Es war einmal ein Dimensionsportal - Sven Haupt - E-Book

Es war einmal ein Dimensionsportal E-Book

Sven Haupt

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Beschreibung

In dieser Anthologie trifft die Science-Fiction völlig unverhofft auf klassische Märchenmotive.Ohne Vorwarnung öffnet sich ein Portal, ein Wurmloch wird erzeugt, ein Unfall lässt einen Riss zwischen den Welten entstehen. Wer oder was auch immer auf die andere Seite tritt, findet etwas mit dem er absolut nicht gerechnet hat.Wenn Märchen durch die Dimensionen reisen ist alles möglich.Transdimensionale Touristen, künstliche Intelligenzen, die tragische Helden therapieren und weltraumreisende Zwerge sind erst der Anfang.Treffen Sie auf Erinnerungen aus der Kindheit in einem völlig neuen Kleid, wenn beliebte Märchen unerwartet auf die Zukunft treffen!

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Seitenzahl: 345

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Anthologie

Science-Fiction

 

Herausgeber: Sven Haupt

 

Deutsche Erstausgabe

 

2018

 

© Mystic Verlag

 

Anthologie

 

Umschlagskonzept/Umschlaggestaltung:

Judith Schöne

 

Satz: Helga Sadowski

Lektorat: Sven Haupt/Helga Sadowski

Korrektur: Anke Tholl

 

ISBN:978-3-947721-31-3

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere

Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens

Inhaltsverzeichnis:

Jack und die Bohnenranke

Der Glühwürmchenkomplott

#Schneewittchen

(K)ein Prinz aus einer anderen Welt

Drachenruhe

Mund auf!

Die kaputten Biografien scheinbar perfekter Welten

Sternenwandler

Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen

Hase und Igel

»Fantasie«

Der Schneewittchen-Code

Apokalypse im Märchenwald

Schutzjäger

Zwerge im Weltall

Des Prinzen Untergang

Der Turm des Zauberers

Von einem Touristen, der auszog, das Fürchten zu lernen

Der böse Wolf

Die Autoren

 

Felix Bartsch

 

Jack und die Bohnenranke

 

Es war einmal ein junger Mann von trauriger Gestalt. Vermutlich ist das nicht der beste Satz, um eine Geschichte zu beginnen, doch wenn jemand von so trostlosem Erscheinungsbild ist wie der erwähnte junge Mann, dann lässt das dem Autor keine andere Wahl, als die Tatsachen auf den Tisch zu packen. Was soll man denn auch sonst tun?

Den Leser anlügen?

Niemals!

Doch zurück zum traurig aussehenden jungen Mann. Von seinen Freunden wurde er Jack genannt, jedenfalls behauptete er das. Da er keine Freunde hatte, gab es auch niemanden, der die Behauptung hätte verifizieren können. Seine Geburtsurkunde verriet jedoch, dass er eigentlich Adelbert hieß. Der gewünschte Spitzname und die fehlenden Freunde kamen also nicht von ungefähr.

Jack, wie wir unseren Freund nun aus Respekt nennen wollen, wollte sich eigentlich nur eine Packung Milch kaufen. Milch faszinierte ihn.Irgendwann musste schließlich einmal ein Mensch auf die Idee gekommen sein, ein armes Kalb, um die nährende Brust der Mutterkuh zu bringen. Ein Akt von geradezu unermesslicher Boshaftigkeit, der jedoch Köstlichkeiten wie Käse und Jogurt hervorgebracht hatte. Man durfte eben nur nicht zu sehr darüber nachdenken, wie es dazu gekommen war.

Na, jedenfalls ergab es sich, dass ausgerechnet an diesem Tag auf dem Supermarktparkplatz ein kleiner Flohmarkt sein Unwesen trieb.

Und wenn Jack etwas mehr mochte als Packungsmilch, dann war es alter Plunder. Jack war ein Trödelkönig, sowohl in Sachen antiker Gegenstände als auch in seiner Eigenschaft, geflissentlich immer zu spät zu kommen.

Schon bei seiner Geburt ließ er seine Mutter erst zwei Wochen über den Geburtstermin hinaus warten und sich dann beim Entbunden werden derartig viel Zeit, dass es seine Erzeugerin mit so einem chronischen Zuspätkommer schlichtweg nicht einmal probieren wollte und sich kurzerhand aus der Welt verabschiedete.

Seinen Trödelwahn konnte diese Aufopferung der Mutter jedoch nicht verhindern und so verpasste er souverän seine gesamte Schulzeit, seinen Abschluss und somit auch die Chance, sich einen vernünftigen Job zu suchen.

An Milch verschwendete Jack schon keinen Gedanken mehr. Sein Gehirn schmolz schier dahin beim Anblick des ganzen Plunders. 'Oh, welch schöne Tasse', war ein Satz, den er mehr als nur einmal dachte und sich selbst darüber wunderte.

Er hatte keinen Bedarf an Tassen. Seine Milch trank er direkt aus der Packung, jeglichen anderen Flüssigkeiten hatte er mit dem Tod seiner Mutter abgeschworen. Dennoch: Schick waren die Tassen ja doch. Ein Stand zog Jack besonders in seinen Bann.

Ein unscheinbarer Tisch mit einem noch unscheinbareren Mann dahinter, in seiner Unscheinbarkeit Jacks Trostlosigkeit in nichts nachstehend, der vor sich lediglich einen einzigen, pistolenartigen Gegenstand ausgelegt hatte. Jack war fast so, als würden alle anderen Menschen auf dem Markt diesen einen Stand übersehen, nur er war darauf gestoßen. Womöglich sein großer Fang? Er trat an den Fremden heran. »Was ist denn das für ein Ding?«, fragte Jack.

»Wer fragen muss, kann es sich nicht leisten!«, sagte der Fremde.

»Na das wollen wir mal sehen. Ich kaufe es!«

»Aber Sie wissen doch gar nicht, was es ist!«

»Spielt das denn eine Rolle?«

»Warum es dann kaufen?«

»Weil ich es will!«

»Aber Sie wissen doch gar nicht, was es bringt. Warum es also wollen?«

»Wollen Sie denn gar nicht verkaufen?«

»Doch klar!«

»Warum dann die vielen Nachfragen?«

»Warum etwas kaufen, das man vielleicht gar nicht braucht?«

»Ich gebe Ihnen zwanzig Euro!«

»Verkauft an den Höchstbietenden!«

Wenn Jack gewusst hätte, dass er gerade Besitzer einer absolut toperhaltene GamJun 7 geworden war, und ihm dann noch jemand gesagt hätte, was so eine GamJun 7 macht, dann wäre die nächste Runde Milch des gesamten Marktes wohl auf ihn gegangen.

