Es ist noch nicht vorbei - Amy Jordan - E-Book

Es ist noch nicht vorbei E-Book

Amy Jordan

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Beschreibung

Rasant, unvorhersehbar, packend Der schlimmste Fall ihrer Karriere verfolgt sie seit dreißig Jahren. Und nun beginnt er von vorn. Dreißig Jahre ist es her, dass Ermittlerin Julia Harte den schlimmsten Fall ihrer Karriere gelöst hat. Noch heute verfolgen sie in der Dunkelheit die Erinnerungen an die getöteten jungen Frauen – und die Schuldgefühle. Als der Täter im Gefängnis verstirbt, hofft Julia, endlich mit diesem Kapitel abschließen zu können. Doch dann verschwinden erneut junge Frauen auf exakt dieselbe Weise wie damals. Julia kehrt aus dem Ruhestand zurück, um die Ermittlungen zu unterstützen. Denn wenn der Mörder nicht derselbe sein kann, gibt es nur eine andere Verbindung zwischen damals und heute: Julia. Doch sie muss sich beeilen, denn der Täter hat sein nächstes Opfer bereits ausgewählt … »Ein absolutes Lese-Muss. Bitte mehr davon!« Irish Independent »Immer wenn ich dachte, auf der richtigen Spur zu sein, kam eine Wendung, die alles änderte …«New York Times »Jede Menge Twists und ein explosives Finale – Wenn Sie diesen Monat nur ein Buch lesen, nehmen Sie dieses.« Irish Examiner

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Amy Jordan 2025

Titel der englischen Originalausgabe: »The Dark Hours«,

HQ, an imprint of HarperCollins Publishers Ltd, London 2025

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Isabelle Toppe

Covergestaltung: zero-media.net, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Calum

1

2024

Julia Harte hat den perfekten Ort gefunden, um zu verschwinden: Cuan Beag, ein abgeschiedenes Dorf an der Ostküste Irlands. Weniger als tausend Einwohner, ein beliebtes Tagesausflugsziel für Touristen und ein malerisches Fleckchen, um ein Leben auszuradieren.

Von ihrem Wohnzimmerfenster aus verfolgt sie unruhig, wie die Nacht die letzten Strahlen der Abendsonne zurückdrängt und den Tag verschlingt, bis sich sogar die Schatten auflösen. Im Deckmantel der Nacht ist die Straße hinter ihrer kurzen Einfahrt ein Tor voller Möglichkeiten, trotzdem fahren nur Einheimische so weit aus dem Dorf heraus, und sie kennt das Geräusch der Motoren und die Tagesabläufe der Fahrer. Dieser Winkel der Erde ist so friedlich, dass er manchmal unbewohnt wirkt. Deshalb hat sie ihn auch für ihr Verschwinden ausgewählt. Doch Julia weiß, dass in den dunklen Stunden der Nacht alles möglich ist.

Sie schließt die Jalousie und zieht die Vorhänge zu, dreht der Welt da draußen den Rücken zu, sperrt einen weiteren Tag aus. Rasch geht sie durch das Cottage, ihrem abendlichen Ritual folgend, überprüft, ob die Fenster geschlossen und verriegelt sind und die Alarmanlage eingeschaltet ist. Die Haustür hat sie doppelt verschlossen, nachdem sie wieder zu Hause war, drückt aber im Vorbeigehen noch einmal prüfend die Klinke. Eine Taschenlampe steht auf dem Tisch in der Diele, sie schaltet sie ein und wieder aus, dann streicht sie mit den Fingern über den kalten Stahl eines alten Golfschlägers, der an der Wand lehnt. Ein Golfschläger und eine Taschenlampe – mehr ist nicht nötig, um die Dunkelheit abzuhalten.

Alles ist, wie es sein sollte. Für eine weitere Nacht ist sie sicher in ihrer Festung, in einem Winkel der Welt, in dem ihr altes Leben nicht existiert.

In der Küche fällt ihr Blick auf die Glückwunschkarte auf dem Fensterbrett. Letzte Woche ist sie sechzig geworden, ein Meilenstein. Sie hat ihren Geburtstag allein verbracht. Die Karte ist von einer alten Freundin, eine der wenigen, die wissen, wo sie sich aufhält. Plötzlich fühlt sie sich einsam. Manchmal kriecht die Stille von Cuan Beag in ihre Seele, ein kalter Würgegriff, der ihr den Atem raubt, und sie fragt sich, ob ihre Entscheidung richtig war. Sie schüttelt den Gedanken ab. So ist es doch, wenn man sein altes Leben hinter sich lässt, oder? In solchen Momenten stellt sie sich vor, wie Philip die Augen verdreht; sie war nie unschlüssig. Ihre starrköpfige Überzeugung, recht zu haben, war etwas, was er am Anfang ihrer Beziehung geliebt hat. Sie braucht die Einsamkeit dieser Existenz, sie ist ihre Buße.

Mutt wartet als winziges weißes Fellknäuel geduldig im kleinen Wohnzimmer in einem Sessel am Kamin. Als sie hereinkommt, spitzt er die Ohren. Sie lächelt, er ist der unfähigste Wachhund, den sie je gesehen hat. Und mittlerweile ihre einzige Gesellschaft.

»Wir können ins Bett gehen.« Sie streichelt seinen Kopf auf dem Weg zur Anrichte, wo sie sich einen Brandy in dasselbe Kristallglas einschenkt, das sie schon seit Jahrzehnten benutzt. Eines der wenigen Überbleibsel ihres früheren Lebens, ein Hochzeitsgeschenk, der Zwilling schon lange in die Brüche gegangen. Sie prostet ihrem Hochzeitsfoto an der Wand zu und neigt den Kopf.

»Gute Nacht, Phil.«

Mutt erhebt sich langsam und dreht sich im Kreis, um ihr Platz im Sessel zu machen. Man merkt ihm sein Alter an, und sie streichelt ihn liebevoll. Sie trinkt den ersten Schluck Brandy – scharf brennt er in ihrer Kehle, doch sie weiß, dass der zweite Schluck milder sein wird – und schaltet die Abendnachrichten ein.

Mit monotoner Baritonstimme liest der Sprecher Nachrichten zum Weißen Haus in Amerika vor, zum Aktienmarkt, zu einer geplanten Protestkundgebung gegen den Klimawandel in Dublin. Keine Neuigkeiten zu dem jungen Mann, der seit über einer Woche in Cork vermisst wird. Das macht sie betroffen, doch die Frau, die früher alles stehen und liegen gelassen hätte, um den Vermissten zu finden, gibt es nicht mehr. Jetzt sitzt sie mit ihrem Hund auf dem Schoß und einem Brandy in der Hand vor dem Fernseher und ist froh, dem allen entkommen zu sein.

