Ethische Kernthemen -  - E-Book

Ethische Kernthemen E-Book

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Beschreibung

Eine Einführung in Ethische Kernthemen: elementar – fachlich fundiert – didaktisch erschlossen. Verfasst von den führenden evangelischen und katholischen Religionspädagoginnen und Religionspädagogen des deutschen Sprachraums. Ethische Kernthemen bilden den Inhalt des vierten, komplett neu erarbeiteten Bandes der bewährten Reihe "Theologie für Lehrerinnen und Lehrer". Die Autorinnen und Autoren erschließen anhand von 40 Begriffen zentrale Themenbereiche christlicher Ethik. Die Auswahl orientiert sich an den in Lehrplänen enthaltenen Kompetenzerwartungen. Jeder Begriff wird in dreifacher Weise entfaltet: aus lebensweltlicher, theologisch-ethischer und didaktischer Perspektive. Die Artikel sind alphabetisch angeordnet. Sie ermöglichen eine klare Übersicht sowie eine verständliche Grundlage für eine ethische Bildung im Religionsunterricht. Themen im Einzelnen sind u. a.: Armut/Reichtum/Eigentum, Digitalisierung/Big Data/künstliche Intelligenz, Diskriminierung/Rassismus, Glück/gutes Leben, Menschenrechte/Menschenwürde, Multireligiosität/Weltethos, Umwelt/Nachhaltigkeit/ökologische Ethik. Religionsunterricht soll Schülerinnen und Schüler zu einer mündigen Lebensführung und solidarischen Weltgestaltung befähigen. In diesem Band finden Studierende wie Lehrende praxisbezogene Anregungen für einen theologisch fundierten sowie an Kindern und Jugendlichen orientierten Unterricht.

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THEOLOGIE FÜR LEHRERINNEN UND LEHRER (TLL)

herausgegeben von

Martin Rothgangel und Henrik Simojoki

Henrik SimojokiMartin RothgangelUlrich H. J. Körtner (Hg.)

Ethische Kernthemen

Lebensweltlich – theologisch-ethisch – didaktisch

Neuausgabe.

3., komplett neu erarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;

Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © svetlanais/Adobe Stock

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99480-2

Inhalt

Einleitung

Ulrich H.J. Körtner / Martin Rothgangel / Henrik Simojoki

Arbeit / Beruf / Freizeit

Matthias Gronover

Armut / Reichtum / Eigentum

Bernd Schröder

Behinderung / Inklusion

Bettina Brandstetter / Oliver Reis

Demokratie / Populismus

Thomas Schlag

Digitalisierung / Big Data / Künstliche Intelligenz

Birte Platow

Dilemma / ethisch argumentieren

Thomas Weiß

Diskriminierung / Rassismus

Joachim Willems

Ehe / Familie / Paarbeziehungen

Michael Domsgen

Ernährung

Katrin Bederna

Frieden und Krieg / Terrorismus

Elisabeth Naurath

Geld / Finanzmärkte / Finanzwirtschaft

Thomas Heller

Gender / Gendergerechtigkeit

Andrea Lehner-Hartmann

Genom-Editierung / Gen-Scheren / CRISPR-Cas9

Monika E. Fuchs

Gesundheit / Krankheit

Helga Kohler-Spiegel

Gewalt / Aggression

Martin Rothgangel

Gewissen

Clauß Peter Sajak

Globalisierung

Henrik Simojoki

Glück / gutes Leben

Peter Bubmann

Interkulturalität / Heimat

Mirjam Schambeck sf

Konflikt und Konsens / Zusammenleben

Thorsten Knauth

Lebensanfang

Mirjam Zimmermann

Lebensende

Stefan Altmeyer / Stephan Goertz

Liebe und Sexualität

Annegret Reese-Schnitker

Medien / Mediennutzung

Ilona Nord

Menschenrechte / Menschenwürde

Manfred L. Pirner

Migration / Flucht / Asyl

Britta Konz

Multikulturalität / Multireligiosität / Weltethos

Karlo Meyer

Nachhaltigkeit / Umwelt / Ökologische Ethik

Jan Woppowa

Nächstenliebe / Diakonie / Caritas

Konstanze Kemnitzer/Matthias Roser

Optimierung der menschlichen Natur

Claudia Gärtner

Schuld / Strafe / Versöhnung

Andreas Kubik

Sucht / Abhängigkeit / Drogen

Susanne Schwarz

Technik

Hans-Ferdinand Angel

Tierethik

Janine Hoffmann / Nadine Tramowsky

Verantwortung

Friedrich Schweitzer

Verhältnis der Generationen

Judith Könemann

Vorbilder / Modelle / Heilige / Local Heroes

Hans Mendl

Werte / Normen

Konstantin Lindner

Wirtschaft / Kapitalismus / Soziale Marktwirtschaft

Bernhard Grümme

Zehn Gebote und Bergpredigt

David Käbisch

Namensregister

Die Autorinnen und Autoren

Einleitung

Ulrich H.J. Körtner / Martin Rothgangel / Henrik Simojoki

Der Bedarf an Ethik ist in den letzten Jahrzehnten beständig gestiegen. Ob Biomedizin, Umwelt- und Klimaschutz, Technikfolgen oder Finanzmärkte: Überall wird der Ruf nach Ethik laut. Politische Auseinandersetzungen werden nicht nur als Streit zwischen konkurrierenden sozialen, ökonomischen oder nationalen Interessen, sondern auch als moralische Konflikte geführt.

Eine Antwort auf den gesteigerten Bedarf an ethischer Orientierung ist ihre Professionalisierung und Institutionalisierung. Seit der Jahrtausendwende wurden in Europa und weltweit nationale Ethikkommissionen eingerichtet, von der Biopolitik bis zum Sport. Gleichfalls hat die Praktische Philosophie in den letzten Jahren einen neuen Aufschwung erlebt. Es gibt eigene Lehrstühle für Medizinethik, für Technikethik, Maschinenethik und Ethik der Künstlichen Intelligenz. Es gibt hauptberufliche Ethikerinnen und Ethiker in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, außerdem eine Vielzahl von Angeboten im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung auf Feldern der angewandten Ethik.

Der Philosoph Ottfried Höffe (1993) spricht von der Moral als Preis der Moderne. Man sollte wohl besser sagen: Ethik als kritische Theorie der Moral ist der Preis der Moderne und der Dynamik ihres wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie der fortlaufenden Pluralisierungsprozesse in modernen Gesellschaften. Es drängt sich die Frage auf, was eine in viele gesellschaftliche Subsysteme ausdifferenzierte, weltanschaulich und religiös plurale Gesellschaft noch im Innersten zusammenhält. Die oder eine bestimmte Religion vermag dies offenbar nicht mehr zu leisten. Alternativ richten sich die Hoffnungen auf Moral und Ethik, was sich auch im schulischen Bereich bemerkbar macht: etwa in der Forderung nach einem (in Berlin bereits für die 7.–10. Klasse eingeführten) Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler (SuS) als Pflichtfach oder, wie in diesem Band, im Plädoyer für eine ethische Profilierung des Religionsunterrichts.

Auch das neu erwachte politische Interesse von SuS, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, das sich besonders eindrücklich in der weltweiten Bewegung Fridays for Future manifestiert, ist in starkem Maße moralisch motiviert. Klimaschutz gilt eben nicht nur als eine Frage der Politik, sondern auch der Moral, wobei ein eigentümliches Amalgam von Moral und Wissen entsteht. In der 18. Shell Jugendstudie (Albert, Hurrelmann & Quenzel, 2019) tritt der ethische Wurzelgrund des verstärkten politischen und gesellschaftlichen Engagements von Jugendlichen ebenso eindrücklich wie differenziert zutage. Bei genauerem Lesen wird dann aber auch deutlich, dass die titelgebende Zuschreibung »Eine Generation meldet sich zu Wort« keineswegs auf alle Befragten zutrifft.

Der Ethikboom geht freilich mit einer Ethikkrise einher, steigt doch nicht nur die Komplexität moralischer Probleme und die konfliktträchtige Vielfalt an moralischen Überzeugungen. Es herrscht auch eine Vielfalt an ethischen Konzepten, deren Schnittmenge bisweilen gering ist. Universalistische Konzepte, die sich dem Erbe der europäischen Aufklärung verpflichtet wissen, stehen partikularistischen Konzeptionen gegenüber, die das postmoderne Ende der großen Erzählungen auch auf dem Gebiet von Moral und Ethik für gekommen halten.

In dieser Gemengelage genügt es offenbar nicht, sich auf moralische Intuitionen zu stützen. Es ist aber auch nicht mit einer ethischen Supertheorie zu rechnen, die alle gegensätzlichen Standpunkte in sich aufhebt. So bleibt nur das fortgesetzte diskursive Bemühen um ethische Verständigung. Das aber setzt nicht nur ethisches Wissen, sondern auch ethische Bildung voraus, zu der auch der Religionsunterricht einen konstitutiven Beitrag leistet.

Die Idee der Bildung im Sinne der humanen Selbst-Bildung hängt aufs Engste mit der Ethik als Theorie menschlicher, sittlich verantworteter Lebensführung zusammen. Im Unterschied zu Pflanzen oder Tieren lebt der Mensch nicht einfach sein Leben, und dieses läuft auch nicht als unbewusster biologischer Prozess ab. Der Mensch muss vielmehr sein Leben bewusst führen. Wie Bildung hat auch die Ethik die gesteigerte und über sich aufgeklärte Handlungsfähigkeit menschlicher Subjekte zum Ziel. Man kann auch sagen: Alle Ethik ist praktische Anthropologie und alle Bildung ist ethisch dimensioniert.

Unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten ist der Aufschwung, den die Ethik bzw. die praktische Philosophie in den zurückliegenden Jahrzehnten genommen hat, zwiespältig zu beurteilen. Einerseits ist eine neue ethische Sensibilität entstanden, die zur Entwicklung einer Reihe von Bereichs- und Professionsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik oder auch pädagogische Ethik geführt hat. Andererseits lässt sich ein Trend beobachten, Ethik wie andere Fertigkeiten auch als ein Tool zu betrachten, das heute beispielsweise in den Werkzeugkasten eines umfassend ausgebildeten Arztes bzw. einer umfassend ausgebildeten Ärztin oder einer Pflegekraft gehört. Die Tendenz, Bildung auf berufsorientierte Ausbildung zu reduzieren und eine Bildungsgesellschaft mit einer zweckrationalen Wissensgesellschaft zu verwechseln, macht sich eben auch auf dem Gebiet der Ethik bemerkbar.