Die GamJun 7 unterscheidet sich von ihren vier Vorgängermodellen maßgeblich durch ein paar bunte Knöpfe und Hebel, denen allen nicht zu viel Bedeutung und Aufmerksamkeit zukommen sollte, wie auch der Tatsache, dass die GamJun-Produktion die Reihenzahlen 5 und 6 schlichtweg übersprungen hatte. Das lag an einem Wechsel der Geschäftsführung, die aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten im Würfelspiel früh an den elfjjährigen Gnork fiel. Dieser bestand zu neunzig Prozent aus undefinierbaren Tentakeln und hatte leider ebenso wenig Verständnis vom Führen einer Firma wie auch von Zahlen allgemein außer der Nummer 7. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass dies nicht die rosigste Zeit des Betriebs gewesen war.

Erst als Gnork im zarten Alter von 13 Jahren seinen Würfel-Meister in einem gewöhnlichen Huhn fand, kam der erhoffte Erfolg zurück. Man produzierte zwei, drei wirklich gute GamJuns und das Huhn verkaufte im richtigen Moment für einen Millionenbetrag, weshalb es heute noch auf Platz 2 der reichsten Federviecher der gesamten Galaxis gelistet ist. Dem Vogel auf Platz 1 habe man Kentucky Fried Chicken zu verdanken, wird gemunkelt, doch bestätigtes Wissen gibt es dahingehend nicht.

Jack wog den eigenartigen Gegenstand in seiner Hand und drehte sich noch einmal zu dem unscheinbaren Flohmarktstand um. Der jedoch war komplett verschwunden. Das lag nicht etwa an irgendeiner Zauberei, Jack hatte gute fünf Minuten reglos Löcher in die Luft gestarrt und der Verkäufer – nun ja völlig ausverkauft – schlichtweg seinen Stand abgebaut. Doch für Jack lag diesem kleinen Moment der falschen Wahrnehmung ein unfassbarer Zauber inne. Er entschloss sich zu etwas, das wohl alle hirnlosen Humanoiden – also der Großteil der existierenden – für sich entschließen würden, wenn sie auf einem Flohmarkt von einem dubiosen Stand eine noch ominösere Pistole erstanden hätten:

Er wollte verdammt noch mal auf irgendetwas schießen.

Im heimischen Garten angekommen, den er ob seines Zuspätkommens im Kreißsaal mit der Geburt von seiner Mutter geerbt hatte, polierte er die GamJun 7, von der er nicht wusste, dass sie eine war, was ihm aber auch nicht helfen würde, wenn es ihm einer gesagt hätte, weil er absolut ahnungslos war, was eine GamJun 7 bitte tun könnte. Er richtete die Pistole auf ein beliebiges Gebüsch und drückte ab. Nichts tat sich. Jedenfalls nichts, was die ungeschulten Augen eines Adelberts, der Jack genannt werden wollte, wahrnehmen konnten. Und auch nichts, was sich außerhalb des gewöhnlichen Spektrums eines Gebüschs – rascheln, vom Wind durchkämmt werden, wieder rascheln – bewegte.

Frustriert knallte er die Knarre auf den Tisch und ging ins Bett – eine Abwehrstrategie, die er sich früh im Leben angeeignet und nie wieder abgelegt hatte.

Als seine damalige Freundin ihn verließ, hielt er einen zweiwöchigen Kurzwinterschlaf in ihrem Bett.

Als sein Chef ihn entließ, machte er es sich auf dem Sofa im Ruheraum für gute vier Wochen bequem – einen Zeitraum, in dem der Chef selbst entlassen und durch jemanden ersetzt wurde, der keine Ahnung hatte, dass Jack entlassen worden war, wodurch Jack seinen Job zurückbekam, was er jedoch aufgrund seines tiefen Schutzschlafes nicht mitbekam und so wurde er letztlich aufgrund der fehlenden Arbeitsleistung erneut entlassen. Aber immerhin war er gut ausgeschlafen, als er das Bürogebäude verließ.

Als Jack sich von seinem Nickerchen erhob, war es dunkel in seinem Zimmer und jemand hämmerte gegen seine Haustür. Beides fand Jack nicht weiter ungewöhnlich.Er hatte es einfach akzeptiert, dass gelegentlich Menschen an seiner Haustür vorstellig wurden, die er dann wohlwollend ignorierte. Wenn er gewusst hätte, dass vor seiner Tür der Vizevorsitzende des intergalaktischen Bau- und Umweltamtes stand, er würde es vermutlich ebenso mit einem Schulterzucken quittieren als wäre der Weltraumpapst persönlich bei ihm im Badezimmer aus dem Wasserhahn geflossen.

Da er jedoch nichts von der Existenz auch nur einer dieser Personen wusste, war ihm alles einfach nur egal. Er öffnete seinen Rollladen und so offenbarte sich ihm die Quelle der Dunkelheit: Über Nacht war in seinem Garten eine geradezu lächerlich monströse Bohnenranke gewachsen. In ihrem saftigen Dunkelgrün erhob sie sich bedrohlich aus seinem Garten und ragte derart weit in den Himmel, dass Jack gar nicht ausmachen konnte, wo sie aufhörte.

Und genau da lag das Problem des intergalaktischen Bau- und Umweltamtes, das über Nacht feststellen musste, dass irgendein Idiot eine überdimensionale Bohnenranke mitten durch die neue Hauptverkehrstrasse des Sonnensystems gerammt hatte. Mehrere Bauarbeiter waren bei diesem Akt ums Leben gekommen und nun galt es, den Schuldigen auszumachen.

Dass der die Tür nicht öffnete, war für Herlor Mitroksa vom Planeten Edwokan nur ein weiteres Indiz für seine Schuld.

Nebenbei hatte die Bohnenranke auch noch sauber einen Planeten gepierct, aber das war der Zuständigkeitsbereich der Behörde für wahllose Planetenvernichtung und ihm deshalb herzlich egal. Herlor hatte sich in jahrelanger Schwerstarbeit vom kleinen Licht zum großen Strahler hochgearbeitet und war jetzt nicht bereit, sein Licht von einer verdammten Bohnenranke in den Schatten stellen zu lassen.

Er hasste Bohnen. Maßgeblich, weil sie das einzige Agrarprodukt waren, das auf Edwokan angebaut wurde, und er somit Jahre seiner Jugend damit zwangsernährt worden war, aber vor allem aus Prinzip. Hass stand Menschen in Führungspositionen einfach gut zu Gesicht. Er hämmerte erneut gegen die Tür. Mit noch mehr Hass.

Jack bekam davon nur am Rande mit, da er inzwischen in seinen Garten geschlichen war. Jedenfalls in das, was die Bohnenranke von seinem Garten übrig gelassen hatte. Das Gewächs hatte locker den Großteil der Grünfläche okkupiert und wirkte auch nicht so, als würde man ihm mit gewöhnlichen Handwerksgegenständen wie einer Laubsäge beikommen.

Jack fand sich also mit der Existenz der Bohnenranke ab. So machte er es für gewöhnlich, wenn er erkannte, dass er mit seinem Latein am Ende war. Auf diesem Weg war er schon einmal zu einem Mitbewohner gekommen. Vor einigen Jahren war ein Wohnungsloser in sein Haus eingedrungen und hatte dort gute sechs Jahre mit Jack friedlich koexistiert. Nur gelegentlich gab es Streit, weil er leere Milchpackungen zurück in den Kühlschrank stellte. Das gehört sich einfach nicht.