Allmählich fallen ihr die Augen zu, doch dann schreckt sie wieder auf. Der Nachrichtensprecher liest weiter wie zuvor, aber ihr Herzschlag beschleunigt sich brennend, ihr Puls dröhnt laut in den Ohren. Der Fernsehbildschirm verschwimmt, sie blinzelt, vergräbt eine Hand in Mutts Fell, während die andere das Glas umklammert.

»Eine Sprecherin der psychiatrischen Klinik hat bestätigt, dass Mr Cox am heutigen Tag plötzlich verstorben ist. Seine Verurteilung wegen diverser Morde 1994 und die Haft in Cork …«

Sie atmet schwer, Angst schnürt ihr die Kehle zu, sie hofft zutiefst, dass sie keine Fotos oder Videos von ihm zeigen. Sie weiß, sollte sie James Cox noch einmal sehen, und sei es nur auf einem Foto, wäre das ihr Untergang. Schlimmer noch, vielleicht wäre auch sie auf dem Bild. Julia hat den Kanal eigentlich nicht wechseln wollen, doch sie greift zur Fernbedienung und schaltet um. Ein Fußballspiel. Das Atmen fällt ihr wieder leichter.

Er ist tot.

Mutt bewegt sich, und sie spürt, wie er sie ansieht. Seine Nase zuckt unruhig, er kennt ihre Stimmungen. Sie zieht ihn an sich und küsst ihn sanft auf die Schnauze.

»Schon gut, mein Kleiner. Heute Nacht schlafen wir besser. Das Monster ist tot.«

Doch wie meistens schläft sie auch in dieser Nacht kaum. Der Hund liegt eingerollt und schnaufend zu ihren Füßen, während sie an dem kleinen Schreibtisch im zweiten Schlafzimmer am Computer sitzt und das blau-weiße Leuchten des Bildschirms den Raum erhellt. Die Nachtkälte spürt sie nicht. Sie tippt auf der Tastatur, findet neue Artikel, überfliegt sie, sucht weiter. Fast dreißig Jahre sind seit seiner Festnahme vergangen, und im Lauf der Nacht durchlebt sie den Tag noch einmal, als wäre es gestern gewesen. Als die Dunkelheit weicht und in die Morgendämmerung übergeht, liest sie und sucht weiter, liest und sucht erneut.

Er ist tot.

Alle großen Nachrichtensender haben es bestätigt. Todesursache ist vermutlich ein Herzinfarkt, weitere Informationen folgen. Ein einziges Mal gestattet sie sich, den Blick auf seinem Gesicht ruhen zu lassen. In gewisser Weise war er attraktiv. Kantiger Kiefer, hohe Stirn, kleine, helle Augen. Er hatte die beste psychiatrische Behandlung genossen, die der Staat zur Verfügung hatte, trotzdem war er nie freigelassen worden. Für diese Gnade war sie in den letzten Jahrzehnten jeden Tag dankbar gewesen.

Ihr ist schwindelig. Sie widersteht dem Impuls, alte Artikel mit den grausamen Einzelheiten zu James Cox durchzusehen; die Worte und Bilder auf dem Bildschirm sind unnötig, um sich an die Namen seiner Opfer zu erinnern, ihre Gesichter, die Trauer ihrer Familien. Werden diese Familien jetzt Frieden finden, nachdem er tot ist?

Werden sie das?

Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Entspannen ist. Die Medien werden die Vergangenheit wieder ans Licht zerren und das Land zwingen, seine Verbrechen in allen grausamen Einzelheiten noch einmal zu durchleben. Der Aufruhr wird vielleicht kleiner sein als vor dreißig Jahren, die Schlagzeilen jedoch eine Weile beherrschen. Wird man sie in den Berichten erwähnen? Fotos von ihr zeigen? Ihr fällt kein Argument dagegen ein. Sie und Cox sind für immer miteinander verbunden, selbst im Tod.

Dieses Kapitel meines Lebens ist vorbei, denkt sie und klappt den Laptop mit einem sanften Klicken zu, den Blick auf Mutt gerichtet, der friedlich schläft und warm und tröstlich an ihren Knöcheln liegt. Sie muss sich nur für eine Weile bedeckt halten, bis die Medien genug darüber berichtet haben und die Aufregung sich gelegt hat.

Vielleicht kann sie dann James Cox’ Geist zu Grabe tragen.

Vielleicht kann sie jetzt aufhören, Angst vor der Dunkelheit zu haben.

2

1994

»Was meinst du?«

Garda Adrian Clancy parkte den Streifenwagen am Gehsteig, beugte sich vor und spähte ins Halbdunkel.

»Mach den Motor aus«, sagte Julia leise.

»Okay, Boss.« Er drehte den Zündschlüssel, und beide kurbelten ihre Fenster ein paar Zentimeter hinunter. Schweigend beobachteten sie die Straße, die einsam und verlassen dalag.

»Nichts regt sich«, murmelte Adrian, und Julia nickte, während sie sich umsah. Nach einem drückend heißen Tag war die Nacht kühl. Sie war froh über die frische Luft, fröstelte aber trotzdem ein wenig.

Die Wohnsiedlung in Douglas bestand aus zwei Reihen sorgfältig angelegter Doppelhaushälften und sah wie das Abbild einer Vorortidylle aus. Autos standen in den Einfahrten, die Grasflächen waren gepflegt, niedrige Hecken bildeten die einzig sichtbare Abgrenzung zwischen den Grundstücken. Ein Skateboard lag dicht bei ihnen auf dem Rasen, das grüne Logo leuchtete im Schein der Straßenlaterne. Gut, ein Stromkasten in der Nähe war mit Graffiti verschmiert, doch ansonsten sah alles völlig normal aus.

Trotzdem waren sie in höchster Alarmbereitschaft. Zwei Teenagermädchen waren vor einer Woche als vermisst gemeldet worden. Ausgedehnte Suchaktionen waren erfolglos geblieben, und in den Frust der ermittelnden Beamten mischte sich Angst. Menschen verschwanden, und nicht alle wurden gefunden, das wussten sie. Doch in diesem Fall weigerte sich Chief Superintendent Des Riordan, diese Wahrheit zu akzeptieren. Deshalb waren Julia und ihr Partner auch hier; ein Anwohner hatte einen Vorfall gemeldet, der mit dem Verschwinden der beiden Mädchen in Zusammenhang stehen könnte.

Oder vielleicht war auch alles einfach nur Zeitverschwendung.

