Evanna Athos und die Magie des Waldes - Felicitas Sturm - E-Book

Evanna Athos und die Magie des Waldes E-Book

Felicitas Sturm

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Beschreibung

Evannas zweites Schuljahr in Angleridge beginnt so gefährlich, wie das erste endete. Rektor Severin scheint zu ahnen, wer letztes Jahr seine Pläne durchkreuzte. Doch trotz Austins Warnung wollen sich Evanna und ihre Freunde ein weiteres Mal gegen Severin stellen. Mit fürchterlichen Folgen ...

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Buch

Evannas zweites Schuljahr in Angleridge beginnt so gefährlich, wie das erste endete. Rektor Severin scheint zu ahnen, wer letztes Jahr seine Pläne durchkreuzte. Doch trotz Austins Warnung wollen sich Evanna und ihre Freunde ein weiteres Mal gegen Severin stellen. Mit fürchterlichen Folgen …

Autorin

Felicitas Sturm, geboren 1993, begann bereits mit 17 Jahren zu schreiben – das Buch, das schließlich zu »Evanna Athos und die Zeiten der Macht« wurde.

Sie lebt mit ihrem Freund im Allgäu und wenn sie nicht gerade mit einem Buch in der Hand in ihrem Lesefenster sitzt, dann findet man sie wahrscheinlich auf einem Berg.

Weitere Texte und Geschichten schreibt Felicitas im Internet unter https://felicitassturm.wordpress.com/

Für M. & P.

und M. & P.

weil ich mit euch nicht gerechnet hätte

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Ein wütender Baum

Kapitel 2: Hinweise von Austin

Kapitel 3: Änderungen in Angleridge

Kapitel 4: Angela Blank

Kapitel 5: Manche Tage verbringt man am besten schlafend

Kapitel 6: Eine Krähe namens Ikarus

Kapitel 7: Evanna & Julius

Kapitel 8: Verschwunden

Kapitel 9: Eine unerwartete Hilfe

Kapitel 10: Hoffnungsschimmer

Kapitel 11: Ein Telefonat

Kapitel 12: Gescheiterte Pläne

Kapitel 13: Verbündete

Kapitel 14: Der schrecklichste Geburtstag

Kapitel 15: Kampfgeist

Kapitel 16: Das Ende

Kapitel 17: Nur mit Nathanael

Kapitel 18: Vorbereitung statt Verzweiflung

Kapitel 19: Die Morgenröte ist fort

Kapitel 20: Bärenwache

Kapitel 21: Flucht durch den Regen

Kapitel 22: Wellen der Wut

Kapitel 23: Erwachen

Kapitel 24: Eine lange Geschichte

Kapitel 25: Aramis

Kapitel 26: Austins Geständnis

Kapitel 27: Aletheia

Kapitel 1

Ein wütender Baum

Evanna saß neben Nathanael auf dem Randstein und schwieg. Das war schon seit Beginn der Sommerferien ihre liebste Beschäftigung gewesen. Nicht nur, dass der Junge sowieso nicht sonderlich gesprächig war. Worüber hätten sie auch reden sollen?

Natürlich gab es theoretisch genug: Der Einbruch in Severins Büro. Wie es wohl Bryndís und Ragnar ging, die danach hatten fliehen müssen. Was Severins Pläne waren. Was die Pläne seiner Partei waren. Was Austins Pläne waren, der nun bei der Partei arbeitete – als Spion.

Theoretisch genug Themen. Praktisch jedoch wagten sie nicht, irgendetwas davon laut auszusprechen.

Bereits am ersten Tag der Sommerferien hatte ein Brief auf Evanna gewartet. Typisch für Austin hatte darin nicht viel gestanden. Nur: »Ihr werdet überwacht.« Es klang wie eine Drohung.

Also hatte Evanna beschlossen zu schweigen. Nichts von allem, was sie im letzten Schuljahr erlebt hatte, auszusprechen. Und Nathanael hatte es ihr gleichgetan. Stattdessen verbrachten sie ihre Ferien damit, durch Bäche zu waten, Eis zu essen, auf Bäume zu klettern, nebeneinander Bücher zu lesen. Ohne dabei mehr als das Nötigste zu sprechen.

Evanna hing ihren Gedanken nach, bis Nathanael neben ihr plötzlich ein »Oh oh« flüsterte. Sofort blickte sie auf, alarmiert. In den letzten Monaten waren zu viele schlimme Dinge geschehen, um unvorsichtig zu sein.

Sie folgte Nathanaels Blick und sah auf der anderen Straßenseite einen Jungen in einem rot-gelben Fußballtrikot vorbeilaufen.

»Das ist Karsten«, flüsterte Nathanael. »Er war mal mein bester Freund. Aber seit ich nach Angleridge gehe, hasst er mich.«

Karsten hatte sie entdeckt und als er erkannte, wer da saß, verzog er sein Gesicht. Er kam über die Straße auf sie zu und baute sich breitbeinig vor ihnen auf. Obwohl er jünger war als Evanna und sicherlich auch kleiner (so weit sie das auf dem Boden sitzend beurteilen konnte), beunruhigte sie sein Anblick. Er sah wütend aus. Verletzt. So sahen die gefährlichsten Menschen aus.

Nun verschränkte Karsten die Arme vor der Brust und sah Nathanael direkt in die Augen: »Na Kleiner, hast du dir eine Freundin gesucht in deiner Beklopptenschule?«

Evanna spürte, wie Nathanael bei diesen Worten seine Muskeln anspannte; nervös und wütend und völlig verunsichert. Niemand wollte mit seinem ehemaligen besten Freund streiten.

»Lass uns in Ruhe«, ergriff Evanna wenig geistreich das Wort. Sie wollte sich die letzten Ferientage nicht von einem beleidigten, eifersüchtigen Kind verderben lassen.

Der Junge lachte, sein Blick unverwandt auf Nathanael gerichtet: »Muss sie auch noch für dich reden!«

Nathanael zuckte nicht mit der Wimper. Er versuchte gelangweilt zu wirken, spielte mit einem Kieselstein, der auf der Straße lag.

Bis Karsten das nächste Wort sprach: »Feigling.« Er hatte es nur leise gesagt, jedoch voller Verachtung.

Ungehalten sprang Evanna auf und baute sich vor dem Jungen auf, der ihr gerade einmal bis zum Kinn ging. »Nimm das zurück!« Ihre Stimme zitterte vor Wut.

Nathanael hatte sich im letzten Schuljahr Noctua angeschlossen. Noctua, die geheime Widerstandsbewegung gegen Rektor Severin und seine Pläne. Wobei allein das Wissen um diese Pläne unvorstellbar gefährlich war. Immerhin war deswegen Evannas Vater entführt worden.

Ein Mitglied von Noctua war nicht feige.

