Europadämmerung - Ivan Krastev - E-Book

Europadämmerung E-Book

Ivan Krastev

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Beschreibung

Nach 1989 waren Landkarten plötzlich nicht länger in Mode. Die Grenzen sollten geöffnet werden für Menschen, Güter, Kapital und Ideen. An die Stelle der alten Karten traten Graphiken, welche die ökonomische Verflechtung innerhalb der EU illustrierten. Heute erleben wir einen ideologischen Gezeitenwechsel: Wo die Mehrheit der Europäer noch vor einigen Jahren optimistisch auf die Globalisierung blickte, empfinden sie Migration und die Rückkehr der Geopolitik als Quelle der Unsicherheit. Ivan Krastev untersucht die Ursachen für diesen Wandel und erörtert, welche Formen die europäische Desintegration annehmen könnte. Ein Zerfall der EU, so Krastev, wäre eine Tragödie, die den Kontinent zu internationaler Bedeutungslosigkeit verurteilen würde.

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Nach 1989 waren Landkarten plötzlich nicht länger in Mode. Die Grenzen sollten geöffnet werden für Menschen, Güter, Kapital und Ideen. An die Stelle der alten Karten traten Graphiken, welche die ökonomische Verflechtung innerhalb der EU illustrierten. Heute erleben wir einen ideologischen Gezeitenwechsel: Wo die Mehrheit der Europäer noch vor einigen Jahren optimistisch auf die Globalisierung blickte, empfinden sie Migration und die Rückkehr der Geopolitik als Quelle der Unsicherheit. Ivan Krastev untersucht die Ursachen für diesen Wandel und erörtert, welche Formen die europäische Desintegration annehmen könnte. Ein Zerfall der EU, so Krastev, wäre eine Tragödie, die den Kontinent zu internationaler Bedeutungslosigkeit verurteilen würde.

Ivan Krastev

Europadämmerung

Ein Essay

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2017 unter dem Titel After Europe bei University Pennsylvania Press (Philadelphia).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der edition suhrkamp 2712.

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Ivan Krastev 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhalt

Einleitung: Ein Déjà-vu

1. Wir, die Europäer

2. Sie, das Volk

EinleitungEin Déjà-vu

An einem der letzten Tage im Juni 1914 traf in einer abgelegenen Garnisonsstadt des Habsburgerreiches ein Telegramm ein. Es bestand aus einem einzigen, in übergroßen Buchstaben geschriebenen Satz: »Thronfolger gerüchtweise in Sarajevo ermordet.« Zunächst noch ungläubig, begann einer der Offiziere des Kaisers, Graf Battyanyi, sich in seiner ungarischen Muttersprache mit seinen Landsleuten über den Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand zu unterhalten, der als einseitiger Förderer der Slawen galt. Rittmeister Jelacich, ein Slowene, der die Ungarn wegen ihrer angeblich mangelnden Kaisertreue nicht mochte, forderte die Herren auf, ihre Unterhaltung im gebräuchlicheren Deutsch zu führen. Darauf erwiderte der ungarische Graf Benkyö, der gerade gesprochen hatte: »Ich will es auf deutsch sagen: Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, daß wir froh sein können, wann das Schwein hin is!«

Das war das Ende des habsburgischen Vielvölkerstaates – zumindest wie Joseph Roth ihn in seinem meisterhaften Roman Radetzkymarsch beschrieben hat.1 Der Untergang des Reichs war teils Schicksal, teils Mord, teils Selbstmord und teils einfach nur Pech. Während die Historiker sich uneins sind, ob das Reich eines natürlichen Todes aufgrund institutioneller Erschöpfung oder eines gewaltsamen Todes aufgrund des Ersten Weltkriegs starb, spukt der Geist des gescheiterten Habsburger-Experiments auch weiterhin in den Köpfen der Europäer. Oszkár Jászi – ein Historiker, der das Ende der Monarchie selbst miterlebt hatte – traf 1929 es auf den Punkt, als er schrieb:

»Wäre das österreichisch-ungarische Staatsexperiment tatsächlich erfolgreich gewesen, hätte die Habsburgermonarchie auf ihrem Territorium das fundamentalste Problem des heutigen Europa gelöst. […] Wie ist es möglich, Nationen mit unterschiedlichen Idealen und Traditionen trotz ihrer Individualität so zu einen, dass jede ihr besonderes Leben bewahren kann, zugleich aber die nationale Souveränität ausreichend zu beschränken, um eine friedliche und erfolgreiche internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen?«2

Das Experiment gelangte bekanntlich nie zu einem endgültigen Abschluss, da es Europa misslang, sein dornigstes Problem zu lösen. Roths Geschichte ist ein überzeugender Beleg dafür, dass vom Menschen geschaffene politische und kulturelle Artefakte, wenn sie denn verschwinden, dies abrupt tun. Das Ende ist eine natürliche Folge struktureller Mängel und hat zugleich Ähnlichkeit mit einem Verkehrsunfall – nach Art einer unbeabsichtigten Folge etwa oder eines schlafwandlerischen Vorgangs, eines besonderen Augenblicks mit ganz eigener Dynamik. Das Ende ist sowohl unvermeidlich als auch unbeabsichtigt. Erleben wir heute in Europa einen ähnlichen »Zerfallsaugenblick«? Signalisiert die demokratische Entscheidung der Briten, die Union zu verlassen (die in ökonomischer Hinsicht dem Austritt der zwanzig kleineren EU-Staaten gleichkäme), im Verein mit dem Aufstieg euroskeptischer Parteien auf dem Kontinent das Ende unseres jüngsten Experiments zur Lösung des fundamentalsten Problems Europas? Ist die Europäische Union dazu verdammt, in ähnlicher Weise zu zerfallen wie einst das Habsburgerreich?

Jan Zielonka hat einmal treffend bemerkt: »Wir haben viele Theorien der europäischen Integration, aber praktisch keine Theorie der europäischen Desintegration.«3 Das ist kein Zufall. Die Architekten des europäischen Projekts haben sich selbst vorgemacht, wenn sie nicht darüber sprächen, könnten sie vermeiden, dass es zu einer Desintegration käme. In ihren Augen glich die Integration einem Schnellzug – niemals anhalten und niemals zurückblicken. Statt die Integration der Europäischen Union irreversibel zu machen, begnügte man sich lieber mit der Strategie, einen Zerfall undenkbar erscheinen zu lassen. Es gibt indessen noch zwei weitere Gründe für das Fehlen von Theorien zur Desintegration. Der erste ist das Problem der Definition: Wie kann man Desintegration von einer Reform oder einem Umbau der Union unterscheiden? Wäre der Austritt einiger Länder aus der Eurozone oder aus der Union als Desintegration zu verstehen? Oder wären der Rückgang des globalen Einflusses der EU und die Rücknahme einiger großer Errungenschaften der europäischen Integration (etwa die Abschaffung der Personenfreizügigkeit oder einer Institution wie des Europäischen Gerichtshofs) ein Beweis für Desintegration? Bedeutet die Entstehung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten bereits eine Desintegration, oder ist dies ein Schritt hin zu einer engeren und vollkommeneren Gemeinschaft? Wäre es denkbar, dass eine von illiberalen Demokratien bevölkerte Union dasselbe politische Projekt weiterführte?

Ein zweiter Grund liegt in der Ironie, dass ausgerechnet zu einer Zeit, da politische Führer und Öffentlichkeit gelähmt sind von der Furcht vor der Desintegration, Europa so stark integriert ist wie niemals zuvor. Die Finanzkrise hat die Idee einer Bankenunion Realität werden lassen. Das Erfordernis einer wirkungsvollen Antwort auf die wachsende terroristische Bedrohung zwingt die Europäer, auf dem Gebiet der Sicherheit enger zusammenzuarbeiten als jemals zuvor. Und noch paradoxer: Die vielen Krisen, mit denen die Europäische Union gegenwärtig konfrontiert ist, führen dazu, dass ganz gewöhnliche Deutsche sich ganz ungewöhnlich für die Probleme der griechischen und italienischen Wirtschaft interessieren, und sie drängen Polen wie auch Ungarn, sich mit der deutschen Asylpolitik zu beschäftigen. Die Europäer leben in der Angst vor der Desintegration, während die Union mehr denn je als eine Schicksalsgemeinschaft erscheint.