»Wie heißt der Typ noch mal?«, fragte sie, und Adrian holte einen Notizblock aus dem Handschuhfach. Beim Überfliegen der Seiten unterdrückte er ein Gähnen.

»O’Mahoney, Tony. Sagt, seit Stunden weint ein Mädchen in Haus Nummer 36. Der Chief ist nervös, deshalb sollen wir uns das mal anschauen. Das Problem mit diesem O’Mahoney ist, dass er sich im letzten Monat einige Male beschwert hat, jemand hätte im Morgengrauen an sein Wohnzimmerfenster geklopft. Wie sich schließlich herausstellte, waren es zwei Nebelkrähen, nun ja …« Er verstummte und beobachtete weiter gähnend die Straße.

Julia kurbelte ihr Fenster weiter herunter. »Ich schätze, Molloy und Connolly wollen ein Update, falls wir irgendetwas finden, was mit den Mädchen in Zusammenhang steht.«

Sie verzog den Mund bei den Namen der beiden. Einer war ganz bestimmt jünger als sie, und sie hasste es, dass er befördert worden war, während sie immer noch Streife fuhr.

»Wir sollen Connolly Bescheid geben, wie es hier gelaufen ist. Sie sind in der Stadt, offenbar hat jemand die Mädchen in einem Hostel gesichtet, und wir Lakaien dürfen die Routinearbeit machen, wie üblich.«

Das Revier fühlte sich wie ein Dampfkochtopf an, und der Chief Superintendent stand unter zunehmender Beobachtung. Julia interessierte sich für den Fall, doch als gewöhnliche Garda durfte sie nur Nachbarn befragen und einen Fußballplatz hinter der Schule der Mädchen absuchen. Jeden Tag ging sie auf dem Weg zur Kantine sehnsüchtig am Besprechungsraum vorbei und erhaschte einen Blick auf die Fotos der Mädchen an der Pinnwand. Julia wusste alles über sie – Louise Hynes und Jeannette Coyle waren beste Freundinnen, sechzehn Jahre alt, beide aus liebevollen Familien, die sich verzweifelt nach ihrer Rückkehr sehnten. Wie gern würde sie die Fallakte lesen, mehr in alles involviert sein, doch die Detective Inspectors, vor allem Jim Connolly, schienen sie mit Vergnügen auszuschließen.

Adrian gähnte wieder, laut und ungeniert. »Uff … tut mir leid.«

»Schläft Audrey immer noch nicht?«, fragte Julia mitfühlend.

Er rieb sich das Gesicht, die Bartstoppeln kratzten gegen seine Handflächen. »Dieses Kind gibt uns den Rest. Mary sagt, das müssen Koliken sein. Wir haben wirklich gar keine Pause.«

Julia lächelte schwach. Zu Babys und ihren Schlafgewohnheiten konnte sie ihrem Partner nichts raten. Sie räusperte sich.

»Okay. Also, Tony O’Mahoney und seine nervigen Anrufe. Wie gesagt, was meinst du?«

»Das Verhalten ist für Krähen nicht ungewöhnlich, vermutlich haben sie ihr Spiegelbild angepickt. Ich habe ihm gesagt, er soll die verdammten Vorhänge zuziehen oder ein paar CDs auf eine Schnur fädeln, um die Vögel zu verwirren, und siehe da …«

Julia unterdrückte ein genervtes Stöhnen. »Nicht die Vögel, Adrian, sondern das Weinen aus dem Nachbarhaus. Wissen wir, wem die Immobilie gehört?«

»Oh, stimmt ja.« Er klang verlegen. »O’Mahoney hat gesagt, im Moment sei das Haus nicht vermietet, die Besitzer leben in Dublin. Er hat geklopft, aber niemand hat geantwortet. Außerdem hat er gesagt, wir sollen ihn und seine Frau nicht länger belästigen, sondern die Arbeit machen, für die uns die Steuerzahler bezahlen, und dafür sorgen, dass der Lärm aufhört.«

»Netter Mann.« Sie grinste Adrian an.

Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Armaturenbrett und seufzte. Beide freuten sich nicht auf die Aussicht, ihre Zeit vielleicht wieder mit einer falschen Spur zu verschwenden. Julia sah wieder zu dem Haus. »Verdammt, das hier ist gruselig. Bringen wir es hinter uns.«

Sie wollte gerade nach ihrer Jacke greifen, als Adrian plötzlich »Ach du Scheiße« flüsterte. Sie drehte den Kopf Richtung Haus, ihr Puls beschleunigte sich. Ein weißer Blitz schien auf den Wagen zuzuschießen, dann erkannte sie eine junge Frau, ein Mädchen in einem weißen Unterhemd und Unterhose, das barfuß zu ihnen rannte. Ihre langen braunen Haare wehten um ihr Gesicht. Sie war unsicher auf den Beinen, ruderte mit den Armen, um voranzukommen.

Weg von Nummer 36.

Julia stieß die Wagentür so heftig auf, dass sie beim Aussteigen gegen ihre Beine zurückprallte. Schon war sie bei dem Mädchen, Adrian an ihrer Seite, und zusammen hielten sie es fest, als es in ihre Arme sackte. Ihre Haut fühlte sich nass und glitschig an, und im gedämpften Licht der nahen Straßenlaterne erkannte Julia, dass es Blut war. Die Arme und Beine des Mädchens waren mit Blut bedeckt.

Adrian hielt das Mädchen um die Taille, damit es nicht zusammenbrach. »Ich habe dich, Kleines, keine Angst.«

Vor Panik klang seine Stimme erstickt, und als sie einen Blick tauschten, sah Julia bei ihm dieselbe Angst, die sie empfand.

»Krankenwagen«, sagte Adrian und nickte Julia zu. Dann wandte er sich wieder an das Mädchen. »Kannst du allein stehen?«

Ihre Knie knickten wieder ein. Julia musterte sie von oben bis unten, suchte nach Verletzungen. So viel Blut und keine offensichtlichen Wunden. Als wäre das Blut nicht ihres … Dann blickte sie dem Mädchen ins Gesicht und schnappte nach Luft.

Sie war eine der beiden verschwundenen Teenager.

»Louise? Du bist Louise, richtig? Wir sind hier, um dir zu helfen.«

Das Mädchen verdrehte die Augen und sank gegen Adrians Brust. Julia packte ihren Arm. »Sind noch andere im Haus?«, fragte sie und beugte sich dichter heran. »Ist noch jemand im Haus? Jeanette?« Sie wollte Louise sagen, dass sie in Sicherheit war, dass alle Qualen überstanden waren, doch sie brachte die Worte nicht heraus. Das Mädchen nickte und schnappte kraftlos nach Luft.

