Europa neu denken Band 4 -  - E-Book

Europa neu denken Band 4 E-Book

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Beschreibung

Bruchstelle zwischen Orient und Okzident Heimatverlust, Flucht, Herausforderungen im Exil – das sind nicht nur Faktoren der aktuellen Krise, das sind auch die Ingredienzen einer der ältesten Dichtungen der abendländischen Literatur, jener von der großen Irrfahrt, die Odysseus mitunter auch an die Gestade Siziliens führte. Der aktuelle Tagungsband des Symposions 2016 in Syrakus/Sizilien beschäftigt sich eingehend mit dieser Krise, die sich auch in den Differenzen zwischen Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik widerspiegelt. Intellektuelle aus den unterschiedlichsten Bereichen berichten über ihre Erfahrungen in der Begegnung mit dem Anderen und zeigen Möglichkeiten der Annäherung an das Fremde auf, damit Zivilgesellschaft funktionieren und der Brückenschlag zur nachbarlichen Kultur gelingen kann. Auf ihren bildhaften, historischen, literarischen, musikalischen, kulinarischen und philosophischen Reisen leiten sie uns zu einer besonnenen Wahrnehmung kultureller Differenz an. Mit Texten von Wolf Lepenies (Berlin) Reina Lewis (London) Amanda Michalopoulou (Athen) Reinhard Johler (Tübingen) Inge Feltrinelli (Mailand) Najem Wali (Basra, Berlin) u.v.m.

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Seitenzahl: 462

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ILSE FISCHERJOHANNES HAHN HG.

EUROPA NEU DENKEN Band 4

Sehnsucht nach der Fremde – Nachbarschaft erfahren

Dank für die Unterstützungzur Durchführung des Projekts:

www.europa-neu-denken.com

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Titelbild: Fotolia, ©Jean Paul Comparin 2017

Foto M. Fischer ©LEO/Andreas Kolarik Fotografie

Foto Ilse Fischer: ©LEO/Franz Neumayer

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Dorothea Forster, Gail Schamberger

eBook ISBN: 978-3-7025-8039-1

Print ISBN: 978-3-7025-0858-6

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www.pustet.at

Inhaltsverzeichnis

Ilse Fischer: Eine Einbegleitung und Dank

Margarethe Lasinger: Das Denken aufwecken

Johannes Hahn: Europa – in Vielfalt geeint. Aktuelle Herausforderungen der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik

Hedwig Kainberger: Warum Syrakus?

Das Wesen des Fremden

Erhard Oeser: Al-Andalus und die Integration der Kulturen. Ein Lichtblick in der Geschichte der Xenophobie

Farid Hafez: Die Kraft der Imagination. Islamophobie als Beispiel des imaginierten »anderen« Europa

Giuseppe Tassone: Violence, Terror and the Universal

Schoole Mostafawy: Im Visier das Fremde. Okzidentalismen in der Kunst des Orients

Wege in die Fremde

Lesen

Inge Feltrinelli: »Nachdenken über mögliche Utopien.« Ein Gespräch mit der Kulturjournalistin Hedwig Kainberger

Ilma Rakusa: Faszinierende Fremdheit. Annäherung an die arabische Poesie

Mohammed Bennis: Die arabische Poesie und ihre Sensibilität für das Offene

Amanda Michalopoulou: A stranger comes to town. What European literature has taught us about empathy and assimilation

Reisen · Fliehen · Emigrieren

Dieter Richter: Der Eros des Südens. Vom Reisen und den Himmelsrichtungen

Norbert Miller: Stellvertretende Erkundung. Riedesels Reiseberichte für Winckelmann und ihr Einfluß auf Goethe

Ahmed Milad Karimi: Warum wir flüchten und weshalb wir nie zuhause sind

Najem Wali: Vaterland im Gehen. Meine Beziehung zum Westen

Nadejda Lebedeva: Vom Originellen zum Originalen: Orientalismus in der Musik als Paradigmenwandel.Die musikalischen Bilder und Imaginationen des »Orients« von 1800 bis heute

Alain Patrick Olivier: L’Amour de loin (»Die Liebe aus der Ferne«) – Die Musik, der Orient und das Wesen der Liebe

Hossam Mahmoud: Klangwelten von Orient und Okzident – Musik schaffen im Dialog zwischen der arabischen und der europäischen Kultur

Alex Marshall: Birth of an anthem: the soundtrack of Jihad

Sehen

Dorna Safaian: Bilderverbot und Bilderpolitik

Seyran Ateş: Feminismus und Islam. Das Leid in und um muslimische(n) Parallelgesellschaften

Rabéa Naciri: Frauenrechte im Maghreb: zwischen sozialer Emanzipation und neu belebten Traditionen

Reina Lewis: The political and social implications of Muslim modest fashion

Asiem El Difraoui: Krieg der Bilder – Wie uns die Medien unsere Nachbarn fremd machen

Schmecken

Francesco Motta: Slow Food. Eine genussvolle Bewegung

Carmelo Maiorca: Die Truhe des sizilianischen Geschmacks: Produkte, die man schützen und wertschätzen sollte

Francesco Sottile: Zitronen in Sizilien: von einer wohlschmeckenden Zierde zu einer schützenswerten landwirtschaftlichen Produktion

Maria Teresa di Marco: Die sizilianische Küche zwischen »curtigghio« und fernen Horizonten

Perspektiven

Reinhard Johler: Heimatsuche in Europa. Orientierungspunkte der Gegenwart

Carmela Godeau: Harmony in Diversity. Building opportunity into migrants’ paths from North Africa and the Middle East

Doug Saunders: How do we find a home in a foreign land? From arrival city to successful integration

Rudolf Stichweh: Gibt es Fremde der Weltgesellschaft? Der Fremde und die soziokulturelle Evolution des Gesellschaftssystems

Das andere Europa

Bülent Küçük: Die Türkei und das andere Europa: über die (Ent-)Täuschung einer wechselseitigen Fantasie

Vedran Dzihic: Skizzen zum Schicksal der Demokratie am Westbalkan. Vom schmerzlichen Mittelpunkt Europas zu (Schein)Normalität und neuer krisenhafter Aktualität

Wolf Lepenies: Eurafrika – Europa muss »eine seiner wesentlichen Aufgaben« noch erfüllen

E Wie Europa und E wie Erasmus

J. Michael Rainer: Das Erasmusprogramm – ein veritables Jahrhundertprojekt

Cecilia Corsaro: »Ich bin doch überall zuhause«: die Idee von Europa als einem Raum ohne Grenzen

Friederike Fritz: Das Europa der Zukunft

Antonio Pennisi: Zwischen Unsicherheit und Hoffnung: das Europa von heute und von morgen

Aussicht

Johannes Hahn: Europa kennt sich selbst zu wenig – die Zukunft Europas?

Autorinnen und Autoren

Eine Einbegleitung

Ilse Fischer

Es verlangt Mut, sich dem Leben zu stellen.

Diesen Mut hatte mein Mann, Univ. Prof. DDr. Michael Fischer, dem die Symposien Europa NEU denken und die Bände, die daraus entstehen, gewidmet sind, immer. Auch in Zeiten, in denen ihm seine Krankheit zu schaffen machte, und auch dann, wenn manche Widrigkeiten des Lebens für ihn nicht einfach zu bewältigen waren. Dieser Mut war auch Teil unserer Liebe und Teil unseres gemeinsamen, so besonders spannenden und erfüllten Lebens. Und dieser Mut zeichnete ihn bis zu seinem Lebensende aus.

Die Möglichkeit, die Symposions-Reihe Europa NEU denken im Sinne und Andenken an meinen Mann weiterzuführen, ist ein Teil der (meiner) Bewältigung der Unfassbarkeit seiner Abwesenheit, die auch alle anderen spüren und bemerken, die ihn gekannt, mit ihm gearbeitet, diskutiert und stets neue Ideen entwickelt haben.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Tage in Siracusa auf Sizilien, die so voll Licht, Wärme, Schönheit, Wissen und Geselligkeit waren, dass wir alle noch lange daran denken werden. In Siracusa haben ganz einzigartige Menschen aus vielen unterschiedlichen Wissensgebieten – Wissenschafter, Literaten, Genussliebhaber und Freunde – an dem vielschichtigen Netz weitergewoben, das mein Mann sein ganzes Leben mit Meisterschaft angefertigt hat – an der Universität genauso wie an unserem Esstisch daheim. Einen Menschensammler nannte ihn die Präsidentin der Salzburger Festspiele beim Requiem 2014 in Salzburg, und das war er in der Tat. Deshalb würde er sich an der Schar neuer interessanter und spannender Menschen erfreuen, die sich auch im Jahr 2016 in seinem Namen beim Michael Fischer Symposion in Sizilien versammelt haben. Er wäre allerdings lieber mit dabei gewesen, wenn alle Referentinnen und Referenten das taten, was er so viele Jahre mit großem Können, Kennerschaft und stetiger Neugierde gemacht hat: Menschen zusammenzubringen und daraus etwas zu entwickeln, das Europa anders und neu denken und werden lässt. Europa war für ihn nie nur ein Konstrukt, sondern immer gelebte Wirklichkeit.