Das vorliegende Handbuch weiß sich demgegenüber einem Anliegen und Verständnis ethischer Bildung verpflichtet, die ihren Ausgangs- und Zielpunkt in den SuS und deren Befähigung zu einer mündigen Lebensführung und solidarischen Weltgestaltung hat. In diesem Sinne werden im vorliegenden Band 40 ethische Kernthemen für den Religionsunterricht aufbereitet. Das Buch setzt die Neuausgabe der Reihe »Theologie für Lehrerinnen und Lehrer« fort und will im Anschluss an den 2006 erstveröffentlichten Vorgängerband seinen Nutzerinnen und Nutzern »brauchbare Bausteine für eine reflektierte Ethik liefern, die grundständig und durchgängig didaktisch strukturiert und fokussiert ist« (Lachmann, Adam & Rothgangel, 2015, S. 8).

Während sich diese Intention in den 40 Themenbeiträgen materialisiert, führt die ihnen vorgeschaltete Einleitung in dafür wesentliche Grundbestimmungen, Hintergründe, Arbeitsweisen und Leitgedanken ein. Zunächst wird der Beitrag des Religionsunterrichts zu ethischer Bildung skizziert (1.). Darauf folgt eine historisch-systematische Kontextualisierung dieser spezifisch modernen Gestaltungsperspektive (2.). Anschließend werden in elementarer Verdichtung allgemeine Grundlagen theologischer Ethik und ethischer Urteilsbildung entfaltet (3.). Die weiteren Unterkapitel dienen der didaktischen Zuspitzung und Konkretisierung: Zunächst kommen Kinder und Jugendliche als Subjekte ethischer Bildung in den Blick (4.) – eine unabdingbare Basis für den danach präsentierten Überblick über aktuelle Zugänge und Methoden ethischen Lernens (5). Abschließend werden die konzeptionellen Leitperspektiven und Strukturentscheidungen des Bandes dargelegt und begründet (6).

Dabei wird deutlich, dass das vorliegende Buch in Kontinuität zum Vorgängerband steht, aber auch einige weitreichende Neuansätze enthält. Besonderes Gewicht kommt dabei der ökumenischen Öffnung und Profilierung der bislang evangelisch verankerten Reihe »Theologie für Lehrerinnen und Lehrer« zu: Weil sich dieser Band bewusst und gleichermaßen auch an katholische Lehramtsstudierende, Referendarinnen und Referendare sowie Lehrkräfte richtet, sind nun auch Autorinnen und Autoren beider Konfessionen an dem Gemeinschaftswerk beteiligt.

1.Der Beitrag des Religionsunterrichts zu ethischer Bildung

Bevor näher auf das besondere Potenzial des Religionsunterrichts für die Begründung (1.2) und die Begrenzung (1.3) ethischer Bildung eingegangen wird, ist in einem ersten Abschnitt der schulische Kontext des Religionsunterrichts und ethischer Bildung (1.1) näher in den Blick zu nehmen.

1.1Ethische Bildung im Kontext Schule

Moral, Normen und Werte stellen einen wichtigen Bestandteil von Religionen dar. Von daher liegt es nahe, dass ethische Bildung1 gleichermaßen für den Religionsunterricht konstitutiv ist. Allerdings ist im schulischen Kontext zu berücksichtigen, dass ethische Bildung keineswegs allein Aufgabe des Religionsunterrichts ist: Einschlägig ist – sofern er an einer Schule etabliert ist – der Ethikunterricht; darüber hinaus können alle Fächer mehr oder weniger einen Beitrag zu ethischer Bildung leisten. Exemplarisch hervorgehoben sei dies an den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie und Physik, bei denen »Bewertungskompetenz« (z. B. Bayrhuber, 2020, S. 35) einen der vier naturwissenschaftlichen Kompetenzbereiche darstellt. Allerdings kann der Religionsunterricht gemeinsam mit dem Ethikunterricht als Zentrum ethischer Bildung an Schulen dienen und, wo immer sich die Gelegenheit bietet, in Kooperation mit anderen Fächern ethische Themen behandeln.

Ethische Bildung vollzieht sich nicht nur im Fachunterricht, gleichermaßen bedeutsam ist die Schulkultur bzw. das Schulethos. Auch hier kann der Religionsunterricht zum einen durch eigene Projekte wie z. B. zum diakonischen Lernen oder zu Compassion (Kuld & Gönnheimer, 2000) sowie zum anderen durch die Beteiligung an fächerübergreifenden Projekten wie Gewaltprävention oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung einen essenziellen Beitrag leisten.

Blickt man jenseits des schulischen Kontexts grundsätzlich auf die Frage, in welcher Hinsicht der Religionsunterricht ein Potenzial besitzt, um ethische Bildung anzuregen und zu fördern, so lässt sich analog zu den sozialethischen Überlegungen Körtners feststellen, dass er »nicht nur zur Begründung, sondern auch zur Begrenzung von Moral einen unverwechselbaren Beitrag« (Körtner, 2019, S. 24) leisten kann. Diese beiden Punkte sollen im Folgenden näher entfaltet werden.

1.2Religiöse Begründungen von Werten2

Werte, Moral und Ethik stehen im Kontext bestimmter religiöser bzw. nicht-religiöser Sinnzusammenhänge. Dementsprechend werden durch Religion »grundlegende ethische Orientierungen immer wieder gleichsam neu gebildet und geschaffen« (Thaidigsmann, 2007b, S. 216). Dieses führt zwar nicht dazu, dass es bestimmte religiöse Werte geben würde, die sich nicht auch im säkularen Kontext finden lassen. Jedoch trägt der religiöse Begründungs- und Sinnhorizont von Werten erstens dazu bei, dass bestimmte Werte eine größere Bedeutung erhalten. So verdienen aus christlicher Perspektive z. B. folgende Werte eine erhöhte Aufmerksamkeit:

»Barmherzigkeit, die Zuwendung zu Schwächeren, eine fundamentale Sensibilität für die Gabe der Schöpfung und des Lebens, die Erkenntnis, dass ein Mensch nicht zuerst von dem lebt, was er leistet und dass er in seiner unverwechselbaren Individualität […] gerufen ist, seine eigenen Gaben zu entfalten und einzubringen in einem förderlichen Miteinander.« (Thaidigsmann, 2007b, S. 216)

Zweitens kann die biblische Perspektive zu einem spezifischen Verständnis bestimmter Werte wie z. B. Freiheit führen: Bereits dem Dekalog ist die Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten vorangestellt (Ex 20,2). In diesem Sinne lässt sich feststellen: »Gott will Freiheit für den Menschen, Gott gibt Freiheit als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Einhalten seiner Weisungen« (Lindner, 2017b, S. 113). Ein weiteres zentrales biblisches Motiv ist die Befreiung von Sünde und Schuld (u. a. Eph 1,4–8) – ein Aspekt, dessen Relevanz im folgenden Punkt weiter entfaltet wird. Bei alledem werden spezifische Akzente des christlichen Freiheitsverständnisses deutlich, die im schulischen Kontext bei der Reflexion von Freiheit eingebracht werden können. Solche Punkte tragen dazu bei, dass der Religionsunterricht ein wichtiger Ort im Gespräch über Werte ist. Aufgrund seiner religiösen und weltanschaulichen Neutralität bleibt dem Staat eigentlich nur die Option, dass er »die ihm in der Gesellschaft voraus liegenden Werthaltungen, seien sie religiöser, nichtreligiöser oder quasireligiöser Art, miteinander ins Gespräch bringt« (Thaidigsmann, 2007a, S. 100). Der Religionsunterricht – idealerweise im Kontext einer Fächergruppe – wird auf diese Weise zu einem wichtigen Erprobungsraum für diesen Dialog, welcher der Wertekonstruktion im Kontext einer unhintergehbaren Wertepluralität und diversen Begründungsoptionen dient (vgl. Lindner, 2017b, S. 104). In diesem Zusammenhang stellt die metareflexive Thematisierung transzendenzbezogener Wertebegründungen eine spezifische religionsunterrichtliche Zielperspektive dar (vgl. Lindner, 2017b, S. 110). Hier sind auch die Differenzen zu thematisieren, die in religiösen Wertebegründungen innerhalb einer Konfession bzw. Religion oder zwischen Konfessionen oder Religionen bestehen.

1.3Evangelium als Begrenzung von Werten

Die Kirchen und der Religionsunterricht würden gesellschaftlichen Erwartungen nach einer moralischen Orientierung in Anbetracht diverser Konfliktsituationen etwas Entscheidendes schuldig bleiben, wenn sie – theologisch gesprochen – nur mit dem Gesetz antworten und nicht auch das Evangelium zur Geltung bringen. Wenn dies aber nicht erfolgt, »dann verkommt die theologische Ethik zum dezisionistischen Appell« (Körtner, 2019, S. 100). Demgegenüber wird durch das Evangelium »die Rechenschaft fordernde Instanz zugleich als diejenige erfahren, welche Schuld vergibt« (S. 116). Diese, die Ethik begrenzende Befreiung von Sünde und Schuld kann durch »die Anerkenntnis der Schuldhaftigkeit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz zur Absage an jeden ethischen Rigorismus« (S. 116) führen. Nach biblischem Verständnis ist es die Liebe, welche »das Gesetz als Struktur verantwortlichen Lebens zwar nicht verachtet, jedoch über dem Gesetz steht und sich zu ihm in Freiheit verhält« (S. 113). Sie überschreitet alle Moral auch dahingehend, dass man sie nicht erzwingen kann.

Im schulischen Kontext finden diese theologischen Gedanken ihre Entsprechung u. a. darin, dass eine Fehlerkultur etabliert wird, in der ein guter Umgang mit Fehlern stattfindet, der sich u. a. durch »nicht bloßstellen, ermutigen und fürsorglich sein, […] zur Auseinandersetzung mit Fehlern ermutigen und hilfreiche Strategien aufzeigen, […] eigene Fehler zu- und eingestehen« (Lindner, 2017a, S. 191, Fn. 256) auszeichnet.