Adrian nahm Louise mit etwas Mühe auf die Arme und drehte sich zum Auto. »Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen, wir können nicht warten. Holst du das Funkgerät und … Wohin willst du?«

»Sie hat genickt! Sie hat gerade genickt! Da ist noch jemand im Haus«, sagte Julia hektisch und wich zurück. »Vielleicht Jeanette Coyle, Adrian! Das ganze Blut … Ich muss zu ihr!«

Seine Augen waren groß vor Angst, er schwankte unter dem Gewicht des Mädchens auf seinen Armen. »Himmel, Jules, nicht!«, rief er entsetzt. »Auf gar keinen Fall!«

»Bleib bei ihr.« Louise Hynes war jetzt bewusstlos, ihr Kopf rollte hin und her, die langen Haare schwangen in der Luft. »Ruf Hilfe! Aber ich muss hineingehen, Adrian. Wenn Jeanette da drin ist oder irgendwer anders, könnte sie oder er gerade verbluten.«

»Bist du verrückt? Wir müssen auf Verstärkung warten! Jules!«

Sie wusste, dass es waghalsig war, allein in das Haus Nummer 36 zu gehen, aber das Adrenalin pulsierte in ihr, und sie hatte keine andere Wahl. Adrian rief immer noch etwas, doch seine Stimme war gedämpft, schien von weit her zu kommen. Sie überquerte die Straße und eilte gebückt die Einfahrt hinauf, wobei sie sich aufmerksam umsah. Die Haustür stand immer noch offen. Julia schob sie weiter auf, während sie mit der anderen Hand an ihren Rücken griff, jedoch nichts spürte. Der Schlagstock lag mit ihrer Jacke auf dem Rücksitz. Sie schloss die Augen und fluchte. Doch sie konnte nicht umkehren, denn jetzt hörte sie es. Weinen, laute, gequälte Schreie. Jemand im Haus flehte verzweifelt um Hilfe.

Sie biss die Zähne zusammen und ging hinein.

3

1994

Eine nackte Glühbirne erhellte den kurzen, magnolienfarbenen Flur vor ihr. Julias Schuhe quietschten auf dem Teppichläufer aus Plastik. Alte Zeitungen und Kartons stapelten sich an den Wänden. Sie lauschte, versuchte zu erkennen, aus welcher Richtung das Weinen kam. Erdgeschoss, ganz sicher. Doch irgendwie schien es von überallher zu kommen, als weinte eine Frau in den Wänden. Verzweifeltes Schluchzen und Flehen durchdrang das ganze Haus.

Julia stützte sich mit einer Hand an der Wand ab – der Impuls, diesem Menschen in Not zu helfen, war so stark, dass ihr schwindelte. Sie überlegte, laut zu rufen, verwarf die Idee allerdings wieder. Der Täter konnte noch im Haus sein, und ohne ihren Schlagstock hatte Julia nur das Überraschungsmoment und ein paar Selbstverteidigungsmanöver zur Verfügung, die man ihr bei der Ausbildung gezeigt hatte. Jeanette Coyle musste hier im Haus sein – nur wo?

Sie würde alles durchsuchen müssen.

Julia öffnete die nächstbeste Tür und schaltete das Licht ein. Bis auf ein vollgestopftes Bücherregal war es leer. Abdrücke in dem fadenscheinigen roten Teppich zeigten, wo einmal ein Stuhl gestanden hatte.

Das nächste Zimmer war ein Spiegel des ersten – der gleiche rote Teppich, das einzige Möbelstück ein deckenhohes Regal voller Kerzenständer, gerahmter Fotos und Papierstapel. Julia legte eine Hand auf den Heizkörper an der Wand, er war eiskalt. Sie schauderte. Das Haus strahlte eine Leere aus, als hätte man ihm sämtliches Leben entzogen – bis auf das laute Weinen eines darin gefangenen Menschen.

Auch die Küche war leer. Julia ließ das Licht gegen die Dunkelheit im Haus brennen und ging zurück zur Treppe. Die Panik wurde stärker, die anhaltenden Hilferufe hallten in ihrem Kopf. Sie erinnerten sie an die Trainingsvideos auf der Polizeihochschule, von Drogensüchtigen in Befragungsräumen, von verzweifelten Eltern, denen man schlechte Nachrichten überbrachte, das Stöhnen und Weinen. Wieder hätte sie am liebsten »Ich bin hier! Wo bist du?« gerufen.

Doch sie ging schweigend weiter.

Zurück im Flur wischte sie sich die feuchten Handflächen an der Hose ab, bevor sie das Holzgeländer packte und die Stufen nach oben ging. Der Treppenabsatz war ein kleines, dunkles Rechteck. Sie tastete nach einem Lichtschalter, betätigte ihn – nichts. Vielleicht war die Glühbirne kaputt oder entfernt worden. Sie ging zur nächsten Tür und schob sie auf, das Zimmer stank nach etwas, an das sie lieber nicht denken wollte. Sie drückte den Schalter und blinzelte erleichtert in dem grellen Licht, als das kleine Bad leer war.

Das Weinen war hier genauso laut wie im Erdgeschoss. Julia drehte sich um die eigene Achse, vor Verwirrung und Angst schlug ihr Herz hart gegen den Brustkorb. Sie musste weitersuchen.

Die nächsten drei Räume, alles Schlafzimmer, waren leer, wie sie blinzelnd im Licht der funktionierenden Glühbirnen feststellte. Das erste wurde von einem Doppelbett in der Raummitte dominiert, in den anderen stand je ein Einzelbett an der Wand – alles Holzskelette ohne Matratze. Daneben standen Nachttische und kleine Holzschränke. Julia eilte durch die Räume, durchsuchte die Schränke, fand nichts.

Wenn Jeanette Coyle hier im Haus war und weinte – wo war sie dann?

Sie rannte die Treppe zurück nach unten, wollte nur noch ins Freie. Da fiel ihr etwas ein: Wo war das viele Blut? Das Mädchen bei Adrian war blutverschmiert gewesen, das Haus war jedoch sauber. Angst griff mit kalter Hand nach ihrer Kehle: Hier drin war sie nicht sicher.

Doch das Weinen war immer noch laut, und sie konnte den Menschen in Not nicht alleinlassen. Rasch ging sie wieder in die Küche, vielleicht grenzte daran eine Waschküche oder eine Toilette an? Sie wollte sich einen Moment an der Arbeitsfläche abstützen, hielt jedoch inne.

Hier stimmte etwas überhaupt nicht.