Claudio Magris, der dem Board der Symposien angehört und mit dem wir nicht nur das Meer, den Karst, das Licht und die Sonne geteilt haben, schrieb nach dem Tod seiner Frau: Wie soll man weiterleben ohne den Menschen, der einem Liebe und Leben war? Die Antwort haben weder er noch ich bis jetzt wirklich gefunden.

Aber ganz sicher sind die Symposien an den wunderbaren Orten am Meer – Triest, Piran, Dubrovnik, Syrakus und 2017 Marseille – ein sinnvoller Weg des Wachhaltens und Weiterentwickelns seiner Gedanken und Ideen und wohl auch des Weiterlebens. Für mich jedenfalls.

März 2017

Dank

Es braucht eine Viererbande, schrieb die Kulturjournalistin Dr. Hedwig Kainberger nach dem Tod meines Mannes, um alles weiterzuführen, was er getan hat. Und dieser Viererbande danke ich nun ganz besonders. Margarethe Lasinger, die mit ihrem großen Wissen und ihrer Intelligenz den Symposien ihre Qualität gibt, Hedwig Kainberger, die – auch das wohl die Ironie einer Lebensregie – das letzte Interview mit meinem Mann gemacht hat und nun mit uns gemeinsam Europa neu denkt. Andreas Kaufmann, der mich so selbstverständlich und freundschaftlich dabei unterstützt, die Ideen seines Freundes Michael weitertragen zu können. Michael Krüger, der viele neue Impulse setzt und der mein Leben schon eine lange Zeit begleitet. Und, nun sind es schon fünf, Inge Schrems, die so viele Jahre an der Universität Salzburg mit meinem Mann gearbeitet hat und diese Arbeit nun mit mir fortsetzt.

Und dann danke ich vor allem auch Johannes Hahn für all das, was er so selbstverständlich möglich macht, damit ich etwas tun kann, was mir ein wenig Lebensmut und Zukunft gibt. Und das ganz im Sinne von Michael Fischer wäre, der auch sein Freund war. MERCI.

Das Denken aufwecken

Margarethe Lasinger

Im Gedenken an Michael Fischer fand im Herbst 2016 die fünfte Ausgabe der Symposionreihe »Europa NEU denken« statt, und zwar in Syrakus, an der Ostküste Siziliens. Der Ort war – wie auch in den vorangegangenen Symposien – naturgemäß nicht zufällig gewählt. Wie schon zuvor Triest, Piran und Dubrovnik bezeichnet auch Syrakus eine wesentliche Schnittstelle der Kulturen. Vor allem aber ist Sizilien als ein Brückenkopf zwischen islamischer und griechisch-römischer Welt anzusehen. Als größte Insel im Mittelmeer und in direkter Nachbarschaft zu Afrika gelegen, stellt es zudem aus erdgeschichtlicher Sicht den Überrest jener Landbrücke dar, die Europa und Afrika einst verband. Welcher Ort wäre prädestinierter als Syrakus, um der Sehnsucht nach der Fremde nachzuspüren und Nachbarschaft neu zu erfahren?

Denn nach den Erkundungen der anderen Seiten des Meeres in Dubrovnik (2015) und der Erforschung der Mentalitätsgeschichte der Adria (Piran 2014) stand die Veranstaltung in Syrakus ganz im Zeichen der durch die großen Migrationsbewegungen und die Flüchtlingskrise neu zu bewertenden Aufgaben im Hinblick auf nachbarschaftliche Beziehungen sowie der daraus resultierenden Herausforderungen für die europäische Erweiterungspolitik. Dem »Mythos der Angst und Sorge« stellte EU-Kommissar Johannes Hahn denn gleich zu Beginn der Tagung das »Bemühen um gegenseitiges Verstehen« gegenüber und forderte speziell die intellektuellen Eliten auf, »aufzustehen, sich einzumischen« und »vom Denken zum Handeln zu kommen«.

Ein Handeln, das sich nicht immer unmittelbar in großen Aktionen manifestiert, sondern sich oftmals erst in kleinen Gesten, im Gebrauch korrekter Begriffe, in reflektiertem Dialog und Ähnlichem Ausdruck verschafft, was wiederum bewusstes, also überlegtes Handeln nach sich zieht.

Wesentlich ist es zu lernen, dass wir von Menschen umgeben sind, die anders sind: die wir nicht oder nicht gut verstehen, die wir lieben, hassen, die uns gleichgültig oder rätselhaft sind, von denen uns ein Abgrund trennt oder nicht. Es ist notwendig, sich diese Fülle von Bezugsmöglichkeiten vor Augen zu halten. Wir müssen nicht nur mit Unterschieden leben, sondern auch denken und bedenken lernen1

umriss vor wenigen Jahren Michael Fischer, der Vor-Denker unseres Symposions, die so einfache und doch schwer zu erfüllende Aufgabe.

Der Abgrenzung und Begrenzung stellten wir deshalb in Syrakus das Fernweh, die Sehnsucht nach der Entdeckung des Neuen, Anderen, Fremden entgegen – um in der herausfordernden Zukunft auch in besserer Nachbarschaft leben zu können. Wir suchten das Andere und Fremde nicht nur in Sprache, Religion, Philosophie zu verstehen, sondern auch in Küche und Keller, Kunst und Couture. – Von Sizilien aus dachten wir Europa von seinen Rändern her neu. Und machten dies zur Maxime unseres neuen Handelns.

Intellektuelle, Kunstschaffende, Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Bereichen berichteten über ihre Erfahrungen in der Begegnung mit dem Anderen und zeigten Schwierigkeiten und Möglichkeiten in der Aneignung des Fremden auf und wie der Brückenschlag zur nachbarlichen Kultur gelingen kann. Sie verführten auf bildhaften, historischen, literarischen, musikalischen, kulinarischen und philosophischen Reisen zu einer besonnenen Wahrnehmung kultureller Differenz und bewussten Auseinandersetzung mit dem Diffusen.

Erhard Oeser etwa beschrieb in leuchtenden Farben, wie im maurischen Spanien das Nebeneinander der Religionen und Grenzverschiebungen zwischen Orient und Okzident Toleranz zwischen den Kulturen und in der praktischen Folge convivencia (Zusammenleben) hervorbrachten, und stellte uns dieses historische Beispiel als Vorbild für die Zukunft vor. Farid Hafez verwies auf gefährliche Zuschreibungen von Bildern und Termini, die der Imagination des Eigenen und des vorgestellten Anderen dienen, während Giuseppe Tassone eindrücklich darauf aufmerksam machte, dass eine Erlösung nur durch die Konfrontation mit dem Bösen möglich sei. Das vermeintlich Eigene im Spiegel des Anderen und die Wichtigkeit von Bildern als Träger transkultureller Emanation beschwor Schoole Mostafawy in ihrem Beitrag.

Unter den einfühlsamen Erläuterungen von Michael Krüger entführte uns Mohammed Bennis in die arabische Poesie und weckte unsere Neugier auf ihre »Sensibilität des Offenen«. Auf die schwer zu vermittelnde Metaphorik und Transzendenz der arabischen Poesie verwies Ilma Rakusa ebenso wie Amanda Michalopoulou, die die Verschlüsselung literarischer Texte thematisierte.

Dass sich uns das Wesen des Fremden vor allem auch im Reisen offenbart, zeigten Dieter Richter und Norbert Miller auf, wobei uns einmal mehr vor Augen geführt wurde, dass die ehemals große Sehnsucht nach dem Süden einer nach dem Norden gewichen ist, wie die Wege der Flüchtlinge aktuell bezeugen. Von einer solchen »Reise« von Bagdad nach Deutschland berichtete auch Najem Wali – und dass ihm Sprache die wahre Heimat ist.

In fremde Klangwelten führten schließlich die Beiträge von Nadejda Lebedeva sowie Alain Patrick Olivier, der am Beispiel einer Oper von Kaija Saariaho die Liebes-Konzeption im Orient erläuterte. Seelenfäden aus Klängen spann Hossam Mahmoud, dessen Musiktheaterwerke 18 Tage und Tahrir aus dem direkten Erleben einer Revolution entstanden, während Alex Marshall plastisch vorführte, wie sehr Musik imstande ist, unser Innerstes zu rühren und zu manipulieren.

Danach richteten wir unser Denken auf die visuelle Wahrnehmung. Dorna Safaian analysierte das Bilderverbot im Islam vonseiten der politischen Dimension. Um Vorurteile, Klischees und die ambivalente Wahrnehmung von Musliminnen im Westen kreiste der Vortrag von Seyran Ateş, und wie differenziert und ambivalent wir uns die Rolle von Frauen im arabischen Raum denken müssen, erläuterte Rabéa Naciri. Reina Lewis erforschte das Verhältnis von Mode und Religion und die politischen und sozialen Implikationen von Mode. Jene von den Medien vermittelten Bilder analysierte Abdelasiem El Difraoui.

Um das Thema »Heimat in der Fremde finden« kreisten die Ausführungen von Reinhard Johler. Er nahm uns auf Heimatsuche durch Europa mit und hat uns einen »Fremdenführer« durch die komplexe Gegenwart anempfohlen. Carmela Godeau referierte über moralische, rechtliche, wirtschaftliche und soziokulturelle Argumente einer geordneten Migration, während sich Doug Saunders mit den Bedingungen in den Arrival Cities auseinandersetzte. Rudolf Stichweh schließlich zeigte uns lebhaft die Semantiken des Fremden auf und rekonstruierte bis heute gültige Muster der Reaktion auf die Erfahrung des Fremden seit den frühen Gesellschaften.

