an ihre Umgebung an. Sie empfinden die Gefühle zwar auf unterschiedliche Weise, je nach Charaktereigenschaften, aber sie existieren gleichermaßen in jedem.

Wir alle brauchen andere Menschen, um uns zugehörig zu fühlen. Bei unseren Vorfahren war dies eine Frage des Überlebens.

Nur diejenigen, die einer Gruppe angehörten, sicherten sich ihr Überleben.

Ein einzelner Mensch konnte sich weder gegen Tiere mit Säbelzähnen oder andere Feinde verteidigen noch jagen oder sich fortpflanzen. Daher ist die soziale Komponente in unseren Genen verankert, und die Emotionen hängen wiederum eng mit unseren sozialen Bindungen zusammen. Wenn wir eine schöne Liebesbeziehung erleben, sind wir überglücklich; wenn wir einer Gruppe angehören, in der unsere Meinung beachtet wird, fühlen wir uns fröhlich und zufrieden; wenn wir Freunde haben, die uns in schwierigen Zeiten Trost spenden, empfinden wir Dankbarkeit und so weiter.

In Gesellschaft sind Emotionen ansteckend.

Wir stimmen uns auf die Gefühle der anderen ein, und die wiederum werden in Lichtgeschwindigkeit von einem zum anderen weitergegeben. Stellen wir uns vor, wir machen beispielsweise mit unserer Familie einen Ausflug in den Naturpark, und plötzlich schreit jemand erschrocken und fängt an zu laufen. Instinktiv handeln wir und laufen genauso schnell zu unserer Familie, während unser Herz bis zum Hals schlägt und wir nur nach vorn schauen. Später stellt sich heraus, dass die Person nur losgelaufen ist, weil sie dachte, sie hätte eine Schlange gesehen, wovor sie seit ihrer Kindheit Angst hat. Aber wir haben in dem Moment nicht nachgedacht, sondern uns von der Panik dieser Person anstecken lassen. So etwas kann allen passieren – und zwar mit jeder Emotion. Wir beobachten andere Menschen, lassen uns von deren Gefühlsausbrüchen mitreißen und tun alles, uns selbst zu retten oder unser Wohlergehen sicherzustellen.

Als soziale Wesen sind wir sehr schwach, wenn es darum geht, uns nicht davon beeinflussen zu lassen, was die anderen denken. Der Gruppenzwang und die Meinung der Allgemeinheit beherrschen uns so sehr, dass wir uns manchmal, obwohl wir anders denken, nicht trauen, etwas Gegenteiliges zu sagen oder zu tun – aus Angst vor der emotionalen Reaktion der anderen. Es ist die Angst, nicht mehr zu einer Gruppe zu gehören, die uns so handeln lässt.

Denn aus rein genetischen Gründen verbinden wir die Gruppenzugehörigkeit mit unserem Überleben.

Das geschieht zum Beispiel am Arbeitsplatz, wenn über einen Kollegen gelacht wird, weil er seinen Kaffee umgestoßen hat. Der Arme ärgert sich, aber die anderen machen sich über ihn lustig, weil er der Neue ist. Sie lachen über seine Tollpatschigkeit und seine unbeholfene Art. Wir fühlen mit ihm, weshalb uns die Situation sehr unangenehm ist. Wir würden ihm gern helfen, den Tisch sauber zu machen, oder ihm mit einem Lächeln zeigen, dass er locker bleiben soll. Aber wir trauen uns nicht, haben Angst, unsere Arbeit zu verlieren, wenn wir uns anders verhalten als die Mehrheit. Sobald wir aber zu Hause sind, machen wir uns Vorwürfe, dass wir nicht das getan haben, was uns unser Inneres gesagt hat.

Es ist gut, zu einer Gruppe zu gehören, wenn sie uns glücklich macht. Für unser emotionales Wohlergehen ist es jedoch nicht gut, wenn wir uns davon beeinflussen lassen, was die anderen denken, sagen oder machen, weil wir Angst vor Ablehnung haben. Um das zu verhindern, sollten wir an unserem Selbstwertgefühl arbeiten. Und damit auch unsere Kinder nicht unter diesem sozialen Druck leiden, müssen wir sie mit Respekt und Vertrauen erziehen, sodass sie ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Sie dürfen nicht glauben, dass sie etwas verlieren, wenn sie andere Entscheidungen treffen als der Rest der Menschheit. Sie sollen angstfrei tun und sagen können, was sie fühlen.