Und als es vor wenigen Wochen darum gegangen war, in Severins Büro einzubrechen, was zu einem Gang ins Verderben hätte werden können, hatte sich Nathanael als erster gemeldet, Evanna dorthin zu begleiten. Noch vor all den anderen Mitgliedern, die doch schon viel älter und erfahrener waren. Sogar vor Austin, dem Anführer der Gruppe.

Obwohl ihm die Gefahr bewusst gewesen war. Nicht umsonst machten jedes Jahr aufs Neue Gerüchte die Runde, was Severin mit ungehorsamen oder aufsässigen Schülern machte. Auch wenn Evanna letztendlich von Julius, einem älteren Schüler, begleitet worden war, allein die Geste hatte bewiesen, wie mutig Nathanael war!

So jemanden bezeichnete man nicht einfach als Feigling!

»Nimm das zurück!«, wiederholte Evanna, doch Karsten lachte ihr nur frech ins Gesicht. Drohend zischte sie: »Du sollst das zurücknehmen. Sofort! Oder du wirst es bereuen!«

Sie wusste nicht, was sie machen sollte, wenn er es nicht tat. Sie hatte in den letzten Monaten viel über ihren eigenen Mut gelernt. (Der vielleicht nicht unbedingt vorhanden war, doch immerhin wusste sie, dass sie ihn vortäuschen konnte. Und das war doch meist alles, was man brauchte, um mutig zu sein.) Sie hatte in den letzten Monaten auch viel von ihrer mädchenhaften Zurückhaltung vergessen. Doch jemanden wie Austin wütende Blicke zuzuwerfen war irgendwie etwas anderes, als einen Dreizehnjährigen zu verprügeln.

Da drehte sich Karsten hastig um und lief davon. Ohne ein weiteres Wort zu sagen und mit angesäuertem Gesichtsausdruck.

Noch immer aufgebracht wandte Evanna sich zu Nathanael, der wieder begonnen hatte mit dem Kieselstein zu spielen, bemüht darum, Evanna nicht anzusehen.

»Er hat kein Recht so etwas zu behaupten!«, verteidigte sie ihre Reaktion empört. »Du bist, selbst wenn du Angst hast, noch mutiger als zehn von dem!«

Nathanael schwieg. Doch auch wenn er nichts sagte, Evanna wusste, dass er ihr dankbar war. Tatsächlich warf er ihr aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick zu. Zufrieden und ein wenig stolz setze sie sich wieder auf den Asphalt, neben ihn.

Auf drei Dinge in ihrem Leben war sie mittlerweile besonders stolz: Als Allererstes waren das ihre neuen Freunde. Bis zum letzten Schuljahr hatte sie keine gehabt. Somit also auch niemanden, den sie hätte verteidigen können. Es war schön, das nun tun zu können.

Als Zweites war sie stolz darauf, zu Noctua zu gehören. Nicht nur, weil sie dort Freunde gefunden hatte. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man für eine gerechte Sache kämpfte. Gegen Intoleranz. Gegen die Gewalt von Severin.

Und was Noctua letztes Jahr erreicht hatte, war bewundernswert!

Sie hatten das Rätsel des Einhorns gelöst. Und hatten es anschließend tatsächlich geschafft, in Severins Büro einzubrechen und die magischen Uhren dort zu zerstören. Damit konnten sie verhindern, dass der Rektor unglaubliche magische Kräfte bekam, mit welchen er einen Krieg zu führen hoffte.

Das war der dritte Punkt, auf den Evanna so stolz war. Es verhindert schließlich nicht jeden Tag ein siebzehnjähriges Mädchen einen Krieg.

Nach ein paar weiteren stillen Minuten stand Evanna dann aber auf. »Ich sollte jetzt nach Hause«, sagte sie, während sie sich den Staub vom Rock klopfte. »Wir wollen heute Abend ein Lagerfeuer machen und ich hab Aurora versprochen, mit ihr das Holz zu sammeln.«

Ihre kleine Schwester war – besonders seit ihr Vater verschwunden war – der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Auch wenn ihr seit dem letzten Schuljahr einige Mädchen und Jungen aus Angleridge unheimlich wichtig geworden waren, mit ihrer Schwester teilte sie zu viel Vergangenheit, zu viele Erinnerungen.

Nathanael nickte und stand ebenfalls auf. »Dann bis morgen?«

»Na klar, bis morgen«, strahlte Evanna. Es war toll, sich mit jemandem verabreden zu können.

Sie sah Nathanael noch kurz nach wie er in die nächste Seitenstraße abbog, dann drehte auch sie sich zum Gehen.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie den Schrei hörte.

»Evanna! Hilfe!«

Das war eindeutig Nathanael.

Ihr Herz begann zu rasen. Was konnte mit Nathanael sein?

Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück.

Als sie um die Ecke bog, hinter der Nathanael gerade verschwunden war, sah sie auch schon was los war: Wenige Meter von ihr entfernt, im Schatten eines großen Walnussbaums, stand Karsten. Jetzt sah er nicht mehr angesäuert aus, sondern selbstzufrieden. Denn neben ihm war eine kräftige Gestalt, groß gewachsen, die Haare kurz rasiert, breiter Nacken und noch breitere Schultern. Sofort erkannte Evanna, wer da stand: Tom, der Anführer der dorfbekannten Schlägertruppe.

Das allein war schon kein toller Anblick, denn Tom ging man am besten aus dem Weg. Wenn er und seine Kumpels nachmittags an der Bushaltestelle saßen und rauchten, wollte man auch besser nicht mit dem Bus fahren. Schon viel zu oft hatten sie Leute angepöbelt. Zu dieser Gruppe gehörte, soweit Evanna wusste, auch Karstens großer Bruder. Das würde erklären, woher der kleine Junge Tom kannte.

Doch was die Situation, die Evanna erblickte, noch viel schlimmer machte, war, dass Tom jemanden am Kragen gepackt hatte. Und dieser jemand war Nathanael.

Das gibt Ärger, stellte Evanna besorgt fest. Sie trat näher an die Jungen heran, bis auch sie unter dem großen Baum stand, Nathanael vielleicht einen halben Meter von ihr entfernt.

»Was soll das? Lass ihn los!«, sagte sie bestimmt, mit dem Wissen, dass sie sich diesen Satz auch hätte schenken können.

Sie versuchte sich größer zu machen. Immerhin war sie in Severins Büro eingebrochen. Der Mann hatte schon Menschen getötet. Da würde sie doch wohl nicht vor einem Neunzehnjährigen Angst haben.

Selbstverständlich war der Versuch vergeblich. Sie fühlte sich hilflos ohne ihre Freunde von Noctua. Was sollte sie denn auch tun?

Natürlich lachte Tom nur: »Ihr seid mir echt ein lustiges Paar! Der Kleine pisst sich fast in die Hose und schreit nach dir wie nach seiner Mama. Und du kommst tatsächlich auch noch angelaufen!«

Fieberhaft suchte Evanna nach einem Ausweg. Körperlich war sie dem Jungen klar unterlegen, der war schließlich gefühlt zwei Meter größer und könnte selbst einem Elefanten das Genick brechen. Ihre Worte waren ihre einzige Waffe. Doch was half das, wenn Tom sie nur auslachte?