Die europäische Desintegration ist auch nur sehr selten zum Gegenstand fiktionaler Literatur gemacht worden. Unzählige Romane gehen der Frage nach, was geschehen wäre, wenn Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Es mangelt auch nicht an Phantasien, was wohl geschehen wäre, wenn die Sowjets den Kalten Krieg gewonnen hätten – oder wenn die kommunistische Revolution nicht in St. Petersburg, sondern in New York stattgefunden hätte. Aber fast niemand hat sich dazu inspirieren lassen, den Zerfall der Europäischen Union literarisch zu verarbeiten. Die einzige Ausnahme ist hier wahrscheinlich José Saramago. In seinem Roman Das steinerne Floß verschwindet ein Fluss, der von Frankreich nach Spanien fließt, im Boden, und die gesamte Iberische Halbinsel bricht von Europa ab und treibt westwärts über den Atlantik.4

George Orwell hatte sicher recht mit seiner Bemerkung: »Zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, bedarf eines ständigen Kampfes.« Am 1. Januar 1992 wachte die Welt auf und erfuhr, dass die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden war. Eine der beiden Supermächte war zusammengebrochen, und das ohne Krieg, ohne eine ausländische Invasion oder eine andere Katastrophe, wenn man einmal von einem lächerlichen und erfolglosen Putschversuch absieht. Die Sowjetunion kollabierte gegen alle Erwartungen, wonach das Land zu groß zum Scheitern, zu stabil für einen Zusammenbruch und atomar zu stark bewaffnet sei, um besiegt zu werden, und im Übrigen bereits zu viele Wirren überlebt hätte, um einfach zu implodieren. Noch 1990 erklärte eine Gruppe führender amerikanischer Fachleute: »Sensationsszenarien mögen eine anregende Lektüre sein, doch […] in der realen Welt gibt es diverse stabilisierende und retardierende Faktoren. Gesellschaften erleben häufig Krisen, sogar schwere und gefährliche, aber sie begehen selten Selbstmord.«5 In Wirklichkeit begehen Gesellschaften sehr wohl zuweilen Selbstmord, und sie tun es sogar mit einem gewissen Elan.

Wie vor einem Jahrhundert leben die Europäer heute in einer Zeit, in der eine lähmende Ungewissheit die Gesellschaft erfasst hat. Politische Führer und einfache Bürger sind gleichermaßen hin- und hergerissen zwischen hektischer Aktivität und fatalistischer Passivität, und was bisher als undenkbar galt – die Auflösung der Union –, erscheint langsam als unausweichlich. Narrative und Grundannahmen, die gestern noch unser Handeln leiteten, wirken inzwischen nicht nur veraltet, sondern geradezu unverständlich. Dass etwas den Zeitgenossen absurd und irrational vorkommt, bedeutet, wie wir aus der Geschichte wissen, durchaus nicht, dass es nicht geschehen könnte. Und die in Mitteleuropa immer noch vorhandene nostalgische Erinnerung an das liberale Habsburgerreich ist der beste Beweis dafür, dass wir manches erst zu schätzen wissen, wenn es nicht mehr da ist. Die Europäische Union war immer eine Idee auf der Suche nach einer Realität. Aber die Sorge, dass das, was die Union einst zusammenhielt, seine Geltung verloren haben könnte, wächst. So ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Viertel aller fünfzehn- und sechzehnjährigen Gymnasiasten in Deutschland weiß nicht, dass Hitler ein Diktator war.6 Wie der 2011 erschienene satirische Roman Er ist wieder da von Timur Vernes zeigt, lautet die Frage nicht mehr, ob eine Rückkehr Hitlers möglich wäre, sondern ob wir ihn überhaupt erkennen würden. Der Roman erreichte in Deutschland Verkaufszahlen von mehr als einer Million. »Das Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama uns 1989 versprach, ist vielleicht doch Wirklichkeit geworden, allerdings in dem perversen Sinne, dass geschichtliche Erfahrung keine Rolle mehr spielt und nur wenige sich dafür interessieren.7