Emotionen zu verstehen hilft, eine Bindung zu unseren Kindern aufzubauen

Wenn wir als Erwachsene unsere Emotionen nicht filtern und somit impulsiv und ohne jegliche Kontrolle handeln, verletzen wir diejenigen, die wir am meisten lieben und für die wir unser Leben geben würden: unsere Kinder.

Wie oft hast du es schon bereut, wie du deine Kinder behandelt hast, wenn du von Gefühlen überwältigt wurdest, die du nicht kontrollieren konntest? Wie oft hättest du am liebsten die Zeit zurückgedreht, um Situationen rückgängig zu machen, die dir englitten sind?

Natürlich sind wir nur Menschen und nicht perfekt, aber das Elternsein ist eine großartige Gelegenheit, um zu wachsen, voranzukommen, besser zu werden und nicht stehen zu bleiben.

Es ist tatsächlich möglich, unsere Emotionen zu kennen, zu verstehen und zu zügeln, wenn es notwendig ist. Und genauso ist es möglich, uns vernünftig und ruhig mit unseren Kindern zu unterhalten. Natürlich wird es weiterhin schwierige Augenblicke geben. Das Leben verläuft nicht immer geradlinig, es gibt Rückschläge und nichts ist rosarot, aber sowohl wir als auch unsere Kinder werden diese Rückschläge anders meistern. Wir werden auf natürliche und reife Art mit unseren Kindern umzugehen wissen. Wir werden konsequent sein, aber immer berücksichtigen, was sie in emotionaler Hinsicht fühlen, denken und brauchen. Das wird unsere Bindung zu ihnen stärken.

Die Rolle der Kindheit für unsere Emotionen und die unserer Kinder

Die Vergangenheit eines Menschen hat immer Auswirkungen auf seine Gegenwart. Die gelebten Erfahrungen, getroffenen Entscheidungen und die Beziehungen beeinflussen uns und sind Teil unserer Gegenwart. Wir sind nicht nur die, die wir in einem bestimmten Augenblick sind, sondern auch die Summe all unserer Lebensumstände.

Dennoch haben Hunderte von wissenschaftlichen Studien Folgendes gezeigt: Die Kindheit ist die Grundlage, auf der wir unsere Persönlichkeit, unsere Emotionen, samt ihrer Intensität, sowie unsere Handlungen aufbauen und definieren. Sie ist die Grundlage unseres Lebens. Wenn wir leugnen, dass eine untrennbare und tiefe Verbindung zwischen unserem heutigen Ich und dem unserer Kindheit und Jugend besteht, liegen wir falsch. Wir lassen uns damit die Chance auf eine emotionale und persönliche Weiterentwicklung entgehen. Wenn wir das Leben mit einem anderen Bewusstsein angehen, können wir die Beziehung zu unseren Kindern verbessern und sie vor dem emotionalen Ballast bewahren, den wir mit uns herumschleppen.

Oft fragen wir uns, wieso wir so wenig – oder quasi gar keine – Selbstbeherrschung gegenüber unseren Kindern haben. Wir begreifen nicht, wieso wir in allen möglichen Situationen mit Freunden, der Familie und sogar Unbekannten die Nerven behalten und nachdenken können, aber unfähig sind, unseren intensivsten Gefühlen einen Riegel vorzuschieben, wenn es um diejenigen geht, die wir am meisten lieben.

Die weite Welt der Elternschaft stellt uns vor zwei Möglichkeiten: Entweder bleiben wir in der Vergangenheit verhaftet und erziehen unsere Kinder genauso, wie wir erzogen wurden, inklusive entsprechender Moden und Tabus. Oder aber wir übernehmen selbst das Steuer und emanzipieren uns davon.

