Evas Mann - Gayl Jones - E-Book

Evas Mann E-Book

Gayl Jones

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Beschreibung

»Die brutalste, ehrlichste und schmerzhafteste Offenbarung dessen, was in den Seelen schwarzer Männer und Frauen passiert ist und passiert.« James BaldwinEva Medina Canada sitzt im Knast, schweigsam und ohne Reue. Sie hat ihren Liebhaber ermordet, warum, bleibt ihr Geheimnis. Ihre Erinnerungen kreisen um die Begegnungen mit den Männern in ihrem Leben – den Schuljungen, den Freund ihrer Mutter, den Cousin, ihren Ehemann, einen Fremden im Bus. Solange sich Eva erinnern kann, wurde sie bedrängt, überhört und missbraucht. Es sind singuläre Erlebnisse, die aufgehen in einer universellen weiblichen Erfahrung: der vermeintlichen Verführerin. – Die unmittelbaren Gedanken und Gefühle einer schwarzen Frau, der die Selbstermächtigung auf tragische Weise gelingt. Gayl Jones ist damit ein grandioses literarisches Kunststück gelungen. Diesen Roman vergisst man nicht. »Eine literarische Gigantin und eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen« Tayari Jones

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2025

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gayljones wurde 1949 in Kentucky geboren, wo sie auch heute noch zurückgezogen lebt. Sie hat am Wellesley College und der University of Michigan gelehrt. »Evas Mann« aus dem Jahr 1976 ist ihr zweiter Roman. Ihr erster Roman »Corregidora« aus dem Jahr 1975, erschien 2022 bei Kanon. Zuletzt erschienen von Gayl Jones der Roman »Palmares« (2021), der auf der Shortlist für den Pulitzer Prize stand, sowie »The Birdcatcher« (2022), der für den National Book Award nominiert war.

piekebiermann ist Schriftstellerin, Literaturübersetzerin und Journalistin. Sie übersetzte u. a. Werke von Liza Cody, Ann Petry, Walter Mosley, Ben Fountain und Fran Ross ins Deutsche. 2021 wurde sie für die Übersetzung von »Oreo« mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sie hat bereits »Corregidora« übersetzt.

Eva Medina Canada sitzt im Knast, schweigsam und ohne Reue. Sie hat ihren Liebhaber ermordet, warum, bleibt ihr Geheimnis. Ihre Erinnerungen kreisen um die Begegnungen mit den Männern in ihrem Leben – dem Schuljungen, dem Freund ihrer Mutter, dem Cousin, ihrem Ehemann, einem Fremden im Bus. Solange sich Eva erinnern kann, wurde sie bedrängt, überhört und missbraucht. Es sind singuläre Erlebnisse, die aufgehen in einer universellen weiblichen Erfahrung: der der vermeintlichen Verführerin.

»Eine literarische Gigantin und eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen.«

Tayari Jones

Der vorliegende Roman erschien erstmals 1976 in den usa. Er enthält explizite Darstellungen von körperlicher, mentaler und sexualisierter Gewalt. Die Autorin bedient sich einer zeithistorischen Umgangssprache, die rassistische oder diskriminierende Ausdrücke gebraucht. Verlag und Übersetzerin haben entschieden, diese dem Ausgangstext gemäß ohne Kennzeichnung wiederzugeben.

INHALT

TEIL EINS

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

TEIL ZWEI

1

2

3

4

5

TEIL DREI

1

2

3

4

5

TEIL VIER

1

2

ANMERKUNGEN UND GLOSSAR DER ÜBERSETZERIN

TEIL EINS

1

Die Polizei kam und fand Arsen in dem Glas, da war ich aber schon weg. Entdeckt hatte ihn die Wirtin in dem Hotel. Sie war ins Zimmer gegangen, um ihm die Sonntagszeitung zu bringen und die Miete zu kassieren. Es heißt, sie hätte geschrien und geschrien und das ganze Haus geweckt. Und das hätte jetzt einen schlechten Ruf, vor allem dieses Zimmer. Ich hab aber auch gehört, dass viele Leute da extra hingehen, mal kucken, wo das war mit dem Verbrechen. Stand sogar ein Artikel dadrüber in so einer Polizeiillustrierten. Das ist aber üblich. Ich hab den Artikel nie gesehen. Ich hatte erfahren, dass da ein Bild von ihm drin ist, wodrauf man sieht, was ich gemacht hatte, und das hat mich geärgert. Dass auch eins von mir drin ist, hat mich nicht so geärgert. Elvira hatte mir erzählt, die haben da ein Bild von mir drin, und ich hab dadrauf total ungekämmte Haare und seh aus wie eine Wilde.