2.Ethische Bildung im Religionsunterricht – historische und konzeptionelle Schlaglichter

Der vorliegende Band zielt darauf, ethische Kernthemen auf der Höhe des aktuellen theologisch-ethischen und religionspädagogischen Diskussionsstandes subjektorientiert für den Religionsunterricht zu erschließen. Der nun folgende kurze Überblick über Grundkonzepte ethischer Bildung im Religionsunterricht in Geschichte und Gegenwart dient vor allem dazu, tieferliegende Voraussetzungen und konzeptionelle Entscheidungen deutlich zu machen, die mit dieser Intention verbunden sind (vgl. Simojoki, 2021).

Dabei setzt die Selbstverortung bei einer Einsicht an, die sich erst in der Aufklärungszeit auf breiter Basis durchgesetzt hat: Der in diesem Band didaktisch fokussierte Zusammenhang von Religion, Ethik und Bildung ist nicht selbstverständlich, sondern begründungsbedürftig. Bis weit in das 18. Jahrhundert war die religiöse Einbettung ethischer Bildung eine weitgehend unhinterfragte Voraussetzung allen schulischen Unterrichts und pädagogischen Denkens. Erst in der Aufklärungszeit kehrte sich das herkömmliche Begründungsgefälle um. Für Jean-Jacques Rousseau (1762/2008) etwa war Religion nur insoweit erziehungsrelevant, als sie zur ethischen Zivilisierung der Zöglinge beitrug. Während der laisierende Impuls dieser Unterordnung in Frankreich voll durchschlug, nahm die konzeptionelle und institutionelle Entwicklung in Deutschland einen anderen Verlauf.

Bei Christian Gotthilf Salzmann (1780) diente der Begriff der »Gesinnung« als konzeptionelle Klammer für eine Erneuerung der Synthese von religiöser und ethischer Bildung unter aufgeklärten Bedingungen. Anders als Rousseau ging er davon aus, dass die für allen Unterricht leitende Aufgabe der Gesinnungsbildung das Gottesverhältnis und damit die Religion des Menschen einschließt. Musste daher für Salzmann der sittliche Bildungsauftrag der Schule ohne den Religionsunterricht unvollständig bleiben, lehnte Friedrich Schleiermacher (1799/1991) eine solche ethisch-pädagogische Inanspruchnahme der Religion als unangemessene Funktionalisierung ab. Für Schleiermacher ist Religion als Anschauung und Gefühl ein eigener Wirklichkeitszugang, der weder in Rationalität noch in Moralität aufgeht und sich als Anlage im Einzelnen frei entfalten soll. Folglich hat er die Nutzbarmachung von Religion für ethisches Lernen aufs Schärfste verurteilt und sich auch aus diesem Grund gegen einen schulischen Religionsunterricht ausgesprochen.

Diese Grundspannung zwischen konstruktiver Zuordnung und kritischer Abgrenzung prägt die religionspädagogische Diskussion um das Verhältnis von ethischer und religiöser Bildung bis heute. De facto blieb das Synthesemodell konfessionsübergreifend durch das 19. Jahrhundert bestimmend, auch wenn das Bewusstsein wuchs, dass nichtreligiöse Normenbegründungen nicht nur möglich, sondern auch immer attraktiver wurden. So tiefgreifend unterschiedlich die konfessionellen Pädagogiken Christian Palmers (1850, evangelisch) und Otto Willmanns (1882, 1889, katholisch) bzw. die stärker »modernen« religionspädagogischen Entwürfe von Joseph Göttler (1923, katholisch) und Friedrich Niebergall (1922, evangelisch) im Einzelnen waren, verband sie doch die tieferliegende Überzeugung, dass Religion und religiöse Bildung unverzichtbares Fundament aller in Schule und Unterricht angestrebten Prozesse der Humanisierung, Versittlichung, Charakterbildung und Werteerziehung bilden.

Dieser Konsens zerbricht erst in den politischen, gesellschaftlichen und auch theologischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg. Den religionspädagogischen Hauptanstoß dazu gibt Gerhard Bohne in seiner Programmschrift »Das Wort Gottes und der Unterricht« aus dem Jahr 1929. Radikal destruiert Bohne bislang tragende Gewissheiten im Verhältnis von religiöser und ethischer Bildung. Der Religionsunterricht sei kein Vehikel religiös-sittlicher Persönlichkeitsbildung, sondern deren »große Störung« (Bohne, 1929, S. 56). Statt den Schüler nach Maßgabe normativ aufgeladener Konzepte des Guten zu bilden, so Bohne, führe das durch die Lehrkraft bezeugte Wort Gottes ihn in die Entscheidung vor Gott und damit an die »Grenze seines Daseins« (S. 105). Auch wenn diese ideologiekritische Grundbestimmung Bohne nicht vor einer anfänglichen Affirmation der nationalsozialistischen Weltanschauung bewahrte, artikuliert sie eine unaufgebbare Grundeinsicht: Der Religionsunterricht darf sich nicht vor den Karren vorherrschender Konzepte der Wertbildung und ethischen Lernens spannen lassen, sondern soll SuS dazu befähigen, sich kritisch mit solchen Konzepten auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls auch zu hinterfragen.

Während die Kritik am »Moralisieren im Umgang mit dem Evangelium« (Kittel, 1949, S. 11) in der Evangelischen Unterweisung zunehmend subjektfern und holzschnittartig ausfiel, gewann die ethische Dimension religiöser Bildung nach 1968 in den verwandten Ansätzen des thematisch-problemorientierten Religionsunterrichts (vgl. Knauth, 2003) und ökumenischen Lernens (vgl. Simojoki, 2012, S. 254–266) neu an Profil. Mit dieser Neuorientierung verbanden sich konzeptionelle Grundentscheidungen, die den religionsdidaktischen Diskurs um ethisches Lernen bis in die Gegenwart hinein prägen: Zum einen wurden ethisch dimensionierte Bildungsprozesse konsequenter am Subjekt und dessen Emanzipation im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse ausgerichtet. Zum anderen bildeten individuelle und menschheitliche Schlüsselprobleme den maßgeblichen Horizont religiöser Bildung. Es entbehrt nicht einer Ironie, dass diese Hochphase ethischen Lernens in der Religionsdidaktik spätestens ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sukzessive an Dynamik einbüßte, fällt doch der Abschwung genau in die Jahrzehnte hinein, in denen die Globalisierung in die Alltagserfahrung einging. In der Gegenbewegung einer ästhetisch ausgerichteten Religionspädagogik (Symboldidaktik, semiotische und performative Religionsdidaktik) verliert die ethische Dimension religiöser Bildung insgesamt an Bedeutung, und zwar auch dort, wo Ästhetik und Ethik nicht gegeneinander ausgespielt werden (vgl. als Diskursüberblick Schlag, Klie & Kunz, 2007). Die Häufung religionspädagogischer Beiträge zum seit 2015 öffentlich geführten Diskurs um Flucht und Migration (vgl. Reese-Schnitker, Bertram & Franzmann, 2018) und insbesondere zur durch die Fridays for Future vitalisierten Nachhaltigkeitsdebatte (Bederna, 2020; Gärtner, 2020) deuten an, dass das Pendel aktuell wieder umschlägt.

Insgesamt greift es aber zu kurz, den Stellenwert der Ethik für den Religionsunterricht unter Beschränkung auf sog. religionspädagogische Konzeptionen zu bemessen. Letztlich viel bestimmender für die Entwicklung in den vergangenen 50 Jahren ist die Umformung ethischen Lernens zu einem eigenständigen und gleichzeitig begrenzten Aufgaben- und Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik, vergleichbar mit biblischem, kirchengeschichtlichem oder interreligiösem Lernen. Dem damit einhergehenden Verlust an Reichweite entspricht ein Zugewinn an bereichsspezifischer Expertise, der sich im dialogischen Anschluss an Debatten der theologischen und philosophischen Ethik (vgl. bereits Stachel & Mieth, 1978), in der Rezeption entwicklungs- und moralpsychologischer Theorien (s. u.) und in eigenständiger empirischer Forschung (vgl. Ziebertz, 1990) manifestiert. Diese Entwicklung verdichtet sich in bereichsspezifischen Überblicksdarstellungen (Adam & Schweitzer, 1996; Mokrosch & Regenbogen, 2009; Englert et al., 2016) bzw. Gesamtentwürfen (bes. Lindner, 2017a) und findet ihren vorläufigen Kulminationspunkt im 2021 erschienenen »Handbuch ethische Bildung« (Lindner & Zimmermann, 2021). Gerade das zuletzt genannte Grundlagenwerk bildet einen wichtigen Bezugspunkt für die vorliegende Publikation. In gewisser Weise verhalten sich beide Veröffentlichungen komplementär zueinander. Während das Handbuch in 49 Beiträgen darauf zielt, »die Fülle der Forschungsperspektiven auf den Themenkomplex ›ethische Bildung‹ zu repräsentieren« (Lindner & Zimmermann, 2021, S. 5), steht im Folgenden die praxisorientierte Intention im Vordergrund, ethische Lernprozesse im Religionsunterricht fachlich zu fundieren, didaktisch zu orientieren und schließlich auch kreativ anzuregen.

3.Grundlagen theologischer Ethik und ethischer Urteilsbildung

3.1Gegenstand und Aufgabe theologischer Ethik

»Kann mir jemand sagen, wo ich hin will?« Diese paradox anmutende Frage stellt Karl Valentin (1882–1948), der berühmte Münchener Kabarettist, in einem seiner Sketche. Genau mit dieser Frage hat es die Ethik zu tun. Nicht nur über die Ziele unseres konkreten Handelns und Verhaltens im Einzelfall, sondern auch über die langfristigen Ziele unserer Lebensführung müssen wir beständig nachdenken. Wie will ich leben, wie wollen wir gemeinsam leben? Wir fragen aber nicht nur, wie wir leben und handeln wollen, sondern auch, wie wir es sollen. Denn von klein auf sehen wir uns mit einer Fülle von Forderungen, Erwartungen und Anforderungen konfrontiert.