Nun eben kein Garten mehr, sondern Bohnenranke, war ein Gedanke, den Jack völlig okay fand.

Anders ging es Herlor, der beim Klopfen an der Tür zu einer derart hasserfüllten Variante übergegangen war, dass die Tür unter einem lauten Ächzen letztlich aufgab und zerbarst. Da es nun unangenehm zu ziehen begann, konnte auch Jack den Störenfried an der Tür nicht weiter ignorieren. Gute Güte, er würde wohl mit ihm reden müssen.

»Intergalaktisches Bau- und Umweltamt, Herlor Mitroska der Name, guten Tag«, sagte der Eindringling und log dabei, da er für sich bereits entschieden hatte, dass dies kein guter Tag, sondern viel mehr die Ausgeburt einer der achtzehn Höllen sein musste. Jack starrte ihn nur kurz an, zuckte mit den Schultern und schwieg.

»Ich bin hier wegen dieses Dings in ihrem Garten«, versuchte Herlor es erklärend.

»Bohnenranke!«

»Wie bitte?«

»Das ist eine Bohnenranke!«

»Ja, das sehe ich, ich bin schließlich vom Umweltamt.«

»Ja, ich weiß, vom intergalaktischen Bau- und Umweltamt, ich habe zugehört.«

Jack machte eine Geste, die Herlor signalisierte, dass er doch bitte eintreten möge. Herlor schlich vorsichtig ins Haus. Wer schließlich aus dem Nichts eine Riesenranke erschuf, dem war für gewöhnlich eher mit Argwohn zu begegnen. Er setzte sich. Jack bot ihm einen Kaffee an. Auf Herlors fragenden Blick, was denn Kaffee sei, antwortete Jack: »Der wird aus Bohnen gemacht.«

Herlor verzichtete. Er hasste Bohnen. »Also, was gedenken Sie wegen dieser riesigen Ranke zu tun?«, suchte Herlor das Gespräch.

»Akzeptieren!«

»Was?«

»Ich akzeptiere, dass ich nun keinen Garten mehr habe. Das ist doch schon viel wert, finde ich.«

Gerade wollte Herlor zu einer pfiffigen Antwort ausholen, die ihm sicherlich auch irgendwann noch eingefallen wäre, als eine Polizeisirene das Geschehen unterbrach.

»Hier sprich die Polizei. Machen Sie die monströse Ranke weg und kommen Sie mit erhobenen Händen raus!«, schrie eine Stimme durch ein Megafon. Die Stimme gehörte zu Jörg, der als Kleinstadtpolizist endlich seine große Stunde gekommen sah, und deshalb gleich mal alle Register respektive Waffen zog.

»Jörg, das ist nur eine Bohnenranke«, sagte sein Kollege Achim, der sich in seiner bereits 25-jährigen Dienstzeit im gesamten Revier einen starken Ruf durch seine besonderen Fähigkeiten im »reglos am Schreibtisch sitzen bis der Tag vorbei war« erarbeitet hatte.

»Verdammt, solchen Leuten können wir das doch nicht durchgehen lassen. Erst bauen sie riesige Bohnenranken und dann kommt der Kommunismus übers Land. Wehret den Anfängen, hat meine Mutter damals immer gesagt«, zischte Jörg und nahm wieder das Megafon zur Hand. »Wenn Sie nicht rauskommen wollen, dann komme ich eben rein«, blökte er. Jack machte keine Anstalten, darauf zu reagieren. Er hatte für sich entschieden, dass es das Beste wäre, die Situation einfach so zu nehmen, wie sie jetzt kommen würde. Herlor hingegen rückte seine Krawatte zurecht und checkte in einer Fensterscheibe noch einmal seine Frisur. Er hatte sich als Bewohner der Erde verkleidet, als besonders adretter Bewohner natürlich, da war er eitel. Jörg hielt seine Pistole vor sich in der Luft und marschierte schnurstracks durch die offene Tür ins Gebäude, nur um erstaunt stehen zu bleiben, als er Jack und Herlor am Esstisch beim Kaffee erblickte. »Ich nehme auch einen«, waren die ersten Worte, die Achim äußerte, als er seinem jungen Kollegen über die Schulter blickte. Jack zuckte mit den Schultern, schlich in die Küche und goss eine weitere Tasse ein.

»Guten Tag, Herlor Mitroska, intergalaktisches Bau- und Umweltamt. Und Sie sind?«

»Jörg«, sagte Jörg.

»Achim«, sagte Achim. Jack wunderte sich darüber, dass sich niemand darüber wunderte, dass Herlor angab, von einem intergalaktischen Amt zu kommen.

»Also, meine Herren, als ranghöchster Anwesender bestimme ich über das weitere Vorgehen«, gab Herlor an.

»Ranghöchster Anwesender? Also bitte. Achim hier ist schon seit über 25 Jahren dabei. Der war schon auf Streife, da waren Sie noch nicht mal geboren, oder Achim?«, sagte Jörg. Achim reagierte nicht groß, er war glücklich mit dem Kaffee und einer gemütlichen Sitzgelegenheit.

Der Fall hatte sich zu seiner Zufriedenheit entwickelt und er war nicht bereit, sich in irgendeiner Weise weiter zu beteiligen.

Herlor legte seinen Ausweis vor, der verdächtig nach deutschem Nachrichtendienst aussah.

»Also, das hier ist mein Fall«, sagte er.

»Nix da«, krakelte Jörg, »das hier ist meine Stadt und wenn hier irgendein Hobbygärtner eine Riesenbohne züchtet, ist das immer noch mein Problem. Und ich sage, die verdammte Bohne knall ich ab.«

»Moment mal«, meinte Jack, einfach nur, um auch mal was gesagt zu haben. Die anderen Parteien schauten ihn fragend an. Er gab ihnen per Geste zu verstehen, dass da nichts mehr kommen würde. Jörg hielt immer noch seine Pistole in der Hand und deutete damit auf die Ranke.

»Das Ding mach ich platt.«

»Und dann? Dann fallen tonnenweise Bohnenteile auf die Erde, die in Sachen Gewicht vermutlich die Unendlichkeit erreicht haben dürften, wahrscheinlich sogar zweimal, was den Planeten komplett zerquetschen würde«, gab Herlor zu bedenken.

Jörg gefiel es gar nicht, dass er sich hier irgendwas von einem Anzugträger anhören musste. Gerade wollte er gepflegt rot anlaufen und rumschreien, als ein elektronisches Zischen vor der Tür die Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Mann im Anzug, der dummerweise exakt dasselbe Menschenkostüm wie Herlor gewählt hatte und ihm deshalb glich wie eine Milchpackung der anderen, stand im Türrahmen.

»Guten Tag, die Herren. Merlor Hitroska mein Name, Präsident vom Planeten Gervla 5. Sie hätten nicht zufällig was dagegen, ihre Bohnenranke wieder aus unserem Planeten zu ziehen?«, fragte Merlor vorsichtig.