Das Weinen und die Schreie kamen von überallher. Und sie klangen immer gleich, als würden sie immer wieder von vorn beginnen.

Plötzlich schienen die Geräusche und das Licht lauter und heller zu werden, dann herrschte auf einmal absolute Dunkelheit und Stille. Julia blieb fast das Herz stehen, dann begriff sie, dass der Strom unterbrochen worden war. Licht, Weinen, alles weg. Die Erkenntnis schnürte ihr die Luft ab. Sie hatte nicht einer weinenden Frau zugehört. Sondern der Aufnahme einer weinenden Frau, die im ganzen Haus abgespielt worden war.

Sie keuchte, hatte das Gefühl, die Dunkelheit würde sie ersticken. Sie musste hier raus! Der Flur hinter der Küche erschien ihr auf einmal länger, die halb offen stehende Haustür frustrierend nah und doch so weit entfernt. Speichel sammelte sich in ihrem Mund, gleich würde sie sich übergeben müssen. Sie schluckte angestrengt. Das einzige Geräusch war jetzt nur noch der hämmernde Puls in ihren Ohren. Sie lauschte, während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, auf ein Geräusch, irgendein Anzeichen, dass sie nicht allein war.

Die Stille war erdrückend, während ihre Finger zuckten, sich nach dem Schlagstock sehnten, der Taschenlampe, irgendetwas. Moment mal, sie war doch in der Küche, einem Raum voller Waffen. Sie und Adrian waren bei genügend Einsätzen wegen häuslicher Gewalt gewesen, um das zu wissen.

Vorsichtig tastete sie ihre Umgebung ab, berührte den Metallgriff einer Schublade und zog sie langsam auf. Mit angehaltenem Atem strich sie mit den Fingern über den Inhalt. Ein breiter Griff mit einer scharfen Klinge – ein Teppichmesser? Das würde reichen. Sie nahm es fest in die Hand, dann zwang sie sich zu gehen, die Hände nach vorn ausgestreckt. Mit einem leisen Geräusch berührte das Teppichmesser die Küchentür. Julia bewegte sich darum herum, lehnte sich kurz an die Wand. Jetzt lag nur noch der Flur vor ihr, dann die Haustür. Der Weg zu Adrian, in Sicherheit.

Durch das Licht der Straßenlaternen und des Mondes war die Dunkelheit im Flur weniger dicht. Vorsichtig ging sie um die Zeitungsstapel herum. Wieder quietschten ihre Schuhe auf dem Plastikteppichläufer, und sie stöhnte innerlich, rechnete jeden Moment mit einer Berührung an der Schulter.

Sobald sie über die Schwelle getreten war, rannte sie zum Auto. Die kalte Luft brannte auf ihrem Gesicht, ihre Augen waren tränenverschleiert. Sie blinzelte, bis sie wieder klar sehen konnte. Die Straße lag so still und verlassen da wie zuvor, verhöhnte sie, als hätte sie die Panik der letzten zehn Minuten nie erlebt.

Adrian saß mittlerweile auf dem Fahrersitz des Streifenwagens und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe. Was war da los? Warum war er ihr nicht zu Hilfe gekommen? Er musste erfahren, dass es eine Falle war, dass die Person, die das Mädchen verletzt hatte, noch im Haus war. Sie mussten weg von hier!

Als Julia die Fahrertür aufriss und Licht das Wageninnere erhellte, erstarrte sie, und das Teppichmesser fiel ihr aus der Hand. Adrian versuchte mit einem Übelkeit erregenden feuchten Gurgeln, Luft zu holen, und zitterte am ganzen Körper. Dunkles Blut strömte aus einem großen Schnitt an seinem Hals, das er mit den Händen zu stoppen versuchte. Er sah sie an, und sie schluchzte auf.

»Nein!« Sie legte ihre Hände über seine schwachen Finger und drückte zu. Sein Gesicht war so nah, dass sie die Angst in seinen Augen sah, die flehende Bitte, ihn zu retten. »Adrian!«, flüsterte sie, sah nach links, nach rechts, auf die leere Straße, zu den dunklen Häusern. »Hilfe! Bitte helft mir doch!«, schrie sie, doch die einzige Antwort war ein fürchterliches Keuchen, als Adrian um Atem rang. Er zuckte krampfhaft und erschlaffte plötzlich, viel zu schnell. Das Mädchen saß kraftlos vornübergebeugt auf dem Rücksitz, das Gesicht unter den Haaren verborgen. Julia sah frisches Blut auf dem Rücken der Teenagerin, dunkle Flüssigkeit tropfte von ihren Handgelenken in den Fußraum.

Julia richtete sich auf. Ihre Hände waren nass von Adrians Blut. Während sie im Haus Nummer 36 gewesen war, hatte jemand auf dieser stillen, verlassenen Straße im Halbdunkel den Strom unterbrochen und ihren Partner und das Mädchen umgebracht, das sie hatten retten wollen. Die Nacht erdrückte sie von allen Seiten, während sie die Straße mit dem Blick absuchte und überzeugt war, nicht allein zu sein.

4

2024

Die Sonne geht auf, und Julia fühlt sich ruhiger, als rost- und feuerfarbene Schleier den Horizont überziehen und die Nacht zurückdrängen. Sie lächelt. Im Licht eines neuen Tages sind sie sicherer. Die Nacht ist ihr verhasst, und sie schläft kaum mehr als ein paar Stunden. Wenn sie es jemandem erklären müsste, würde sie sagen, dass die Toten, die Opfer, die sie nicht retten konnte, sie in den dunklen Stunden heimsuchen. Wenn die Sonne untergeht, verwandelt sich das Versagen in diesen Fällen von Pech zu Vorwürfen, und Julia macht schlussendlich immer sich selbst verantwortlich. Eine Nacht mit gesundem Schlaf und reinem Gewissen ist ein Luxus, den sie ihrer Meinung nach nicht verdient.

Mutt begrüßt sie leise bellend und bleibt an ihrem Stuhl am Fenster stehen. Er ist es gewohnt, allein in ihrem Schlafzimmer aufzuwachen.

»Guten Morgen.« Sie streichelt das schneeweiße Fell. »Dann gehen wir mal raus an die frische Luft, was?«

Sie deaktiviert die Alarmanlage und öffnet die Hintertür. Als Mutt zwischen ihren Beinen hindurch ins Freie rennt, sieht Julia sich in dem kleinen Garten um, zu dem knapp zwei Meter hohen Zaun hinter der dichten Griselinia-Hecke, zu dem großen Vorhängeschloss am Seitentor. Alles sieht unverändert aus, keine Löcher oder Lücken, keine Anzeichen für einen versuchten Einbruch. Noch vor drei Wochen wäre sie mit einem Golfschläger in der Hand nach draußen gegangen und hätte an dem Schloss gerüttelt, zur Sicherheit. Die letzten dreißig Jahre hat sie mit der Angst gelebt, ein Wahnsinniger könnte aus dem Gefängnis entkommen oder aus der psychiatrischen Klinik entlassen werden. Doch jetzt ist er tot, und sie kann sich endlich sicher fühlen.