Karl Valentins paradoxe Frage bringt es auf den Punkt: Einerseits müssen wir uns fragen, was wir tun und wie wir leben wollen, andererseits suchen wir aber nach Orientierung, d. h. nach Rat, wie wir handeln und leben sollen. Wir wollen uns unser Handeln und Leben zwar nicht vorschreiben lassen und wehren uns gegen autoritäre Strukturen – Entlastung vom ständigen Entscheidungsdruck eines selbstverantwortlichen Lebens suchen wir aber sehr wohl.

Damit betreten wir das Feld von Moral und Ethik. Alltagssprachlich werden beide Begriffe oft synonym gebraucht. Im Fußball ist zum Beispiel von der Spielermoral die Rede, in Wirtschaft und Handel hingegen werden »ethische Produkte« angeboten. Ethik als wissenschaftliche Disziplin und als Unterrichtsfach arbeitet jedoch mit einer begrifflichen Unterscheidung. Während Moral ein Ensemble sittlicher Normen und Werte ist, die in einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft oder einer Berufsgruppe in Geltung stehen, handelt es sich bei Ethik um die Theorie der Moral, d. h. um die Reflexion, welche menschliches Handeln und Verhalten sowie die beidem zugrundeliegenden Einstellungen und Haltungen anhand der Beurteilungsalternative von »gut« und »böse« bzw. »gut« und »schlecht« auf seine Sittlichkeit hin überprüft. Sodann lässt sich nochmals zwischen Moral als Gesamtheit sittlicher Normen und Prinzipien und dem Ethos als der inneren sittlichen Einstellung oder Haltung unterscheiden, die klassischerweise das Thema der Tugendlehre ist.

Die Aufgabe der Ethik besteht zunächst darin, die Begriffe »gut« und »böse« zu bestimmen und die Normen und Werte, nach denen in einer Gesellschaft üblicherweise über »gut« und »böse« entschieden wird, einer beständigen Überprüfung zu unterziehen. Sie fragt nicht nach Ursachen, sondern nach Gründen für ein konkretes Handeln. Ethik widmet sich der Frage, ob und wenn ja, welche moralischen oder außermoralischen Gründe vorliegen und wie sich ihrerseits moralische Normen, Prinzipien oder Maximen, Güter und Tugenden begründen lassen. Sinnvoll ist darüber hinaus die von Johannes Fischer eingeführte Unterscheidung »zwischen der Begründung einer Entscheidung oder Handlung durch ein Urteil oder eine Norm, auf das oder auf die man dafür rekurriert […], und der Rechtfertigung einer Entscheidung oder Handlung vor einem Urteil oder einer Norm« (Fischer et al., 2008, S. 58).

Ethik ist von Hause aus eine philosophische Disziplin. In der biblischen Überlieferung taucht der Begriff Ethik nirgends auf. Spricht man von alttestamentlicher oder neutestamentlicher Ethik, so kann man eine solche allenfalls implizit aus den biblischen Texten erschließen, nicht aber im Sinne einer begrifflichtheoretischen Denkbemühung. Im Anschluss an Friedrich Schleiermacher lässt sich freilich argumentieren, dass es ein spezifisch christliches Ethos gibt, sodass die Eigenart theologischer Ethik in ihrer Bindung an dieses Ethos begründet ist (Schleiermacher, 1884). In jüngster Zeit wird eine vergleichbare Konzeption vor allem von Johannes Fischer vertreten. So wie es christliche Theologie gibt, weil es den christlichen Glauben gibt, gibt es nach Fischers Auffassung auch »so etwas wie ›theologische Ethik‹«, weil es faktisch ein unterscheidbar christliches Ethos gibt (Fischer, 2002, S. 78 f.). Folgt man dieser Bestimmung, wäre das Unternehmen einer evangelisch-theologischen Ethik dann begründet, wenn mit der Existenz eines spezifisch evangelischen Ethos zu rechnen wäre. Davon ist nun allerdings auszugehen, wie uns Ernst Troeltschs klassische Darstellung der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen lehrt (Troeltsch, 1994). Auch heute ist mit solch einem gelebten Ethos zu rechnen, allerdings in einer pluralen Ausformung, die nicht allein durch konfessionelle Unterschiede zu erklären ist, sondern auch mit der Individualisierung und Pluralisierung christlichen Glaubens in der modernen Gesellschaft zusammenhängt. Der Religionsunterricht ist ein Lernort, an dem auch diese Differenzierungsprozesse zum Thema zu machen sind. In einem weiterreichenden Sinne zielen evangelische Schulen auf »ein gestaltetes Schulethos als Ausdruck des christlichen Glaubens« (Kirchenamt der EKD, 2008, S. 69) ab.

Für die Behandlung ethischer Themen im Religionsunterricht kann auf der Theorieebene die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Ethiktypen hilfreich sein. Zum einen lässt sich zwischen strebensethischen und sollensethischen Modellen unterscheiden (vgl. Krämer, 1995). Strebensethische Konzeptionen wie die des Aristoteles stellen die Frage nach dem Guten, genauer gesagt nach dem guten Leben, das für erstrebenswert zu halten ist. Sollensethische Theorien wie beispielsweise die Ethik Kants fragen nach dem sittlich Gebotenen. Das Modell integrativer Ethik des Philosophen Hans Krämer trägt der Einsicht Rechnung, dass sich beide Grundtypen nicht in einer Synthese aufheben lassen, sondern sich komplementär zueinander verhalten. Dieser Sachverhalt lässt sich auch auf dem Gebiet der theologischen Ethik zeigen (vgl. Körtner, 2019, S. 18–24). Neben dem Typus der Gebotsethik steht der Typus einer christlichen Theorie menschlicher Lebensführung, die sich am Begriff des höchsten Gutes, des gelingenden Lebens oder dem Gedanken des Reiches Gottes ausrichtet.

Ergänzend kann man zwischen dem Typus einer normativen Ethik (Beispiel: Gebotsethik) und demjenigen einer deskriptiv-hermeneutischen Ethik (Beispiel: Schleiermacher) unterscheiden. Auch im Religionsunterricht ist das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil, deskriptiv-hermeneutischem Zugang und normativem Zugang zu ethischen Fragen zu thematisieren. Es geht dabei um Probleme einer ethischen Wahrnehmungstheorie, um das Verhältnis von Ethik und Ästhetik bzw. Ethik und Phänomenologie. Der Begriff der Wahrnehmung ist ethisch in seinem doppelten Wortsinn zu bedenken: Nur wenn einzelne sich entschließen, moralische Verantwortung zu übernehmen, wird diese überhaupt als zu realisierende Möglichkeit entdeckt und wahrgenommen. Die Wahrnehmung von Verantwortung im Sinne ihrer Übernahme setzt ihre Wahrnehmung im Sinne ihres Erkennens voraus. Beispielhaft lässt sich dieser Zusammenhang am Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter erkennen (Lk 10,25–37). Die Moral, die Jesus aus der Beispielgeschichte zieht: »Gehe hin und tue desgleichen!« (V. 37), ist als Anleitung zu einer entsprechenden Aufmerksamkeit und somit Schulung der ethischen Wahrnehmungsfähigkeit zu verstehen. Insofern besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik, die bei Søren Kierkegaard zu Unrecht einseitig in Opposition zueinander gesetzt werden. Die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter macht aber auch auf den Zusammenhang von Wahrnehmen und Verstehen aufmerksam. Die Frage des Schriftgelehrten in Lk 10, wer denn sein Nächster sei, zeigt nämlich, dass jede sog. angewandte Ethik auf hermeneutische Kompetenz angewiesen ist.

3.2Moralische und außermoralische Gründe

Menschen handeln keineswegs nur aus moralischen, sondern auch aus außermoralischen Gründen. Sie haben persönliche Interessen oder verfolgen Zwecke, die zumindest nicht unmittelbar ethisch begründet sind. Instrumentelles Denken orientiert sich an technischer, ökonomischer oder politischer Zweckdienlichkeit. Neben dem moralischen Begriff des Guten steht das Gute im technischen Sinne – »das hat gut funktioniert« – und im ästhetischen Sinne – »es hat mir gut geschmeckt«, »das ist ein guter Film«.

Menschliches Handeln wird auch durch Emotionen wie Sympathie und Antipathie, Lust, Angst und Abscheu beeinflusst. Die Denkrichtung des Emotivismus vertritt die Auffassung, dass unser moralisches Urteilen und Handeln grundsätzlich nicht von rationalen Prinzipien, sondern von Gefühlen wie Zuneigung und Abneigung, Angst und Lust, Scham und Schuld, Hass und Aggression, aber auch von Mitleid und Empathie gesteuert werden. Eine objektive Moralbegründung sei dagegen eine Illusion. Die Hirnforschung belehrt uns, dass derartige Gefühle im limbischen System, also in weit tieferen und evolutionsgeschichtlich älteren Hirnschichten als dem Großhirn angesiedelt sind. Der englische Philosoph Harold Arthur Prichard (1871–1947) gelangte zu dem Schluss, dass wir nicht aufgrund einer Argumentation zur Erkenntnis einer moralischen Verpflichtung gelangen. Vielmehr sei das Gefühl der Verpflichtung unableitbar und liege unserem Handeln wie auch unserem Urteil, ob ein Handeln richtig oder falsch ist, als nicht weiter begründbar zugrunde (Prichard, 1974).

Die Emotionsforschung unterscheidet zwischen Gefühlen und Emotionen. Von Gefühlen spricht sie, wenn es um die Selbstwahrnehmung des Subjekts geht, von Emotionen hingegen, wenn die Intentionalität von Gefühlen zum Ausdruck kommen soll, die also ein Handeln oder Verhalten, sei es spontan oder planmäßig, nach sich ziehen. Im gegenwärtigen Diskurs über die Moral oder auch die Politik der Gefühle wird diese Unterscheidung nicht immer deutlich getroffen.

Der evangelische Ethiker Johannes Fischer greift Prichards Überlegungen auf und übt scharfe Kritik an einer »desengangierten Vernunft« – ein Begriff, den der kanadische Philosoph Charles Taylor geprägt hat (Taylor, 1996, S. 290– 297). Desengagement, so Taylor, äußere sich als Objektivierung von Dingen und Lebensbereichen, von denen man sich auf diese Weise distanziere und ihnen so ihre normative Kraft nehme, mit der sie auf uns wirken. Fischer plädiert nun für eine engagierte Vernunft, welche die Distanzierung überwindet und sich von den Dingen und Situationen anrühren lässt. Das moralische Empfinden und unsere moralische Urteilsfähigkeit würden ganz wesentlich durch selbst erlebte oder von anderen geschilderte Situationen und Begebenheiten, durch Narrative also, geprägt und gebildet. In solchen Narrativen wie überhaupt für die moralische Erkenntnis spielen nach Fischers Überzeugung Emotionen eine tragende Rolle.