In abschließenden Vorträgen schilderte Bülent Küçük die bedrohliche Situation in der Türkei und wie sich ein Traum von Demokratie in einen Alptraum der Repression wandelte; Wolf Lepenies führte drastisch vor Augen, wie wichtig es ist, eine umfassende Kooperation mit den Staaten des Maghreb anzustreben und die Entwicklung in Afrika zu fördern, denn: »In Nordafrika entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union.«

An der Schnittstelle zwischen Europa und Afrika, in Syrakus, erinnerte auch Kommissar Hahn in seinem Abschlussreferat nochmals an das Versprechen, speziell in Nordafrika eine Stabilisierung herbeizuführen, um Zukunft auch in Europa zu gestalten.

All die klugen Denker und feinsinnigen Geistesarbeiterinnen inspirierten ebenso wie die jungen Erasmus-Studierenden unser Denken und Fühlen aber nicht nur in ihren Vorträgen, sondern auch in unzähligen bereichernden Diskussionen und Gesprächen abseits der Panels. Ilse Fischer war es dabei wieder in unnachahmlicher Weise gelungen, diese so besonderen Freiräume zu intensiven persönlichen Begegnungen zu schaffen – kostbar funkelndes, sinnliches Erleben, das bis heute nachwirkt.

»Ein Ereignis, ein Erlebnis, ein Text unseres Lebens rührt an meinen Instinkt und an mein Gewissen und will von mir, dass ich als [Musiker wie als] Mensch Zeugnis ablege«2, sagte der Komponist Luigi Nono. So wurde im intensiven Erleben auch für uns wahr, dass gemeinsames Erleben und Diskutieren in Syrakus an unseren Instinkt und unser Gewissen rührte und unser Denken aufweckte … und uns hoffentlich auch im Alltäglichen aus der Verinnerlichung holte.

Endnoten

1Fischer, Michael, Einleitung, in: Fischer, Michael / Hahn, Johannes (Hg.), Europa neu denken. Regionen als Ressource, Salzburg 2014, 15.

2Nono, Luigi, Diario polacco ’58, in: Luigi Nono. Texte. Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich 1975, 123.

Europa – in Vielfalt geeint. Aktuelle Herausforderungen der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik1

Johannes Hahn

Europa ist etwas Unvollendetes. Manchmal wird die Frage gestellt, was denn die Endgeschichte von Europa ist? Meine Antwort darauf ist: Es gibt keine Antwort. Europa hat es in verschiedenen Formen schon seit etlichen vergangenen Epochen gegeben. Auch wenn sich heute alles rund um die Europäische Union dreht, dann sage ich als Kommissar der Europäischen Union, Europa stellt mehr dar als nur die Europäische Union.

Wir haben dieses Jahr ganz bewusst Syrakus als Treffpunkt für dieses Symposion gewählt. Es ist eine über 2700 Jahre alte Stadt. Der Name geht angeblich auf eine Bezeichnung des Sumpfgebietes zurück, welches hier an der Mündung von zwei Flüssen entstand. Es galt, das Sumpfgebiet trocken zu legen – manchmal scheint es so, dass auch heutzutage in Europa so manches Sumpfgebiet trocken gelegt werden muss. Eine passende Metapher also. Außerdem liegt an der Ursprungsgeschichte der Stadt ein innereuropäischer Migrationsfluss. Es waren nämlich die Griechen, die dieses Gebiet besiedelten. Der bekannteste von ihnen war der Mathematiker Archimedes. Um sein Leben und vor allem um seinen Tod ranken sich diverse Erzählungen. So soll der Soldat, der ihn nach der lakonischen Aussage »Störe meine Kreise nicht« erschlagen hat, gar nicht gewusst haben, wen er da vor sich hatte. Diese Geschichte gibt mir zu denken, denn im Grunde genommen ist es ja sehr oft egal, wen man vor sich hat. Es sind immer Menschen, denen man begegnet. Das sollte man sich im Hinblick auf die aktuelle Migrationskrise vor Augen führen.

Eben hier auf Sizilien kommen ja viele Menschen an, die eine bessere Zukunft in Europa suchen. Das Thema der Migration beschäftigt uns sehr intensiv in der Nachbarschaftspolitik, auch das war ein Motiv für die Wahl dieses Ortes. Wir sind in meinem Arbeitsfeld mit einer großen Herausforderung konfrontiert: Die Menschen haben zunehmend Angst, Angst vor Veränderungen, Angst vor dem Morgen und um ihre Existenz. Wir haben es in Europa das erste Mal mit einer Situation zu tun, in der Menschen glauben, dass sie nicht mehr in der Lage sein werden, ihren Kindern und Enkeln das zu übergeben, was sie selbst von ihren Eltern erhalten haben. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eher von einem positiven Wiederaufbau- und Neuanfangsgedanken geprägt und nun fürchten sich die Leute, dass sie das alles verlieren könnten. Es entstehen Unsicherheit und Angst und die von außen kommenden Menschen werden als Bedrohung empfunden. Ich glaube, es ist sehr wichtig, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.

Erlauben Sie mir, hier auf eine Segel-Metapher zurückzugreifen: Wenn ein Sturm aufzieht, dann ist es sicherer, aufs offene Meer hinauszuschwimmen, als den Schutz in der Nähe der Küste zu suchen, an der man Gefahr laufen kann, Schiffbruch zu erleiden. Dieser Reflex, in Gefahr das vermeintlich sichere Festland zu suchen, ist menschlich. So ähnlich stellt sich für mich das heutige Bild dar, wenn viele glauben, in diesen unruhigen Zeiten sei es besser, Schutz zu suchen, indem man sich abschottet, Zäune und Mauern errichtet und Protektionismus betreibt. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der richtige Weg. Wir müssen uns öffnen, wir müssen uns besser kennenlernen. Schon seit Jahren sage ich, dass es die größte Herausforderung Europas ist, dass wir uns gegenseitig viel zu wenig kennen.

Die Stärke Europas war und ist seine unglaubliche kulturelle Vielfalt, anders wäre es nicht möglich gewesen, dass so ein – global gesehen – kleiner Fleck mit einer im globalen Maßstab so geringen Bevölkerung in der Geschichte eine so große historische Bedeutung und Rolle einnehmen konnte und es bis heute tut. Obwohl dies heute vielleicht in anderer Hinsicht geschieht. Ich möchte daran erinnern, dass wir, also Europa, nur sieben Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, aber als Block 23 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften und mehr als 40 Prozent der globalen Sozialleistungen finanzieren. Diese Standards haben wir über Jahre und Jahrzehnte erreicht und es besteht das Bedürfnis, diese auch zu halten. Aber das wird nur möglich sein, wenn wir mit anderen international zusammenarbeiten, wenn wir mit anderen Abkommen schließen und Regeln setzen, die auf unsere Bedürfnisse abzielen. Wir müssen uns engagieren, die globalen Trends mit zu beeinflussen. Es ist deswegen wichtig, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen. Deshalb glauben wir in meinen Arbeitsumfeld in der Europäischen Kommission, dass Stabilisierung wichtig ist. Wir müssen versuchen, unsere Partner zu unterstützen, allein schon aus unserem ureigenen Interesse heraus.

Ich bin sehr froh, dass so viele Studentinnen und Studenten hier bei dieser Veranstaltung sind. Das Erasmus-Programm ist eine Erfolgsgeschichte. Es sind schon über eine Million Europäer, manche davon auch erst im mittleren Alter, durch das Programm gegangen und es entstand und entsteht dadurch eine gemeinsame europäische Identität. Ich merke das bei meinen Gesprächen mit jungen Leuten. Sie lassen unbemerkt die nationalen Kategorien weg und sagen nicht, »Ich studiere in Frankreich, Schweden oder Deutschland«, sondern »Ich studiere in Paris, Stockholm oder Münster«. Es werden die Städte erwähnt. Europa ist letztendlich auch durch die Städte groß und bedeutsam geworden.

Ich komme zu meinem Schlusspunkt: Im Geiste des Gründers Michael Fischer möchte ich betonen, dass sich auch europäische Eliten für das europäische Projekt engagieren. Aufstehen und sich engagieren ist heutzutage mehr denn je notwendig. Man muss sich zu seiner europäischen Position bekennen können und darf notfalls auch die Debatte nicht scheuen. Nur aus einem kritischen Diskurs heraus können neue notwendige Impulse entstehen. Wir brauchen eine solche engagierte intellektuelle Elite. Nutzen Sie bitte in den nächsten Tagen diese Gedanken als eine moralische Erfahrung, die sie dann anschließend auch weiterverwenden können.

Wir haben jetzt jahrelang bei den Symposien das Motto Europa NEU denken verwendet, ich möchte aber betonen, dass wir über das Denken zum Handeln kommen müssen. Vielleicht sollten wir das Motto dahingehend ändern, um auch etwas aktiver zu werden. Reflexion ist wichtig, aber Aktion ist nachhaltig. Ich wünsche uns allen sehr produktive Tage.

