Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten - Klaus Eidenschink - E-Book

Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten E-Book

Klaus Eidenschink

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Beschreibung

Aus dem Vorwort von Dr. Bärbel Wardetzki: "Dieses Buch ist ein großer Gewinn für alle, die mit dem Thema Narzissmus in Berührung kommen, sei es im Rahmen von Psychotherapie und Coaching, im privaten Bereich oder auf der Arbeitsebene." Kaum ein psychologisches Etikett ist heute so beliebt wie das des Narzissten. Vom Präsidenten bis zur Kollegin im Team, allerorten finden sich selbstverliebte Egomanen, die erwarten, dass die Welt sich nach ihnen richtet. Fatalerweise trägt die Umwelt häufig dazu bei, dass narzisstisches Verhalten eher belohnt als erschwert wird. Klaus Eidenschink räumt mit dem Missverständnis auf, Narzissmus sei eine angeborene Charakterschwäche. Er versteht narzisstische Verhaltensweisen als Ausdruck von inneren Nöten, die mit einem Mangel an Selbstwahrnehmung einhergehen. Der Ursprung liegt häufig in fehlender Resonanz oder in seelischer Vereinnahmung zu Beginn der Selbstentwicklung. Eidenschink erklärt die Funktionen, die hinter narzisstischen Nöten stehen, und er zeigt auf, wann man durch eigenes Verhalten narzisstische Nöte bei anderen fördert oder aufrecht erhält. Das Buch sensibilisiert auch dafür, emotionale Signale in sich selbst ernst zu nehmen und sie richtig zu deuten. Wer es gelesen hat, wird narzisstische Nöte leichter erkennen und kann angemessen auf sie reagieren. Der Autor: Klaus Eidenschink, Organisationsberater, Coachingausbilder, Exekutive-Coach; Senior Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e. V. (DBVC); Gründer und Leiter von Hephaistos, Coaching-Zentrum München; in der Geschäftsleitung des Gestalttherapeutischen Zentrums Würmtal; Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie. Arbeitsschwerpunkte: Beratung und Coaching des Top-Managements von großen Konzernen und mittelständischen Unternehmen in Fragen der Konfliktbewältigung, Changemanagement und der Entwicklung von Vorstands- und Geschäftsführerteams; Coaching von Manager:innen in komplexen Entscheidungssituationen; Teamentwicklungen mit sogenannten "schwierigen" Teams; Klärung von Konflikten zwischen Gruppen und Abteilungen.

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»Küsse gab er, wie oft! vergebens der trügenden Quelle, tauchte die Arme, wie oft! den erschauten Hals zu umschlingen, mitten hinein in die Flut und kann sich in dieser nicht greifen, weiß nicht, was er da schaut, doch was er schaut, daran brennt er.«

Ovid über die Nöte von Narziss

Klaus Eidenschink

ES GIBT KEINE NARZISSTEN! NUR MENSCHEN IN NARZISSTISCHEN NÖTEN

EINE HANDREICHUNG FÜR ALLE UND JEDE(N)

Mit einem Vorwort von Bärbel Wardetzki

2024

Reihe »Fachbücher für jede:n«

Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Image(s) licensed by Ingram Image/adpic

Redaktion: Nicola Offermanns

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-0534-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8483-6 (ePUB)

© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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INHALT

ZUM GELEIT

ZUR EINSTIMMUNG: NARZISSMUS FÄLLT NICHT VOM HIMMEL

1 WIE ENTSTEHT NARZISSTISCHE NOT?

Die Not, die aus falschem Kontakt erwächst

Die Not, die aus falsch dosiertem Echo entsteht

Die Not, die sich aus fehlender Rhythmik entwickelt

Die Not, die sich selbst erhält und stabilisiert

2 WAS MUSS MAN TUN, UM KINDER MIT NARZISSTISCHEM LEID ZU VERSORGEN?

Man lebt mit einem Bild vom Kind

Man macht aus zwei eins

3 WAS MUSS MAN TUN, UM SEIN LEBEN IN NARZISSTISCHER NOT ZU GESTALTEN?

Man pflegt Grandiosität

Konzepte des Erfolgs

Konzepte des Misserfolgs

Konzepte des Scheiterns

Man orientiert sich an Idealen

Was ist ein Ideal?