Hätte sie ruhig nachgedacht, wäre Evanna bestimmt eingefallen, dass ihre Worte eine perfekte Waffe waren. Schließlich war sie eine Zauberin. Und Austin hatte ihr letztes Jahr erklärt, was das bedeutete. Nämlich, dass sie eine unglaubliche Überzeugungskraft hatte. Jeden Nicht-Magier konnte sie sofort dazu bringen, das zu tun und zu glauben, was sie sagte. Egal, was es war. Deswegen wollte Severin die Zauberer schließlich für seine politischen Pläne missbrauchen. Und Tom war ein Nicht-Magier aus dem Bilderbuch.

Hätte sie ruhig nachgedacht, hätte sie ihn mit zwei vernünftigen, gut formulierten Sätzen überreden können, Nathanael loszulassen.

Doch Evanna konnte im Moment nicht ruhig nachdenken. Sie sah nur Nathanaels weit aufgerissene Rehaugen. Seinen kläglichen Versuch, aufrecht zu stehen. Der sofort zunichte gemacht wurde, als Tom nur einmal mit der Hand ruckte. Wie er durchgeschüttelt wurde, als wäre er nichts weiter als eine zerbrechliche Marionette.

»Hilfloser Feigling!«, spottete Tom.

Auch jetzt überkam Evanna eine Welle der Wut, als sie das Wort Feigling hörte. Nathanael legte sich mit einer radikalen Partei an! Er wäre mit ihr in Severins Büro eingebrochen! Das jedoch würde Tom natürlich nicht verstehen.

Trotzdem rief sie wütend: »Nathanael hat mehr Mut, als ihr beide jemals haben werdet!«

Tom lachte erneut. »Ja, so mutig sieht er auch aus.« Er schüttelte Nathanael nochmals durch, sodass dessen Locken wild umherflogen. »Hat er auf dieser Idiotenschule in England nicht gelernt, wie man sich wehrt?«

Das war Evanna zu viel. In Angleridge hatten sie sich so vielen Gefahren stellen müssen. Severin wollte mit seinen Schülern eine Armee aufbauen! Angleridge war sicher keine Idiotenschule!

»Die Schule ist in Wales, nicht in England«, knurrte Evanna hinter zusammengebissenen Zähnen und sprang dann auf Tom zu. Sie wusste gar nicht genau, was sie tun wollte. Nur, dass dieser widerliche Typ ihren Nathanael loslassen sollte.

Noch während sie losstürzte überlegte sie, wo sie Tom wohl am meisten wehtun konnte. Vielleicht konnte sie ihn in die Hand beißen. Kein sonderlich ritterlicher Angriff … Aber hey, der Typ war viel größer und stärker als sie!

Bevor sie jedoch Tom auch nur nahe kommen konnte, wich sie entsetzt zurück. Der Junge hielt nämlich plötzlich ein Messer in der Hand, die Klinge auf Nathanael gerichtet.

Mit aufgerissenen Augen starrte sie die Waffe an.

Panik überkam sie.

Gegen ein Messer konnte sie nichts ausrichten.

»Du verpisst dich lieber und lässt die Männer das regeln«, meinte Tom spöttisch als er ihr Entsetzen sah. Eigentlich hätte dieser Satz lächerlich geklungen. Wäre er nicht aus Toms Mund gekommen.

Karstens Lachen neben ihm wirkte schlagartig nervös. Vermutlich hatte auch er nicht mit einem Messer gerechnet, als er zu Tom zum Petzen gegangen war.

Evanna rührte sich nicht mehr vom Fleck. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Egal was sie versuchen würde, bis sie bei Tom war könnte der mit seinem Messer schon längst sonst etwas mit Nathanael anstellen. Und nach allem was sie über Tom und seine Bande gehört hatte, machte er keine leeren Drohungen.

So verzweifelt sie auch überlegte, sie sah keinen Ausweg.

In diesem Moment sehnte sie sich nach Austin. Der würde sicher einen Weg finden, Nathanael zu helfen. Er wusste immer mehr als alle Anderen. Und er hätte sich auch nicht von einem Großmaul wie Tom einschüchtern lassen.

Doch leider war Austin hunderte Kilometer entfernt, irgendwo in London.

Evanna hatte das Gefühl, sie standen minutenlang in völliger Stille da, zwischendurch unterbrochen von Nathanaels Keuchen.

Schließlich wandte Tom sich an Nathanael: »Die scheint hartnäckig zu sein. Nicht so feige wie du.«

Wieder wallte bei dem Wort feige Wut in Evanna auf. Sie ballte ihre verschwitzen Hände zu Fäusten, was Tom aber nur zum Lachen brachte. Während Evanna fieberhaft überlegte, was sie tun könnte, was Austin wohl tun würde, hörte sie nur das Rauschen der Blätter über ihr in der ansonsten windstillen Sommerhitze.

Tom stichelte weiter: »Hat der kleine Schwachkopf in dieser Idiotenschule auch immer so geheult? Sind da etwa alle solche Weicheier?«

Eine neue Welle der Wut wallte in Evanna auf. Sie dachte an die Noctua-Mitglieder. Jeder von ihnen wusste wie gefährlich jedes Treffen, jede Aktion war. Sie alle hatten schon von Mr Severins Bestrafungsmethoden gehört. Austin hatte man sogar gedroht, seinem kleinen Bruder etwas anzutun. Trotzdem stellten sie sich gegen Severin.

Und diese Leute nannte Tom Weicheier!

Gerade wollte Evanna wutentbrannt auf den bulligen Jungen zuspringen – Messer hin oder her – als sie Nathanaels überraschten Gesichtsausdruck bemerkte.

Sie hielt inne und folgte seinem Blick nach oben zu dem dichten Laub des Walnussbaums. Fast erwartete sie, dass jemand in dem Baum saß. Einen Augenblick lang hoffte ihr törichtes Herz sogar, dass Austin plötzlich gekommen war.

Doch da war niemand. Man hörte nur immer noch, wie die Blätter im Wind rauschten.

Endlich erkannte Evanna, was nicht stimmte: Es wehte überhaupt kein Wind. Die Luft war noch immer so unbewegt und drückend heiß wie schon den ganzen Nachmittag.

Es wehte definitiv kein Wind.

Trotzdem schwangen die Äste hin und her, fast so als wären sie aufgebracht.

Dann spürte Evanna auch die Magie in der Luft. Es war nicht der Wind und auch kein Mensch in der Baumkrone, was das Laub zum Rauschen brachte. Es war ihre Magie. Aufgeweckt durch ihre unglaubliche Wut und ihre Hilflosigkeit.