Herlor und Jörg starrten ihn fragend an. Achim war eingeschlafen.

Merlor schnupperte in den Raum hinein.

»Rieche ich da Kaffee?«, fragte er. Jack stand auf, holte noch eine Tasse und bat Merlor hinein.

»Herlor Mitroska, intergalaktisches Bau- und Umweltamt«, stellte sich Herlor vor.

»Jörg, städtische Polizei«, gab Jörg zu Protokoll.

»Ggrrzurzrzzz«, schnarchte Achim. Merlor und Herlor musterten sich gegenseitig, entschieden aber, das identische Erscheinungsbild unkommentiert zu lassen.

»Also, diese Ranke da, die müsste aus unserem Planeten raus«, sagte Merlor.

»Nun mal sachte, erst einmal muss diese Ranke hier aus unserem Planeten raus«, sagte Jörg.

»Aber ich habe doch schon gesagt, dass das so einfach nicht geht«, gab Herlor zu denken.

»Wir könnten sie sprengen«, sagte Jörg.

»Oh, nein, nein, lieber nicht«, sagte Merlor.

»Ach, dann doch wieder zurückrudern?«

»Das hat doch alles keinen Sinn«, sagte Herlor.

»Guten Tag, Mirlor Hetroska, Anwalt der intergalaktischen Baugewerkschaft. Ich würde gerne den Bohneneigentümer verklagen«, sagte ein dritter Mann, der exakt wie Herlor und Merlor aussah und sich im Schatten der Diskussion ins Gebäude geschlichen hatte.

»Aber erst einmal muss die Ranke aus unserem Planeten raus«, gab Merlor an.

»Sie muss generell sorgfältig zurückgebaut werden. Da brauchen wir viel Fingerspitzengefühl und botanisches Geschick«, gab Herlor an.

»Ich schieße das Teil kaputt«, drohte Jörg.

»Ziehhhhruuuuuuummmmss«, schnarchte Achim.

Mirlor blickte ratlos zu Jack, der ihm bereitwillig eine Tasse Kaffee einschenkte, und sich weiter darauf beschränkte, gute Miene zu ungefähr allem zu machen, was das Schicksal jetzt noch in sein Haus werfen würde.

»Ich ruf jetzt die Kavallerie«, rief Jörg und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das wirst du nicht tun, mein Sohn«, sagte eine mysteriöse Stimme aus dem Waschbecken in der Küche.

»Diese Ranke ist ein Zeichen des Herrn oder der Herrin oder von wem auch immer. Es ist jedenfalls ein Zeichen und ich als Weltraumpapst beantrage hiermit, dass dieser Ort zu einer Pilgerstädte werden soll.«

Die Truppe versammelte sich interessiert um das Waschbecken, aus dem die Stimme kam. Lediglich Achim schnarchte munter vor sich hin und Jack fand sich weiter mit allem ab.

Aus dem Wasserhahn ragte ein gewöhnlicher Goldfisch mit Miniaturpapsthut hervor. Der Weltraumpapst war in der Galaxie nicht viel höher gestellt als ein gewöhnlicher Frühstücksdirektor, womit er jedoch jeglichen planetenspezifischen Behörden und Regierungen übergeordnet war, was besonders Jörg verärgern würde, wenn er auch nur einen Funken von dem verstanden hätte, was um ihn herum gerade passierte.

Er war jedoch viel zu fokussiert darauf, die Bohnenranke wegballern zu wollen, um auch nur irgendetwas zu hinterfragen.

Jedenfalls begann man deshalb bei der Papstwahl bewusst die absonderlichsten Kreaturen des Universums zu wählen. Nachdem die Menschen jedoch schon jahrelang den Papststuhl besessen hatten, wurde die Nummer zwei der absonderlichsten Kreaturen letztlich erwählt: ein gewöhnlicher Goldfisch.

»Bauet mir ein Haus auf, dass ich einkehre unter euer Dach«, sagte der Weltraumpapst. Herlor zog den Fisch wortlos aus dem Wasserhahn, lief ins Bad und spülte ihn unter lautstarken Protesten des Fisches durch die Toilette zurück dahin, wo irgendjemand sich für seine Meinung interessieren würde.

Er setzte sich wieder an den Tisch und überlegte kurz, doch einmal an diesem Kaffee zu nippen. Was könnte schon passieren? Er wurde jedoch durch Raumschifflärm von seinem Gedanken abgebracht. Raumschifflärm unterscheidet sich von gewöhnlichem Lärm darin, dass er immer hochfrequent fiept.

Deshalb hassen Hunde Raumschiffe, was die Menschen nicht davon abgehalten hat, einige davon ins All zu schießen. Im Garten landete geradewegs eine Armada an Schiffen. Alle Hunde im Umkreis von fünfzig Kilometern wählten heroisch den Freitod, Herlor blickte missmutig hinaus.

»Geben Sie uns die Bohnenranke!«, schrie eine Gruppe grünlich schimmernder Echsenhumanoiden.

»Die Prophezeiung ist erfüllt. Die große Ranke ist niedergekommen, auf dass sie uns den Weg weise«, starteten einige Mönche vom großen Planeten der Prophezeiung spontan einen Gebetskreis um die Ranke herum.

»Guten Tag, ist dies ein guter Zeitpunkt, um über Ihre Haftpflicht- und Zahnzusatzversicherung zu sprechen?«, rief ein Versicherungsmakler Jack zu, der nur teilnahmslos aus seinem Haus heraus starrte. Jörg nutzte die Gunst der Stunde und feuerte ein paar Salven aus seiner Knarre auf die Bohne ab, ohne jedoch einen signifikanten Erfolg zu verzeichnen. Außer natürlich, die Mönche zur Weißglut zu bringen und das Feuer von einigen anderen Völkchen auf sich zu ziehen, die spontan die Bohnenranke zu ihrem Heiland auserkoren hatten. So brach innerhalb kürzester Zeit die Hölle über den kleinen Ort hinein. Also nicht die Art von Hölle, die der Goldfischpapst proklamierte – eine Wiedergeburt als Fischstäbchen im Kühlregal – sondern die Art von Hölle mit Feuer und Gewalt und Explosionen. Herlor packte Jack an den Schultern und schüttelte ihn.

»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Verdammt noch mal, Sie müssen sich was einfallen lassen.«

»Ich geh ins Bett«, knurrte Jack genervt. Er schubste Herlor zur Seite, schlich ins obere Stockwerk, rollte sich in seiner Decke ein und fiel in einen tiefen Schlaf. Er träumte von einer Milchpackung, die er vergessen hatte zu kaufen und die nun weinend in der Kühltheke eines Supermarktes saß. Am Ende des Traumes schlitzte sich die Packung selbst die Milchadern auf und zerfloss auf den Supermarktboden.

Als Jörg wieder aufwachte, war es still. Er schaute sich um und stellte zu seinem Vergnügen fest, dass sein Haus noch stand.