Ideale für die Zeit: Für immer jung bleiben

Ideale fürs Miteinander: Nie abhängig werden

Ideale fürs Leben: Immer richtigliegen

Ideale fürs Grundsätzliche: Der spirituelle Quickie

Man fühlt sich gekränkt

4 WAS MUSS MAN TUN, UM AN DER NARZISSTISCHEN NOT ANDERER SELBST ZU LEIDEN?

Man sucht Anerkennung

Man will retten

Man hofft wider alle Hoffnung

Man ängstigt sich vor Aggressivität

Man bewundert

Man leidet beim Trittbrettfahren

5 WAS MUSS MAN TUN, UM IN PAARBEZIEHUNGEN NARZISSTISCH ZU LEIDEN?

Man pflegt Grandiosität

Man sucht Dominanz

Man lebt Beschämung

Man benutzt einander

6 WAS MUSS MAN TUN, UM NARZISSTISCHE NOT IN UNTERNEHMEN ZU KULTIVIEREN?

Man pflegt ein Freund-Feind-Schema

Man opfert die Realität dem Ideal

Man schont die Entscheider

Man fördert das Gewinnen und bestraft das Verlieren

7 WAS MUSS MAN TUN, UM EINE NARZISSTISCHE GESELLSCHAFTSKULTUR ZU BEFÖRDERN?

Man will starke Führer

Man sucht eine Horde

Man beutet sich selbst aus

Man findet Beschämungen gut

8 WAS MUSS MAN TUN, UM NARZISSTISCHE NOT IN IHRER GEFÄHRLICHKEIT ZU VERSTÄRKEN?

Drei Gründe für die Gefährlichkeit

Wie kann man die Gefährlichkeit erhöhen?

Man pflegt Selbstkritik

Man macht sich erpressbar

Man toleriert Einseitigkeit

Man nimmt schlechte Behandlung hin

Man bagatellisiert Lügen

9 WAS MUSS MAN TUN, UM NARZISSTISCHE NOT BEI SICH ZU LINDERN?

Man muss nichts mehr

Man stellt sich der Leere

Man stellt sich der Unsicherheit

Man stellt sich der Einsamkeit

Man lernt, sich zu umhegen

10 WIE KANN MAN NARZISSTISCHE NOT BEI ANDEREN ERKENNEN?

Fassaden

Leistungsideale

Ekel

Langeweile

Kontrollversuche

Kritikdrang

Inkompetenzgefühle

Anerkennung wollen

Beschämungen

Falsche Anerkennung

Ansprüchlichkeit

Retterohnmacht

Aggressivität

Schlussfolgerung: Resonanz ist der Schlüssel

11 WAS MUSS MAN TUN, UM NARZISSTISCHE NOT GUT BERATEN ZU KÖNNEN?

Die beliebtesten Fallen

»Tu, was ich will!«

»Sie sind der Beste!«

»Ich bin der beste Klient!«

»Du wirst der Beste!«

Die wichtigsten Kompetenzen

Kultivierte Unabhängigkeit

Kultiviertes Anderssein

Kultivierte liebevolle Aggression

Kultivierte aggressive Liebe

12 WAS KANN MAN GEGEN PSYCHOLOGISCHE ETIKETTEN TUN?

ZUM AUSKLANG: LIEBE, STOLZ UND NOT

DANKSAGUNG

LITERATUR

ÜBER DEN AUTOR

Zum Geleit

Narzissmus ist das Zauberwort unserer heutigen Zeit, mit dem wir alles Unangenehme, das uns durch andere Menschen widerfährt, scheinbar objektiv erklären können.

Doch statt Menschen die Diagnose »Narzisst« oder »Narzissmus« aufzudrücken, spricht Klaus Eidenschink von »Menschen in narzisstischen Nöten«. Das mag auf den ersten Blick für viele, die durch die destruktiven narzisstischen Manöver von Partnern, Eltern oder Chefs und Kollegen selbst in Not geraten, irritierend wirken. Diese Tatsache wird nicht geleugnet, zeigt sie doch umso mehr, wie viel seelisches Leid mit dem Phänomen Narzissmus auf beiden Seiten verbunden ist.

Klaus Eidenschink vermeidet eine Opfer-Täter-Polarisierung, bei der die narzisstischen Menschen die Bösen und die anderen die Guten sind. Das ist ein großes Verdienst dieses Buches, weil Narzissmus besonders in sozialen Netzwerken vielfach in diesem Sinne diskutiert wird, nach dem Motto: »Ich bin Opfer eines Narzissten bzw. einer Narzisstin.« Damit übertragt man zum einen alle Verantwortung diesem Menschen, zum anderen beinhaltet dies eine Verurteilung, hilft jedoch keinem von beiden weiter und ändert nichts am erlittenen Schmerz.

Was bedeuten nun narzisstische Nöte? »Die Not besteht darin, dass man wenig bis keine innere Orientierung hat. Man spürt nicht, was man will, sondern man spürt, was man denkt, dass man es spüren sollte«, beschreibt es Klaus Eidenschink. »Bei narzisstischer Not geht es also paradoxerweise nie um eigene Wünsche, sondern um Zielsetzungen, die die Gewähr bieten, dass man bedeutsam ist oder die Kontrolle hat.«

Aus narzisstischen Nöten entspringen destruktive Beziehungsmuster, da der Fokus nicht auf der Bindung zum anderen Menschen liegt, sondern darauf, einem Ideal zu entsprechen, um gut anzukommen und einer Vorstellung von sich selbst zu entsprechen. Das Ziel sind immerwährende Anerkennung und Applaus, ohne die die narzisstische Seele nicht leben kann.