Elvira sitzt in einer Zelle mit mir, Gefängnispsychiatrie. Sie darf öfter raus als ich, die sagen, sie hätte sich mehr unter Kontrolle als ich. Dabei hab ich gar nichts gemacht, seit ich hier drin bin. Es liegt dadran, was ich gemacht habe, bevor ich hier reinkam, an der Art meines Verbrechens, dass ich drinbleiben muss. So wie die mich ansehen. Die lassen mich nicht raus mit den andern Frauen. Elvira liest immer Zeitungen, wenn sie raus darf, und wenn sie wieder da ist, erzählt sie mir, was drinstand. Sie wollte mir den Artikel mitbringen, aber sie durfte ihn mir nicht mitbringen. Erst wollte ich den selber sehen, aber als Elvira ihn in der Unterwäsche reingeschmuggelt hatte, hab ich nicht mal draufgekuckt. Ich hab gesagt, sie soll ihn zerreißen und im Klo runterspülen.

»Also, die dachten ja, wegen dir hat das Hotel jetzt n schlechten Ruf«, sagte sie. »Ich meine, so n schlechten Ruf, dass kein Mensch mehr da hin und da bleiben will. Und jetzt stellt sich raus, dass es n paar schräge Leute in der Welt gibt.«

»Was meinst du?« Mein Blick wurde finster.

»Ich meine, gibt so Leute, die wollen da extra hin, die wollen mal wo schlafen, wo sowas passiert ist, die nehmen ihre Huren da mit hin und so. Mal im selben Bett schlafen, wo du den umgebracht hast. Denken ja manche, dass du das auch bist, ne Hure.«

Mein Blick war immer noch finster.

»Bin nicht ich, die sowas sagt.«

Ich lag auf meiner Pritsche und starrte an die Decke. Es gab auch Leute, die meinten, ich hätte das gemacht, weil ich das mit seiner Frau rausgekriegt hatte. Das haben sie beim Prozess vorgetragen, war die einfachste Erklärung, die sie finden konnten. Aber ich hab seine Frau gesehen. Erst wollte ich die gar nicht sehen, weil ich nicht wusste, wie ich mich dann fühle. Sie kam mal auf Besuch, wie der Prozess noch lief. Eine dürre, verlottert aussehende Frau mit einem schwarzen Hut. Aus irgendeinem Grund hatte ich eine üppige, gutaussehende Frau erwartet. Sie hat kein Wort gesagt. Bloß vor der Zelle gestanden und mich angestarrt, und ich hab zurückgestarrt. Ich musste die ganze Zeit nur dran denken, wie er wohl sie behandelt hatte. Sah nämlich ganz so aus, als hätte er sich an ihr übler vergangen als an mir. Ich meine, falls sie innen drin so übel drauf war, wie sie von außen aussah. Sie hat da bestimmt fast eine Viertelstunde gestanden, dann ist sie gegangen. Da war absolut nichts in ihren Augen – kein Hass, kein gar nichts. Oder ich hab das, was immer da drin war, nicht sehen können. Als sie weg war, hab ich überlegt, was sie wohl in meinen gesehen hatte.