Während sie den Wasserkessel füllt, ruht ihr Blick auf einer weiß-rosa Karte, die am Fenster lehnt; eine Einladung ihrer Nachbarn, die sie vor vierzehn Tagen bekommen hat. Ger und Veronica Walsh veranstalten heute Nachmittag eine Feier zur Taufe ihrer Enkelin und würden sich über Julias Anwesenheit freuen. Seit ihrem Umzug nach Cuan Beag lebt sie sehr zurückgezogen. Doch jetzt wird sie von der Frau, die verschwinden wollte, zu einer, die durchaus einen Nachmittag in der Gesellschaft fremder Menschen verbringen könnte.

Ger und Veronica Walsh sind Julias nächste Nachbarn, wohnen aber immer noch fünf Minuten Autofahrt entfernt. Die kühle Herbstbrise lindert allmählich die Sommerhitze, doch die Nachmittagssonne ist kräftiger, als sie erwartet hätte, und sie zupft ihre Bluse von der unangenehm klebrigen Haut. Ein Teenagerjunge begrüßt sie lächelnd an der Tür und entblößt dabei eine glänzende Zahnspange. Bei Mutts Anblick grinst er verzückt. »Oh, ist der süß! Ich liebe Hunde. Kommen Sie rein.« Er legt Julias Geschenk zu den anderen auf einen Tisch in der Diele und führt sie durch das Haus und eine große Glastür in den Garten. »Hier sind alle.«

Julia sieht zu den anderen Gästen, die in Gruppen zusammenstehen oder auf Stühlen sitzen und sich entspannt unterhalten. Ein flaues Gefühl macht sich in ihrem Bauch breit – es ist lange her, dass sie unter so vielen Menschen war. Mutt strampelt auf ihrem Arm, will herumlaufen, doch sie hält ihn fest, das Fell an seinem Kopf kitzelt sie unter dem Kinn.

»Mrs Harte!« Eine Frau kommt mit einem Baby auf dem Arm zu ihr. »Willkommen!«

»Oh, bitte sagen Sie Julia.« Sie und Veronica Walsh müssen im selben Alter sein, doch die hellblonden Haare ihrer Nachbarin sind noch nicht ergraut und bilden einen Kontrast zu den Faltenfächern in ihren Augenwinkeln. Bisher haben sie sich gelegentlich zum Gruß zugenickt, aber nie miteinander gesprochen. Über die meisten Einwohner von Cuan Beag weiß Julia so gut wie nichts.

»Wie schön, dass Sie kommen konnten! Das hier ist Megan, das Kind meiner Tochter Nicole.« Sie neigt den Kopf zu dem Baby, das in eine rosafarbene Decke gewickelt ist. »Möchten Sie sie mal halten?«

Veronicas Blick fällt auf Mutt, und ihr Mund zuckt, als wollte sie das Angebot wieder zurücknehmen. Julia drückt den Hund dankbar an sich. »Oh, ich habe sicher überall Hundehaare, lieber nicht.«

Veronica entspannt sich sichtlich und lächelt wieder. »Ich bringe die Kleine mal für ein Schläfchen hinein. Ger ist da drüben beim Grill, und meine andere Tochter Colleen ist – welch Überraschung! – am Tisch mit den Getränken. Sie wird sich um Sie kümmern.«

Veronica geht ins Haus, und der Teenagerjunge mit der Zahnspange führt Julia zu einem Liegestuhl im Schatten. Er fragt, was sie trinken möchte, und sie bittet um eine Limonade. Sobald sie sitzt, lässt sie Mutt zu Boden. Sie ist froh über das kalte Getränk und die Eiswürfel, die im Glas klirren. Die Bluse klebt an ihrem Rücken, und der Gummizug ihrer Hose hat sich in die tiefe Narbe über ihrer Hüfte geschoben. Der Junge kommt mit einer Schale Wasser für Mutt zurück. Sie bedankt sich und blickt ihm nach, wie er zwischen den Gästen hin und her eilt.

»Ich sehe, Sie haben meinen Sohn kennengelernt.« Julia beschattet die Augen und sieht zu der Frau auf, die vor ihr steht. »Ich bin Colleen Walsh, das ist mein Sohn Bailey. Sie sind also Julia Harte, die im alten Pearson-Cottage wohnt.«

»Genau.« Julia erhebt sich ein Stück, um Colleen die Hand zu schütteln. Sie staunt, dass diese Fremde ihren Namen kennt und weiß, wo sie wohnt, obwohl sie doch immer für sich geblieben ist. »Schön, Sie kennenzulernen. Bailey ist ein reizender junger Mann. Sie sind sicher stolz auf ihn.«

»Er ist ein guter Junge.« Colleen bleibt trotz der freien Liegestühle stehen, ein Glas Wein in der Hand. »Ich sehe Sie ab und zu im Dorf.« Es klingt fast wie ein Vorwurf. Colleens Augenbrauen sind gerunzelt, offenbar denkt sie noch über etwas nach, das sie aufgebracht hat. Schon vor langer Zeit hat Julia gelernt, in den Gesichtern von Menschen zu lesen. Colleen trinkt hastig zwei Schluck Wein, wobei sie Julia nicht aus den Augen lässt. »Man sagt, Sie seien eine ehemalige Detective.«

Julia befeuchtet ihre Lippen, ihr Herzschlag beschleunigt sich.

»Wahrscheinlich hat McGuire deshalb nichts gesagt, als Sie seinen Hund zu sich genommen haben. Was mein Vater so erzählt, hat der noch viel mehr zu verbergen als ein vernachlässigtes Tier. Wenn Sie mich fragen, haben Sie dem armen Kerl einen Gefallen getan.« Sie krault Mutt hinter den Ohren und verschüttet dabei beinahe ihren Wein.

»Sie wissen wohl eine ganze Menge über mich.« Julia versucht, beiläufig zu klingen. Cuan Beag ist ein kleiner Ort. Ihr war klar gewesen, dass sie als neue Einwohnerin Aufmerksamkeit erregen würde. Trotzdem ist sie überrascht, was alles über sie bekannt ist.