Die Entfremdung von sich selbst und vom Gegenüber, die eine Folge der narzisstischen Entwicklung ist, beschreibt Klaus Eidenschink exemplarisch anhand eines Klienten, der aufgrund von psychogenen Herzbeschwerden in seine Praxis kommt: »Der Mann orientiert sich nicht daran, ob er das Gefühl hat, er sei bei mir gut aufgehoben, sondern an einem entfremdeten Kriterium, zu dem besten Coach zu kommen. Er sucht nicht die Verbindung zu mir, er erzählt nichts von sich persönlich, nichts von seinen Ängsten. Er selbst kommt in meinem Praxisraum im Grunde nicht vor.« Und das, obwohl er sehr fordernd und kontrollierend auftritt.

Narzissmus hat in diesem Sinne eine Schutzfunktion, indem der Mensch ein Bild von sich bedient, hinter dem der emotionale Teil verborgen bleibt. Gefühle und Bedürfnisse zu zeigen ist gefährlich, wenn man gelernt hat, dass sie unerwünscht sind. Die Anpassung an das, was von einem erwartet wird, wird zum Leitbild für die Erwartungen an sich selbst.

Klaus Eidenschink nennt es Fassadenkompetenz: die Fähigkeit, so zu werden, wie die frühen Bezugspersonen einen haben wollten. Auch sie handelten vermutlich aus narzisstischen Nöten heraus und suchten im Kind die Stabilisierung ihres eigenen Selbst.

Dennoch ist Narzissmus kein unabänderliches Schicksal, jeder hat die Möglichkeit, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen. Und gleichzeitig ist »keiner verpflichtet, Menschen attraktiv zu finden, die einem nicht guttun«.

Der Untertitel des Buches lautet: Eine Handreichung für alle und jede(n). Das bedeutet einerseits eine Empfehlung für den Umgang mit Menschen in narzisstischen Nöten. Auf der anderen Seite reicht Klaus Eidenschink den Lesern die Hand, seien sie selbst oder Angehörige in narzisstischen Nöten. Eine unterstützende Geste, frei von Entwertung und Verurteilung, die jede(r) Leser(in) für sich selbst entwickeln möge. Denn nur in einem wertschätzenden Klima, äußerlich wie innerlich, gelingen der Zugang zu sich selbst und die Überwindung narzisstischer Nöte.

Dieses Buch ist ein großer Gewinn für alle, die mit dem Thema Narzissmus in Berührung kommen, sei es im Rahmen von Psychotherapie und Coaching, im privaten Bereich oder auf der Arbeitsebene.

Dr. Bärbel WardetzkiMünchen, im Juli 2023

Zur Einstimmung: Narzissmus fällt nicht vom Himmel

»Alles, was wahr ist, ist schmerzlich.«

Byung-Chul Han

Lassen Sie mich das Buch mit einer kleinen, alten persischen Geschichte beginnen.

Nasredin, der Weise, ging eines Tages über den Acker und fand in den Furchen die Scherbe eines Spiegels. Verwundert hob er sie auf und schaute eine Zeitlang in das Bruchstück hinein. Schließlich warf er sie kopfschüttelnd in hohem Bogen mit der Bemerkung weg: »Kein Wunder, dass die Menschen so etwas Hässliches wegwerfen!«

Spiegel kann man wegwerfen. Was aber machen kleine Kinder, die verfälschend bzw. falsch von wichtigen anderen Menschen gespiegelt werden?

Das Thema des Buches – narzisstische Not – handelt von den Überlebensstrategien, wenn man – oft von Geburt an – mit Zerrspiegeln zurechtkommen muss. Niemand kann ohne soziale Resonanz, Bindung, Bestätigung und Förderung leben. Wir Menschen sind soziale Wesen und finden am Gegenüber unser Eigenes. Die Psyche ist allerdings nicht »fälschungssicher«. Durch einseitiges, falsches, manipulierendes oder auch fehlendes Spiegeln lassen sich Kinder verformen, verdrehen, verkrümmen und verzerren – ganz ohne Gewalt und in guter Absicht. Wer Eltern hatte, die das Beste für das Kind wollten, aber dabei das Kind aus den Augen verloren haben, wird sich ebenfalls an die »beste Version seiner selbst« verlieren.

Das Schlimme an narzisstischen Seelenmustern ist: Weder die Betroffenen noch das Umfeld merken, dass etwas schiefläuft. Menschen in narzisstischen Nöten spüren ihre eigene Not meist nicht direkt, sondern exportieren ihr Leid: Man leidet nicht, man lässt (andere) leiden.