Evannas Gedanken wurden von Toms erneutem Gelächter unterbrochen: »Was ist jetzt mit deinem Freund? Soll ich ihm ein nettes Muster ins Gesicht ritzen, oder was?«

Evanna reagierte nicht. Inzwischen wusste sie, dass sie nicht mehr auf Tom zuspringen musste, um Nathanael zu helfen. Stattdessen konzentrierte sie sich völlig auf den Baum über sich.

Mittlerweile peitschten die Äste ungehalten durch die Luft. Evanna hatte noch nie einen solch wütenden Baum gesehen. Sie hatte eigentlich überhaupt noch nie einen wütenden Baum gesehen.

Sogar Tom hatte jetzt bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Auch seine Augen wanderten nach oben, zu den Ästen des wütenden Baums.

Verwirrt ging er ein paar langsame Schritte zurück, Nathanael noch immer fest an sich gepresst. Dann, als sich die ersten Zweige ihm näherten, bewegte er sich schneller.

Doch für einen Rückzug war es zu spät. Als hätte der Baum Toms Absichten erraten, ließ er einen dicken Ast in Richtung des Jungen krachen und traf zielsicher dessen Hand. Das Messer wurde mit einem dumpfen Geräusch auf die Straße geschleudert.

Karsten, der nur wenige Schritte entfernt stand, folgte mit den Augen zuerst dem Messer und dann den dicken Ästen, die durch die Luft wirbelten. Ihm war die Panik ins Gesicht geschrieben, als er sich umdrehte und davonlief.

Auch Tom hatte mittlerweile erkannt, dass es der Baum auf ihn abgesehen hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Mund formte ein stummes »Oh«.

Ohne noch weiter nachzudenken stieß er Nathanael von sich, dass dieser nur so stolperte, und wich weiter zurück. Allerdings nicht weit genug. Während Nathanael schnell zu Evanna rannte, die sich noch immer ganz auf den Baum konzentrierte, wurde Toms Gesicht von einigen dünnen Zweigen zerschnitten. Zunächst versuchte er noch, die Äste mit seinen großen Händen abzuwehren. Doch der Baum ließ sich von so einem kläglichen Versuch nicht abhalten.

Immer wieder hieben die Äste in die Richtung des Jungen, der plötzlich gar nicht mehr so groß und gefährlich wirkte. Die Blätter bedeckten mittlerweile die halbe Straße wie bei einem abrupten Herbsteinbruch.

Endlich drehte Tom sich um und rannte panisch davon, als wäre eine ganze Horde wilder Tiger hinter ihm her. Nicht ohne davor noch einen entsetzten Blick zu Evanna zu werfen.

Kaum war Toms schwerer Körper außer Sichtweite, verschwand Evannas Wut allmählich.

Auch der Baum beruhigte sich wieder. Die Zweige wiegten immer langsamer hin und her. Schließlich schüttelte er noch ein letztes Mal drohend seine Äste, bevor er völlig reglos dastand. Von einem Moment auf den nächsten sah er wieder aus wie ein ganz normaler Baum. Lediglich die vielen Blätter auf der Straße zeugten von dem Wutausbruch.

Nun war nur noch Evannas Keuchen zu hören. Die Magie hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie erwartet hatte. Doch auch ihr Atem beruhigte sich langsam wieder. Sie fühlte sich vielleicht ein wenig schwach. Aber auch stolz.

Es dauerte noch einige Minuten, bis Nathanael schließlich die Stille durchbrach: »Danke.« Er senkte beschämt den Blick: »Tut mir leid, dass ich so feige nach dir geschrien habe.«

Evanna brauchte einen Moment, um ihre Gedanken von dem wütenden Baum loszureißen. Dann schüttelte sie energisch ihren Kopf: »Das war nicht feige, das war die einzige Möglichkeit, die du hattest. In dem Fall war es wohl sogar ein sehr kluge Idee.«

Sie musste grinsen. Wenn sie daran dachte, wie sehr sie sich letztes Jahr in Angleridge mit Austin abgemüht hatte, winzige Papiervögel zum Leben zu erwecken … Und jetzt hatte sie einen ganzen Baum geschafft!

Auch auf Nathanaels Gesicht stahl sich ein Lächeln, auch wenn es ein wenig gezwungen aussah. »Das war echt beängstigend!«

Sie standen noch einige Minuten da, schweigend wie immer, bis Evanna sich nochmal verabschiedete und nach Hause ging. Beschwingt und überrascht von ihren magischen Fähigkeiten.

Sie konnte ja nicht ahnen, dass einer ihrer Freunde darüber überhaupt nicht erfreut war.

Kapitel 2

Hinweise von Austin

Sie hasste »Mensch ärgere dich nicht«. Von Aurora ließ sie sich aber immer wieder aufs Neue überreden, es doch zu spielen. Evanna hatte das Gefühl, ihrer kleinen Schwester etwas zu schulden. Schließlich ließ sie Aurora das ganze Jahr über mit ihrer Mutter alleine.

Das Mädchen hatte schon mit seinem Vater, Leander Athos, einen häufigen Mitspieler verloren. Und dann war Evanna auch noch ein ganzes Schuljahr lang in Wales gewesen. Irgendwie musste man das ja wieder nachholen.

Außerdem, wenn Aurora mit ihren großen Augen zu betteln begann, hatte man einfach keine Chance.

Man muss schon völlig herzlos sein, um da noch nein sagen zu können, dachte sich Evanna jedes Mal wieder, wenn sie zu einer weiteren Partie überredet worden war.

Obwohl sie die Zeit mit Aurora genoss, war Evanna nicht ganz bei der Sache. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie ihren Gedanken nachhing.

Es war mittlerweile fünf Tage her, seit sie den Baum zum Leben erweckt hatte. Seitdem hatten sich Tom und Karsten nicht mehr blicken lassen. Und das, obwohl vor allem Tom mit seiner Schlägertruppe sonst ständig an der Bushaltestelle herumgelungert war. Vielleicht waren sie dort nicht mehr zu sehen, weil der Walnussbaum nur eine Straße weiter stand …

Aber auch sie und Nathanael hatten seither diesen Baum gemieden. Obwohl beide wussten, wie das hatte passieren können, war auch ihnen das Geschehene etwas unheimlich. So ein Baum war immerhin ziemlich groß. Und wenn der außer Kontrolle geriet …

Evannas Gedanken wurden von Aurora unterbrochen, die ihrer großen Schwester auffordernd den Würfel in die Hände drückte: »Du bist dran!«

Evanna riss sich von ihren Gedanken los und würfelte. Mal wieder eine Zwei.

»So bringst du deinen Letzten aber nie ins Ziel«, lachte Aurora und würfelte selbst eine Sechs.

Die Partie war schnell beendet. Bei diesem Spiel hatte Evanna einfach kein Glück. Trotzdem wollte Aurora sie gleich zur nächsten Runde überreden. Zu ihrer Erleichterung wurde sie aber von Auroras Betteln erlöst, als sie ihren absoluten Lieblingssatz hörte: »Post für dich, Evanna!«

Sofort sprang sie auf und lief in den Flur zu ihrer Mutter Alice, die mit einem Briefumschlag wedelte.