Die Rolle von Empfindungen und Gefühlen wird besonders von Konzeptionen einer narrativen Ethik betont (vgl. Mieth, 1999, bes. S. 74–95). Narrative Ethik stellt nicht nur die Bedeutung der Lebensgeschichte moralischer Akteure heraus – wir alle sind in Geschichten verstrickt –, sondern sie argumentiert darüber hinaus, dass sich die Erfahrung und Wahrnehmung moralischer Phänomene vornehmlich durch Erzählungen, durch die Schilderung von emotional gefärbten Einzelsituationen erschließt, die paradigmatische Bedeutung haben.

Auch Empathie kann durch entsprechende Beispielgeschichten und Erfahrungsberichte gefördert werden. Gerade biblische Erzählungen wie Jesu Gleichnisse vom barmherzigen Samariter oder vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31) haben eine enorme Prägekraft. In solchen Erzählungen finden wir auch eine narrative Anthropologie. Empathie ist freilich keine hinreichende Basis für ein Ethos und eine Ethik. Schließlich kann man aus reinem Mitgefühl das ethisch Falsche tun, bis dahin, dass Menschen sich verleiten lassen, aus Mitleid zu töten. Menschen können vom Mitleid oder Mitgefühl derart überwältigt werden, dass die Distanz, die für professionelles Handeln nötig ist, verloren geht.

Eine wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts besteht eben auch darin, zum einen die Bedeutung von Gefühlen und Emotionen für sittliches Handeln bewusst zu machen, zum anderen aber auch das Bewusstsein für ihre ethischen Ambivalenzen zu fördern. An dieser Stelle ist auch der Unterschied zwischen Moral und Moralisieren einzuführen. Kann Moral schon grundsätzlich ambivalente Folgen nach sich ziehen – Menschen können zum Beispiel an moralischen Normen zerbrechen, moralisch verurteilt, geächtet und ausgestoßen werden –, so ist unter Moralisieren der gezielte instrumentelle Missbrauch von Moral für außermoralische Zwecke zu verstehen. Moralische Entrüstung und das Schüren moralisch aufgeladener Emotionen kann ein Mittel politischer und gesellschaftlicher wie privater Auseinandersetzungen sein. Der Soziologe Niklas Luhmann spricht vom »polemogenen« (= »Streit erzeugenden«) Charakter jeglicher Moral, durch deren Einsatz Konflikte zusätzlich verschärft werden. Nach Luhmann besteht die Aufgabe der Ethik, vor (zu viel) Moral zu warnen (Luhmann, 1978, S. 54). Das ist nun nach evangelischem Verständnis auch ein ureigenes Anliegen einer Theologie, die recht zu unterscheiden weiß zwischen dem Zuspruch des Evangeliums von der bedingungslosen Gnade Gottes und dem Gesetz, das das Gute will, aber die Sünde anstachelt und letztlich tötet. Diese Unterscheidung in Fragen der materialen Ethik, die im vorliegenden Handbuch behandelt werden, einzuüben, ist eine wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts.

3.3Schritte ethischer Urteilsbildung

Will Ethik auf argumentativem Wege zu begründeten Urteilen kommen, bedarf es dafür einer Methode. Das gilt besonders für Situationen, in denen nicht eine Person für sich allein, sondern eine Gruppe von Akteurinnen und Akteuren eine Entscheidung treffen muss. Das kann zum Beispiel eine Ethikkommission in einem Krankenhaus sein. Ethikberatung ist grundsätzlich prozessorientiert. Prozesse der gemeinschaftlichen ethischen Urteilsbildung einzuüben, kann auch im Religions- oder Ethikunterricht ein wichtiger Gegenstand sein.

In der evangelischen Ethik ist die Theorie ethischer Urteilsbildung, die Heinz-Eduard Tödt (1977) vorgelegt hat, bis heute einflussreich. Dietz Lange hat sein Schema weiterentwickelt (Lange, 2002, S. 508 ff.). Sein Modell besteht aus acht Schritten, die sich drei Hauptaspekten zuordnen lassen:

I. Wahrnehmen

1.Erste Annäherung an die Situation

–Vorläufige Benennung des Konflikts (Interessen, Normen, Rollenerwartungen)

–Feststellung der äußeren Fakten (Erwerb der erforderlichen Sachkenntnis, Diagnose)

–Verständnis der inneren Situation der Betroffenen (seelische Befindlichkeit, Lebensgeschichte/Sozialisierung, Berufsethos, Gewissensorientierung, religiöse Einstellung)

2.Prüfung der subjektiven Bedingungen

–Möglichkeit und Grenzen

•des Einfühlungsvermögens

•der erforderlichen intellektuellen und praktischen Fähigkeiten

•des vorhandenen oder erreichbaren Kenntnisstandes

•der seelischen und körperlichen Kraft zu vollem Einsatz der Person

•der für einen sachgemäßen Entscheidungsprozess erforderlichen Distanz (die z. B. durch Stress, Befangenheit, egoistische Interessen aufgehoben sein kann)

–Feststellung von Kooperationsmöglichkeiten

3.Genaue Bestimmung des Konflikts

–Verknüpfung der bisher bekannten Faktoren

–Einordnung der speziellen Situation in die Gesamtsituation der Betroffenen und der Handlungssubjekte (öffentliche Moral, gesellschaftliche Vorurteile, institutionelle Gegebenheiten – z. B. Rahmenbedingungen und »Unternehmensphilosophie« eines Krankenhauses, Recht, wirtschaftliche und politische Konstellationen, geistige Lage)

–Genaue Einschätzung der einander widerstreitenden Kräfte, Interessen usw.

II. Reflektieren

4.Abwägen der Verhaltensalternativen

–Feststellung der tatsächlich bestehenden Handlungsmöglichkeiten

–Kalkulation ihrer wahrscheinlichen Folgen (kurz- und langfristig, begrenzt und weitreichend)

–Feststellung der vorhandenen Mittel, Untersuchung ihrer technischen und ethischen (!) Anwendbarkeit und Verhältnismäßigkeit

5.Reflexion der Maßstäbe

–Erhebung der relevanten konkreten Normen anhand der Kriterien des Menschseins und der Menschenwürde:

•Schutz des Lebens und des Rechtes auf Leben

•Seelische und körperliche Unversehrtheit

•Autonomie und Wahrnehmung von Eigenverantwortung

–Gewichtung der Normen und Bestimmung ihres Verhältnisses zu gesellschaftlich in Geltung stehenden Normen

–Überprüfung a) der Verallgemeinerbarkeit, b) der Situationsgerechtigkeit

–Bedenken einschlägiger Regeln kritischer Vermittlung (Vermittlung zwischen widerstreitenden Zielen und Motiven, Bestimmung des Verhältnisses von Zweck und Mittel: Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Das gewünschte Ergebnis darf nicht in die Formulierung der Prinzipien einfließen)

6.Güterabwägung

–Bestimmung des relativ höchsten erreichbaren Gutes bzw. des relativ kleinsten Übels

III. Urteilen

7.Entscheidung

–begründete, d. h. argumentativ rechenschaftsfähige Wahl einer der zur Diskussion stehenden Handlungsalternativen

8.Überprüfung auf

–Angemessenheit zu den Kriterien und Vermittlungsregeln des ethischen Urteils

–Plausibilität der Begründung

–Einmischung illegitimer Interessen des Handlungssubjekts

Man beachte, dass eine Überprüfung bzw. die Gegenprobe vor der praktischen Umsetzung der getroffenen Entscheidung gemeint ist. Die nachträgliche Evaluation unseres Handelns und von dessen Folgen ist davon zu unterscheiden.

3.4Dilemmata und die Ambivalenz des Ethischen

Oftmals führen ethische Konflikte in Dilemmata, in denen sowohl im Fall des Tuns als auch im Fall des Unterlassens ein Schuldigwerden im moralischen Sinne (nicht unbedingt im strafrechtlichen Sinne) unvermeidbar wird. Weder unsere moralische Intuition noch eine Methodik der ethischen Urteilsbildung schützen vor tragischen und letztlich unauflösbaren Konflikten, in denen wir am Ende nicht nur auf Nachsicht, sondern auf Vergebung angewiesen sind. Zur Lebenswirklichkeit gehört außerdem die Erfahrung, dass das moralisch Gute oftmals nicht evident, sondern verborgen ist, aber auch die Tatsache, dass Menschen bisweilen das Gute zu erkennen glauben und es dennoch nicht tun. Gerade der Religionsunterricht ist ein Lernort, an dem diese Zusammenhänge erkannt und reflektiert werden können.

Grundsätzlich geht alle Ethik davon aus, dass das Gute verallgemeinerungsfähig ist. Die Forderung nach der Verallgemeinerungsfähigkeit ethischer Urteile hängt grundlegend mit dem Prinzip der Gerechtigkeit zusammen. Wie im Bereich des Rechts kann freilich auch im Bereich von Moral und Ethik die starre Befolgung allgemeiner Regeln im Einzelfall zu ungerechten bzw. unserer moralischen Intention widerstreitenden Ergebnissen führen. Daher kennt die ethische Tradition die Begriffe der Einzelfallgerechtigkeit, der Angemessenheit oder Billigkeit (griechisch Epikeia) sowie des ethischen Grenzfalls.