In die Pantoffeln geschlüpft stolperte er die Treppe hinunter. Im unteren Geschoss herrschte absolutes Chaos. Überall lagen erschossene Wesen verschiedenster Planeten. Naja, dachte sich Jack, dann lebe ich jetzt wohl auf einem Alienfriedhof. Er würde sich damit schon arrangieren können. Im Garten stand weiterhin die prächtige Bohnenranke. Es störte ihn tatsächlich etwas, dass sie die Sonne verdeckte. Er holte die GamJun 7 aus dem Schrank, richtete sie auf die Bohnenranke und drückte ab – woraufhin diese zu seiner leichten Verblüffung vollständig verschwand. Tja, dachte sich Jack, wenn sie mich mal gefragt hätten. Aber hat ja wieder keiner. Er legte die Knarre auf den Tisch und schlich wieder hoch in sein Bett. Im Hintergrund hörte er leise zwischen den Leichenbergen Achims Schnarchen. Und so lebten und schliefen Achim und Jack lange vergnügt auf einem Alienfriedhof zusammen, da Achim wusste, dass leere Milchpackungen nicht zurück in den Kühlschrank gehörten.

Rosi Blum

 

Der Glühwürmchenkomplott

 

»Haben sie mich erwischt?«, fragte Daphne mit schwacher Stimme. Sie spürte einen stechenden Schmerz am Kopf. Nur die roten Notleuchten des Armaturenbrettes ihres Wagens waren noch an.

»Koll … Kollision … Daphne, es gab eine Kollision …«, dröhnten die Wortfetzen einer verzerrten Stimme aus dem Bordcomputer.

»Diese verdammten Bastarde!«, rief Daphne ungehalten und bereute es sofort, als ihr Kopf drohte zu explodieren.

Sie lehnte sich zurück in ihren Sitz und atmete erst einmal tief durch, ehe sie versuchte, einen Blick nach draußen zu werfen. Durch die eingestaubten Fenster konnte man nur schemenhaft die Konturen von Bäumen erkennen.

»Daphne, gib die Koordinaten ein!«, forderte die Stimme, die der jungen Frau vertraut vorkam.

»Den herumschwirrenden Lichtern auf meiner Windschutzscheibe nach zu urteilen«, bemerkte Daphne, »bin ich nicht mehr in New York Grad II. Aber wo bin ich dann?«

»Daphne«, forderte die Maschine hartnäckig, »bitte starte das Update des Bordcomputers.« Nachdem die junge, schwarzhaarige Frau die Koordinatensuche aktiviert hatte, folgte sie der Aufforderung der Stimme.

»Bitte warten«, ertönte diese erneut aus ihrem fliegenden Auto. Sie sah, dass der Ladebalken auf dem Display nicht wirklich schnell vorankam.

»Naja«, kommentierte sie resigniert, öffnete vorsichtig die Türe des Wagens und stieg aus. »Solange der Bordcomputer lädt, sehe ich mich mal um, wo ich eigentlich gelandet bin.«

Irritiert ließ sie ihre Blicke umherschweifen.

»Warum stehe ich in einem Wald? Wo bin ich nur? Es sieht nicht so aus, als wäre ich noch im Jahre 2232.« Erstaunt betrachtete sie ihre Umgebung. »Alles wirkt so anders – so fremd. Oder bin ich etwa in eines der Tropenhäuser gestürzt?«

Behutsam schloss sie die Autotür. Wieder bemerkte sie die leuchtenden Punkte auf ihrer Windschutzscheibe. »Was sind das nur für Wesen?«

»Das sind Glühwürmchen!«, riss eine laute Stimme die junge Frau aus ihren Beobachtungen. »Und zwar meine!«

»Was bist du denn für ein seltsam aussehender Kasper?«, fragte Daphne und musterte den mit einem Schwert herumfuchtelnden Mann kritisch. »Identifiziere dich!«, dröhnte ihre verzerrte Stimme aus ihrem Helmlautsprecher, während sie ihre Waffe zog und auf den Mann richtete.

»Ich«, verkündete der Mann, »bin Prinz Ambrosius von Hellvaria.« Mit hochgezogener Augenbraue plusterte er sich auf. »Sohn des mächtigen Königs Eckbert, dem Gerechten. Der Bezwinger der Hexen aus dem Nebelwald, der Überbringer der nie gelösten Geheimnisse. Ich erlegte das Feuereinhorn und drängte die Riesen in ihre Berge zurück.«

Gegen den Kodex ihrer Ausbildung nahm Daphne ihren Helm ab. Sofort stiegen ihr Düfte in die Nase, die sie nun sicher wissen ließ, dass sie sich nicht mehr in dem Stadtteil befand, in dem sie noch vor kurzer Zeit von einer konkurrierenden Firma angegriffen wurde. Kein Smog. Kein verbranntes Plastik in der Luft. Kein Staub.

Daphne hörte leises Gezwitscher von Vögeln – diese Geräusche kannte sie aus den riesigen Tropenhäusern, die man in ihrer Welt besichtigen konnte. Auch Zirpen von Grillen und das Gequake von Fröschen vernahm sie immer wieder.

»Mit wem«, fragte der Mann, »habe ich die Ehre?«

»Ich bin Daphne«, antwortete die schwarzhaarige Frau selbstbewusst. »Paketzustellerin bei Future Sign. Ich liefere seit fünf Jahren zuverlässig sensible Fracht an wichtige Kunden aus. Ich bin eine der Besten in meinem Job. Auch wenn es im Moment vielleicht nicht so aussieht. Ich wurde angegriffen.« Der Prinz starrte sie nur verwundert an. »Verstehst du, was ich sage?«, fragte Daphne. »Ihr sprecht in Rätseln.«

»Ich habe Kisten in meinem Wagen«, erklärte Daphne und zeigte auf ihr hochmodernes, fliegendes Auto, dass sich um einen Baum gewickelt hatte. »Darin befinden sich Proben längst ausgestorbener Tiere und Pflanzen. Wissenschaftler versuchen diese im Jahr 2232 erneut anzusiedeln.«

»Junges Fräulein, fürchtet Ihr Euch nicht«, fragte der Königssohn, der noch immer sein Schwert zum Kampf bereithielt und sich immer wieder umblickte. »wenn Ihr im Wald mit solch sonderbaren Dingen umherirrt. In dieser Gegend hausen viele Schurken und Drachen, die nicht nur nach Eurem Hab und Gut trachten, sondern ebenfalls nach dem Leben.«

»Ich habe keine Angst«, lachte Daphne und hielt ihre Hyperlaserwaffe hoch. »Solange ich diese Pistole bei mir trage, sollten sich alle vor mir fürchten.«

»Die Banden in diesem Wald«, offenbarte der Königssohn mit weit aufgerissenen Augen. Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, beugte er seinen Oberkörper weit nach vorne. »greifen aus dem Hinterhalt an. Da kann Euch Euer teuflisches Werkzeug nicht helfen.«

»Wie gesagt«, erklärte die Paketzustellerin in einem strengen Ton, um ihrer Aussage mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen. Sie stützte ihre Hand auf die Hüfte und fuchtelte nun ebenso mit ihrer Waffe herum, »ich habe keine Angst – vor allem nicht vor Männern! Diese sind bestimmt genau solche seltsamen Hampel wie du.«

»Ihr seid ein freches Gör«, zischte Ambrosius verärgert und runzelte die Stirn. »Der König in Eurem Land sollte über dieses Verhalten unterrichtet werden.«

»Männer, Könige – pfff«, schnaubte Daphne genervt und verdrehte die Augen. »Im Jahr 2232 versuchen die Frauen immer noch die Schäden einzudämmen und zu richten, welche Männer Jahrhunderte lang vorher angerichtet haben. Männer spielen nur noch eine ganz kleine Rolle in unserer Gesellschaft. Der Rest wurde verbannt oder fristet sein Dasein als Aufständler.«

Die Paketzustellerin überlegt kurz.