Die geopolitische Begründung für die europäische Einigung ist mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwunden. Und Putins Russland, so bedrohlich es sein mag, vermag diese existenzielle Leere nicht zu füllen. Die Europäer fühlen sich heute weniger sicher als in den letzten Jahren des Kalten Kriegs. Nach Meinungsumfragen glaubt die Mehrzahl der Briten, Deutschen und Franzosen, die Welt stehe vor einem großen Krieg, doch die äußeren Bedrohungen, mit denen die EU sich auseinandersetzen muss, einen den Kontinent nicht, sondern spalten ihn eher. Eine kürzlich von Gallup International durchgeführte Studie hat ergeben, dass die Öffentlichkeit in mindestens drei EU-Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Griechenland und Slowenien) im Fall einer größeren Sicherheitskrise eher bei Russland als im Westen Beistand suchen würde. Auch der Charakter der transatlantischen Beziehungen hat sich dramatisch verändert. Donald Trump ist der erste amerikanische Präsident, der den Fortbestand der Europäischen Union nicht mehr für ein strategisches Ziel der amerikanischen Außenpolitik hält.

Auch der Sozialstaat, einst Kernstück des politischen Konsenses der Nachkriegszeit, wird infrage gestellt. Europa altert – das Medianalter wird auf dem Kontinent laut Schätzungen von 37,7 Jahren 2003 auf 52,3 Jahre 2050 steigen. Und der europäische Wohlstand kann für die Zukunft kaum als gesichert gelten. Die meisten Europäer glauben, das Leben ihrer Kinder werde schwieriger sein als das ihrer eigenen Generation, und wie die Flüchtlingskrise beweist, ist es unwahrscheinlich, dass die demographische Schwäche Europas durch Zuwanderung ausgeglichen werden könnte.

Aber nicht nur durch die Bevölkerungsentwicklung gerät der europäische Sozialstaat in eine prekäre Lage. Nach Ansicht von Wolfgang Streeck, einem der führenden deutschen Soziologen und ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, befindet sich das europäische Sozialstaatsmodell seit den siebziger Jahren in der Krise. Der Kapitalismus hat sich erfolgreich von den ihm nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungenen Institutionen und Regulierungen befreit, und in der Folge hat sich der vielgelobte »Steuerstaat« in einen »Schuldenstaat« verwandelt. Statt durch Steuereinnahmen, die für eine Umverteilung von den Reichen zu den Armen sorgen, finanzieren sich die europäischen Staaten nun in Gestalt der Defizitfinanzierung durch Anleihen bei den zukünftigen Generationen. Die Wähler haben dadurch die Macht zu einer demokratischen Regulierung der Märkte verloren, was letztlich die Grundlagen des Sozialstaats der Nachkriegszeit untergräbt.