Zur ethischen Verantwortung gehört die Sensibilität für die Individualität des Menschen und seine jeweils besondere Situation. Auch aus Sicht theologischer Ethik ist es problematisch, den einzelnen Menschen ausschließlich nach allgemeinen Regeln behandeln zu wollen. Die christliche Tradition sieht in der Liebe (Agape, Caritas) die eigentliche Leitorientierung eines guten Lebens. Liebe aber übersteigt alle moralischen Normen. Das bedeutet keineswegs, dass Normen und Regeln grundsätzlich zu missachten wären, wie es dem Ansatz einer Situationsethik entsprechen könnte, die sich auf das missverständliche Wort des Kirchenvaters Aurelius Augustinus (354–430) beruft: »Liebe und tue, was du willst.«

Richtig ist aber, dass moralische Normen und Regeln unter dem Vorbehalt stehen, dass es Einzelfälle gibt, die nicht unter sie zu fassen sind und möglicherweise überhaupt nicht nach Regeln behandelt werden können. Eben darum gibt es auch den Gewissensnotstand. Es ist freilich auch nicht ethisch, jede Situation zur Gewissensfrage und zum Grenzfall zu erklären. Einzelfallgerechtigkeit und Grenzfälle kann es nur dort geben, wo es allgemeine Regeln gibt, die sich im Normalfall auch befolgen lassen. Die Aufgabe der ethischen Urteilsbildung besteht im konkreten Fall zunächst darin, zu verstehen, welche Regeln um der Liebe willen, d. h. im Interesse des Schutzes und der Förderung des Anderen auch in seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, Geltung besitzen und Beachtung verdienen. Wenn dies geklärt ist, gehört es allerdings ebenso zur konkreten Entscheidungsfindung, die Grenz- und Einzelfälle wahrzunehmen, die sich nicht unter allgemeine Regeln fassen lassen.

Die ethische Urteilsbildung basiert einerseits auf moralischen Intuitionen, andererseits aber auch auf Verfahrensregeln, die erlernt werden können und müssen. Auch wenn jeder Einzelfall für sich bewertet werden muss, gibt es doch Standardsituationen bzw. typische Fälle, aus denen sich allgemeine Regeln und Leitlinien ableiten lassen. Zur ethischen Kompetenz und Verantwortung gehört freilich die Sensibilität für den einzelnen Menschen, seine unverwechselbare Person und seine besondere Situation. Alle erlernbaren Regeln und Verfahrenstechniken ethischer Urteilsbildung stehen unter dem Vorbehalt, dass es Einzelfälle gibt, die alle Regeln sprengen. Zur ethischen Kompetenz gehört nicht nur der Mut zur Eigenverantwortung und zur Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch die Anerkennung ethischer Dilemmata, in denen moralische Schuld unvermeidbar ist. Grenzfälle kann es nur dort geben, wo es allgemeine Regeln und Verfahren der Urteilsbildung gibt, die sich im Normalfall auch befolgen lassen.

Ethik hilft nicht, die Zwei- und Mehrdeutigkeiten des Lebens hinter sich zu lassen, sondern im besten Fall, mit ihnen reflektiert zu leben. Sie hinterfragt die Reduktion komplexer Lebenslagen und Handlungsalternativen auf das einfache Schema von »gut« und »böse« oder »richtig« und »falsch«. Ohne einem moralischen Relativismus das Wort zu reden, besteht die Aufgabe der Ethik in der Förderung von Ambiguitätstoleranz (Frenkel-Brunswik, 1949; Bauer, 2018) auf dem Feld der Moral. Zu den Ambiguitätsproblemen in der Ethik gehört auch die Ambivalenz ethischer Urteilsbildung und ihrer Folgen. Der Wille, das Gute zu tun, kann böse Folgen haben. Christliche Ethik richtet sich an den wirklichen Menschen, d. h. an den Menschen, der – mit dem Mythos vom Sündenfall (Gen 3) gesprochen – nicht jenseits, sondern diesseits von »gut« und »böse« lebt. Oft tarnt sich das Böse mit der Maske des Guten. Zumindest evangelische Ethik rechnet weniger mit der Evidenz als vielmehr mit der Verborgenheit des Guten, welche die ethische Entscheidung im Einzelfall schwermacht. Vor allem aber lässt sie sich von der Gewissheit der Rechtfertigung des Sünders leiten, in welcher der Mut zur Verantwortungsübernahme ihren letzten Grund hat.

4.Kinder und Jugendliche als Subjekte ethischen Lernens – empirische Perspektiven

Im Folgenden werden zunächst ausgewählte Ergebnisse entwicklungspsychologischer (4.1) sowie sozialwissenschaftlich orientierter (4.2) Wertestudien vorgestellt, bevor abschließend eine Studie zur Wertebildung im Religionsunterricht (4.3) präsentiert wird.

4.1Ergebnisse entwicklungspsychologischer Wertestudien

Ohne auf Vorgängerstudien wie von Jean Piaget (1896–1980) oder auf jüngere Forschungsarbeiten eingehen zu können (Gibbs, 2019), soll an dieser Stelle allein die wegweisende Studie von Lawrence Kohlberg (1927–1987) zur Entwicklung des moralischen Urteils in der gebotenen Kürze dargelegt werden (Kohlberg, 2017). Zur Datenerhebung führte Kohlberg semistrukturierte Interviews zu bestimmten moralischen Problemsituationen durch, worunter das sog. Heinzdilemma am bekanntesten ist (S. 495–508). Auf dieser Basis konnte er drei verschiedene Niveaus des moralischen Urteils ermitteln: präkonventionell, konventionell und postkonventionell. Diese Niveaus weisen jeweils zwei Stadien auf, sodass daraus sechs Stadien des moralischen Urteils resultieren (S. 26 f.). Weil jedoch das postkonventionelle Niveau (Stufe 5: Orientierung am Sozialvertrag; Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien) ohnehin nur von einer Minderheit erwachsener Personen erreicht wird, werden im Folgenden nur die ersten vier Stufen skizziert:

Präkonventionelles Niveau: Die Frage nach »gut« und »böse« entscheidet sich an den Folgen, die eine Handlung für das Individuum nach sich zieht.

–Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam

(»Befolge Regeln, um Strafe zu vermeiden«, S. 27)

–Stufe 2: Orientierung an Kosten-Nutzen

(»Verhalte dich konform, um Belohnungen zu bekommen«, S. 27)

Konventionelles Niveau: Die Beurteilung des eigenen moralischen Handelns richtet sich nach den zugehörigen Bezugsgruppen.

–Stufe 3: Orientierung an zwischenmenschlichen Erwartungen

(»Verhalte dich konform, um die Mißbilligung und die Abneigung der anderen zu vermeiden«, S. 27)

–Stufe 4: Orientierung an Gesetz und Ordnung

(»Verhalte dich konform, um die Kritik durch legitime Autoritäten und daraus folgende Schuldgefühle zu vermeiden«, S. 27)

Obwohl Kohlbergs Studie z. B. von seiner Schülerin Carol Gilligan dahingehend kritisiert wurde, dass genderbedingte Differenzen unzureichend berücksichtigt seien und auch in anderen Hinsichten diverse Kritikpunkte vorgebracht wurden (Becker, 2011), können die ersten vier Stadien als eine hilfreiche (und hinterfragbare) Heuristik für die moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen.

4.2Ergebnisse sozialwissenschaftlich orientierter Werteforschung

Ein wesentliches Ergebnis soziologischer Werteforschung besteht darin, dass gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie Individualisierung, Enttraditionalisierung und Medialisierung zu einer Wertepluralität führen (Lindner, 2017a, S. 20–30). Aus dem Umgang mit dieser Wertepluralität folgt jedoch bei Jugendlichen keineswegs ein Werteverlust, vielmehr ist eine Wertesynthese zu beobachten (S. 30–34).

Beispielsweise zeigt eine Untersuchung von 2.000 befragten Personen in Deutschland (Ziebertz & Riegel, 2008), dass die Zustimmung zu den Wertedimensionen Autonomie, Beruf sowie Familie ausgesprochen hoch ausfällt. Auch die anderen Wertedimensionen Disziplin, Technik sowie Hedonismus finden durchweg eine positive Zustimmung, wenn auch nicht in diesem hohen Maße (S. 95). Im Sinne einer Wertesynthese wird festgestellt: »Demnach schließen sich eher traditionelle und eher moderne Wertebereiche für heutige Jugendliche nicht gegenseitig aus. Die Heranwachsenden halten Werte aus beiden Bereichen für wichtig« (S. 96).

Ähnliche Resultate zeigen auch internationale Untersuchungen. Eine vergleichende Analyse von Jugendlichen aus Deutschland, Großbritannien, Polen, Niederlande, Schweden, Finnland, Irland, Kroatien und Israel führt nämlich zu dem Ergebnis, dass in etwas veränderter Reihenfolge folgende vier Wertedimensionen in allen Ländern an vorderster Stelle stehen: Autonomie, Berufsorientierung, Menschlichkeit und Familienorientierung (Ziebertz & Kay, 2005, S. 201 f.).

Hervorgehoben sei schließlich die Studie von Feige & Gennerich (2008). Ihr kommt das Verdienst zu, die religionspädagogische Relevanz des Wertemodells von Shalom Schwartz aufgezeigt zu haben. Letztlich liegen diesem Wertefeld die Polaritäten »Beziehungsorientierung – Selbstorientierung« (= senkrechte Polarität) sowie »Autonomieorientierung – Traditionsorientierung« (= waagerechte Polarität) zugrunde (S. 111–115), woraus ein zweidimensionales Feld mit vier Quadranten resultiert. Je nach ihrer jeweiligen Ausprägung hinsichtlich der beiden Polaritäten können Jugendliche diesen vier Quadranten zugeordnet werden. Dabei bezeichnen Feige & Gennerich die stärker beziehungs- und autonomieorientierten Jugendlichen als Humanisten (= Quadrant links oben), die stärker beziehungs- und traditionsorientierten Jugendlichen als Integrierte (= Quadrant rechts oben), die stärker selbst- und traditionsorientierten Jugendlichen als Statussuchende (= Quadrant rechts unten) sowie schließlich die stärker selbst- und autonomieorientierten Jugendlichen als Autonome (= Quadrant links unten) (S. 116).