»Bist du etwa einer dieser Aufständler?«

»Ich bin Prinz Ambrosius von Hell …«

»Das sagtest du bereits«, unterbrach die junge Frau ihr Gegenüber schroff und fuhr sich aufgewühlt durch die Haare. »Ich merke schon, du erzählst gerne, wer du bist und was du schon alles erreicht hast.«

»Wer viel zu bieten hat«, erwiderte der Prinz eingeschnappt. »kann dies auch kundtun!« Ein Geräusch zog die Aufmerksamkeit der angespannten Daphne auf sich. Erschrocken drehte sie sich um, richtete ihre Waffe und schoss direkt auf die sich bewegende Stelle in einer Hecke. Nur ein schwarzer, rauchender Fleck blieb nach dem Treffer übrig.

»Ich dachte«, flüsterte die junge Frau vor sich hin, während sie überrascht die Einstellung der Waffe beäugte, »sie steht auf Einfrierung?«

»Ein wahrhaft teuflisches Werkzeug tragt Ihr mit Euch herum?« Aufmerksam beobachtete Ambrosius die Situation.

»Ich sagte doch«, offenbarte die Paketzustellerin stolz, »dass ich mit dieser Waffe nichts zu befürchten habe. Was hast du mit diesen leuchtenden Punkten vor?«

»Ihr meint die Glühwürmchen?«, erkundigte sich der Prinz.

»Ja!«

»Eines dieser Tiere ist eine verwunschene Prinzessin. Ich will ihren Fluch brechen.«

»Die Prinzessin weiß wohl«, ist Daphne amüsiert, »dass du sie erlösen willst und fliegt deswegen immer davon.«

»Jedes Fräulein im Lande wäre glücklich, wenn sie mit einem Prinzen von Hellvaria vermählt würde.«

»Oh man«, seufzte die junge Frau und fuhr sich erneut durch die schwarzen Haare, »in welchem Irrenhaus bin ich hier nur gelandet?«

»Im Reich des mächtigen Königs Eckbert, dem …«

»Das«, unterbrach Daphne ihr Gegenüber forsch und genervt. »sagtest du bereits!«

»Die Glühwürmchen!«, blickte Ambrosius erschrocken und mit aufgerissenen Augen den davonschwirrenden Tieren hinterher.

»Sie fliehen! Ihr habt sie mit Eurem Geschrei verschreckt!«

»Das war nicht meine Absicht.« Daphne hatte sofort ein schlechtes Gewissen.

»Helft mir sie einzufangen«, bat der Prinz, während er aufgebracht dem leuchtenden Schwarm folgte. Daphne zögerte. Doch dann verschloss sie den Wagen, zog ihren Anzug aus und folgte dem Fremden neugierig tiefer in den Wald hinein.

»Da oben sind sie«, rief Ambrosius aufgebracht und stand außer Atem in einer Lichtung. Er blickte in die Baumwipfel über ihm. »Die Sonne geht schon unter.«

»Es sieht wundervoll aus«, staunte Daphne und konnte die Augen kaum von dem Schauspiel lassen. »wie sie in der Abenddämmerung leuchten.«

»Ihr müsst mir helfen, dass sie aufhören zu leuchten!«, bat der Prinz.

»Warum?«, fragte die Paketzustellerin, die von den leuchtenden Tieren ganz gebannt war. »Sie sind wunderschön.«

»Weil er sonst seinen Kopf verliert.« Daphne blickte sich irritiert um, als sie die knorrige Stimme vernahm.

Wer war das? Der Wald schien aus einem Märchenbuch gefallen zu sein. Von Moos bedeckte Felsen und Stämme, bei denen es schien, als wären sie schon mit dem Boden verwachsen. Leicht wippende Blätter, die seicht vom Wind gestreichelt wurden und von denen ab und an kleine Wassertropfen herunterperlten. Die letzten Strahlen der Abendsonne ließen die Staubkörnchen, die von herumtollenden Eichhörnchen aufgewirbelt wurden, wie tausend kleine Diamanten funkeln. Eine Lichtung, die mit all der Farbenpracht, die sie umgab, aussah, als würde der Weg direkt in ein wunderschönes Ölgemälde führen.

Daphne empfand eine friedliche Ruhe, die nur ab und an von einem Gezwitscher oder dem Eulenruf unterbrochen wurde.

»Jetzt sei nicht immer so gehässig«, raunte eine weitere tiefe Stimme ihre Meinung. »Er kann ja nichts dafür, dass er ein Nichtsnutz ist.«

»Wer spricht denn da?« Daphne drehte sich im Kreis, konnte aber, außer Ambrosius, niemand Weiteres entdecken.

»Seid still«, schimpfte Ambrosius wild gestikulierend.

»Warum schreist du Bäume an?«, erkundigte sich die junge Frau verwundert.

»Weil sie ihren bösartigen Mund halten sollen!«, tobte der Königssohn weiter.

»Als könnte uns«, vernahm Daphne eine zischende Stimme, die von einem frechen Lachen untermalt wurde, »der Prinz ohne Daseinsberechtigung, unsere Meinung verbieten.« Plötzlich entdeckte sie zwei eng nebeneinander gewachsene Bäume. Kein anderer Baum weit und breit stand so nah neben einem anderen, wie diese beiden zusammenstanden.

Kleine Augen, die kaum zu erkennen waren. Äste, die aus den Holzstämmen herausragten und sich wie Nasen rümpfen ließen.

Aus den zahnlosen Mündern tropfte unentwegt Harz, der auf den dicken, alten Stämmen eine Kruste bildete.