»Irgendwie beeilst du dich nie so, wenn ich möchte, dass du mir im Haushalt hilfst«, meinte ihre Mama, aber sie lächelte dabei.

Es war nicht zu übersehen, dass sie froh darüber war, dass Evanna nun endlich Freunde gefunden hatte. Keine Mutter sah gern, dass ihre Tochter keine Freunde hatte.

Evanna hatte sich den Brief geschnappt und überlegte, von wem er sein konnte. Julius und Ida schrieben ihr am häufigsten. Von dem Schweizer hatte sie aber erst gestern einen Brief bekommen, der schied also aus. Und für Ida war der Umschlag eindeutig zu leicht. Die Schwedin hatte ihr immer mindestens fünf Seiten geschickt.

Neugierig sah Evanna also auf den Absender. Zu ihrer Überraschung stand da aber keiner. Ihre Adresse hingegen war in dieser engen, krakeligen Schrift geschrieben, die sie sofort erkannte. Trotzdem sah sie noch auf die Briefmarke. Sie war aus Großbritannien.

Weil Evanna ihre Infopost von Angleridge schon letzte Woche, genau 14 Tage vor dem Abflug, erhalten hatte, blieb nur eine Person übrig, von welcher der Brief kommen konnte.

»Austin!«, rief sie erfreut.

Er hatte ihr in den ganzen Ferien nur ein einziges Mal geschrieben. Und das war ein einziger Satz gewesen. Doch immerhin arbeitete er nun bei British Earth, Severins Partei. Da blieb sicher nicht viel Zeit für nette Briefe an Schulfreunde. Mal davon abgesehen, dass Austin noch nie der Typ für nette Briefe gewesen war.

Als er am Ende des letzten Schuljahres den Mitgliedern von Noctua von seinem neuen Arbeitgeber erzählt hatte, waren alle erschrocken. Schließlich kämpfte Austin schon seit Jahren gegen die Partei. Und jetzt wollte er sich als eine Art Spion einschleichen. So nützlich das sein konnte, es war mindestens ebenso gefährlich.

Gerade deswegen wartete Evanna natürlich voller Ungeduld auf Neuigkeiten von Austin. Obwohl er so vorsichtig war, dass es schon an Verfolgungswahn grenzte, und wirklich gut auf sich selbst aufpassen konnte, machte Evanna sich trotzdem Sorgen. So ungern sie das auch zugab.

Dementsprechend hastig riss sie den Brief auf.

Sie war enttäuscht (aber nicht wirklich überrascht), als sie sah wie wenig dort stand:

Über unsere Kommunikation solltest du dir ernste Gedanken machen. Briefe und Telefone sind so unzuverlässig.

Außerdem solltest du dir über dein Benehmen Gedanken machen. Es gibt Dinge, die man nicht einfach so tun sollte.

Pass gut auf dich auf! Und melde dich bei mir, sobald du angekommen bist.

Evanna war verwirrt. Das sollte ein Brief sein? Er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ein »Hallo« oder einen Gruß zu schreiben! Diese wenigen Zeilen waren ja die Briefmarke nicht wert!

Und was wollte er ihr überhaupt sagen? Warum sollte sie sich über ihre Kommunikation Gedanken machen? Und über ihr Benehmen? Sie hatte ihm doch gar nichts getan …

Lediglich der letzte Satz machte Sinn. Denn damit meinte er sicherlich, sie solle ihm schreiben, wenn sie in Angleridge war.

Aber wie konnte sie ihm bitte einen Brief schicken, wenn sie nicht einmal seine Adresse hatte? Schließlich hatte er sich nicht die Mühe gemacht, einen Absender anzugeben.

»Er ist doch derjenige, der sich über seine Kommunikation Gedanken machen sollte«, schnaubte sie verächtlich. »Und über sein Benehmen. Er hätte mir auch einen richtigen Brief schreiben können.«

Andererseits war das typisch Austin. Er hatte schon immer lieber ewig um den heißen Brei herumgeredet, anstatt etwas richtig zu erklären.

Sein »Pass gut auf dich auf« hätte er sich auch schenken können.

Evanna war sauer. Austin hatte sich schon immer so überheblich benommen, als wären alle Noctua-Mitglieder total leichtsinnig und die ganze Gruppe aufgeschmissen ohne ihn. Wütend stampfte sie in ihr Zimmer und ignorierte Alice‘ hochgezogenen Augenbrauen.

Während sie abwesend ein paar Klamotten in ihre halb gepackten Koffer legte, dachte sie aber immer wieder an den Brief. Wollte Austin ihr damit etwas Bestimmtes sagen? Es klang so bedeutungsvoll … Bei jedem Anderen wäre sie sogar fest davon überzeugt gewesen, dass sich in dem Brief eine geheime Botschaft versteckte. Aber bei Austin konnte man sich da nicht so sicher sein. Er klang eigentlich immer schrecklich wichtigtuerisch und geheimnisvoll.

Während Evanna gerade ihre Schulbücher zum hundertsten Mal umsortierte, kam ihr eine neue Idee: Was, wenn seine Briefe abgefangen werden? Und weil er das weiß, drückt er sich nicht konkreter aus …

Dieser Gedanke war gar nicht so abwegig. Der Rektor hatte bereits letztes Schuljahr geahnt, dass Austin nicht so unschuldig war, wie er tat. Dass Austin mehr wusste, als er sollte.

Immerhin hatte Severin damit gedroht, Austins Bruder etwas anzutun. Das würde er doch nicht grundlos machen. Und jetzt, da Austin bei British Earth arbeitete, war es bestimmt nicht schwer, seine Briefe abzufangen oder seine Telefonate abzuhören. Vielleicht hatte Austin deswegen also auch geschrieben, dass Briefe und Telefone so unzuverlässig sind …

Vielleicht wollte er mich aber auch nur ärgern, unterbrach Evanna ihre Theorie unwirsch. Das würde ich ihm auf jeden Fall zutrauen.

Drei Tage später stand Evanna mit Nathanael am Londoner Flughafen. Der Abschied von Aurora war dieses Jahr irgendwie okay gewesen. Nicht leicht. Aber leichter als letztes Mal. Immerhin wusste Evanna jetzt, was in Angleridge auf sie wartete. Neben der Gefahr durch Severin nämlich in erster Linie ihre Freunde.

Gemeinsam mit Nathanael machte sie sich langsam auf den Weg zu den Bussen, die sie nach Angleridge bringen sollten. Dabei hielt sie Ausschau nach bekannten Gesichtern. Sie hoffte vor allem, Ida und Julius bald zu sehen. Ihnen wollte sie dringend von Austins Brief erzählen. Sie hatte nämlich das seltsame Gefühl, dass der ehemalige Noctua-Anführer schon bald eine Nachricht von ihr erwartete.

Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich: »Evanna!« Seltsamerweise machte ihr Herz allein beim Klang dieser Stimme einen Satz.

Sie drehte sich um und vor ihr stand ein unheimlich großer, blonder Junge mit einem fröhlichen Grinsen. Die Grübchen um seinen Mund zeigten, wie oft er lächelte. Und das war nur einer der vielen Gründe, warum Evanna ihn so mochte.

»Hey, Julius!«, rief sie und fiel ihm auch schon um den Hals. Julius war ungefähr der netteste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Wann immer man Hilfe brauchte oder ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Anlehnen oder unendlichen Optimismus – Julius war immer mit seiner Engelsgeduld zur Stelle.

Evanna hatte regelmäßig das Gefühl, der Junge würde sein Leben dafür geben, um anderen einen Gefallen zu tun.

Zu dritt verließen sie jetzt das Flughafengebäude. Der Londoner Himmel war voller dicker, grauer Wolken, doch überraschenderweise war Evanna – mit Julius an ihrer Seite – so optimistisch, dass sie sich nur darüber freute, dass es nicht regnete.

An der Bushaltestelle waren die blauen Angleridge-Doppeldecker nicht zu übersehen. Und als sie sich ihnen näherten, entdeckte Evanna ein zierliches, blondes Mädchen, das ihnen fröhlich zuwinkte. Sofort beschleunigte Evanna ihre Schritte, bis sie bei Ida angekommen war, und umarmte sie mit einem breiten Grinsen.

Die ganzen Sommerferien über hatte sie sich mit Idas aberwitzigen Verschwörungstheorien in Briefform begnügen müssen. Nun konnten sie endlich wieder ganze Abende zusammensitzen und miteinander reden.

Schließlich betraten alle gemeinsam den Bus. Unwillkürlich musste Evanna zurückdenken an letztes Jahr. Damals war sie allein durch den Bus gewandert, eingeschüchtert von all den fremden Schülern, die alle so viel souveräner aussahen, als sie sich jemals gefühlt hatte.

Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal war sie nicht allein und dieses Mal sah sie auf dem Weg durch den Bus einige bekannte Gesichter. Benedikt, ein stämmiger Junge aus der fünften Stufe, nickte ihr bedeutungsschwer zu. Minerva, ein wahnsinniges kleines Mädchen, lächelte kurz. Beide gehörten zu Noctua und Evanna hätte schwören können, dass sie am liebsten Julius – ihren neuen Anführer – mit Fragen bestürmt hätten. Sie brannten sicher darauf, Neuigkeiten über British Earth zu erfahren.

Niemand war jedoch so dumm und sprach die Fragen aus. Sie wussten, dass sie sich nicht auffällig verhalten durften. Das hatte Austin ihnen immer und immer wieder klar gemacht, als hinge sein Leben davon ab.

Im oberen Teil des Busses fand Ida, die vorausgegangen war, einen leeren Viererplatz. Sie verstauten das schwere Gepäck über ihren Köpfen und machten es sich auf den Sitzen bequem.

Evanna sah eine Weile aus dem Fenster. Julius, der ihr gegenüber saß, sah so aus, als wolle er jeden Augenblick über Noctua reden wollen.

Weil Austin letztes Jahr seinen Abschluss gemacht hatte, war Julius am Schuljahresende von Austin zu dessen Nachfolger als Noctua-Anführer ernannt worden. Deswegen hatte der Schweizer die Hälfte seiner Sommerferien damit verbracht, Pläne zu schmieden, wie sie weiterhin gegen die Machenschaften von Severin und seiner Partei kämpfen konnten.

Allerdings war es nicht sonderlich klug, hier im Bus über solche geheimen Themen zu reden. Zumindest nicht, solange es um sie herum noch still war, sodass jeder ihre Gespräche hätte belauschen können.

Also erzählte Ida den Anderen von ihrem Urlaub auf Korsika, während sich die Plätze um sie herum langsam füllten. Nach einer abenteuerlichen Ausführung von Idas Flug nach Hause setzte sich der Bus schließlich in Bewegung.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich London hinter sich ließen, beschloss Evanna, der Lärm um sie herum wäre groß genug, um den Anderen von Austins Brief zu erzählen. Nachdem sie sich noch einmal kurz umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete, holte sie ihn aus ihrer Hosentasche. (Austin hatte ihr letztes Jahr erklärt, dass man nur so unbemerkt Dinge in die Schule bringen konnte. Das Gepäck wurde nämlich durchsucht bevor es auf die Zimmer gebracht wurde.)

Sie reichte den spärlich beschriebenen Zettel zunächst Julius mit den Worten: »Seht mal, was ich letzte Woche bekommen habe. Ich hab nur leider keine Ahnung, was das zu bedeuten hat …«

Julius las den Brief mit gerunzelter Stirn. Als er fertig war, reichte er ihn weiter an Nathanael, der neben ihm saß, und sah dann Evanna nachdenklich an.

»Und? Was meinst du?«, wollte diese gespannt wissen und lehnte sich ein wenig weiter nach vorn. Sie musste sich bemühen, leise zu reden.

Julius antwortete nur langsam: »Na ja … Was das zu bedeuten hat, weiß ich auch nicht. Aber auch ich habe von ihm kurz vor Ende der Sommerferien noch einen Brief bekommen …«

»Und, was stand darin?«, fragte Evanna sofort.

»Nicht sonderlich viel. Eben auch, dass Briefe nicht zuverlässig sind. Und dass ich mich wegen der Kommunikation an dich wenden soll.«

»Na super«, seufzte Evanna. Das war so typisch für Austin. Der halben Welt Briefe schreiben, aber sich dann nicht deutlich ausdrücken können.

»Ist doch ganz klar, was er damit meint«, sagte Ida, die mittlerweile ebenfalls die Nachricht gelesen hatte.

Evanna sah überrascht zu ihrer Freundin.

»Briefe werden abgefangen und Telefonate abgehört. Deswegen ist das unzuverlässig«, kam leise die Erklärung, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

»Und deswegen kann er sich auch nicht klarer ausdrücken«, flüsterte Nathanael.

Auch auf diesen Gedanken war Evanna schon gekommen. Aber der Brief kam schließlich von Austin! Austin, der hinter jeder Ecke einen Spion oder Severin höchstpersönlich vermutete. Der doch nicht mal atmen konnte ohne davor nachzusehen, ob er nicht belauscht wurde.

»Was hast du angestellt?«, fragte Ida nach einigen Sekunden der Stille.

»Was?« Evanna sah sie irritiert an.

»Dass du dir über dein Verhalten Gedanken machen sollst.«

Evanna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war die ganzen Ferien über vorsichtig. Wir haben über nichts geredet. Ich habe nichts angestellt.« Außer einen Baum zum Leben erweckt, ergänzte sie in Gedanken. Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn Austin das als lebensgefährlich Tat ansehen würde.

Doch er konnte davon doch gar nicht wissen.