Endnote

1Eröffnungsansprache, Michael Fischer Symposion 2016: Europa NEU denken. Sehnsucht nach der Fremde – Nachbarschaft erfahren und in einem »erweiterten« Europa leben, 7. Oktober 2016, Syrakus.

Warum Syrakus?

Hedwig Kainberger

Die Hafenstadt in Sizilien bietet ein faszinierendes kulturelles Fundament für ein Michael Fischer Symposium. Syrakus ist angenehm uneindeutig. Weil sich diese Stadt nicht allein in einem Satz, nicht mit einem historischen Strang, nicht mit einer Kultur erklären lässt, passt sie zu einem Europa, das nicht allein in der Europäischen Union zu fassen ist. Also harmoniert diese Stadt mit einem offenen Denken, wie der Salzburger Universitätsprofessor Michael Fischer es mit einem Symposium wie diesem angeregt hat.

Diese Stadt kreist um ein Zentrum, das nicht so heißt wie sie. Zudem ist diese Alt- und Innenstadt Ortygia eine Insel. Zwischen dieser Altstadt und dem anderen Syrakus liegt das Ionische Meer. Hier aber ist das Mittelmeer so schmal, dass es auf zwei kurzen Brücken zu überqueren ist. Wer also in dieser außergewöhnlichen Stadt das nach zwei Seiten offene Meer überquert, merkt es kaum.

Das von Michael Fischer initiierte Europa NEU denken kreist um ein politisches Zentrum, nämlich die Europäische Union. Doch deren Umland ist groß und uneindeutig, weil voller kleiner und großer, subtiler und evidenter Netzwerke, die reisende, handelnde, lesende, ehrgeizige, neugierige, erobernde wie friedfertige Menschen seit Jahrtausenden untereinander knüpfen. Wer zum politischen und institutionellen Kern Europas will, sollte diesen immer wieder in jenen weiten Dimensionen aufspüren, die EU-Institutionen und EU-Recht nicht erfassen können und sollen. Wie wären diese Dimensionen abseits der durch Normen kodifzierten EU, abseits der Agenden der EU-Politiker zu bezeichnen? Nennen wir sie: Kultur.

Demgemäß goldrichtig liegt der Tagungsort für das fünfte Europa NEU denken außerhalb des alten Stadtkerns. Die Villa Politi mit ihrem Konferenzraum steht abseits des touristisch pulsierenden Ortygia – also passend zu einem dreitägigen gedanklichen Parcours abseits des Alltags. Als Vortragende und Zuhörende sind Menschen mit Berufsbezeichnungen wie Dichter, Verleger, Journalist, Anwalt, Musiker, Philosoph, Dramaturg, Intendant, Politiker, Politikwissenschaftler, Kulturanthropologe, Soziologe, Komponist, Pomologe und Germanist angereist. Für das hier zu frönende offene, konzentrierte Denken einer kleinen Gesellschaft von Intellektuellen, von denen viele einander zum ersten Mal begegnen, hat die Villa Politi eine betrachtenswert sinnige Umgebung: an einem Kreisverkehr, an einem Steinbruch sowie am Meer und mit Blick auf den alten Kern Ortygia. Zudem findet diese Begegnung nahe am kolossalen Denkmal »Für die Gefallenen von Afrika« statt, dessen martialische Abbildungen allerdings kaum seinem nachdenklich trauernden Titel entsprechen.

Das fünfte Europa NEU denken geschieht auch nahe an der in Form einer riesigen Zitronenpresse aus Beton gebauten Wallfahrtskirche Madonna delle Lacrime, die trutzig daran gemahnt, dass viele Europäer innig, hartnäckig und massenweise anders als rational und strategisch denken: Abertausende Gläubige verehren hier eine Gipsmadonna, die am 29. August 1953 im Haus eines sizilianischen Bauern Tränen vergossen haben soll. Und diese Tränen hat der Bischof von Palermo für echt erklärt. Zugegeben: Mit dieser Art von Frömmigkeit fangen wir Teilnehmer vom Michael Fischer Symposium wenig bis nichts an. Uns zieht es stattdessen ins Griechische Theater, das dem europäischen Theater sein Fundament gegeben hat, sowie zum »Ohr des Dionysos«, von dessen Wänden und Lichteinfall sich Caravaggio angeblich für sein – in Ortygia ausgestelltes – Gemälde vom Begräbnis der syrakusischen Stadtheiligen Lucia hat inspirieren lassen. Uns fasziniert eine Stadt, wo die Mathematik des Archimedes, die Philosophie Platons, die sagenumwobene Quelle der Aretusa und die Malereien Caravaggios oder Antonellos da Messina aufeinandertreffen. Und beim Nachdenken und Reden über Fremde und Fremdheit kommt auch die Insel Lampedusa zur Sprache, jenes von Sizilien aus nächst gelegene Land in Richtung Afrika, wo seit Jahren Tausende Fliehende stranden, um von dort über Sizilien auf europäisches Festland zu kommen.

Für unser Europa NEU denken passt auch die unmittelbare Nähe der Villa Politi, nämlich die Ruinen von San Giovanni, dem ersten Dom von Syrakus mit vielschichtigen Zeugnissen: unterirdische griechische Aquädukte, frühchristliche Katakomben, byzantinische Kapitelle, normannische Mauern und mittelalterliche Kirchenreste. Hier ist es, wie Michael Krüger, ein maßgeblicher Mitgestalter des Symposiums 2016, in seinem Roman Irrenhaus1 seinen Protagonisten feststellen lässt: Syrakus trage »wie eine überdimensionale Torte alle Zivilisationen übereinandergeschichtet in sich«.

Das Gespräch mit Inge Feltrinelli2 steht deshalb an prominenter Stelle dieses Buches, weil der Verlag Feltrinelli jenen Roman herausgebracht hat, der zur literarischen Ikone Siziliens werden sollte: Il Gattopardo von Giuseppe Tomasi di Lampedusa.3

Das Leitmotiv dieses Romans macht allerdings stutzig: »Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.« Eigentlich ist dieser Satz mit dem zweifachen »alles« so diffus, als entstammte er einer gedanklichen Schwüle. Er ist – genau gelesen – unlogisch, sogar widersinnig.

Doch der Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa setzt diesen Satz klug ein. Er lässt ihn den charmanten, eigentlich mittellosen Revolutionsgewinnler Tancredi sagen, der sich zwar von einem freigiebigen Onkel großzügig finanzieren lässt, sich aber auf die Seite von dessen Gegnern schlägt. So ist dieses zum Wischi-waschi-Denken verführende »Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern« ein Schlüsselsatz für diese Erzählung, die mit dem Vergilben der bisherigen Lebensweise, dem Ende der politischen Struktur und dem Tod des zögerlichen und selbstgefälligen Fürsten Don Fabrizio endet.

Oder meint der Satz aus diesem schwermütigen, farbenreichen Sizilien-Porträt doch etwas anderes? Drückt er die ewige Unveränderlichkeit dieses Siziliens aus, das so viele Herrschaftsformen, Eroberungen, Kolonisierungen, Religionen und Kulturen – »Tortenschichten« hat es Michael Krüger genannt – auf sich genommen hat? So oder so macht dieser angenehm uneindeutige Satz die vergnügliche Lektüre des Gattopardo auch vielfach bedenkens- und besprechenswert.

Und doch: Nicht diffus und ungefähr soll das Denken bei einem Michael Fischer Symposium werden. Die Erkenntnis soll anders als im Gattopardo sein, wo es heißt: »Also lag die wahre Schuld bei den herrschenden Zeiten.« Vielmehr wird EU-Kommissar Johannes Hahn, Schirmherr von Europa NEU denken, nicht müde, die Symposianten zum Handeln zu ermuntern: Dem Nachdenken in Syrakus sollen Taten folgen: Was in Europa ist zu verbessern? Was kann jeder Einzelne beitragen? Wie kann jeder wenigstens die Stimme erheben, um in all dem Gezeter über die angeblich rundum scheiternde EU das Gelingende, das Mögliche, das zu Ermöglichende hervorzuheben?

Übrigens gibt es für das Gelungene der EU-Politik in Syrakus einige Beispiele: Nun als Museen genützte, prachtvolle historische Bauten wurden in den Vorjahren renoviert, und das mit substanzieller Finanzierung aus den EU-Töpfen für Regionalpolitik – das Papyrus-Museum, das Museum Bellomo mit der kunsthistorischen Sammlung oder das Castello Maniace.

Und das Papyrus-Museum zeigt auch, dass Syrakus für ein schriftlich vorbereitetes und schriftlich verbreitetes Vorausdenken – bei Europa NEU denken sind dies Vorträge und Buch – eine brauchbare Basis hat. Denn für die Schriftlichkeit hat es an diesem einzigen Ort Europas, wo Papyrus in freier Natur wächst, besondere Voraussetzungen gegeben. Wie eine Landkarte im Papyrus-Museum zeigt, gab es in Syrakus ab dem Jahr 250 v. Chr. diese – im Vergleich zu Pergament – einfach herzustellenden, federleichten und gut beschreibbaren Bögen, während man sich in anderen europäischen Städten erst gut 1 000 Jahre später den Rohstoff für ein Buch wie dieses zunutze machen konnte, für das vom Papyrus der Name wie die Produktionstechnik abgeschaut sind.