»Die Sonne geht schon unter«, gluckste der vom Efeu überwucherte Baum, »und die Würmchen leuchten in allen Regenbogenfarben. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird er sie finden.«

»Wer«, forschte Daphne mit einem fragenden Blick nach, »wird die Glühwürmchen finden?«

»Ihr müsst mir helfen«, bettelte der Königssohn und kaute zitternd an seinen Fingernägeln herum, »dass sie zu leuchten aufhören.«

»Ambrosius«, erkundigte sich die Paketzustellerin bei ihrem Gegenüber und belächelte ihn ein wenig, »warum wirst du so nervös?«

»Weil er kommen wird …«, antwortete der Baum, aus dessen Stamm Pilze wuchsen, während ein Kauz sich in seinen Ästen zu Hause fühlte. »Er wird dem Vater des Prinzen zuvorkommen und dem leidigen Leben endlich ein Ende setzen.«

»Hört auf in Rätseln zu reden«, forderte Daphne mit strenger Stimme. Denn sie verlor langsam die Geduld. »Wer wird kommen?«

»Bitte«, flehte Ambrosius schon fast, »helft mir mit Eurer Waffe, dass sie aufhören zu leuchten. Die Zeit drängt!«

»Was ist hier nur los?«, brach es aus der jungen Frau heraus und sie raufte sich die Haare.

»Ich werde die Glühwürmchen bestimmt nicht vernichten. Warum habt ihr so eine schlechte Meinung von Ambrosius?«

»Traue ihm nicht …«, flüsterte der efeubewachsene Baum.

»Wende dich von ihm ab«, ergänzte der pilzbewachsene Baum, »solange du noch kannst …«

»Er wird dich ins Unglück stürzen …« Die Waldwesen fielen sich gegenseitig ins Wort.

»Du kannst ihm nicht über den Weg trauen …«

»Genug!«, schrie der Prinz und beendete das unentwegte Gerede mit einem forschen Zwischenruf.

»Glaube ihm nicht, was er dir erzählt …« Die Bäume ließen sich nicht vom Reden abhalten.

»Nur wenn der Königssohn den Fluch der Prinzessin bricht, wird sein Vater dessen Leben verschonen …«

»Aber das wird er nicht schaffen.« Die Stimmen der alten Holzgewächse krächzten schon vor Gehässigkeit.

»Die Tiere spüren, dass er sie nur aus Eigennutz aufsucht«

»Er wird kommen, um all dem ein Ende zu setzen …«

»Wer wird kommen?« Daphne wird langsam ungeduldig.

»Der schwarze Ritter, wer sonst …?«

Der efeuüberwucherte Baum riss seine kleinen Augen weit auf und noch mehr Harz floss aus seinem Mund über den dunklen Stamm auf den moosigen Boden.

»Wer ist dieser schwarze Ritter?«, raunte Daphne, die von dem Herumgerede genervt war.

»Der Prinz«, offenbarte der pilzbewachsene Baum und bewegte seine Äste, sodass der kleine Kauz darauf aufwachte und mit lautem Gezwitscher in den Wald davon flog, »ist ihm schon begegnet …«

»Er konnte dem Reiter nur knapp entkommen …«

»Er ist feige davongelaufen …« Immer weiter plapperten die Waldgeschöpfe.

»Er läuft immer feige davon …«

»Hat er dir auch die Geschichten seiner Errungenschaften erzählt?« Die Bäume lachten erneut.

»Bevor er in den Nebelwald zu den Hexen ging, bog er lieber in den Feenwald ab und ließ sich zeigen, wie man Blumen pflanzt …«

»Ja, und die Riesen entpuppten sich als Zwerge, vor denen er ängstlich davongelaufen ist …«

»Das Feuereinhorn konnte er …«

»Schweigt endlich!«, fiel der Prinz den Bäumen erneut lautstark ins Wort.

»Ambrosius«, sprach Daphne ihren Begleiter an und beobachtete die Mimik des Prinzen, und sah, Schweißperlen rannen über seine Stirn, »warum bist du bei deinem Vater in Ungnade gefallen, dass du um dein Leben bangen musst?«

»Er hat versucht«, antwortete einer der Bäume, »seinen wohlgeratenen Bruder entführen zu lassen …«

»Ja, feige und hinterhältig …«

Verachtende Blicke richteten die Waldgeschöpfe auf den Königssohn.

»Doch er versuchte die Gesetzlosen um ihren gerechten Lohn zu bringen«, gab der mit Efeu bewachsene Baum die Schandtaten des Prinzen weiter preis, »und deshalb ließen sie den zukünftigen König wieder laufen …«

»Oh«, lachte die junge Frau los, »ich dachte schon, Ambrosius wurde wegen seines schlechten Kleidergeschmacks verbannt.«

»Wer solche Kleidung wie du trägt …« »Sollte nicht«, ergänzte der pilzbewachsene Baum den Satz seines Nachbarn, »über das Aussehen anderer schlecht reden!« Überrascht sah Daphne an sich herunter. Pinkes Shirt, Leopardenleggins und die grünen Lieblingsturnschuhe. Ist doch ein super Outfit!

»Hey«, maulte die Paketzustellerin sofort los und richtete mit strengem Blick ihre Waffe auf die zwei sich amüsierenden Bäume, »in New York Grad II gibt es auch sprechende Bäume und ich weiß, wie man sie ausschaltet!«

»Ja, vernichtet die Bäume«, witterte Ambrosius seine Chance. »Dann fliegen die Glühwürmchen wieder an einen anderen Ort.«

»Spürt ihr auch«, bemerkte Daphne, »dass es kälter wird?« Daphne begann in ihrem pinken T-Shirt zu frieren.

»Oh nein …«, flehte Ambrosius und bekam große Augen. »Bitte, bitte vertreibt schnell die Glühwürmchen aus den Baumwipfeln.«

Daphne blickte noch einmal zu den leuchtenden Tieren in die Höhe, ehe sie ihren Blick wieder nach unten wandte.

»Es scheint«, äußerte die junge Frau, »als würde Nebel aufkommen.« Die Lichtung verlor die Farbenpracht von vorhin und erinnerte jetzt eher an einen dunklen, rauchgeschwängerten Pfad, der ins Nichts zu führen schien. »Was hat es nun mit dem schwarzen Ritter auf sich?«

»Er sucht die Glühwürmchen …«, flüsterte der eine Baum mit dramatisch verstellter Stimme.

»Um den Fluch zu brechen …«, ergänzte der Andere.

»Er kommt …«, flüsterte der andere Baum weiter. Ganz ehrfürchtig und leise verstummten beide.

»Wo ist Ambrosius?« Daphne sah sich um. Ein kalter Schauer kroch ihr langsam den Rücken herunter. Sie hörte ihr Herz im Brustkorb pochen, so still war es plötzlich.

Das aufkommende Angstgefühl versuchte die junge Frau mit aller Macht zu unterdrücken. Ein großer Schatten weckte ihre Aufmerksamkeit, der sich langsam im Mondschein auf der Lichtung aufbaute. Gebannt blieb der Blick der Paketzustellerin an dem Schauspiel hängen. Doch nicht, wie erwartet, trat der schwarze Ritter zum Vorschein, sondern Ambrosius. Daphne entspannte sich leicht bei dessen Anblick.