Konkret wird die Bedeutung der Wertefelder, wenn man sich die Ergebnisse des Sündenverständnisses Jugendlicher vor Augen führt. Zieht man nämlich die Wertefelder nicht in Betracht und richtet seine Aufmerksamkeit allein auf die Mittelwertvergleiche, dann ergibt sich folgender Befund: Sünde ist für die befragten Jugendlichen »eine ›Beziehungstat‹ im sozialen Nahbereich« (S. 49), da sich die höchsten Werte bei den Items »Vertrauen missbrauchen«, »in der Partnerschaft mal fremdgehen«, »gegenüber jemanden Gewalt anwenden«, »lügen«, »was im Kaufhaus mal ›mitgehen‹ zu lassen« finden lassen (S. 47 f.). Berücksichtigt man jedoch darüber hinaus das Wertemodell, dann wird deutlich, dass die »angebotenen Items zum Sündenverständnis tendenziell eher von traditionsorientierten Jugendlichen bejaht werden« (S. 138).

4.3Wertebildung im Religionsunterricht

Vor dem Hintergrund der angesprochenen Befragung von Berufsschülerinnen und Berufsschülern (Feige & Gennerich, 2008) nimmt die Studie von Schweitzer, Ruopp & Wagensommer (2012) die Wertebildung im religionsunterrichtlichen Geschehen in den Blick. Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie ist, dass die Jugendlichen mehr oder weniger eine »Nahbereichsethik« (S. 140) vertreten, in der die Familie und Freunde eine hohe Wertschätzung genießen, aber auch die hierarchischen Verhältnisse am Arbeitsplatz zum Ausdruck kommen (S. 137–139). »Als einheitliche Konzepte ethischen Handelns, die sich in den videographierten Unterrichtsstunden dokumentieren, können insbesondere das Prinzip der Wechselseitigkeit, ›tit for tat‹ und eine Orientierung an intuitiv erfassten Gewissensaspekten gelten« (S. 140). Dementsprechend orientieren sich viele SuS im Berufsschulunterricht gemäß Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung »an präkonventionellen moralischen Urteilen« (S. 144).

5.Zugänge und Methoden ethischen Lernens im Religionsunterricht

Zunächst sei betont: Grundsätzlich lassen sich fast alle üblichen Zugänge und Methoden religiösen Lernens auch auf die ethische Lerndimension beziehen. Am Beispiel der performativen Religionsdidaktik oder der Kinder- und Jugendtheologie tritt aber beispielhaft zutage, dass gerade neuere Ansätze tendenziell eher nicht an ethischen Unterrichtsgehalten didaktisch konkretisiert worden sind (Schlag, 2021). Eine Ausnahme bildet die konstruktivistische Religionsdidaktik, die diesem Lernbereich ein eigenes Jahrbuch mit zahlreichen Unterrichtsanregungen gewidmet hat (Büttner et al., 2013). Auch auf methodischer Ebene erhärtet sich damit der Grundbefund, dass sich ethisches Lernen zu einem eigenen Lernbereich des Religionsunterrichts mit spezifischen Lernformen und -wegen entwickelt hat. Unter Rückgriff auf entsprechende Vorarbeiten (Schweitzer, 1996; Adam, 2015; Lindner & Zimmermann, 2021, S. 291–332) sollen im Folgenden ausgewählte Methoden ethischen Lernens in groben Zügen vorgestellt werden.

Als Ordnungsprinzip dient die Unterscheidung von

1.Lernwegen, die ihren Schwerpunkt auf der kognitiv bestimmten Dimension ethischen Denkens und Urteilens haben,

2.Methoden, die an der affektiv bestimmten Dimension ethischer Orientierungen und Haltungen ansetzen, und

3.Lernformen, die stärker auf die pragmatisch bestimmte Dimension prosozialen Handelns und Verhaltens zielen.

Mit dem Attribut »bestimmt« ist ausgesagt, dass es sich um Gewichtungen handelt. Die Dimensionen sind nicht isoliert voneinander zu verstehen und zumeist miteinander verzahnt.

5.1Stärker kognitiv dimensionierte Methoden und Zugänge

Unabhängig von ihrer religiös-weltanschaulichen Einbettung besteht eine vorrangige Aufgabe ethischer Bildung darin, SuS zu ethischem Denken und Argumentieren zu befähigen. Sie sollen verschiedene Standpunkte kennen, diese beurteilen und dann selbst Position beziehen können. Mit zunehmendem Alter kommt es also entscheidend auf die Kompetenz an, möglicherweise eher intuitiv getroffene Wertentscheidungen argumentativ zu fundieren und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen.

Bereits Lawrence Kohlberg hat in seiner Psychologie der Moralentwicklung auf das Potenzial von Dilemma-Geschichten für die Entwicklung des moralischen Urteils hingewiesen (vgl. als Überblick Schweitzer, 2010, S. 112–121). Dilemmata sind durch eine Problemstruktur charakterisiert, die keine einfachen Antworten zulässt, weil jeder Lösungsversuch einen Verstoß gegen moralische Ordnungen einschließt. Daher kommen Menschen, die mit ihnen konfrontiert sind, kaum umhin, ihre Begründungen offenzulegen. Auch das Nähe-Distanz-Verhältnis entspricht der pädagogischen Figur des Probehandelns: Die in den Dilemma-Geschichten konstruierten Situationen laden ein zur existenziellen Identifikation, betreffen die Lernenden aber nicht unmittelbar.

Kohlbergs Impuls wurde in der pädagogischen Psychologie aufgegriffen und zu komplexen Lernmodellen ausgebaut (vgl. bes. Lind, 2009). Die einflussreichste religionspädagogische Adaption stammt von Lothar Kuld und Bruno Schmid (2001). Ulrich Riegel (2018, S. 4 f.) schlägt fünf Schritte für die Inszenierung einer Dilemma-Diskussion im Religionsunterricht vor:

1.Präsentation der Dilemma-Geschichte und Klärung der Problemstruktur,

2.erste individuelle Positionierung durch die Lernenden,

3.Abgleich der Standpunkte und Austausch der Argumente in wechselnden Gruppenkonstellationen,

4.Überprüfung und ggf. Modifikation der eigenen Handlungsoption vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussion,

5.Reflexion des Gesamtprozesses ethischer Urteilsbildung auf der Metaebene.

Wie die Methode der Dilemma-Diskussion hat auch das Lernen an Fallstudien seinen ursprünglichen Sitz im Leben in der wissenschaftlichen Forschung. Im Fokus steht hier die schrittweise Auseinandersetzung mit realitätsnahen oder authentischen Fällen, in denen sich eine für die SuS bedeutsame Problemstellung exemplarisch verdichtet. Idealerweise sollte der Fall die Komplexität der Problemsituation einerseits wahren (im Sinne wissenschaftlicher Repräsentation) und andererseits reduzieren, damit sie für die Lernenden sinnvoll zu bearbeiten ist. Monika E. Fuchs (2021, S. 309–311) gliedert den Prozess der Fallbearbeitung in sechs Schritte:

1.Konfrontation mit dem Fall,

2.Information durch bereitgestelltes Material und eigene Recherchen,

3.Exploration von Lösungsmöglichkeiten in Gruppendiskussionen,

4.Resolution: begründete Festlegung auf eine Lösungsvariante,

5.Disputation: öffentliche Auseinandersetzung mit den präsentierten Lösungsoptionen in der Gesamtgruppe,

6.Kollation: Abgleich der Gruppenlösungen.

5.2Stärker affektiv dimensionierte Methoden und Zugänge

Methoden der Wertebildung tragen der Tatsache Rechnung, dass ethisches Denken und Handeln in individuell wie kollektiv verankerten Orientierungen, Überzeugungen und Haltungen eingelagert sind. Für den Religionsunterricht kommt der religiösen Einbettung von Werten besondere Bedeutung zu, und zwar in kritischer wie konstruktiver Zielrichtung. Folgt man dem Konzept der Wertklärung (value clarification), kann ein Beitrag des Religionsunterrichts zur ethischen Bildung darin bestehen, dass er SuS Explorationsräume eröffnet, in denen diese »sich ihrer oft nur unbewussten Wertorientierungen bewusst werden können, zwischen verschiedenen Werten wählen lernen und durch Reflexion Werte auswählen und im Handeln konkretisieren können« (Adam, 2015, S. 27). In ihrem Standardwerk präsentieren Louis Raths, Merrill Harmin und Sidney Simon (1976) eine breite Palette von Strategien und Interventionen, wie entsprechende Prozesse der Selbstreflexion angestoßen und kultiviert werden können. Allerdings ist bei der Rezeption Vorsicht geboten, weil dem Konzept überhöhte Selbstwirksamkeitserwartungen zugrunde liegen und »zudem (selbst) kritische Reflexionsprozesse gegenüber gesellschaftlich adaptierten Werteskalen kaum vorgesehen sind bzw. kaum gefördert werden« (Naurath, 2021, S. 225).

Dimensional reicher und auch komplexer ist das von Konstantin Lindner (2017a, S. 177–279) im Anschluss an das australische »Student-Action-Teams«-Programm entwickelte Konzept der »Wertbegründer*innen-Projekte«. In einem siebenphasigen Lernarrangement machen sich die Lernenden

–»auf die Suche nach Werten, die ihnen Gründe geben, sie zu realisieren«,

–»setzen sich mit deren Begründungsoptionen auseinander – insbesondere den religiösen« und

–»gründen niedrigschwellige Initiativen zur Umsetzung ausgewählter Werte« (Lindner, 2017a, S. 278).

Allen bislang präsentierten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie von den vorausgesetzten Denk- und Handlungskapazitäten her anspruchsvoll sind und daher nur bedingt im Religionsunterricht mit Kindern eingesetzt werden können. Hier scheint die tief in der Geschichte ethischen Lernens verwurzelte Orientierung an Vorbildern zu ihrem Recht zu kommen, zumal die Prägekraft personaler Repräsentation von Werten auch im aktuellen Wissenschaftsdiskurs unterstrichen wird. Pointiert hält Hans Joas fest: »Vorbilder, Zeugen, Beispiele und deren reales Handeln zählen mehr als verbale Bekundungen und Informationen« (Joas, 2002, S. 76). Allerdings hat sich die althergebrachte Vorbilddidaktik im deutschen Kontext spätestens mit ihrer totalitären Instrumentalisierung in der nationalsozialistischen Pädagogik auch in der Religionspädagogik restlos diskreditiert. Selbst wenn man damalige Exzesse vermeidet, bleiben drei Vorbehalte bestehen: Erstens eröffnet das traditionelle Vorbildlernen tendenziell zu wenig Möglichkeiten zur kritischen Reflexion und Distanzierung, zweitens werden die Lernenden oft auf unerreichbare Ziele fixiert und drittens befinden sich die vorzugsweise ins Licht gerückten »großen« Glaubensgestalten oft fernab der Lebenswirklichkeit heutiger Kinder und Jugendlicher.