Endnoten

1 Krüger, Michael, Das Irrenhaus, Innsbruck–Wien 2016.

2 Feltrinelli, Inge, »Nachdenken über mögliche Utopien«. Ein Gespräch mit der Kulturjournalistin Hedwig Kainberger, in diesem Band, 64–76.

3 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe, Il Gattopardo, Milano 1958 [Der Gattopardo. Aus dem Italienischen von Giò Waeckerlin Induni, München 2004].

Das Wesen des Fremden

Al-Andalus und die Integration der Kulturen. Ein Lichtblick in der Geschichte der Xenophobie

Erhard Oeser

Wenn man sich um eine positive Annäherung der Kulturen bemüht und dabei auch die geografische Nähe Südeuropas zur Krisenregion Nordafrika berücksichtigt, ist das mittelalterliche Andalusien ein Lichtblick in der jahrhundertealten Geschichte der Xenophobie. Auch heutzutage ist man noch weit von einem Ende dieser schrecklichen Geisteshaltung entfernt. Denn die Angst vor dem Fremden hat sich in der Gegenwart nicht vermindert, sondern hat sich vielmehr zu Fremdenhass und aggressiver Fremdenfeindschaft gesteigert.

Als Fachausdruck wurde der Begriff der »Xenophobie« zuerst in der Terminologie der naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie und Humanethologie verwendet. Dort bezieht er sich auf die Angst (phobos) vor dem Fremden (xenos), die sich, ohne dass man eine direkte Bedrohung erfahren hätte, fast ausnahmslos bei allen Völkern zeigt. Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Begriff über diese eher harmlose biologische Bedeutung hinaus eine grundsätzliche Erweiterung im Sinn eines kulturellen politischen Phänomens erfahren. Man spricht heutzutage von »Islamophobie«, »Arabophobie«, »Turkophobie«, »Negrophobie« usw. – Begriffe, deren gemeinsamer Nenner die Fremdenfeindlichkeit darstellt. Dabei handelt es sich um eine Ansicht, die kulturelle Differenzen anstelle von ethnisch unterschiedlicher genetischer Ausstattung für unauslöschlich und unveränderbar hält. Das Stichwort dazu ist »Clash of Civilizations« oder »Kampf der Kulturen«1. Dass es diesen Kampf der Kulturen seit jeher gegeben hat, dafür gibt es vom Anfang der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Islamischen Staat viele Beispiele.

Bereits im alten Griechenland wurde der Begriff »Barbaren« (wörtlich: »Stammler, Stotterer«) als Bezeichnung für alle Fremden verwendet, die nicht oder nur schlecht Griechisch sprechen konnten. In Platons Vision des idealen Staates2 kommt sogar eine ausgesprochene Fremdenfurcht zum Ausdruck. Platons Staat kann man als das Urbild einer »geschlossenen Gesellschaft« ansehen. Nicht nur die Migration ist bei Platon so gut wie ausgeschlossen, auch das Verlassen des Staates ist bei Strafe verboten. Wenn aber einer der verreisten Bürger zurückkehrt, von dem die Einheimischen der Meinung sind, er habe sich von der fremden Kultur verderben lassen, »dann treffe ihn«, sagt Platon, »der Tod«. Und es war der große Philosoph Aristoteles3, der im Bezug auf die fremden Barbaren die verhängnisvolle Lehre von den »Sklaven von Natur aus« vertrat, die ihre Wirksamkeit bis in die Neuzeit bewahrt hat. Denn die wilden Völker Afrikas und der Neuen Welt wurden ohne Bedenken von ihren Eroberern und Unterdrückern grundsätzlich als geborene Sklaven angesehen und als Handelsobjekte verschachert. Bei den Römern war Karthago die barbarische Gegenwelt Roms, vor deren Angriffen man sich fürchtete. So wurde der Alpenübergang Hannibals zum größten Schrecken der Römer. Im Gegensatz zu der Verachtung der afrikanischen Völker entsteht aber in der Germania des Tacitus4 das Germanenbild der Rassenreinheit, das im nationalistischen Deutschland des 20. Jahrhunderts eine Wiederbelebung erfuhr.

In der Geschichte der Xenophobie spielt vor allem die Religion eine verhängnisvolle Rolle. Besonders deutlich wird diese bei dem bis zum heutigen Tag stattfindenden Kampf zwischen Christen und Muslimen. Die Geschichte der Auseinandersetzung von Christentum und Islam beginnt schon kurz nach dem Tod des Propheten Mohammed. Seine Nachfolger setzten seine Eroberungszüge mit Feuer und Schwert fort und erweiterten den Machtbereich des Islam bis nach Spanien im Westen und im Osten weit bis ins Innere Asiens aus. Die christlichen Autoren des Ostens sahen die Anhänger Mohammeds als Menschen an, die sich durch Untreue und Betrug, Lust am Töten, Dummheit und Gottlosigkeit kennzeichneten. Thomas von Aquin behauptet in seiner Summa contra Gentiles5, dass Mohammeds Lehren nur von ungebildeten Leuten angenommen wurden, von Wüstenbewohnern, die er als »bestiales« bezeichnet. Und ein mittelalterlicher Ordensmeister der Dominikaner sagt von den Anhängern Mohammeds: »So sehr eifern sie um ihre Religion, dass sie überall, wo sie die Macht haben, unbarmherzig jeden Menschen köpfen, der gegen ihren Glauben predigt.«6

Der sogenannte »heilige Krieg« gegen die Christen ist jedoch nicht nur ein Phänomen der islamischen Religion, wie er heutzutage oft angesehen wird. Denn nicht nur der Islam wurde mit Feuer und Schwert verbreitet, sondern zumindest zeitweise, wie die Kreuzzüge beweisen, auch das angeblich so friedfertige Christentum. Die Geschichte der Kreuzzüge zeigt, wie schnell Religiosität in blinden Fanatismus und todbringende Zerstörungswut umschlagen kann. Auch später in der Neuzeit dienten die Eroberungszüge der christlichen Europäer nicht so sehr der Bekehrung der Heiden, sondern es war vielmehr die Gier nach Reichtum und Ländergewinn, die zur erbarmungslosen Ausrottung der Ureinwohner der Neuen Welt geführt hat.

Die dominante Form der Xenophobie in unserer globalisierten Welt ist nach den Terroranschlägen in Amerika und Europa fraglos die Islamophobie. In ihr treffen alle Komponenten der Xenophobie zusammen, wie sie in der Geschichte der Menschheit nachweisbar sind: Angst, Hass und Fremdenfeindschaft. Die Ursache dieser so ausgeprägten Xenophobie ist die historische Tatsache, dass der radikale Islam noch immer eine gewaltsame Religion ist und von ihren radikalen Anhängern als der einzig wahre Glaube angesehen wird, den es gegen die Ungläubigen zu verteidigen gilt. Das wird nicht nur durch die Attentate des Terrorstaats Islamischer Staat (IS) mit seinem selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdhadi demonstriert, sondern kann auch durch das folgende Zitat aus dem Koran belegt werden: »Kämpft gegen sie, bis Niemand mehr versucht, euch zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird!«7

Doch mit der Erkenntnis, dass Xenophobie ein Phänomen ist, das die Geschichte der Menschheit von allem Anfang an bis heute begleitet, ist auch ebenso unleugbar die Erkenntnis verbunden, dass die Menschheit daran nicht zugrunde gegangen ist. Das kann uns trotz der heutigen Situation der weltweit durch den Terrorismus verstärkten Radikalisierung der Xenophobie immer noch Hoffnung für die Zukunft geben. Der Grund dafür ist die Einsicht, dass es einen Fortschritt sowohl der wissenschaftlichen Erkenntnis als auch der Moral gibt, die sich gegenseitig ergänzen. Das historische Beispiel dafür ist das mittelalterliche Andalusien. Es war eine historische Epoche von größter Tragweite nicht nur für Spanien, sondern auch für ganz Europa, eine Epoche voller Glanz und Tragik, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen. Andalusien könnte daher für unsere krisengeschüttelte Zeit nicht nur ein Vermächtnis, sondern auch ein Vorbild für die Zukunft sein. Der arabische Name für diese Epoche »Al-Andalus« ist ein zugleich historischer und geografischer Begriff. Denn er steht für den islamischen Herrschaftsbereich auf der Iberischen Halbinsel und nicht nur auf ein bestimmtes geografisch definiertes Gebiet. Gekennzeichnet ist dieser Bereich durch eine Integration der Kulturen in einem Ausmaß, wie sie vorher und auch nachher nicht mehr stattgefunden hat. Denn es hat dort nicht nur einen rational begründeten interkulturellen »wissenschaftlichen Universalismus« gegeben, sondern auch jenseits der traditionell verfestigten Moralvorstellungen und Religionen Ansätze zu einem interkulturellen Humanismus, der uns heutzutage Hoffnung auf eine Verwirklichung der Forderung nach der Universalität der Menschenrechte in unserer globalen Welt geben kann.