Dabei könnte man es bewenden lassen und die Sache den Ärzten und Therapeuten1 überlassen. Doch die Sachlage ist sehr viel umfassender: Ohne es zu wollen oder zu merken, tragen wir fast alle in dieser Gesellschaft auf die eine oder andere Weise dazu bei, dass narzisstisches Leid entsteht. Menschen, die in diesem Muster gefangen sind, werden auf vielfältige Weise in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Partnerschaften, Medien und Arbeitsumgebungen in ihrer Not stabilisiert und bestätigt. Es wird alles Mögliche getan, nur nicht geholfen. Das hat Gründe, denen ich in diesem Buch aus psychologischer Perspektive nachgehen werde.

Ich möchte Sie dafür sensibilisieren, dass wir mehr oder weniger alle gefährdet sind, narzisstische Nöte bei uns oder anderen Menschen zu erzeugen und zu begünstigen. Weil viele unter narzisstischen Verhaltensweisen leiden, ist es besonders wichtig, Wissen zu erwerben, wie jeder selbst zum fremden wie zum eigenen Leid beiträgt. Am Ende des Buches werden Sie Wege kennen, günstig mit dem Phänomen »Narzissmus« umzugehen: bei sich selbst oder im Umgang mit anderen – egal, ob im privaten, im familiären, im beruflichen und in größeren sozialen Umfeldern.

Ein weiterer Anlass, das Buch zu schreiben, war, dass es aus meiner Sicht keine Narzissten gibt, nur Menschen in narzisstischen Nöten. Spricht man von Narzissmus oder Narzissten, dann vollzieht man leicht Etikettierungen, zumindest kann es so verstanden werden. Zudem ist die Bezeichnung inzwischen zum Mode- oder gar Schimpfwort geworden. Den psychologischen Begriff verwenden wir allgemein, um alle möglichen Verhaltensweisen von Menschen – wie Egozentrik, Selbstverliebtheit, zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein, Ansprüchlichkeit, Überheblichkeit oder ausbeuterisches Verhalten – zu markieren und meist negativ zu bewerten. Das ist fast komisch, in jedem Fall aber widersprüchlich, weil die gleichen Haltungen und Verhaltensweisen in einer wettbewerbs- und konkurrenzorientierten Gesellschaft schon in unseren Schulen antrainiert werden.

Es hat sich (auch in Teilen der Psychologie) eingebürgert, zwischen gesundem und pathologischem Narzissmus zu unterscheiden.2 Das ist aus meiner Sicht nicht nur verwirrend, sondern auch denkerisch sehr ungünstig. Denn: Wie merkt man, ob das eine oder das andere vorliegt? Sollten wir alle »ein wenig« narzisstisch sein?3 Wie »viel« Narzissmus wäre verträglich, ab wann wäre er ungesund? Ein solches Konzept führt meist dazu, dass alle die gesunde Variante für sich beanspruchen und die kranke den anderen zuschreiben.4 Das wirkt befremdlich und wenig überzeugend.

Günstiger für ein Verständnis und einen guten Umgang mit narzisstischen Phänomenen ist es, dass man die Funktionen in den Blick nimmt, die ein Verhalten oder ein Erleben für die betreffende Person hat. Dann kann man zwischen Selbstachtung und narzisstischem Muster unterscheiden und schließlich feststellen: Beide haben fast gar nichts miteinander zu tun. Das eine ist ein Bedürfnis, das andere weist auf eine Not hin.5

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Eine Person tut sich in einer Gruppe hervor und erzählt von ihrem Prädikatsexamen. Wenn dies nun ihrem Bedürfnis nach Einzigartigkeit dient, dann zeigt sie sich lebendig und frei mit ihrem Stolz und bekommt dafür Anerkennung. Steht das Erzählen für die Abwehr einer narzisstischen Not, dann ist sie innerlich unbewusst von Selbstzweifeln erfüllt, prahlt, um diese nicht wahrzunehmen, und möchte die andern neidisch machen, um so das Gefühl zu haben, sie habe etwas gut gemacht. Prinzipiell kann also ein Verhalten einem Bedürfnis ebenso nützlich sein wie der Vermeidung von unangenehmen Gefühlen. Beides ist möglich. Darum ist es so wichtig, nicht alles in einen Topf mit dem Namen »Narzissmus« zu werfen.

So versuche ich in diesem Buch, allgemeinverständlich und mit vielen Beispielen etwas Schiefes geradezurücken. Der Psychotherapeut Frank-M. Staemmler hat vor Jahren den Satz geprägt, dass Etiketten sich für Flaschen eignen und nicht für Menschen.6 Bei dieser Einsicht setzt das Buch an. Spricht man von Menschen in narzisstischen Nöten, ist damit nicht geleugnet, dass solche Nöte dazu führen können, dass wiederum andere Menschen in Not geraten. Narzisstisch leidende Menschen neigen dazu, andere auszubeuten, zu demütigen, zu beschämen oder zu missbrauchen. Wenn man solche Folgen beklagt, hilft es nicht, moralisierend den Vorwurf »Narzisst(in)!« ins Feld zu führen. Beschämung heilt man nicht durch Gegenbeschämung. Wer an der Verbesserung der Verhältnisse interessiert ist, muss die Nöte verstehen, die zu narzisstischen Verhaltensweisen führen.