Sogar jetzt kommen noch Leute an und wollen wissen, wie es passiert ist. Wollen, dass ich das nochmal und nochmal erzähle. Also, nicht nur die Psychiater, auch Zeitungsleute und sowas. Sie haben irgendwo was dadrüber gelesen oder gehört und wollen es einfach wachhalten. Anfangs hab ich mit niemandem geredet. Den ganzen Prozess lang hab ich mit niemandem geredet. Erst als ich hier drin war, hab ich doch an zu reden gefangen. Jetzt erzähl ich so viel, dass ich selber nicht mehr durchfinde. Ich erzähl denen Sachen, die mit dem, was ich gemacht hab, überhaupt nichts zu tun haben, aber die sagen, das wollen sie auch hören. Was zwischen meiner Mutter und meinem Vater los war, wollen die genau so hören wie, was zwischen mir und dem Mann da los war. Es war sogar mal einer hier, der wollte was über meine Großmutter und meinen Großvater hören. Ich merke immer, wenn ich nicht mehr durchfinde, dann sag ich auch, dass ich da gerade selber nicht richtig durchfinde, aber die finden das in Ordnung, ich soll einfach weitermachen. Manchmal glauben sie allerdings, ich lüge ihnen was vor. Dann sag ich, nicht ich lüge, die Erinnerung lügt. Das glaube ich zwar nicht, denn die Vergangenheit ist noch genauso heftig da wie die Gegenwart, aber ich sag ihnen das trotzdem. Sie erzählen immer, sie wollen mir helfen. Ich bin jetzt dreiundvierzig, aber ich hab noch nichts mitgekriegt von irgendner Hilfe.

Als es passiert ist, war ich achtunddreißig. Kommt mir nicht vor wie fünf Jahre her, ist aber so. Kommt mir nicht mal vor wie fünf Monate her. Ich kann den Kohl noch schmecken, den ich gerade aß. Ich saß in einem Lokal und aß Schmorkohl mit Wurst und trank Bier und hörte einer Frau zu, die auf einer Bühne Blues sang. Damals war ich gerade in Upstate New York. Ich hab schon in Kentucky gelebt, ich hab in New York City gelebt. Ich war in West Virginia, in New Orleans. Gerade kam ich aus New Mexico. Als sie mich in Wheeling entlassen haben, bin ich einfach los und runter nach New Mexico. Tabak wird ja auch in Connecticut angebaut. Sogar da war ich. Ich bin früher gar nicht so viel rumgereist, erst als ich geheiratet hatte und das schiefgegangen war, danach hab ich beschlossen, ich bleib einfach allein. Als Frau allein sein ist leichter an verschiedenen Orten als an ein und demselben. Mit einem Mann hatte ich seit ewigen Zeiten nicht mehr auch nur geredet … der Kohl war lecker, ziemlich fettig. Wohl gleich mit der Wurst zusammen geschmort. Ich saß in der dunkelsten Ecke. Ich sah ihn, bevor er mich sah. Hochgewachsen, dunkelhäutig, sieht gut aus, der Mann. So könnte mein Mann in jungen Jahren ausgesehen haben, fiel mir ein. Ich kannte ihn nicht in jungen Jahren. Als ich ihn kennenlernte, war er alt. Aber das könnte der Grund gewesen sein, dass ich den da drüben wollte – ich meine, die Erinnerung an den Mann, mit dem ich mal verheiratet war. Er hat mich einfach an den erinnert, jedenfalls bis er an den Tisch kam, danach war er bloß noch er selbst. Er hatte sich nach einem Platz umgekuckt, und als er mich gesehen hat, ist er zu mir an den Tisch gekommen.

»Allein hier?«

Er kam hörbar aus dem Süden. Ich bin auch aus dem Süden. Ich hatte es mir schon irgendwie gedacht, bevor er den Mund aufmachte.

»Jetzt nicht mehr«, sagte ich.

Er zog den Stuhl vor und setzte sich. Ich war nervös, versuchte aber, es nicht zu zeigen.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Medina. Eva Medina.«

»Medina is der Nachname?«

»Nah. Ist mein mittlerer Name.«

»Du hast doch kein Schiss vor mir, was?«

»Nah.

»Ich bin Davis. Wo bist du her?«

»Von überall, wo ein Zug mich hinfährt.«

»Was machst du so?«

»Jetzt gerade nichts.«

»An dich kommt man wohl schwer ran, was?«

»So schwer nicht.«

Meine Hände waren schweißnass. Ich ließ die eine unter dem Tisch und hielt die Gabel mit der anderen. Aß aber nicht.

»Bist grad unterwegs?«, fragte er.