Dass es sich bei der Berufung auf Al-Andalus nicht nur, wie vielfach behauptet wird, um einen romantischen Mythos und nicht um eine historisch-politische Realität handelt, beruht auf einem grundsätzlichen Missverständnis. Denn es geht bei dieser Bewertung um zwei unterschiedliche Gesichtspunkte, einerseits um das friedliche Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden, die sogenannte convivencia, die eine ungebrochene religiöse Toleranz erfordert, und andererseits um die gemeinsame interkulturelle Leistung, die in Al-Andalus als historische Tatsache nachweisbar ist. Was nun das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerung betrifft, muss man zwar zugeben, dass Al-Andalus kein multikulturelles Paradies in immerwährendem Frieden war. Es gab auch dort Unterdrückung, Krieg und blutigen Streit. Solche Krisenerscheinungen könnten den Gedanken nahelegen, dass das muslimische Spanien damals in die Barbarei abgeglitten wäre. Doch das Gegenteil war der Fall. Die das 11. Jahrhundert prägenden Kämpfe zwischen den herrschenden Dynastien der Araber und die Kontroversen mit den aus Nordafrika eingewanderten Berberstämmen verhinderten keineswegs eine zivilisatorische Blütezeit. Vielmehr wurde das muslimische Spanien und insbesondere Al-Andalus gerade zu dieser Zeit der Ort des wissenschaftlichen Universalismus und eines darauf begründeten universal verstandenen Humanismus. Genau diese Beurteilung wurde bereits vor 250 Jahren in der europäischen Aufklärung durch Voltaire, Rousseau und Herder getroffen und seitdem in vielen Versionen erneuert.

Es war vor allem die unübersehbare kulturgeschichtliche Bedeutung, welche in der Bewahrung, Kommentierung und Weiterentwicklung der antiken griechischen Philosophie, vor allem der Aristotelischen Logik und seiner naturwissenschaftlichen Werke besteht, welche die Grundlage der Hochschätzung von Al-Andalus in der europäischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts bildete. Dadurch, dass die rationale Philosophie vor allem durch den großen arabischen Philosophen aus Córdoba Ibn Rushd (lat. Averroës) über die Religion gestellt wurde, war es möglich, einen für das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden toleranten Humanismus zu entwickeln. Die Idee von Al-Andalus als einem Ort des Miteinanders, der convivencia, ist daher mehr als ein Mythos. Sie ist keine Debatte im Elfenbeinturm, sondern war zumindest zeitweise konkrete historische Realität und sie ist gerade angesichts der weltweiten Bedrohung durch die Konfrontation zwischen den Kulturen und Religionen hochaktuell. Auch selbstkritische arabische Autoren, die eine säkularisierende Reform des Islam in Betracht ziehen, weisen heutzutage mit Recht darauf hin, dass es im mittelalterlichen Al-Andalus einen »arabisch-islamischen Humanismus« gegeben hat, wie folgendes Zitat des marokkanischen Historikers Abdallah Laroui zeigt:

Andalusien ist kein Land, das wir erobert und dann wieder verloren haben, es ist vielmehr ein Symbol für die Vernunft, die wir oft vernachlässigt und schlecht behandelt haben und die uns daraufhin verließ. Die Vernunft jedoch kennt zum Glück keine Rache. Sie wird zu uns zurückkehren, sobald wir wieder zu uns gekommen sind und unsere Fehler anerkennen.8

Endnoten

1 Huntington, Samuel Phillips, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München–Wien 1996.

2 Vgl. Platon: Nomoi, 952 c-d, in: Grassi, Ernesto (Hg.), Platon, Sämtliche Werke, Bd. 6, Hamburg 1959.

3 Aristoteles, Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Leipzig 1943, 10.

4 Tacitus, Germania, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1971 und öfter.

5 Vgl. Aquin, Thomas von, Summa contra gentiles, hrsg. von Karl Albert und Paulus Engelhardt, Darmstadt 2001.

6 Vgl. Watt, William Montgomery, Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter. Aus dem Englischen von Holger Fließbach und mit einem Vorwort von Ulrich Haarmann, Berlin 2010, 210.

7Koran, Sure 2, 193.

8 Laroui, Abdallah, Al-īdiyūlūğīyā al- ‘arabīya al- mu ‘āira (Die zeitgenössische arabische Ideologie), 2. Aufl., Casablanca 1999, 43 [L’idéologie arabe contemporaine. Essai critique, Paris 1967].

Die Kraft der Imagination. Islamophobie als Beispiel des imaginierten »anderen« Europa

Farid Hafez

Edward Said hat in seinem Magnum opus Orientalismus1 gezeigt, wie Europa sich selbst durch die Abgrenzung zum imaginierten »anderen Orient« konstruierte. Der »Orient« diente als Projektionsfläche unterdrückter Wünsche und Ängste des damit sich selbst erschaffenen und bestätigten »Europa«. Bereits seit den 1980er- und 1990er-Jahren hat die Neue Rechte das Thema Islam wieder aufgegriffen. Spätestens seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion und insbesondere nach dem 11. September 2001 bedienen sich die Parteien der Neuen Rechten und schrittweise immer mehr Parteien der ehemaligen politischen »Mitte« der Islamophobie als identitätspolitisches Mobilisierungsinstrument. Im Zuge der Fluchtbewegungen von Menschen aus Syrien und dem Irak hat die Islamophobie auch in östlich gelegenen Ländern Europas zugenommen, insbesondere im politischen Diskurs. In diesem Beitrag wird die Islamophobie einerseits als Herrschaftsinstrument und andererseits als Imagination der Islamophoben gedeutet, die mehr über den Islamophoben aussagt als über »den Islam und die MuslimInnen«.

Europa und sein »Anderes«

Vereinfachungen, Verzerrungen und Verallgemeinerungen dienen dem Menschen dazu, die komplexe Realität zu vereinfachen, um im Alltagshandeln leichter mit der Umwelt in Kontakt treten zu können. Ein gewisses »Schubladisieren« wird damit in unseren Alltag als Normalität eingeschrieben. Der Begriff des Stereotyps benennt genau diesen Vorgang. Problematisch werden Stereotype dann, wenn sie als Vorurteile die Erfahrung fälschen2 und nicht erlauben, auf Basis des neu Kennengelernten eine neue Erkenntnis zu gewinnen. Tritt der Mensch oder ein Gebilde von Menschen dem Fremden entgegen, ohne das Gegenüber differenziert zu betrachten, und schreibt es das Gegenüber mit Eigenschaften fest, die unhinterfragt weitertradiert werden, haben wir es mit der problematischen Seite von Stereotypen zu tun. Hier geht es um vermeintliche und eingebildete, imaginierte Bilder des »Anderen«. Eine scheinbare Differenziertheit tut sich dort auf, wo »Ausnahmen« zu diesem Stereotyp identifiziert werden. Die Ausnahmen jedoch sind nichts als eine Bestätigung der Regelhaftigkeit des stereotypen Vorurteils.

Jedes Subjekt sucht sich zur Definition des Eigenen nicht nur Merkmale zur Eigendefinition, sondern meist auch Merkmale der Abgrenzung vom »Anderen«. Auch dies ist nicht weiter problematisch, wenn es nicht zur vorurteilsbeladenen Abgrenzung kommt, die mit einer Abwertung des »Anderen« zu tun hat. Eine solche Abwertung des »Anderen« war etwa bezeichnend für das Aufkommen von »Nationen«. So verwendete Benedict Anderson den Begriff imagined3 im Sinne von »vorgestellt«, um den »Doppelsinn von Imagination und ›Miteinander bekanntgemacht werden‹« zu erfassen4. Die Imagination bezieht sich dementsprechend immer auf eine zweite Masse, wie Elias Canetti es bereits formulierte, als er sagte: »Die sicherste und oft die einzige Möglichkeit für die Masse, sich zu erhalten, ist das Vorhandensein einer zweiten Masse, auf die sie sich bezieht.«5 Die Imagination des »Anderen« dient insofern ebenso sehr, wenn nicht viel mehr, der Imagination des »Eigenen«.