Folglich hat sich der Fokus ethischen Lernens an fremden Biografien in zweifacher Hinsicht verschoben. Zum einen ist das Konzept des Modells an die Stelle der Vorbildidee getreten. Während ein Vorbild zur Nachahmung inspirieren soll, handelt es sich bei einem Modell um »ein problematisches Vorbild, das zu denken gibt« (Mieth & Mieth, 1977, S. 627 f.). Zum anderen hat Hans Mendl (2020) vorgeschlagen, ethisch-personales Lernen nicht mehr vorrangig an den Heiligen und Heroen der Christentumsgeschichte auszurichten, sondern die »Local Heroes« stärker einzubeziehen. Gemeint sind Menschen, die sich »vor Ort« und »im Hier und Jetzt« sozial engagieren und dadurch prosoziales Handeln glaubhaft verkörpern. Dafür hat Mendl eine eigene Internetdatenbank errichtet, die ein breites Spektrum solcher »Helden/Heldinnen auf Augenhöhe« aus ganz Deutschland bereithält und den Userinnen und Usern auch Vorschläge zur didaktischen Gestaltung von Lernprozessen anbietet, die an »Local Heroes« orientiert sind (https://www.uni-passau.de/local-heroes/).

5.3Stärker pragmatisch dimensionierte Methoden und Zugänge

Bereits an den zuletzt genannten Ansätzen wird deutlich: So wichtig es ist, SuS in ihrer ethischen Reflexions-, Argumentations- und Positionierungsfähigkeit zu fördern, bliebe ethische Bildung ein Torso, wenn sie sich ausschließlich auf diese Aufgabe beschränken würde. Vielmehr muss ethisches Lernen auch die Sphäre menschlichen Handelns und Verhaltens mit im Blick haben, mithin pragmatisch dimensioniert sein. In beiden Konfessionen haben sich seit den 1990er Jahren Ansätze herauskristallisiert, in denen wertbasiertes Handeln den Ausgangs- und Zielpunkt ethischer Bildung bildet (vgl. Toaspern, 2021).

Das Konzept diakonischen Lernens (Fricke & Dorner, 2015, mit zahlreichen Praxisbeispielen) hat seinen Entstehungskontext in evangelischen Schulen und vereint mittlerweile ein breites Spektrum von Lernoptionen, die von Kurzpraktika, Projektlernen, längeren Perioden des Engagements bis hin zu einem eigenen Fachangebot an Evangelischen Schulen mit entsprechendem Profilschwerpunkt reichen. Zumeist gliedern sich diakonische Lernprojekte in drei Phasen (Fricke & Dorner, 2015, S. 15 f., 79 f.): Im Klassenunterricht findet eine erste Phase der Annäherung (an Diakonie als Grunddimension christlichen Lebens) und der Vorbereitung (auf den Einsatz am diakonischen Praxisort) statt. Das eigentliche Herzstück bildet die Praxisphase in einer diakonischen Einrichtung, bei der Handeln und Reflexion Hand in Hand gehen. Der Lernprozess mündet in einer Phase der Nachbereitung, die zumeist einen Praktikumsbericht einschließt.

Ähnlich strukturiert ist das in der Erzdiözese Freiburg konzeptionell entwickelte Compassion-Projekt (vgl. Kuld & Gönnheimer, 2004). Der von Johann Baptist Metz geprägte Begriff der Compassion zielt im Sinne der Befreiungstheologie auf Empfindsamkeit für das Leid der Anderen. Im Zentrum von Compassion steht ein in der Regel zweiwöchiges Praktikum in einer (beliebigen) sozialen Einrichtung. Während die religiöse Erschließungsebene (auch im Vergleich zu diakonischem Lernen) »eher zurückhaltend angelegt ist« (Toaspern, 2021, S. 323), ist Compassion stärker auf der gesamtschulischen Systemebene angesiedelt. Das Praktikum ist für SuS an Compassion-Schulen verpflichtend und ist sowohl in der Vorbereitung als auch in der Nachbereitung in ein vernetztes Angebot fachspezifischen und fächerverbindenden Lernens eingebettet.

6.Ethische Kernthemen – zur Gesamtanlage dieses Bandes

Wie bereits die Neuausgabe von Band 1 »Theologische Schlüsselbegriffe« (Rothgangel, Simojoki & Körtner, 2019) steht auch diese Einführung in ethische Kernthemen in Kontinuität zum vor 15 Jahren erstmals erschienenen Vorgängerband. Das gilt zunächst grundsätzlich für die entschieden praxisorientierte Zielrichtung des Bandes. Er richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer, die in der Schule Religion unterrichten bzw. dazu professionalisiert werden. Wieder gilt:

»Ihnen will der Band zu einer schnell greif- und begreifbaren Hilfe bei der religionsunterrichtlichen Vorbereitung ethischer Themen oder dem akuten Gefragtsein bei Gelegenheit situativ bedingter Diskussion ethischer Schlüsselprobleme werden« (Lachmann, Adam & Rothgangel, 2015, S. 8 f.).

Auch der Aufbau der Beiträge setzt die Weichenstellungen der Erstausgabe fort: Sie beginnen mit »Lebensweltlichen Perspektiven«, in denen die Lebenssicht und die Erfahrungswirklichkeit heutiger Kinder und Jugendlicher mit ethisch herausfordernden Problemlagen der Weltgesellschaft vermittelt werden. Daran schließen sich »Theologisch-ethische Perspektiven« an, die das jeweilige Kernthema in Auseinandersetzung mit der biblischen Überlieferung, mit hervorgehobenen Positionen aus dem systematisch-theologischen Diskurs und in vielen Fällen mit außertheologischen Referenztheorien (etwa der philosophischen Ethik) elementarisierend erschließen. Die fachwissenschaftlichen Überlegungen münden in »Didaktische Perspektiven«, die einerseits auf grundlegende Orientierungen im Sinne kompetenzorientierter Bildung zielen und andererseits methodische Hilfestellungen sowie Materialhinweise für die konkrete Unterrichtsplanung enthalten. Abgerundet werden die analog strukturierten Beiträge durch ein knappes Literaturverzeichnis, das den einschlägigen Forschungsstand überblicksartig abbildet und dadurch zu vertiefender Beschäftigung mit den elementarisierten Themen anregt.

Zugleich wurden mit dieser Neuausgabe auch konzeptionelle Modifikationen eingeführt, die zum Teil weitreichend sind. Gliederte sich der Vorgängerband noch in elf Schlüsselprobleme und 17 Beiträge, werden nun, analog zur Anzahl »Theologischer Schlüsselbegriffe« im ersten Band, 40 »ethische Kernthemen« mehrperspektivisch aufbereitet. Die höhere Zahl der Beiträge, verbunden mit einem tendenziell geringeren Umfang, spiegelt die Ausdifferenzierung ethischer Problemlagen und Diskurse wider. Sie ist aber auch didaktisch motiviert: Es ging darum, die Auswahl der Kernthemen noch konsequenter an den in Lehr- und Bildungsplänen enthaltenen Kompetenzerwartungen und Inhaltsbereichen auszurichten.

Für theologisch-religionspädagogische Professionalisierung wie für Planungsprozesse im Religionsunterricht gilt gleichermaßen, dass sie im doppelten Horizont von Fachwissenschaft und Fachdidaktik verantwortet werden müssen. Um zu gewährleisten, dass die von Religionspädagoginnen und Religionspädagogen verfassten Beiträge auch theologisch-ethisch »auf der Höhe der Zeit« sind, wurde die Herausgeberschaft, wie schon beim ersten Band der Neuausgabe, entsprechend erweitert.

Besonders weitreichend und, so steht zu hoffen, auch zukunftsweisend ist die mit diesem Band verbundene ökumenische Öffnung: Die Reihe »Theologie für Lehrerinnen und Lehrer« richtet sich nun erstmals explizit an Lehrerinnen und Lehrer sowie Lehramtsstudierende aller Konfessionen. Folglich wurden die Beiträge von Expertinnen und Experten aus der evangelischen und katholischen Religionspädagogik verfasst. Diese Öffnung entspricht der generellen Richtung sowohl des ethisch-theologischen Diskurses als auch der religionsdidaktischen Theoriebildung. Hier wie dort haben konfessionelle Differenzen insgesamt an Gewicht verloren; wo sie bedeutsam bleiben, sind sie in einem ökumenischen Deutungsraum zu verorten. Dabei ist die ökumenische Profilierung der Reihe nicht nur veränderten Realitäten geschuldet. Sie verdankt sich vielmehr der Überzeugung – theologisch ausgedrückt: der Hoffnung –, dass der Religionsunterricht der Zukunft, noch konsequenter als dies aktuell der Fall ist, im Zeichen der Öffnung stehen wird.

Das vorliegende Buch ist ein Gemeinschaftswerk vieler – und in einer Zeit entstanden, die im Schatten einer globalen Pandemie stand. Umso mehr Grund haben wir daher, abschließend zu danken. An erster Stelle sind hier Gottfried Adam und Rainer Lachmann zu nennen, die uns die Weiterführung »ihrer« Reihe anvertraut haben. Sodann gilt unser Dank allen Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Band beigetragen haben. Elementarisierung ist alles andere als einfach – entsprechend beeindruckt waren wir, wie konstruktiv sich die Zusammenarbeit gestaltete, gerade auch bei potenziell »nervigen« Fragen der Überarbeitung und Kürzung. Ebenfalls danken möchten wir Elisabeth Schreiber-Quanz und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die einmal mehr exzellente Betreuung. Dass das voluminöse Werk tatsächlich publikationsfertig wurde, verdanken wir dem Einsatz unserer famosen Lehrstuhlteams. In besonderer Weise haben sich Petra Haupt, Sabrina Fabian und Emma Sandner (Berlin) sowie Karin Sima, Melanie Binder, Janett Baliga, Angelika Meirhofer, Stefanie Faugel, Stefan Haider und Elise Tebel (Wien) um die Korrektur und die redaktionelle Bearbeitung der vielen, vielen Texte verdient gemacht.

7.Literatur

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