»Nun ja, die Leute hier brauchen etwas, worüber sie reden können. Wir leben so abgeschieden, und gerade für Teenager ist es sterbenslangweilig. Deshalb bin ich mit Bailey näher an die Stadt gezogen.« Sie schwenkt das Weinglas in der Luft. »Aber ich möchte gern einen Blumenladen hier im Ort eröffnen. Die Miete ist nur halb so hoch wie in der Stadt.«

»Ach ja?« Small Talk hat Julia ganz bestimmt nicht vermisst.

»Meine Mutter sagt, ich bin verrückt, hier wohnen einfach nicht genug Menschen. Aber sie denkt nicht ans Internet. Die Leute werden online bestellen. Immer wieder sage ich ihr, dass man einfach alles im Internet findet, nicht wahr?«

Julia trinkt von ihrer Limonade, das Glas ist glitschig vor Kondenswasser. Hatte die Frage eine versteckte Bedeutung? Colleen wartet nicht auf eine Antwort.

»Nun ja, ich helfe mal besser Bailey. Nicole soll ja nichts tun, nachdem sie ›gerade ein Kind auf die Welt gebracht hat‹ – vor sieben Monaten.« Die theatralischen Anführungszeichen, die sie in die Luft malt, betonen den Sarkasmus und den Ärger darüber, nicht wie ihre Schwester sitzen und sich entspannen zu dürfen. Julia staunt, dass Colleen dabei keinen einzigen Tropfen Wein verschüttet. Erleichtert sieht sie ihr nach, wie sie ins Haus geht, und lehnt sich zurück. Sie beobachtet die anderen Gäste, registriert Körpersprache und besondere Merkmale, wie früher als Polizistin. Alte Angewohnheiten sind schwer abzuschütteln.

Zwei Paare stehen beieinander, die Frauen lachen und unterhalten sich unbeschwert. Angesichts der steifen Körperhaltung der Männer muss Julia lächeln; sie wollen nicht hier sein und miteinander plaudern. Die Stimmung zwischen ihnen ist angespannt, nicht überraschend in einer so ländlichen Gegend. Streitigkeiten wegen Dingen wie Grundbesitz hatten sie damals als Streifenpolizistin oft beschäftigt. Sie und Adrian hatten viele solcher Auseinandersetzungen miterlebt, und sie erkennt die Anzeichen. Ein Stück entfernt steht ein anderes Paar mit einem kleinen Kind, sie scheinen leise zu streiten. Der Mann bemüht sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, während er mit halb erhobener Hand wütend gestikuliert.

Auch wenn es ein bisschen makaber sein kann, andere Menschen zu beobachten, ist sie enttäuscht, als sich andere Gäste zu ihr in den Schatten unter die großen Bäume setzen.

»Hallo.« Ein Mann lässt sich im Liegestuhl neben ihr nieder und streckt ihr die Hand hin. »Ich bin Dale Robinson, ich wohne in der Nähe des Hafens.«

»Hallo.« Julia schüttelt seine Hand und räuspert sich. »Ich bin Julia Harte. Sagen Sie Julia zu mir.«

»Ich habe Sie in der Stadt im Café gesehen.« Sie lächelt, als er das winzige Dorf Stadt nennt. »Meine Frau und ich sind vor fünf Jahren aus London hergezogen. Der Ort ist so hübsch. Wir verbringen hier unseren Ruhestand. Meine Frau stammt aus Wicklow.«

Julia fragt sich, ob seine Frau einen Namen hat und heute auch hier ist. Doch Dale scheint allein und redselig zu sein.

»Ein hübscher kleiner Kerl.« Er deutet zu Mutt, der Wasser aus seiner Schale trinkt. »Sehr gut erzogen. Aber ich weiß nicht, was Ger und Veronica dazu sagen – Ger nimmt seinen Garten sehr ernst. Nun gut, solange er nicht irgendwo hinsch…«

»Und wie geht es Ihnen im Ruhestand, Dale?«, fällt sie ihm ins Wort. »Gefällt Ihnen und Ihrer Frau die Ruhe in Cuan Beag?«

Er blickt zu den Nachbarn in seinem neuen Leben. »Ja, es ist schön. Ab und zu kommen die Kinder vorbei, da hat man was zu tun. Aber es ist schon sehr viel ruhiger als früher, das kann ich Ihnen sagen! Ich war Reporter.«

»Ach ja?«

»Kriminalreporter, genauer gesagt. Hat gutes Geld eingebracht, irgendwer verstößt ja immer gegen das Gesetz. Hm …« Er schiebt sich die Sonnenbrille in die Stirn und sieht sie prüfend an. Julia schluckt bitter schmeckende Angst hinunter, die sich in ihrem Magen ausbreitet. »Ich könnte schwören, ich habe Sie schon mal gesehen.« Plötzlich richtet er sich auf und schnippt mit den Fingern. »Ich wusste, dass Sie mir bekannt vorkommen!«

Sie schließt die Augen. Sie kann nicht leugnen, wer sie ist … war. Das ist ihr schlimmster Albtraum, den sie fünf Jahre lang zu vermeiden versucht hat.

»Julia Harte! Detective Inspector sogar!« Dale stützt sich mit dem Ellbogen auf der Armlehne ab und beugt sich dichter zu ihr heran. »Meine Tochter Karen ist ein großer Fan von Ihnen, hat Ihr Buch wie die verdammte Bibel gelesen. Sie ist Senior Detective bei der Met Police, ein tolles Mädchen. Sie wird sich so freuen, dass ich Sie getroffen habe!«

Julia zwingt sich zu einem Lächeln. Ihr Buch, ein akademisches Projekt, dem sie die ersten zwei Jahre ihres Ruhestands gewidmet hat, wurde ein überwältigender Erfolg. Es hatte ein Arbeitsbuch für Detectives in der Ausbildung und Studierende der Kriminalpsychologie werden sollen. Julia hatte die Vorstellung gereizt, ihre im Lauf des Berufslebens erworbenen Fähigkeiten zu dokumentieren. Als junge Polizistin hatte sie Bücher geradezu verschlungen, während sie auf eine Beförderung hingearbeitet hatte. Sie hatte hart für ihren Platz in der Truppe gekämpft, und ihr Team hatte vielen Menschen geholfen. Mit dem Buch hatte sie etwas zurückgeben wollen. Die ausgewählten Fälle hatte sie anonym beschrieben, ohne konkrete Daten, alle Namen waren geändert, und sie nannte nur wenige Fakten, um das genauere Ermittlungsverfahren in den jeweiligen Kapiteln zu erläutern.