Die Gefühle vieler Erwachsener sind früher nicht besonders beachtet worden. Kamen sie beispielsweise traurig aus der Schule, weil sie eine wichtige Arbeit nicht geschafft hatten, fragten ihre Eltern nicht, was passiert sei. Falls doch, schimpften sie über die schlechte Leistung. Manche Menschen, die Angst vor der Dunkelheit hatten, wurden nur kritisiert und hörten Vorträge darüber, dass Kinder stark sein müssten. Das Gleiche gilt für diejenigen, die auf ihre Geschwister eifersüchtig waren und von allen Seiten (Lehrkräften, Großeltern usw.) nur zu hören bekamen, dass sie eifersüchtig und dumm seien. Viele von ihnen wurden verspottet und verhöhnt, wenn sie weinten, und bekamen den Spruch zu hören: „Nun gib endlich Ruhe.“

Wenn sie einen Gefühlsausbruch hatten, hörte man ihnen nicht zu, sie bekamen keine Hilfe oder Verständnis, wurden weder respektiert noch so geliebt, wie sie es gebraucht hätten.

Kinder und Jugendliche benötigen jedoch so viel Respekt und Verständnis wie möglich für ihre eigenen Gefühle.

Nur so können sie die Situation und sich selbst verstehen und die Handlungen, die sich daraus entwickeln, vernünftig einordnen.

Da auch wir in unserer Kindheit emotional oftmals nicht das bekommen haben, was wir gebraucht hätten, wissen wir meist nicht, was wir unseren Kindern geben sollen, damit sie zu emotional stabilen Persönlichkeiten werden. Wir können ihnen kaum zuhören, ohne sie zu kritisieren oder überheblich zu sagen, was wir denken. Wir haben weder Geduld, noch nehmen wir sie ernst oder schenken ihnen Vertrauen. Wir können ihnen keine bedingungslose Liebe bieten, wir wollen immer, dass sie sich diese verdienen. Wir haben keine Ahnung, wie wir ihnen beibringen sollen, ihre Emotionen zu verstehen, weil wir unsere eigenen nicht kennen, da uns selbst ja nicht dabei geholfen wurde, sie zu begreifen.

Wenn unsere Kinder Gefühle durchleben, die sie in Form von Weinen, Schreien, schlechtem Benehmen und hässlichen Worten ausdrücken, fühlen wir uns schnell überfordert und wollen sie kontrollieren, als wären sie Marionetten. Wir können es nicht verhindern, aber wir wollen, dass sie still sind, weil sie uns verunsichern. Denn die Art und Weise, wie sie ihre Gefühle zeigen, erinnert uns an unsere emotionalen Erfahrungen in unserer Kindheit.

Stellen wir uns beispielsweise vor, dass ein Vater mit seinem siebenjährigen Sohn und seiner neunjährigen Tochter auf dem Spielplatz ist. Als es Zeit ist, zum Abendessen nach Hause zu gehen, möchte der Sohn nicht gehen. Also fängt er an zu weinen, um sich zu treten und zu schreien. Er ist sehr wütend, weil er nicht bleiben darf. Innerlich kocht der Vater. Die Menschen auf dem Spielplatz starren sie an, der Vater fühlt sich verurteilt und kritisiert. Was die anderen denken könnten, führt dazu, dass er noch gereizter wird. Er möchte nicht, dass sein Kind sich so fühlt, wie es sich fühlt, er möchte nicht, dass es tut, was es tut, und er sieht nur seine Emotion. Die Wut überfällt ihn, er packt seinen Sohn am Arm und steckt ihn resolut ins Auto. Während der Fahrt weint der Junge unaufhörlich, und der Vater sagt, wie anstrengend er sei, und droht ihm, ihn nie mehr auf den Spielplatz mitzunehmen. Später läuft er in seine Arme und bittet den Vater um Entschuldigung. Dieser küsst den Sohn, sagt, dass er sich schlecht benommen habe und dass er nicht mehr weinen solle, wenn sie das nächste Mal den Spielplatz verlassen, dass es Unsinn sei und er das verstehen müsse. Als der Vater ihn ins Bett bringt, fühlt er sich schlecht, weil er denkt, dass er in der Situation gelassener hätte reagieren können und der Junge ja nur ein Kind ist. Aber er hat Stunden gebraucht, um seinen durch die erlebte Situation erzeugten Ärger abzuschwächen und das Kind ein wenig zu verstehen.

Hilfreiche Fragen

Folgende Fragen sollen dir dabei helfen, über Situationen wie diese nachzudenken:

»Gab es für die Wut des Kindes auf dem Spielplatz einen Grund oder nicht?

»War es wichtig, was die anderen Leute dachten, oder sollte das den Vater eher nicht interessieren?

»Brauchte das wütende Kind in dem Moment eher die Wut oder das Verständnis des Vaters?