Schnell versuchte sie das Thema auf einen anderen störenden Punkt in diesem Brief (der den Namen Brief eigentlich gar nicht verdient hatte) zu lenken: »Warum schickt er Julius zu mir, wenn er mit ihm reden möchte? Ich kann doch auch nicht anders kommunizieren. Telepathie funktioniert bei mir nämlich nicht.« Evanna verdrehte theatralisch die Augen.

»Aber du kannst Wege für eine andere Kommunikation erschaffen.« Ida strahlte Evanna an. Die Schwedin drückte ihr wieder den Brief in die Hand. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er manche Buchstaben dicker geschrieben hat?«

Zweifelnd sah Evanna zwischen dem Mädchen und dem Brief hin und her. Das klang eindeutig nach einem von Idas Hirngespinsten. Trotzdem sah sie sich die Nachricht nochmal genauer an.

Tatsächlich! Manche Buchstaben hatte Austin wohl mehrmals nachgefahren. Als wäre sein Kugelschreiber fast leer. Oder als wollte er sie hervorheben …

Auf den ersten Blick fiel das nicht auf. Austin hatte sowieso eine ziemlich unregelmäßige Schrift. Das könnte auch Zufall sein.

Doch als sie die einzelnen hervorgehobenen Buchstaben des ersten Absatzes hintereinander reihte, war klar, dass das kein Versehen war.

»Merlin«, flüsterte Evanna. Na klar! Warum war sie darauf nicht von allein gekommen?

Auch Julius schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Klar kennst du eine andere Möglichkeit der Kommunikation!«

Merlin war ein steinerner Falke, den Evanna letztes Jahr zum Leben erweckt hatte. Nach ihrem Einbruch in Severins Büro hatte man Bryndís, ein Mädchen von Noctua, das für die Ablenkung der Lehrer zuständig gewesen war, mit dem Einbruch in Zusammenhang gebracht. Daraufhin hatte Austin sie und ihren Bruder unsichtbar machen müssen, damit sie aus Angleridge fliehen konnten. Sie sollten nach Norden gehen und ein Magier-Dorf namens Aletheia finden. Dieser Ort war durch einen unheimlich mächtigen Zauber geschützt: nur wer niemals vorhatte seine Magie zu missbrauchen, würde die Tore des Dorfes finden.

Damit die Geschwister bei Schwierigkeiten oder wenn sie Aletheia erreicht hatten mit Austin in Kontakt treten konnten, wurden sie von Merlin begleitet. Er sollte – wie eine Art Brieftaube – Nachrichten übermitteln.

Und das war die Kommunikationsmöglichkeit, die Austin gemeint hatte. Evanna sollte erneut einen steinernen Vogel zum Leben erwecken, der dann Nachrichten zwischen Austin und Noctua übermitteln sollte.

So wütend Evanna noch immer auf Austin wegen seines seltsamen Briefes war, das war genial! Selbst wenn BE Angleridge überwachte – ein Vogel würde Severin niemals verdächtig vorkommen.

Allerdings glaubte Evanna nicht wirklich, dass Severin tatsächlich Briefe abfing und Telefonate abhörte. Wahrscheinlicher war, dass Austin nun endgültig paranoid wurde. Vermutlich setzte ihm die Arbeit bei BE ziemlich zu. Andererseits bedeutete eben dieser Job, dass er genau wusste was BE tat und was nicht …

Also beschloss Evanna, fürs Erste Austin tatsächlich zu glauben und in Zukunft bei Briefen und Telefonaten vorsichtig zu sein. Sie hatte ja auch eine andere Möglichkeit, mit Austin in Kontakt zu bleiben.

Evanna richtete ihre Konzentration nun aber wieder auf den Brief. Dort standen noch ein paar andere Sätze. Und jetzt, da sie wusste, worauf sie achten musste, erkannte Evanna auch im zweiten Teil des Briefes (der Teil, dass sie sich Gedanken über ihr Verhalten machen sollte) einige Buchstaben, die hervorgehoben waren. Sie bildeten das Wort »Magie«.

»War ja klar«, sagte Evanna an Nathanael gewandt. »Unsere Begegnung mit Tom. Ich hätte nicht …« Sie hielt inne. Eigentlich hätte sie zaubern sollen sagen wollen. Doch sie hatte gerade bemerkt, dass ein beinahe kränklich wirkendes Mädchen auffällig zu ihr herübersah. Evanna beschloss, dieses Wort inmitten von dutzenden anderen Schülern zu vermeiden.

Nathanael hatte trotz des unvollständigen Satzes sofort kapiert, was Evanna meinte. Doch Ida und Julius sahen sie verständnislos an.

»Erkläre ich euch später«, meinte Evanna knapp und sah zu dem Mädchen, das aus dem Augenwinkel noch immer zu ihnen hinüber schielte. Die Anderen folgten Evannas Blick und Julius nickte wissend.

»Das ist Angela Blank«, wisperte er. »Sie war vor drei Jahren Schülersprecherin bei den Jüngeren. Vermutlich sollten wir bei ihr vorsichtig sein.«

In Angleridge gab es jedes Jahr vier Schülersprecher. Jeweils einen Jungen und ein Mädchen aus der fünften Stufe für die Schüler der Stufen eins bis fünf. Und einen Jungen und ein Mädchen aus der letzten, also zehnten, Stufe für die Schüler der Stufen sechs bis zehn.

Diese hatten, neben der Aufgabe den Schülern bei allerlei Problemen zu helfen, auch gewisse Privilegien. Beispielsweise wussten sie, wo genau sich Severins Büro befand.

Deswegen wählte der Rektor seine Schülersprecher natürlich sorgfältig aus und entschied sich nur für die Schüler, welche seine Lügen am besten glaubten und somit die geringste Gefahr für ihn darstellten.

Nur bei Austin letztes Jahr hatte er sich in der Wahl etwas vergriffen. Ansonsten waren seine Schülersprecher aber allesamt treue Petzen, wie Ida einmal so treffend festgestellt hatte.

Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als während der restlichen Fahrt über belanglose Themen zu sprechen. Immer wieder beobachtet von diesem dürren und blassen Mädchen namens Angela Blank.

Kapitel 3

Änderungen in Angleridge

Endlich in Angleridge angekommen ließ Evanna, wie die Schülersprecher immer wieder allen zuriefen, ihr Gepäck im Bus zurück und folgte den anderen Schülern zum Eingang.

Als die Busse Ridgeburgh, die letzte Ortschaft vor Angleridge, erreicht hatten, hatte es zu regnen begonnen. Die Schuluniformen, welche die Schüler sich im Bus angezogen hatten, waren nicht sonderlich wasserdicht (um genauer zu sein: überhaupt nicht). Deswegen herrschte ein reges Gedränge in Richtung Schulgebäude.