Und schließlich wird die Europäische Union von wechselnden ideologischen Moden heimgesucht. 2014 bescheinigte man ihr eine, wie man es nennen könnte, »autistische Störung«. Die Diagnose kam überraschend, aber die Symptome ließen sich unmöglich übersehen: Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, Schwächung der Kommunikationsfähigkeit, eingeschränktes Interesse und repetitives Verhalten. Die Union zeigte einen Mangel an jenem Einfühlungsvermögen, das viele bislang für selbstverständlich gehalten hatten. Besonders deutlich wurde das in der Ukrainekrise, als die EU lange so tat, als werde Russland nichts gegen eine Bindung der Ukraine an die EU unternehmen, und dann überrascht war, als Putin die Krim mit Gewalt annektierte. Und es zeigte sich in der von Brüssel gerne vertretenen These, die Entfremdung der Bürger gegenüber dem europäischen Projekt sei lediglich eine Folge unzureichender Kommunikation. Während der Ukrainekrise gelangte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem Telefongespräch mit Wladimir Putin zu dem Schluss, er lebe in einer »anderen Welt«. Drei Jahre danach stellt sich die Frage, wer von beiden in der »realen Welt« lebt.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Erweiterung der EU verliebte Brüssel sich Hals über Kopf in sein soziales und politisches Modell und übernahm eine äußerst unkritische Sicht der von der Weltgeschichte eingeschlagenen Richtung. Die europäische Öffentlichkeit hatte angenommen, die Globalisierung werde den Niedergang des Staates als des wichtigsten internationalen Akteurs und des Nationalismus als eines zentralen politischen Motivators beschleunigen. Die Europäer deuteten ihre eigene Nachkriegserfahrung mit der Überwindung des ethnischen Nationalismus und der politischen Theologie als Zeichen eines universellen Entwicklungstrends. Mark Leonard schrieb in seinem ehrgeizigen Buch Warum Europa die Zukunft gehört:

Europa verbindet Unternehmungsgeist und Freiheitsdurst – Attribute des Liberalismus – mit Stabilitäts- und Wohlfahrtspolitik, Markenzeichen der Sozialdemokratie. Mit zunehmendem Wohlstand auf der Welt und einer Lebensqualität, die über die Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Wohnung, medizinische Versorgung usw.) hinausgeht, wird der European Way of Life zum unschlagbaren Erfolgsmodell werden.8

Aber was gestern noch universell anwendbar erschien, wirkt heute eher wie eine Ausnahme. Schon ein flüchtiger Blick auf China, Indien und Russland, von der muslimischen Welt ganz zu schweigen, macht deutlich, dass ethnischer Nationalismus und Religion weiterhin wichtige Triebkräfte der Weltpolitik darstellen. Die Postmoderne, der Postnationalismus und die Säkularisierung haben dafür gesorgt, dass Europa anders ist als der Rest der Welt, aber sie sind keine Vorboten dessen, was diese Welt unausweichlich erwartet. Im Kontext der Flüchtlingskrise wurde außerdem deutlich, dass nationale Loyalitäten, die einst als tot und begraben galten, sich im heutigen Europa – mit erstaunlicher Macht – zurückgemeldet haben.

In den letzten Jahren haben die Europäer erkannt, dass das politische Modell der EU zwar bewundernswert ist, sich aber wahrscheinlich nicht weltweit oder auch nur bei den unmittelbaren Nachbarn ausbreiten wird. Hier handelt es sich um eine europäische Variante des »Galapagos-Syndroms«, unter dem japanische Technologiekonzerne zu leiden hatten. Vor einigen Jahren stellten diese Unternehmen fest, dass sie zwar die besten 3G-Smartphones der Welt bauten, dafür aber keinen globalen Markt fanden, weil die Welt nicht mit den technologischen Innovationen dieser »perfekten« Geräte Schritt halten konnte. Japans Smartphones, in schützender Isolation von den Herausforderungen der Außenwelt entwickelt, waren nicht zu groß, um scheitern zu können, sie waren zu perfekt, um erfolgreich zu sein. Nun erlebt Europa seinen eigenen »Galapagos-Moment«.9 Die postmoderne Ordnung Europas ist möglicherweise derart fortgeschritten und speziell an ihre eigene Umwelt angepasst, dass die anderen ihr nicht folgen können.