Das ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Buches. Irgendwoher muss dieser »Narzissmus« ja kommen. Er regnet nicht vom Himmel in die Köpfe der Betroffenen. Es ist auch keine bewusste, willentliche Entscheidung, »narzisstisch« zu sein. Daher kann man »Narzissmus« auch nicht einfach abstellen oder abschaffen. Man muss stattdessen wissen, wie man ihn erkennt und erzeugt!

Bei dem, was ich dazu schreiben werde, gehe ich davon aus, dass fast alle Menschen in irgendeiner Weise – bewusst oder unbewusst – zum Phänomen »narzisstische Nöte« einen Beitrag leisten:

als Eltern, wie sie ihre Kinder erziehen

als Eltern, wie sie ihre Ansprüche an das betreuende Personal wie Kindergärtnerinnen und Lehrer richten

als Jugendliche, wie sie sich auf Instagram & Co. präsentieren und posen

als junge Erwachsene, wie sie erotische Konkurrenz leben

als Erwachsene, wie sie feste Partnerschaften gestalten

als Organisationsmitglieder, wie sie mit Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern umgehen und Arbeitsbedingungen gestalten

als Social-Media-Teilnehmer, wie sie ihre Likes verteilen und welchen Stil der Kommentierungen sie wählen

als Staatsbürger, wie sie über Politik und Politiker reden

als Politiker, wie sie sich in Szene setzen und einander behandeln oder

als narzisstisch Leidende(r) bei der Frage, ob man sich helfen lässt oder sich lieber dafür entscheidet, andere für sich leiden zu lassen.

Jede und jeder kann in allen diesen Rollen dazu beitragen, dass narzisstische Not zunimmt oder weniger wird. So ist dies ein Buch für alle und jede(n).

Dies hat zunächst nichts damit zu tun, ob man selbst narzisstisches Leid in sich trägt. Es hängt viel eher davon ab, ob man selbst sich bestimmter Atmosphären bewusst ist, ob man merkt, welchen Idealen man anhängt, welche Folgen es zeitigen kann, wenn man bestimmte Erwartungen an das Leben hat und an das, was es einem bieten soll.

Ich möchte Sie dazu ermutigen, sich liebevoll mit eigenen ungünstigen Idealen auseinanderzusetzen. Denn jede Verminderung von narzisstischem Leiden beginnt mit der Erkenntnis, dass man selbst anders sein möchte, als man ist.

Die Tragik von narzisstischer Not ist nämlich genau diese: Man meint, man selbst, die anderen und die Welt müssten in Summe so sein, wie man es sich wünscht. Narzisstische Not entsteht immer dann, wenn Menschen sich oder andere nicht sehen können, wie sie sind. Das geschieht dann, wenn man innerlich davon abhängig ist, bestimmten Vorstellungen zu entsprechen. Narzissmus ist kein Selbstwertmangel, sondern eine Bezeichnung für eine innere Leere und den Versuch, diese Leere durch ein Konzept von sich und dem Leben zu verwirklichen.7 Narzissmus zeigt sich insbesondere auch in der leiderzeugenden und grandiosen Idee, dass man sich und die Welt »designen« kann. Leben wird zum Produkt.

Individuelle Überlebensstrategien funktionieren nur, wenn sie sich hinreichend an ein bestehendes soziales Miteinander koppeln. Jede Zeit, jeder Ort, jedes Leben muss mit den jeweils eigenen Zumutungen zurechtkommen. Ob Armut und Pest im Mittelalter, ob Ausbeutung und Fließbandarbeit im 19. Jahrhundert, ob Gewalt und Krieg, Krankheit und Verlust, Überfluss und Zerstörung oder Klima und Dreck: Niemand kann sich aussuchen, womit er fertigwerden muss. Weil Frauen beispielsweise ihre Sexualität nicht mehr unterdrücken müssen, sind »hysterische Störungen« fast ausgestorben, die im bigotten Wien zur Zeit Freuds bei Frauen noch gang und gäbe waren.8 Ebenso sind bestimmte Formen der Depression, die mit Gehorsamsorientierung einhergehen, stark zurückgegangen. Den Typus »Untertan« wie im Roman von Heinrich Mann gibt es kaum noch.9

Dafür haben in unserer gegenwärtigen Welt die narzisstischen Formen von Leid Karriere gemacht. Sie sind seelische Reaktionen auf den Individualismuszwang, auf den Verlust von allgemein akzeptierten Lebenskonzepten und auf die Möglichkeit für fast alle, selbst die medialen Bühnen zu bespielen (TikTok, Instagram, Facebook u. a.). Der Druck, sich perfekt, makellos, schön und erfolgreich zu präsentieren, ist massiv. Das wirkt sich zwangsläufig auf die Kompetenzen aus, die nötig sind, um in dieser Welt zurechtzukommen, ohne sich ihren problematischen Zügen anzupassen.