Obwohl auch Evanna in ihrem Rock, der dünnen Bluse und dem Pullover fror, ging sie den Kiesweg zwischen den quaderförmigen Hecken hindurch mit langsamen Schritten. Sie genoss den Anblick, der sich ihr bot: Der Weg erstreckte sich noch etwa hundert Meter weit vor ihr, gesäumt von Hecken und einzelnen Löwenstatuen, bevor er sich zu einem großen Platz ausweitete. In dessen Mitte stand ein Brunnen, darin zwei sich gegenüberstehende Löwen mit einem A zwischen den Pranken.

Hinter diesem Brunnen, durch den Regenschleier nur undeutlich erkennbar, stand das imposante Hauptgebäude. Es war, ebenso wie die etwas kleineren Seitenflügel links und rechts davon, aus hellbraunem Stein und wirkte weniger wie eine Schule, als wie ein Schloss, was Angleridge früher auch gewesen war. In einem der Türme an den Ecken der Gebäude war letztes Jahr Evannas Zimmer gewesen.

Evanna war fast am Ende des Weges angekommen und drehte sich zu ihrer Linken. Auf dem ganzen Schulgelände und auch im Inneren des Gebäudes gab es hunderte Steinfiguren, fast alle in Form von Löwen. Doch keine war so groß wie diese, vor der Evanna jetzt stand.

Einige der anderen Schüler duckten sich unwillkürlich, als sie an der majestätischen Statue vorbeigingen. Nicht aber Evanna. Im letzten Schuljahr hatte sie herausgefunden, dass sie mit diesem Löwen eine wichtige Gemeinsamkeit hatte: Genau wie sie gehörte er zu Momentum. Sie waren zwei von drei Magiern mit angeblich unglaublichen Kräften. So alt und mächtig, dass manche Zauber nur von ihnen gewirkt werden konnten.

Als sie ihn eines Nachts aus seinem steinernen Schlaf geweckt hatte, hatte er sich als Porthos vorgestellt. Nur durch den magischen Dolch, den er ihr geschenkt hatte, war es Evanna möglich gewesen, die Uhren in Severins Büro zu zerstören.

Jetzt lächelte Evanna dem Löwen verstohlen zu und sie hätte schwören können, dass auch dessen Mund sich zu einem Lächeln verzog.

Als Evanna endlich durch die schwere Holztür die Schule betrat, waren ihre dünnen, eigentlich blauen Schuhe, die ebenfalls zur Uniform gehörten, völlig durchnässt und hatten eine undefinierbare Farbe zwischen schwarz, grau und braun angenommen.

Obwohl einige der Schüler, die vor Evanna in der Eingangshalle standen, vor Kälte zitterten, durften die Kinder nicht in ihre Zimmer, um sich umzuziehen. Wie jedes Jahr trampelten alle 500 Schüler die Gänge entlang, bis sie in der Speisehalle standen.

Evanna erinnerte sich noch gut daran, wie sie gestaunt hatte, als sie letztes Jahr die Halle zum ersten Mal gesehen hatte. Diese war früher einmal die Kapelle des Schlosses gewesen. Die Decke befand sich weit über ihren Köpfen, der Boden war aus alten, teilweise zerbrochenen Steinplatten und die Fenster waren hoch und spitz und uneben.

Am Eingang der Halle befand sich normalerweise die Essensausgabe. Doch zum Fest am Schuljahresanfang war diese hinter dunkelblauen Vorhängen verschwunden.

Am anderen Ende des Gebäudes stand der lange Tisch für die Lehrer, davor ein Pult, an dem Severin bald seine Rede halten würde. Der Rest der Halle war voller Tische, an denen schon die ersten Schüler saßen.

Evanna ignorierte das Winken von Brian Brennan, einem bebrillten Jungen, der schon einige Mädchen um sich geschart hatte und alle mit seinen Witzen zu unterhalten schien.

Stattdessen ging sie mit Nathanael, Ida und Julius zu einem freien Tisch und wartete ungeduldig darauf, dass sich auch die anderen Kinder und Jugendlichen einen Platz gesucht hatten.

Unglücklicherweise setzte sich dieses blasse Mädchen aus dem Bus ausgerechnet auf den freien Stuhl neben Julius. Dort, wo es jedes von Evannas Worten hören konnte.

Langsam befürchtete Evanna, dass Julius recht hatte mit seiner Vermutung, bei Angela müssten sie vorsichtig sein.

Nach einigen Minuten der Unruhe saßen schließlich alle Schüler. Die Älteren, die schon wussten was nun kommen würde, sahen abwartend auf das Rednerpult. Einige wirkten wie Hunde, die übereifrig darauf warteten, dass ihr Herrchen ihnen einen Leckerbissen zuwarf.

Ein älterer Mann mit weißen Haaren und weiß-grauem Bartansatz trat an das Pult. Sein Angleridge-Pullover war alt und verwaschen und die Krawatte darunter schien auch nicht mehr sonderlich neu zu sein. Selbstzufrieden sahen seine kleinen, wässrigen Augen über die Schüler.

Als Evanna diesen Mann zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihn für den Hausmeister gehalten. Doch mittlerweile wusste sie, dass dieses unbeholfene Aussehen täuschte. Und spätestens wenn man seine Stimme hörte, war klar, dass hier ein mächtiger Mann sprach.

Dort am Rednerpult stand nämlich niemand geringerer als Oscar Severin, Rektor von Angleridge und Parteichef von British Earth.

Severin begann in seiner tiefen Stimme zu sprechen: »Willkommen in Angleridge.« Schon bei seinem ersten Satz konnte man den unverwechselbaren britischen Akzent erkennen. »Für die Neuankömmlinge möchte ich mich vorstellen: Ich bin Mr Oscar Severin, Rektor von Angleridge.«

Einige der jüngeren Schüler wirkten ebenso überrascht über das Aussehen des Rektors, wie Evanna es gewesen war.

Nachdem er den Neulingen die wichtigsten Regeln erklärt sowie ein paar organisatorische Hinweise gegeben hatte, fuhr Severin mit strengem Tonfall fort: »Obwohl ich in den letzten 20 Jahren, in denen ich schon Direktor bin, stets zufrieden mit dieser Schule war, wird es dieses Schuljahr einige Änderungen geben.«

In der darauffolgenden kurzen Pause wechselte Evanna verwirrte Blicke mit Julius, Nathanael und Ida. Auch viele andere Schüler wirkten erstaunt.

Um das Gemurmel zu übertönen, wurde Severin lauter: »Ich bitte um Ruhe.« Augenblicklich wurde es still. »Aus diversen Gründe fallen leider ein paar meiner geschätzten Lehrerkollegen aus. Deshalb wird es die Wahlfächer Literatur und Musik nicht mehr geben. Die betroffenen Schüler werden in Absprache mit den Lehrkräften auf die restlichen Kurse verteilt.«

Evanna sah zu Ida. Die beiden Mädchen hatten Literatur als Wahlfach gehabt und sowohl das Fach als auch die Lehrerin, Mrs Johansson, sehr gemocht.