In seinem Magnum opus zeigte Edward Said auch, wie in Europa das Bild des »anderen« Orients entworfen wurde, um Europa zu entwerfen. Es ging aber nicht nur um Bilder, die einzig und alleine in einem imaginativen Raum Europas existierten, sondern um eine weitere wesentliche Handlung: die Macht. Die Bilder wurden nämlich geschaffen, um das »Andere« regierbar zu machen, als wesensfremd »Andere« zu imaginieren, zu unterwerfen, zu kolonialisieren und auszubeuten.6 Dieser Rassismus ist ein Wesensmerkmal des modernen Weltsystems, wie Immanuel Wallerstein ausführt:

Das moderne Weltsystem hätte ohne die Anwendung von Gewalt, um seinen Geltungsbereich zu erweitern und große Teile der Bevölkerung zu kontrollieren, nicht entstehen und institutionalisiert werden können. Dennoch ist überlegene Gewalt, selbst überwältigende Gewalt, niemals ausreichend gewesen, um Herrschaft nachhaltig zu etablieren. Die Mächtigen haben stets ein gewisses Maß an Legitimität benötigt, um die Vorteile und Privilegien, die ihnen mit der Herrschaft zufielen, zu rechtfertigen.7

Der Rassismus war hierfür stets ein Akt der Legitimation, sei es bei der industriellen Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, dem »inneren Anderen« des Deutschen Reichs, oder aber die rassistische Ausbeutung und Neokolonialisierung des »Anderen« in Außenpolitiken westlicher Nationalstaaten heute, wie Edward Said im zweiten Band seiner Trilogie schreibt.8

Damit kommen wir zur zentralen Thematik dieses Artikels. So wie der Orientalismus historisch den europäischen Kolonialstaaten ermöglichte, ihr Herrschaftsverhältnis zu legitimieren, so wirkt auch heute Islamophobie als Form von Rassismus, um das muslimische Subjekt zu disziplinieren. Levent Teczan hat in seinem Essay Das muslimische Subjekt herausgearbeitet, dass der Kampf um die Deutung des Islam kein neues Phänomen darstellt. Die »Schaffung eines europäischen Islam«9, so Tezcan, sei eine von mehreren Kontinuitäten, die sich in einem vergleichenden Blick auf die Islampolitik der deutschen Kolonialkongresse 1905 und 1910 sowie der seit 2006 stattfindenden Deutschen Islamkonferenz zeige. Tezcan bezeichnet mit diesem Begriff jenen Islam, der im Islamdiskurs als »zivilisationskompatibel« markiert wird. Den Maßstab legen hier die herrschenden Eliten, die keinen neutralen oder universalen Zivilisationsbegriff vertreten – sollte es einen solchen überhaupt geben –, sondern einen aus ihrer partikularen Sicht herausgenommenen universalisierten Zivilisationsbegriff. Er meint die Konstruktion eines Islams, der eingegliedert werden kann, muslimische Subjekte, die nicht gegen die Ordnung aufbegehren, die also im Sinne der Gouvernementalitätstheorie Foucaults regierbar sind. Das bringt mich zum Begriff der Islamophobie.

Zum Konzept der Islamophobie

In dem von mir seit 2010 herausgegebenen Jahrbuch für Islamophobieforschung verwende ich folgende Definition von Islamophobie, einem Begriff, der seit seiner Einführung in eine akademische Debatte im Jahre 1997 zwischenzeitlich eine lange Geschichte aufweist:

Islamophobie ist antimuslimischer Rassismus. Wie auch die Antisemitismusforschung zeigt, verweisen semantische und etymologische Komponenten von Begriffen notwendigerweise nicht auf die vollständige Bedeutung dieser sowie auf ihre Verwendung. So ist es auch im Falle von Islamophobieforschung. […] Kritik an MuslimInnen sowie an der islamischen Religion ist nicht gleichzusetzen mit Islamophobie. Islamophobie bedeutet, dass eine dominante Gruppe von Menschen Macht erstrebt, stabilisiert und ausweitet, indem sie einen Sündenbock imaginiert, der real existiert oder auch nicht, und diesen Sündenbock von den Ressourcen, Rechten und der Definition eines kollektiven ›Wir‹ ausschließt. Islamophobie arbeitet mit der Figur einer statischen islamischen Identität, die negativ konnotiert ist und auf die Masse der imaginierten MuslimInnen generalisiert ausgeweitet wird. Gleichzeitig sind islamophobe Bilder fließend und verändern sich in unterschiedlichen Kontexten, denn Islamophobie sagt uns mehr über die Islamophoben aus, als sie uns etwas über ›den Islam‹ oder ›die MuslimInnen‹ sagen würde.10

So sieht etwa der Politikwissenschaftler Achille Mbembe den 11. September wie auch weitere Terroranschläge sogenannter »Islamisten« nicht als Ursprung der Islamophobie. Vielmehr hätten diese es erlaubt, eine bereits bestehende Denkstruktur kolonialen Denkens expansiv zu erweitern.11 Insofern verwende ich den Begriff der Islamophobie nicht, um über ein außerhalb des Rassismus stehendes Phänomen zu sprechen. Islamophobie benennt die Herausarbeitung des Konstrukts »MuslimInnen« und »Islam« in einem rassistischen Weltbild. Wie der aus Frankreich stammende Rassismusforscher Frantz Fanon bereits im Jahre 1956 erklärte: »Der Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus.«12 Zwei Jahre zuvor meinte in diesem Sinne bereits Theodor W. Adorno: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch«.13 Heute kann man behaupten, dass der Begriff der Kultur mit dem Begriff der Religion weiter eingegrenzt wird. Wenn hier also vom antimuslimischen Rassismus gesprochen wird, dann wird damit gemeint, dass »ein essentialistisch gedachtes Kulturkonzept als funktionales Äquivalent des biologistischen Rassebegriffs auftritt«14, das in diesem Falle nicht auf Kultur, sondern eben auch auf Religion übertragen wird. Im Kern steht die Naturalisierung einer kulturellen oder religiösen Differenz, die den ideologischen Kern aller Rassismen ausmacht.15 Bereits »Jüdinnen« und »Juden« galten im antisemitischen Denken als »mentale Rasse« und wurden damit zum »kulturell nicht Assimilierbaren«.16 Und so werden heute die Figur des »Muslims« und der »Muslimin« als Gegenstände imaginiert, die in einem Kollektiv entindividualisiert und in einem gleichen Muster muslimischer Kultur konstruiert werden. Bezugnehmend auf Foucault, Gramsci und Derrida erklärt die Rassismusforscherin Iman Attia in Bezug auf Europa, dass »Ausbeutung […] nicht mehr ausschließlich oder primär über direkte Gewalt« funktioniere, sondern »mit kultureller Hegemonialisie-rung« einherginge. »Die Fokussierung von Kultur«, so Attia weiter, »verortet damit Kultur als drittes Element neben Struktur und Subjekt«.17 Dies dient im Weiteren dem Regierbarmachen dieser »Gefahr«. Wie Attia an anderer Stelle darlegt, werden »antimuslimische Diskurse als Selbstverteidigung präsentiert – analog zur nationalsozialistischen und rechtsextremen Präsentation antisemitischer Diskurse als Selbstverteidigung«18. Diese Beobachtungen vergangener Diskurse, das Hegemonialwerden islamophober Diskurse, stellen eine Grundlage für die kritische Auseinandersetzung der Thematisierung der Konstruktion von Europa dar. Und dies insbesondere während der jüngst eingesetzten Fluchtbewegungen aus Syrien und dem Irak.

Ein zentraler Aspekt islamophoben Denkens besteht – im Anschluss an den Begriff des Orientalismus von Edward Said19 – darin, über die vermeintliche Schwäche, Andersheit und Rückschrittlichkeit des konstruierten »Anderen« zu sprechen. Diese Dimension ist insbesondere im Hinblick auf Sexismus von Relevanz.20 Bei der Abwertung der muslimischen Frau wird eine Idealisierung des Geschlechterverhältnisses in der »eigenen« – sprich weißen und nicht-muslimischen – Gesellschaft imaginiert, die oftmals von Männern propagiert wird. Auffallend ist hierbei, dass dies meist von Männern ausgeht, die selbst traditionelle und sexistische Weltbilder vertreten, wie es etwa für die Neue Rechte der Fall ist.21 Einer kritischen Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, d.h. mit sich selbst, wird hingegen deutlich weniger Raum gegeben. In diesem Sinne meinte bereits Jean-Paul Sartre, dass das Stereotyp nichts über den »Anderen« aussagen und eine Projektionsfläche für eigene Schwächen und Wünsche darstellen würde.22 Diese selektive Auseinandersetzung mit sich selbst weist ebenso auf eine Beobachtung des Soziologen Augie Fleras, der im Kontext der Medienberichterstattung die Kategorie der whiteness als »the unmarked yet universal standard that defines and discredits others«23 benutzt, um darauf hinzuweisen, dass Minderheiten als die Abweichung von der Norm immer aus einem weiß-zentrierten Blickwinkel betrachtet werden. Eine obsessive Betrachtung einzelner Schwachstellen von »Anderen,« gepaart mit einer essentialisierten, rassistischen Darstellung, die das verortete Problem als »muslimisch« rahmt, zementiert damit das Bild des demokratiefeindlichen Islam versus dem Bild eines aufgeklärten, offenen Wir.

Islamophobie ist seit den 1980er-Jahren auf Seite der Neuen Rechten ein zentrales Ideologem.24 Spätestens in den 1990er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion und verstärkt mit dem 11. September 2001, wurde es eine zentrale Agenda von Wahlkämpfen rechter Parteien, von der Front National über den Vlaams Belang bis hin zu den Schwedendemokraten.25 Mit dem 11. September und dem darauffolgenden Krieg gegen den Terror erhielten islamophobe Diskurse hegemoniale Kraft. Sie dienten auch nicht-rechten Parteien zur Legitimation repressiver Politiken und staatlicher Überwachungspraktiken. Betroffen von der Übernahme islamophober Diskurse ist auch die Religionsfreiheit als Menschenrecht. So kam es zum Verbot von Moscheen und Minaretten26 und Berufsverboten für muslimische Frauen mit Haarbedeckung27. Im Sicherheitsbereich wurden Spähprogramme eingeführt.28 Diskriminierende Gesetze wie das österreichische Islamgesetz 2015, welches von einer sogenannten Mitte-Regierung eingeführt wurde, veranschaulichen die hegemoniale Kraft islamophober Diskurse.29

Islamophobie auf der politischen Bühne Europas

Valéry Giscard d’Estaing – früherer französischer Präsident und Vorsitzender der Kommission – verglich einst den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union mit dem Ende Europas. Die Türkei, behauptete er im November 2002, habe »eine andere Kultur, einen anderen Zugang, eine andere Lebensart«30. Diese Aussage, welche eine Kontroverse auslöste, barg eine Ansicht, die in Europa eine weite Verbreitung hat: Ein Land mit großer muslimsicher Bevölkerung würde die Zukunft Europas in Gefahr bringen. Die rechtspopulistische FPÖ verfolgt einen solchen Kurs schon lange. Wahlkämpfe um den Wiener Gemeinderat und das Europäische Parlament waren voll von Plakatsprüchen wie: »Wien darf nicht Istanbul werden« und »Abendland in Christenhand«. Diese Position eines christlich imaginierten Europas findet sich aber auch in Parteien der Mitte.