Fehlt uns das Verständnis, wie individuelle und soziale Nöte einander bedingen, werden wir für die Gegenwart blind und sind der Zukunft ausgeliefert. Da die Möglichkeiten, sich zu präsentieren, zu modellieren und zu verbessern, in Zukunft immer zahlreicher werden – künstliche Intelligenz lässt grüßen! –, wird die Notwendigkeit noch wichtiger werden, narzisstische Muster bei sich und anderen zu erkennen.

Wenn narzisstische Not erzeugt wird, dann könnte man dies grundsätzlich auch bleiben lassen. Um wählen zu können, ob man solches Leid bei sich und anderen fördern oder lindern will, muss man wissen, ob und wie man sich an seiner Erzeugung bislang unbemerkt bzw. unbewusst beteiligt hat. Auf dieser Basis kann man überlegen, ob man das aufrechterhalten will. Dem Ziel, solches Wissen zu vermitteln und entsprechende Entscheidungen zu ermöglichen, dient dieses Buch.

1 Die deutsche Sprache stellt derzeit keine Formen zur Verfügung, in denen sich alle Identitäten – Männer, Frauen, Diverse – in gleichem Maß leicht wiederfinden können. Daher bitte ich alle Menschen, die den Text lesen, sich gemeint zu fühlen und sich in allen gewählten Bezeichnungen selbst zu erkennen.

2 So findet sich z. B. in dem Buch von Rainer Sachse und Kollegen eine drei Seiten lange Liste von »Merkmalen« für Narzissmus, die allesamt wissenschaftlich-empirisch belegt sind. Deren Verständnis ist durchweg »dimensional«. Das heißt, auf der einen Seite der Polarität ist der narzisstische »Stil«, auf der anderen findet man die narzisstische »Störung«. Wo und wie der »Übergang« vom einen zum anderen erfolgt, ist allerdings vollkommen ungeklärt (Sachse, Sachse u. Fasbender 2011, S. 15–18).

3 So z. B. Haller 2017, S. 69.

4 Siehe als Beispiel für viele Hagemeyer 2020.

5 Diese Not steht nur insoweit im Zusammenhang mit Selbstachtung, als dass sie dazu führt, dass Selbstachtung auf der Basis von narzisstischen Muster unerreichbar wird. Es bleibt nur der schale Ersatz der Selbstgefälligkeit und der Abwertung anderer Menschen. So gesehen ist es kein (!) Widerspruch, wenn man bei narzisstisch leidenden Menschen Selbstbewusstsein glaubt feststellen zu können (s. dazu Back 2023).

6 Vgl. Staemmler 1989; ähnlich prägnant und klar: André Green, Der Narzissmus ist ein Begriff, keine Realität (2018, S. 25).

7 In der Psychotherapie nennt man dies »narzisstische Persönlichkeitsstörung« (s. dazu ausführlich etwa Kernberg 2006; Kohut 1976; Lammers 2015; Sachse, Sachse u. Fasbender 2011).

8 Vgl. Glaser 1976.

9 Vgl. Mann 2021.

1

WIE ENTSTEHT NARZISSTISCHE NOT?

Ich erwarte einen Psychotherapieklienten zum Ersttermin. Rechtsanwalt. Laut Aussagen des Kardiologen, der ihn schickt, ist er erfolgreich, reich und unglücklich. Äußerer Grund sind wiederkehrende Herzbeschwerden, für die sich keine körperlichen Ursachen finden lassen. Er kommt zur Tür herein: »Hallo! Ich hoffe, Sie haben hier Kaffee.« – »Guten Morgen, Herr Müller. Kommen Sie doch erst mal rein und legen Sie ab! Wollen Sie schon mal vorgehen und Platz nehmen? Dann bringe ich Ihnen den Kaffee mit.« – »Ja, aber nur mit laktosefreier Milch!« – »Oh, das tut mir leid, das kann ich Ihnen leider nicht anbieten.« – »Das geht ja schon mal gut los hier. Dann halt schwarz.« – – – »Was führt Sie zu mir?« – »Mein Arzt sagte, Sie seien der Beste. Ich geh nur zu den Besten. Außerdem bin ich ein schwieriger Fall. Selbst der Professor ist mit seinem Latein am Ende. Aber mir muss schnell geholfen werden. Meine Mandanten erwarten meinen vollen Einsatz. Da muss ich fit sein.«

In mir macht sich Antipathie breit und der Wunsch, ihn schnell loszuwerden. Keine zwei Minuten hat er gebraucht, um ein solches Gefühl bei mir zu hervorzurufen10 – erstaunlich schnell und gekonnt.