Diese neue Realität war es, die mich ursprünglich veranlasste, Europa im Sinne eines »danach« zu denken.10 »Nach Europa« bedeutet, dass der alte Kontinent sowohl seine zentrale Stellung in der Weltpolitik als auch seine Zuversicht verloren hat – die Zuversicht seiner Bürger, dass ihre politischen Entscheidungen die Zukunft der Welt bestimmen könnten. »Nach Europa« bedeutet, dass das europäische Projekt seinen teleologischen Reiz verloren hat und die Idee der »Vereinigten Staaten von Europa« weniger inspirierend wirkt als wohl zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten fünfzig Jahren. »Nach Europa« bedeutet, dass Europa an einer Identitätskrise leidet, in der sein christliches Erbe und das Vermächtnis der Aufklärung nicht mehr sicher sind. »Nach Europa« bedeutet nicht unbedingt, dass die Europäische Union am Ende ist, wohl aber, dass wir unsere naiven Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung Europas und der Welt begraben müssen.

Die nachfolgenden Überlegungen zum Schicksal Europas folgen im Stil Antonio Gramscis »Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens«. Ich gehöre zu denen, die glauben, dass der Desintegrationszug den Brüsseler Hauptbahnhof bereits verlassen hat – und die befürchten, dass dies den Kontinent in Unordnung stürzen und zu globaler Bedeutungslosigkeit verdammen wird. An die Stelle einer mitfühlend-toleranten und offenen wird dadurch wahrscheinlich eine von tyrannischer Engstirnigkeit geprägte Gesellschaft treten. Weitere Folgen sind möglicherweise der Zusammenbruch liberaler Demokratien an den Rändern Europas und der Kollaps mehrerer aktueller Mitgliedsstaaten. Das wird nicht notwendig zum Krieg führen, wohl aber mit einiger Sicherheit zu Elend und Chaos beitragen. Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit wird man nicht vollständig einstellen, aber der Traum eines freien und geeinten Europa dürfte ausgeträumt sein.

Zugleich glaube ich, dass die Europäische Union nicht all ihre Probleme lösen muss, um ihre Legitimation zurückzugewinnen. Es ist notwendig, dass auch in fünf Jahren noch die Europäer innerhalb Europas ungehindert reisen können, dass der Euro als Gemeinschaftswährung zumindest einiger Mitgliedsstaaten überlebt und dass die Bürger ihre Regierungen frei wählen und sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen können. »Wer spricht von Siegen?«, fragt der große deutsche Dichter Rainer Maria Rilke. »Überstehn ist alles!« Aber selbst das Überstehen wird nicht einfach sein.

Falls die Union zusammenbricht, wird die Logik ihres Zerfalls eher der Logik eines Bankenruns als der einer Revolution ähneln. Die Implosion der EU muss nicht aus einem Sieg von »Exitern« über »Remainer« in einzelstaatlichen Volksabstimmungen resultieren. Sie wird eher eine unbeabsichtigte Folge seit Langem bestehender (oder auch nur als solche empfundener) Funktionsstörungen der Union sein, verbunden mit einer Fehlinterpretation der nationalen politischen Dynamik durch die Eliten. Aufgrund der Befürchtung, die Union werde zerfallen, und in dem Wunsch, etwas dagegen zu unternehmen, werden viele europäische Politiker und Regierungen Maßnahmen ergreifen, die den Zusammenbruch des europäischen Projekts nur beschleunigen. Und wenn die Union dann zerfällt, wird das nicht geschehen, weil die Peripherie davonläuft, sondern weil das Zentrum (Deutschland, Frankreich) rebelliert.

Dieses Buch will die EU weder retten noch betrauern. Es ist kein weiterer Traktat über die Ätiologie der europäischen Krise und auch kein Pamphlet gegen die Korruptheit und das Unvermögen der europäischen Eliten. Und erst recht ist es nicht das Buch eines Euroskeptikers. Es ist schlicht und einfach eine Meditation über etwas, das nun wahrscheinlich bald geschehen wird, und es analysiert, wie unsere persönliche Erfahrung radikalen historischen Wandels unser gegenwärtiges Handeln prägt. Was mich fasziniert, ist die politische Macht eines »Déjà-vu-Denkens«, wie ich es nennen möchte – eines Zustands, in dem man sich verfolgt fühlt von der Überzeugung, dass etwas heute Erlebtes die Wiederholung eines früheren Augenblicks oder einer früheren Episode der Geschichte sei.