2013, noch lange bevor die Fluchtbewegungen in die Hundertausende gingen, kündigte der damalige Außenminister und Parteichef der christdemokratischen ÖVP, Michael Spindelegger, an, er würde vorrangig christliche Flüchtlinge aus Syrien in Österreich aufnehmen. Seinen Vorstellungen nach sollten 500 Geflüchtete aus Syrien, vorzüglich Frauen, Kinder und Christen, aufgenommen werden. Trotz der breiten Front an Kritik insistierte die Innenministerin der gleichen Partei, Johanna Mikl-Leitner, darauf, dass »so manche […] zu negieren [versuchen], dass Christen besonders gefährdet sind«31. Max Santner, der seit 2007 den Bereich Internationale Zusammenarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz leitete, erwiderte in einem Kommentar zynisch: »Leiden Christen mehr unter Giftgas?«32 Während auch Kritik von der UNHCR kam, erhielt Spindelegger Rückendeckung von seiner Parteikollegin, der Innenministerin. Erklärungsansätze für die Position Spindeleggers könnten darin liegen, dass dieser Mitglied des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem ist, einem Orden, der während des ersten Kreuzzuges gegründet wurde und heute im Vatikan als katholische Laienorganisation registriert ist.33 Ihr deklariertes Ziel ist es, die christliche Präsenz im Heiligen Land zu stärken.34

Ginge es nach Spindelegger, so würden Christen stärker unter den Kriegszuständen leiden als andere. Damit unterbindet Spindelegger nicht nur das Menschenrecht auf Asyl für vom Krieg bedrohte Menschen. Er nimmt auch eine Unterscheidung hinsichtlich Geschlecht, Alter und Religionszugehörigkeit vor. Das immanente Skript schließt die Figur des bedrohlichen muslimischen Mannes aus, ohne ihn explizit zu benennen. Es gilt jedoch über die ÖVP hinaus, dass die Frage geflüchteter Menschen umstritten diskutiert wurde. Die rechtspopulistische Website unzensuriert.at brachte es überspitzt mit folgenden Worten auf den Punkt: »Syrien-Flüchtlinge: ÖVP will Christen, SPÖ alle, FPÖ gar keine«35. Diese kurze Episode aus dem Jahr 2013, die den Ausschluss fliehender Menschen aufgrund ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit veranschaulicht, kann als Vorbotin einer (ost-)europäischen Stimmungslage für die darauffolgenden Jahre gelesen werden. Sie stammt aus einer Zeit, in der der syrische Bürgerkrieg recht isoliert dastand und die Terrororganisation Daesh noch keinen grenzüberschreitenden Kampf angetreten hatte, um damit einen größeren Flüchtlingsstrom auszulösen.

Robert Fico, Premierminister der Slowakei – wo von 331 Asylanträgen nur 14 einen positiven Bescheid bekommen haben –, argumentierte, dass ankommende ChristInnen viel weniger Angst unter der lokalen Bevölkerung verursachen würden. Diese Meinung wurde vor dem Hintergrund der Tatsache der 10 000 im Land lebenden MuslimInnen, also 0,2 % der slowakischen Gesamtbevölkerung, gebildet.36 Fico könnte eventuell dem Druck der Rechten, die Wochen vor seiner Aussage gegen die Islamisierung Europas demonstrierten, nachgegeben haben. Andere islamophobe Gruppen, wie der »Block Gegen den Islam«, hat es geschafft, über 145 000 Unterschriften für eine Petition gegen die Einwanderung von muslimischen Immigranten in die Tschechische Republik zu sammeln. Statt Menschenrechte zu verteidigen, hat der tschechische Präsident, Miloš Zeman, klargestellt: »Flüchtlinge, die einen völlig anderen kulturellen Hintergrund haben, sind in der Tschechischen Republik nicht gut positioniert.«37 Der Islam ist für ihn eine »Gegenzivilisation«.38 Im Jänner 2016 verbreitete Zeman in einem Interview gar eine Verschwörungstheorie, wonach die Muslimbruderschaft zu schwach sei, um Europa den Krieg zu erklären, und deswegen eine »Invasion« plane. Mithilfe der Flüchtlingsströme würde sie Europa mithilfe demografischer Veränderungen islamisieren wollen.39

Es geht um »uns«

Jean Paul-Sartre hat es sehr zutreffend mit dem Satz, »Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden«40, auf den Punkt gebracht. Dementsprechend ist in der Erforschung von Islamophobie davon auszugehen, dass die Islamophobie mehr über die Islamophoben aussagt, als sie dies über die imaginierten MuslimInnen tut. Es sind die Gedanken, Ängste und Wünsche der Islamophoben, die sich in deren Worten widerspiegeln. Das heißt, dass wir notwendigerweise nicht über den realen »Islam« sprechen, sondern vielmehr über Bilder des Islams, die zur Imagination des »Eigenen« und »Fremden« dienen. Dem »muslimischen Anderen« werden in islamophoben Diskursen projektiv eigene Mängel unterstellt, die jedoch negativ präsentiert werden.

Wenn nun zum Thema Islamophobie eine Anfrage an unsere europäischen Gesellschaften gemacht wird, bedeutet dies, dass es nicht nur keinesfalls um den Islam geht. Es geht auch vordergründig weniger um die Beschaffenheit der Islamophobie. Denn diese gibt uns nur Auskunft darüber, wie die europäische Gesellschaft selbst beschaffen ist. In diesem Sinne bringt es der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz mit einer seiner letzten Veröffentlichungen Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet41 auf den Punkt: Es geht um die Demokratie in Europa, die allen gehört, MuslimInnen und NichtmuslimInnen.

Was hat das mit »dem Islam« zu tun?

Und damit wird auch eine Frage, die im Zentrum dieser Konferenz steht, beantwortet: Islamophobie ist keine Reaktion auf islamischen Extremismus. Sie mag eine Konsequenz der Generalisierung eines dschihadistischen Terroranschlags im Islamdiskurs auf die Gesamtheit der MuslimInnen sein. Das sehr wohl. Aber dieser Mechanismus, dass etwa nach einem mörderischen Anschlag wie jenem auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ein Islam-Diskurs geführt wird, legt genau diese Dimension der Islamophobie als Herrschaftsinstrument dar. Um der Islamophobie zu entgegnen, bedarf es nicht der Islamophilie, sondern der nüchternen und sachlichen Auseinandersetzung mit jenen Extremismen, die einerseits islamisch markiert werden und damit eine Islamizität aufweisen. Aber genau diese Reduktion komplexer politischer Vorgänge auf die Islamizität ist ein Kernelement islamophober Diskurse. Insofern ist die Verbreitung islamophober Stereotype nicht Konsequenz eines islamisch markierten Extremismus, sondern eine Konsequenz des islamophoben Diskurses, der einen islamisch markierten Extremismus erst entsprechend rahmt, um ihn in einen allgemeinen Islam-Diskurs überzuführen.

Die zentrale Rolle von Macht und Wissensproduktion

Damit kommen wir zu einem wichtigen Aspekt, der einleitend bereits erwähnt wurde: Macht. Ermächtigen sich manche Kräfte des Islam, produzieren sie ein scheinbar »kohärentes« Wissen in Abgrenzung zum »Eigenen«, um genau jene Macht zu entfalten, das »Eigene« überhaupt erst regierbar zu machen? Ein »Eigenes« wiederum, das das »muslimische Andere« ausschließt. Das zeigen die Debatten um die Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten der BRD, als dieser meinte, der Islam gehöre zu Deutschland. Einen Eindruck dieser Fremdheit, die dem Islam zugeschrieben wird, erhält der Beobachter aus der Ferne aber auch, wenn er sich vergegenwärtigt, welche der Aussagen Thilo Sarrazins skandalisiert wurden und welche eher weniger. Diese Abgrenzung und Ausgrenzung zielt auf eine vermeintliche Selbstvergewisserung theologischer, gesellschaftlicher, aber auch polit-ideologischer Identitäten. In diesem Beziehungsgeflecht sind die islamophoben AkteurInnen und die Islamophoben »alte Bekannte«, wie ich es in Anlehnung an den Psychoanalytiker Frantz Fanon ausdrücke, der diese Bezeichnung für den Kolonialherren und den Kolonialisierten verwendete. Beide »kennen« sich und tatsächlich erschafft Ersterer Zweiteren erst in und durch dieses Kolonialsystem.42