Wie schafft jemand so etwas? Er verhält sich egozentrisch, ansprüchlich, arrogant, ausbeuterisch, eigenbrötlerisch und selbstsüchtig. Will er das? Merkt er es? Kann er die Wirkung erfassen? Wie lässt es sich erklären, dass ein Mensch so auftritt und wirkt?

Aus psychologischer Sicht lässt es sich so verstehen: Er wurde so, weil er in seinem bisherigen Leben keinen anderen Weg gefunden hat, ein irgendwann mal erlebtes Leid anders als auf diese Weise zu verarbeiten. Das Muster seiner Notbewältigung aus frühen Tagen – ich muss mich so organisieren, dass ich niemanden brauche – ist hyperstabil. Er benimmt sich immer noch so, wie er als Kind gelernt hat, seelisch zu überleben, obwohl er schon längst nicht mehr in der Ursprungsfamilie lebt, in der er großgeworden ist. Seine Vergangenheit ist nicht vergangen, sondern permanente Gegenwart. Die Software seiner Kindheit bestimmt das Leben als Erwachsener.

Wir Menschen sind seelische Überlebenskünstler. Das müssen wir auch sein, weil viele von uns unter ungünstigen Bedingungen großwerden, manchmal, ohne es zu merken. Wer in ungünstigen Umständen überlebt, bildet allerdings nicht unbedingt die Fähigkeiten aus, die es zu einem guten Leben braucht.

Überleben garantiert die Kunst im Umgang mit Unglück, aber nicht die Offenheit für Glück.

In diesem Buch geht es um die Form von seelischem Überleben, die man als Narzissmus bezeichnet. Deshalb wird es hilfreich sein, wenn ich Ihnen zunächst beschreibe, um welche Not es denn geht. Was erleben Kinder und bearbeiten es in der Folge so, dass dabei narzisstische Erlebens- und Verhaltensweisen herauskommen?

Der erste und besonders bittere Punkt ist, dass die Bedingungen, unter denen narzisstisches Leid gedeiht, so unscheinbar sind. Narzissmusfördernde Bedingungen sind deshalb in besonderem Maße schrecklich, weil sie dem ungeschulten Auge nicht als schrecklich auffallen. Wer seinem Kind eine Form von Beziehung zumutet, die es in narzisstische Nöte bringt, merkt das in der Regel nicht. Auch das Umfeld merkt es oft nicht. Ebenso wenig nehmen es die betroffenen Kinder unmittelbar als schlimm wahr. Das wäre anders, wenn die Kinder geschlagen würden oder andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung zu sehen wären. Dann käme das Jugendamt. Aber nicht bei narzisstischer Erziehung! Das erzeugte Leid ist mit dem von körperlichen Gewalterfahrungen allerdings durchaus vergleichbar. Die blauen Flecke der Seele aufgrund von narzisstischem Missbrauch bleiben zunächst jedoch unsichtbar.

Studiert man die psychologische Fachliteratur, um zu erfahren, wie sich »Narzissmus« zeigt, werden interessanterweise meist die problematischen Auswirkungen in Bezug auf die Umwelt beschrieben, z. B. Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung.11 Das ist als Beschreibung äußerlicher Verhaltensweisen wichtig und korrekt. Damit wissen wir allerdings noch nichts über die innere Not solcher Menschen.

Meine erste vorläufige Antwort lautet: Die Not besteht darin, dass man wenig bis keine innere Orientierung hat.12 Man spürt nicht, was man will, sondern man spürt, was man denkt, dass man es spüren sollte. Wenn sich Wünsche und Bedürfnisse nicht aus dem Erleben speisen, sondern man sie sich ausdenken kann, dann wählt man sich nicht das, was zum Moment und zu einem selbst sowie dem Umfeld passt, sondern sucht sich etwas wie aus einem Einkaufsregal aus. So will man dann immer nur das Beste, wie der Anwalt im obigen Beispiel! Oder man möchte die Schönste, der Beliebteste, der Wichtigste oder die Mächtigste sein. Hat man sich eine derartige Ersatzorientierung erst einmal ausgedacht, weiß man anschließend, was man tun muss: Man muss dann andere beeindrucken, kontrollieren, umgarnen, quälen, umsorgen, instrumentalisieren, ausbeuten, austricksen, ausstechen, abhängig machen, erobern oder verführen. Bei narzisstischer Not geht es also paradoxerweise nie um eigene Wünsche, sondern um Zielsetzungen, die die Gewähr bieten, dass man bedeutsam ist oder die Kontrolle hat! Es geht demnach überhaupt nicht um eigene Bedürfnisbefriedigung und Verbundenheit mit anderen!13 Das Ziel von narzisstischen Seelenmustern ist Stabilisierung, um die Not zu begrenzen – was keiner merken darf, nicht einmal der Betroffene. Es kann gar nicht um einen selbst gehen, weil es eben dieses »Selbst« gar nicht gibt oder es sich so verletzlich anfühlt, dass es um jeden Preis »geschützt«14 werden muss. So gilt es, einen weiteren Punkt der Beschreibung festzuhalten: Der Kern narzisstischer Not besteht in innerer Leere, die die Folge eines elementaren Mangels an (Fremd- und) Selbstwahrnehmung ist.15