Doch es hatte sie auf eine Weise ins öffentliche Bewusstsein katapultiert, die sie weder erwartet noch gewollt hatte. Ihr Traum, dass das Buch zu einem Hilfsmittel für angehende Detectives werden könnte, wurde zu einem Albtraum, als widerliche True-Crime-Fanatiker es zum »Buch des Jahres« erklärten und es ein Bestseller wurde. In Internetforen, Podcasts und Zeitschriftenartikeln wurde das Buch gefeiert, und einige widmeten sich der Aufdeckung der Pseudonyme, die sie bei den Fallbeispielen verwendet hatte. Ihr Entsetzen und ihre Bekanntheit wuchsen gleichermaßen. Sie war sich nur allzu bewusst, dass mit der Enthüllung und Verbreitung der richtigen Namen im Internet Familien erneut traumatisiert wurden, ihr Schmerz Mittel zum Geldverdienen war und die Angehörigen der Opfer zu Tinte auf einem Blatt Papier reduziert wurden. Das Rampenlicht beschämte sie, und bis heute bereut sie das Buch bitterlich.

Sie setzt sich aufrechter hin und streicht ihre Hose glatt, wobei sie den Blick des Mannes meidet. »Ich bin im Ruhestand. Oder versuche es zumindest zu sein. Das liegt alles hinter mir. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Natürlich verstehe ich das! Sie hatten aber bestimmt ein sehr aufregendes Berufsleben.« Er senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Der Kerl, der vor ein paar Wochen gestorben ist – Cox, richtig? Karen hat mich danach gefragt, als sie letztes Wochenende angerufen hat. Sie hat alles zu James Cox gelesen, als sie in London auf dem College war, zu seinen Verbrechen und seiner Festnahme.«

Julia blinzelt ein paarmal, bis sie die Worte begreift. Plötzlich ist ihr schwindelig. Allein seinen Namen laut ausgesprochen zu hören, ist ein Schock, ebenso wie Dales Beiläufigkeit.

»Himmel, das war wirklich furchtbar, was er getan hat! Haben Sie an dem Fall mitgearbeitet?« Dale sieht sie mit großen Augen an. Eine der schlimmsten Zeiten ihres Lebens ist für ihn nur eine unterhaltsame Geschichte, die er seiner Tochter erzählen kann. Sie spürt die drückende Nachmittagshitze nicht mehr, plötzlich ist ihr kalt und übel.

James Cox’ Verbrechen und seine Festnahme kommen im Buch nicht vor, Julia hatte es einfach nicht über sich gebracht. Man konnte seine Taten nicht hinter Pseudonymen verbergen – er war einer der berüchtigtsten Mörder Irlands. Der Ablauf seiner Festnahme war zu schmerzhaft, um ihn noch einmal zu durchleben. Auch wenn der Verlag damit gedroht hatte, das Buch nicht zu veröffentlichen, war Julia standhaft geblieben. Sie schuldete es Philip, diese Nacht nie wieder zu durchleben.

Ein kühler Luftzug streift über ihren Nacken und reißt sie aus der Lähmung, Cox’ Namen zu hören und von dem Mann neben ihr erkannt worden zu sein. Sie steht auf und nimmt Mutt auf den Arm.

»Ich muss jetzt gehen, tut mir leid. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dale.«

»Darf ich mit meiner Tochter mal bei Ihnen vorbeischauen, wenn sie zu Besuch kommt? Sie würde sich so gern mit Ihnen unterhalten! Oder dürfen wir Sie in der Stadt zum Essen einladen?«

Seine Stimme wird leiser, während sie durch den Garten ins Haus geht. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie Veronica ihr überrascht nachblickt, ein Tablett mit Würstchen in der Hand. »Ist alles in Ordnung, Mrs Harte?«, fragt Bailey, als sie an ihm vorbeigeht, doch sie steuert unbeirrt auf die Haustür zu und geht weiter zum Auto. Mutt leckt ihr sanft die Arme. Sie blinzelt gegen die Tränen an und küsst ihn auf den Kopf.

»Fahren wir heim.«

Der Postbote war da und hat eine Postkarte mit Strandmotiv eingeworfen, aus Südspanien, auf der Rückseite die saubere Handschrift von Mary Clancy.

Liebe Julia – herzlichste Grüße vom Strand! Alles Liebe, Mary

Sie lehnt den Kopf gegen die Flurwand, während sie liest. Mary Clancy wohnt jetzt bei ihrer Tochter Audrey. Nach Adrians Tod wurde seine Familie zu ihrer. Sie vermisst sie. Eine Tasse Tee mit jemandem, der sie versteht, wäre jetzt wunderbar.

Erst, als sie später mit dem zweiten Glas Brandy in ihrem Sessel sitzt, zittern ihre Hände nicht mehr. Der Golfschläger an der Wand neben dem Fernseher glänzt in der untergehenden Sonne. Sie seufzt und blickt zu Philip, der auf dem Hochzeitsfoto bis in alle Ewigkeit glücklich aussieht. Was würde er sagen, wenn er sie jetzt sähe? Erschöpft nach gerade mal dreißig Minuten bei den Nachbarn in diesem kleinen Dorf, in dem sie eine Fremde ist. Aufgewühlt, nachdem man sie auf ihre berufliche Laufbahn angesprochen hat, etwas, für das sie gekämpft und dem sie einst alles untergeordnet hatte. Und immer noch so verängstigt, dass sie vor dem Dunkelwerden fast eine Stunde damit verbringt, ihr Haus, ihre Festung, zu überprüfen.

Ihre Buße scheint immer noch zu sein, in Angst leben zu müssen.

5

2024

Sonnenlicht glitzert auf dem Meer, als Julia mittags den Wagen auf dem Parkplatz von Cuan Beag abstellt und Mutt krault, der neben ihr auf dem Beifahrersitz hockt.

»Wollen wir, mein Kleiner?«

Mit ihm auf dem Arm steigt sie aus, versperrt den Wagen und überprüft ihn zweimal. Nachdem sie Mutt an die Leine genommen hat, marschieren sie wie üblich flott davon. Die Sonne scheint warm auf ihren Nacken über dem rosafarbenen Seidenschal, den ihr Mary geschenkt hat. Heute ist sie ruhiger, entspannter in der Wärme. Aus einem Bus steigen Touristen aus, und Julia lächelt, als sie die vertäuten Boote bewundern. Cuan Beag braucht Touristen, ist auf das Geld angewiesen, das sie im Sommer und Frühherbst in den Ort bringen. Julia kennt die Route der Guides und ist froh, dass sie die Tagesgäste nie in die abgelegeneren Wohngebiete bringen. Je weniger Menschen in ihrem Leben, desto besser.