»Helfen Drohungen oder führen sie nur dazu, die Angst des Kindes vor seinen Gefühlen zu verstärken?

»Denkst du, ein Kind hat es verdient, dass der Vater barsch und wütend mit ihm spricht, wenn es gerade emotional aufgeregt ist (oder in jeder anderen Situation)?

»Sollte das Kind sich beim Vater entschuldigen, weil es seine Wut gezeigt hat?

»Sollte sich nicht eher der Vater beim Kind entschuldigen?

»Ist es richtig vom Vater zu behaupten, dass sich das Kind schlecht benommen hat, oder anzudeuten, dass Gefühle zu zeigen schlecht sei?

»Hat sich das Kind schlecht benommen oder das Empfundene auf unreife Art und Weise ausgedrückt, da es sich in einer „Phase“ befindet?

»Hätte der Vater sich besser verhalten können?

»Musste er seinem Kind sagen, dass es nie mehr weinen soll, wenn sie den Spielplatz verlassen wollen? Oder ist das nicht ganz normal, wenn es wieder vorkommt?

In unserer Kindheit wurde uns beigebracht, uns zurückzuhalten, nicht zu weinen, nicht wütend zu werden, uns nicht zu ärgern oder zornig zu sein, uns nicht einmal zu beklagen. Uns wurde beigebracht, Gefühle zu verstecken, und dasselbe machen wir mit unseren Kindern. Emotional gesehen sind wir also wie Kinder.

Kinder in verschiedenen Lebensphasen sind in Bezug auf ihre Emotionen noch unreif.

Das Gehirn entwickelt sich mit fortschreitendem Alter. Erst dann lernt es, Emotionen immer besser zu verstehen. Nach und nach stellt es die notwendigen Verbindungen her, um Gefühl und Verstand im Gleichgewicht zu halten. Damit das jedoch einwandfrei gelingt, brauchen Kinder eine gute emotionale Anleitung. Die Eltern (beziehungsweise die Personen, mit denen sie eine emotionale, vertrauensvolle und liebevolle Bindung aufgebaut haben) sollten die Kinder mit den notwendigen Werkzeugen ausstatten, um ihre Gefühle zu verstehen. Dafür sollten zunächst einmal die Eltern sich selbst zu kontrollieren wissen, wenn die Kinder in einer Situation verunsichert sind.

Fehlt den Kindern eine solche Anleitung, können sie keinen sinnvollen Mustern folgen. Sie wachsen in Unkenntnis ihrer Gefühle auf, was später im Erwachsenenleben zum Vorschein kommt und sich für gewöhnlich umso deutlicher zeigt, wenn sie selbst Kinder bekommen.

Unser limbisches System verbindet unsere heutigen Empfindungen mit dem, was wir als Kinder empfunden haben.

Wenn unsere Kinder also weinen, weil sie ein Spielzeug haben wollen, dann stellt unser Gehirn augenblicklich eine Verbindung zu dem Mal her, als unserem Weinen keine Beachtung geschenkt wurde und wir auch noch ausgelacht wurden. Innerlich empfinden wir Wut, Ohnmacht und Trauer. Wir sind dann noch immer dieses Kind, das sich in seiner Verzweiflung eine Umarmung gewünscht und Aufmerksamkeit gebraucht hätte. Diese innere Wut führt dazu, dass wir uns über unsere eigenen Kinder ärgern. Denn wir besitzen keine emotionalen Strategien, mit denen wir uns selbst beruhigen können, um danach unsere Kinder zu unterstützen.

Wir müssen also zunächst über unsere eigene Kindheits- und Jugendgeschichte nachdenken und uns bewusst machen, wie mit unseren Emotionen umgegangen wurde, wie viele Gefühle wir versteckt haben, aus Angst, zu Hause von unseren Eltern nicht akzeptiert zu werden. Wie oft hätten wir in unserem eigenen Zorn oder unserer Traurigkeit eine Umarmung oder einen Kuss und liebevolle Worte gebraucht?

Nur wenn wir uns selbst von Grund auf verstehen, können wir unseren Kindern jederzeit das bieten, was sie in emotionaler Hinsicht brauchen, damit sie nicht dieselben emotionalen Schäden davontragen wie wir.