Machen wir uns an dem obigen Beispiel klar, worin das innere »Nichts« besteht: Der Mann orientiert sich nicht daran, ob er das Gefühl hat, er sei bei mir gut aufgehoben, sondern an einem entfremdeten Kriterium wie »der Beste«. Er sucht nicht die Verbindung zu mir, sondern zum Kaffee. Er erzählt nichts von sich persönlich, sondern macht sich zum »schwierigen Fall«. Er erzählt nichts von seinen Ängsten, wenn er nicht mehr leistungsfähig ist, sondern definiert sich als unersetzlich für seine Mandanten. Er selbst kommt in meinem Praxisraum im Grunde nicht vor. Nichts zeigt sich, das bei mir einen Kontaktwunsch auslösen könnte. Er ist mit mir zusammen und dabei vollkommen allein.

Aufgrund welcher Erlebnisse entwickelt sich in Menschen ein solcher Mangel an Selbstwahrnehmung? Wie kann es zu einem solchen Defizit kommen? Viele Psychologen unterschiedlicher Richtungen sind sich darüber inzwischen relativ einig.16 Wir Menschen sind Resonanzwesen. »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Martin Buber). Wenn dieses »Mit-anderen-in-Resonanz-Kommen« scheitert oder massiv gestört ist, dann besteht es eine Art, damit zurechtzukommen, darin, dass man ein narzisstisches Erlebensmuster ausbildet.

Die folgenden Abschnitte beschreiben nun die Kontexte, in denen narzisstische Not gedeiht. Es geht um fehlenden situativen Bezug von Resonanz (s. Kap. 1, S. 20), um unpassende emotionale Intensität (s. Kap. 1, S. 23) und Rhythmisierung (s. Kap. 1, S. 25) sowie um das Drama, wenn Kinder sich selbst zum Freund werden müssen, weil draußen in der Welt nur verfälschende Spiegelungen zu finden sind (s. Kap. 1, S. 27).

Die Not, die aus falschem Kontakt erwächst

Ein Bankvorstand, zwei Meter groß, imposante Erscheinung. Er verströmt die Erwartung, dass er Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seine Ausstrahlung füllt den Raum mit seiner Dominanz. Laute, tiefe Stimme.

Im Laufe von einem halben Jahr Coaching wurde ihm seine Einsamkeit bewusst, die hinter den depressiven Episoden der letzten Jahre steckt. »Ich bin doch von Menschen umgeben, wie kann ich da einsam sein?«, fragt er fast verzweifelt. Bei einem Familienfest spricht er lange mit seiner 90-jährigen Tante über die Zeit seiner Geburt und woran sie sich so erinnert. Sie ist ganz betrübt. Zögerlich erzählt sie ihm, dass seine Mutter sich immer einen wilden, lauten, bestimmenden Jungen gewünscht hatte, bereits während der Schwangerschaft. Er sei aber schon auf dem Wickeltisch durch seine ruhige, stille, in sich gekehrte Art aufgefallen. Die Mutter wollte ihn so (!) nicht und behandelte ihn stattdessen, wie es ihrem Bild (!) von einem Sohn entsprach. Er bekam keine Resonanz auf sich, sondern auf das, was die Mutter in ihm sah. Der Tante tat das in der Seele weh, und es führte zum vorübergehenden Bruch mit der Schwester.

»Unverstanden und verloren unter anderen war ich offensichtlich von Beginn meines Lebens an!«, so sein tränenreiches Fazit. Er war nie gesehen und gemeint. So wurde er, was er für die Mutter sein sollte: mächtig, laut, bestimmend, beeindruckend. Das Schmuckstück einer exaltierten Frau. Aber nicht er selbst.

Kontakt bekommt man mit anderen Menschen dann, wenn man sein Innenleben wahrnimmt und ausdrückt, dabei auf die Reaktionen der anderen achtet und schließlich wiederum selbst auf das, was andere an Resonanz zeigen, reagiert. So kann man beschreiben, was es heißt, wenn Menschen aufeinander bezogen sind.

Wenn nun primäre Bezugspersonen nicht auf das Kind reagieren, sondern auf ihre Vorstellungen, wie das Kind oder die Beziehung zu sein hat, dann entsteht kein Kontakt, sondern Manipulation. »Werde, der/die du für mich sein sollst!« ist in der Folge das leitende Prinzip. Warum ist so ein Beziehungsmuster so destruktiv?