»Wendet Euch um«, schrie der Prinz aufgebracht sein Gegenüber an. »Er wird Euch töten!« Die junge Frau drehte sich um und blickte auf ein großes schwarzes Pferd mit roten Augen, auf dem der schwarze Ritter saß. Er holte gerade mit seinem Schwert aus und schlug nach der Paketzustellerin. Schnell richtete sie ihre Waffe auf den übermächtig scheinenden Widersacher und schoss. Da sie stolperte, verfehlte sie ihren Gegner. Das Pferd schlug mit den vorderen Hufen nach ihr. Sie konnte dem Angriff ausweichen. Wieder ging sie einige Schritte rückwärts und richtete die Waffe erneut auf den schwarzen Ritter. Während die bunt leuchtenden Glühwürmchen begannen, um sie herum zu schwirren, fiel sie rückwärts zu Boden. Sie spürte einen Schmerz am Kopf und sofort wurde ihr schwarz vor Augen.

 

»Daphne, bitte starte das Update des Bordcomputers. Daphne, bitte starte das Update des Bordcomputers. Daphne …« Die Dauerschleife fand langsam den Weg in das Bewusstsein der Paketzustellerin.

Das Erste, was Daphne sah, als sie die Augen wieder öffnete, waren bunte Lichter, die vor ihr auf der Windschutzscheibe herumtanzten.

Als die junge Frau langsam realisierte, dass sie in ihrem Wagen saß, drehte sie sich blitzschnell um.

»Was ist mit meiner Fracht?«, brach es aus der geschockten Daphne heraus. »Da fehlt doch was!«

Durcheinander blickte sie wieder zu den leuchtenden Punkten und schaute sie sich näher an

»Sind das Glühwürmchen? Ich bin doch in New York Grad II. Warum sind die Glühwürmchen hier? Im Jahr 2232 existieren doch diese Tiere nicht.«

Daphne öffnete ihre Türe und wollte aussteigen.

»Warum kann ich mich nicht bewegen? Was ist nur los?« Verwundert blickte sie an sich herunter. »Ich bin eingeklemmt. Warum sind meine Beine voller Blut?«

»Daphne«, riss die Aufforderung sie aus ihren Gedanken, »bitte starte das Update des Bordcomputers …« Plötzlich knisterte es in der Elektronik des Wagens und die Stimme brach ab. Mit weit aufgerissenen Augen blickte die junge Frau, deren Herz wie wild pochte, auf den Lautsprecher. »Daphne, du bist mit deinem Wagen verunglückt.« Erschrocken starrte die Paketzustellerin nun auf das Display ihres Bordcomputers. »Der Hilferuf wurde automatisch ausgelöst. Hilfe ist bereits vor Ort.«

»Warum hat er plötzlich eine andere Stimme?«, sprach die junge Frau laut mit sich selbst, während ihr Puls schlagartig stieg. »Als würde einer dieser sprechenden Bäume mit mir reden … Warum sind einige meiner Kisten auf der Straße verstreut? Ich muss aus dem Wagen heraus.« Erneut startete die junge Frau einen Versuch ihre Beine zu bewegen. »Es geht nicht.« Schwer atmend und verzweifelt warf sie sich zurück in ihren Autositz. Wieder fielen ihr die leuchtenden Punkte ins Auge, die noch immer vor ihr herumtanzten. »Warte …«, begann Daphne erneut vor sich hin zu brabbeln und freute sich sichtlich über ihre Idee. Schnell holte sie die Lieferliste ihrer Fracht hervor. »Das sind gar keine Glühwürmchen.«

Ihr Blick schweifte kurz ab. »Auf der Liste steht, dass ich Mikroorganismen transportiere. Was ist nur mit ihnen geschehen? Wie kamen sie aus ihrer Box heraus?« Daphne wandte sich um.Dann las sie wieder in der Liste weiter. »Behältnis mit nicht genannter, sensibler Substanz. Diese Flüssigkeit darf mit keinem lebenden Organismus gekreuzt werden …«

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich eine schwarz gekleidete Gestalt, die ihren Helm auf Höhe der Verletzten senkte und sie aus ihrem Gedankenfluss riss. »Wir wurden über Ihren Bordcomputer informiert, dass Sie verunglückt sind.«

»Ich bin eingeklemmt«, antwortete die junge Frau erstaunt. »Bist du etwa der schwarze Reiter?« Ihre Augen waren bei dem Anblick des Angst einflößenden Riesen weit aufgerissen.

»Machen Sie sich keine Sorgen Daphne«, klang die Stimme aus dem Helm weiter verzerrt. »Ich bin von der Sicherheitsfirma dieses Bezirkes. Wir haben alles unter Kontrolle.« Seelenruhig langte die dunkle Gestalt in den vorderen Teil des Wagens und sammelte die bunt leuchtenden Tiere ein, ohne sich weiter um die eingeklemmte Paketzustellerin zu kümmern.

Katharina Breil

 

#Schneewittchen

 

Bevor Schneewittchen in das Leben der sieben Zwerge kam, hatten sie Beeren und Fleisch roh verzehrt. Dreckige Gläser benutzten sie weiter. Die Bettwäsche wechselten sie nie. Erst Schneewittchen zeigte ihnen, dass gebratenes Fleisch zart im Mund zerfällt. Dass Bier aus einem gespülten Glas angenehm süffig schmeckt. Dass eine gewaschene Bettdecke schönere Träume beschert. Der Tag, an dem die Zwerge Schneewittchen zu Grabe trugen, war der schwärzeste ihres Lebens. Es gibt wohl nichts Schrecklicheres, als in ein abgelegtes, muffiges Leben zurückzukehren, nachdem man den Lufthauch einer fleißigen Frau im Haus verspürt hat.

 

»Mein Kopf.«

Schneewittchen blinzelte. Sie hatte doch gerade noch den Hefezopf für die Zwerge in den Backofen geschoben. Warum lag sie jetzt am Boden?

Was ist passiert? fragte sie sich.

Sie öffnete die Augen. Verschwommenes Grau wurde von hellen Lichtern durchzogen. Schneewittchen stemmte sich hoch. Ihr Körper schmerzte wie nach einem tiefen Fall. Das Verschwommene nahm langsam Konturen an. Sie schrie auf. Das hier war nicht die Zwergenhütte. Es war eine Hauswand. Grau und hoch. Als wollte sie an den Wolken kratzen. Schneewittchen hielt sich den schmerzenden Kopf. Das muss ein Alptraum sein.

Sie zwickte sich ins Ohrläppchen, um aufzuwachen. Doch je mehr ihr Ohrläppchen schmerzte, desto sicherer fürchtete sie, dass das Haus und die hämmernden Töne, die herausdrangen, real waren.

Durch ein riesiges Fenster konnte Schneewittchen ins Innere des Hauses schauen. Absonderlich gekleidete Menschen kauerten an weißen Tischen. Starrten hypnotisiert auf schwarze Tafeln. Bissen geistesabwesend in kleine Brote, aus denen Blut quoll.

»Willst du zu Burger King, oder versperrst du hier nur unnötig den Weg?« Ein junger Mann stand auffordernd vor Schneewittchen.