Die Grundlage des emotionalen Gehirns

Das emotionale Leben beginnt bereits mit den ersten Herzschlägen im Mutterleib. Während der Schwangerschaft entwickelt sich das Gehirn des Fötus entsprechend den Nährstoffen der Mutter, ihren Hormonen sowie ihren Botenstoffen.

Der Gefühlszustand der Mutter während der Schwangerschaft stellt die erste emotionale Grundlage für ihr Kind dar.

Der Fötus spürt nicht nur die Emotionen, die sie erlebt, sondern ahmt diese Emotionen exakt nach und durchlebt sie selbst. Die Gefühle seiner Mutter sind auch seine Gefühle.

Fast alle Mütter versuchen sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler Ebene das Beste aus der Schwangerschaft zu machen, da sie in dieser Zeit emotionale Defizite spüren und von sozialen Mythen unter Druck gesetzt werden. Sie haben starke Ängste, werden unsicher, bekommen Schuldgefühle und fühlen sich schlecht, wenn sie zu viel Schokolade oder ein Stück Schinken essen.2 Aufgrund von hormonellen und körperlichen Veränderungen, die der Organismus während einer Schwangerschaft durchmacht, werden die Emotionen intensiver. Fast jede werdende Mutter geht durch stressige, beunruhigende oder traurige Momente. Das Gehirn ist darauf jedoch vorbereitet, da es ja die Existenz des Fötus im Körper registriert. Es passt sich daher an die Bedürfnisse von Mutter und Kind an.

Auch das Gehirn des Fötus ist darauf vorbereitet, unterschiedliche emotionale Situationen zu durchleben, es passt sich an und wächst entsprechend diesen vorgeburtlichen Erfahrungen. Dennoch gibt es einige Situationen, die extrem stressig für eine Schwangere sein können, wie zum Beispiel der Tod eines geliebten Menschen, die Trennung vom Partner oder ein gesundheitliches Problem des Fötus. Dann ist auch das Gehirn des Kindes einem besonderen Stress ausgesetzt, der sich auf sein Leben nach der Geburt auswirkt.

Es gibt unzählige Studien über den Zusammenhang zwischen den Erfahrungen im Bauch der Mutter und dem späteren Leben außerhalb. Die Studie der Psychologin und Biologin Vivette Glover und ihres Teams3 am Imperial College in London untersuchte den Zusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der späteren Gefühlswelt des Babys. Das Team fand heraus, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft viel Stress ausgesetzt waren, im Erwachsenenalter vermehrt unter Angstzuständen oder Depressionen litten. Zudem stellte Glover einen Zusammenhang zwischen einem hohen Cortisolspiegel (einem Stresshormon) bei der Mutter während der Schwangerschaft und dem Intelligenzquotienten der Kinder in ihrem späteren Leben fest.

Das Leben ist also eng mit den ersten Tagen im Mutterleib, mit Geburt und Kindheit verbunden.

Die Liebe, die ein Kind in dieser Zeit empfindet und empfängt, ist von großer Bedeutung für seine gesamte Entwicklung. Eine Mutter sollte ihrem Kind bereits in der Schwangerschaft Liebe entgegenbringen: Sie sollte sich freuen, dass sie es in sich trägt, ihren Bauch streicheln, mit ihm tanzen, sich für das Kind gut ernähren, sich vorstellen, dass sie es umarmt. Es gibt viele Möglichkeiten, dem Baby, das sie in ihrem Leib trägt, Liebe entgegenzubringen. Wichtig ist nur, es aus tiefstem Herzen zu empfinden und zu zeigen.

Ich arbeite mit vielen Eltern zusammen, die ihre Kinder adoptiert haben und die sehr erstaunt und traurig sind, wenn sie erfahren, wie wichtig diese erste Phase eigentlich ist. Menschenkinder sind bei der Geburt die unreifsten und unvollständigsten Säugetiere, die es überhaupt gibt. Daher können sie sich von dem Mangel an Liebe der ersten Phase erholen, wenn ihnen diese in den folgenden ersten Lebensjahren vermehrt geschenkt wird.4 Je früher wir unseren Kindern Respekt, Zuneigung und Liebe entgegenbringen, umso besser bewahren wir sie vor den negativen Folgen fehlender Liebe in der Anfangsphase oder schwächen diese zumindest ab.

Emotionen bestimmen unser menschliches Dasein, auch das unserer Kinder.