Ich sagte: »Nah, bin grad hier.«

Er lachte. Die Bluessängerin kam wieder auf die Bühne. Eine schmale kleine Bühne dicht an den Tischen. Er schwieg, und wir hörten ihr zu. Sie sang »The Evil Mama Blues« und »Stingaree Man«, »See See Rider« und »Wild Women Don’t Get the Blues«. Während sie sang, sah er zu mir rüber, schließlich sagte er: »Die ist gut, was?« Ich nickte. Er erzählte weiter, obwohl sie noch sang. Er sagte, er ist aus Kentucky irgendwo. Arbeitet mit Pferden. Hat sein Leben lang mit Pferden gearbeitet. Ist auch wegen Pferden hier nach Norden rauf gekommen.

Ich hab ihm nicht erzählt, dass ich alles weiß über Männer, die mit Pferden arbeiten, dass ich in Kentucky drei Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich ließ ihn weiterreden.

»Hab ne Anzeige in der Zeitung gesehn, da wurde wer gesucht, der n paar Pferde rauf nach New Hampshire bringt, und das hab ich gemacht. Inzwischen bin ich fast ein Jahr nicht mehr zu Hause gewesen. Kennst du dich mit Rennen aus?«

»Nah.«

»Ich selber wette nie auf die Pferde«, fuhr er fort. »Das letzte Mal, wo ich auf n Pferd gesetzt hab, sind bloß hundertachtzig Dollar rumgekommen. Das kann man ja nicht Geld nennen. Ich wollte nämlich n bisschen Geld nach Hause schicken, aber da hätt ich ja bloß den Scheck vom Lohn und hundertachtzig Dollar schicken können, also, das kann man ja nicht Geld nennen. Wenn man Geld nach Hause schickt, will man doch nicht bloß n Appetithappen schicken, weißt du, was ich meine? Da wartet man doch, bis man n bisschen richtiges Geld zusammen hat.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte ich.

»They call it the devil blues«, sang die Frau gerade, jetzt leise. Davis sah hin. »Die ist echt gut«, sagte er, dann kuckte er wieder zu mir. »Ich kann dir was über dich erzählen«, sagte er. »Du hast es schon lange nicht mehr gekriegt, was?«

Ich dachte erst, das hat er jetzt nicht gesagt, hatte er aber. Ich wusste nicht, was ich antworten soll.

Er kuckte mich weiter an. »Du musst jetzt gar nichts sagen. Ich kann deine Augen lesen.«

»Ach, ja?«

»Yah. Deswegen bin ich rübergekommen.«

»Von da konntest du meine Augen gar nicht sehen.«

Er nickte. »Doch, konnt ich.«

Die Kellnerin kam und fragte, ob er etwas bestellen will.

»Ich nehm dasselbe.« Er zeigte auf meinen Teller. »Aber ohne Senf auf der Wurst.«

Als die Kellnerin weg war, erklärte er, Senf sehe immer aus wie Kacke, Babykacke, dann lächelte er und sagte, das sei mir hoffentlich nicht auf den Magen geschlagen.

»Nein, mein Magen kann was ab.«

»Da wett ich drauf«, sagte er. Er sah mich aufmerksam an. »Eine Frau wie du. Was machst du bei dir selber?«, fragte er.

Ich sagte nichts. Und dann: »Nichts, wovon du keine Ahnung hast.«

Er lachte. »Du rückst wohl gar nichts raus, was? Mich hat ne alte Frau drauf gebracht. Für mich alt damals. Sie war neununddreißig und ich vierzehn, und sie wohnte nebenan und hat mich drauf gebracht.«

Ich schwieg. »Hätte gedacht, du wärst von selber drauf gekommen«, sagte ich schließlich.

»Du bist auch hart im Nehmen, was? Ich weiß genau, du bist selber drauf gekommen.«

Ich antwortete nicht. Ich dachte an einen Jungen, der mir mit einem klebrigen Lutscherstiel in der Pussy rumgestochert hat, und dann sollte ich seinen Schwanz anfassen, und das war, wie wenn man einen Wolfsmilchstängel ausdrückt.

»Ich bin drauf gekommen, wie alle drauf kommen«, erklärte ich ihm. »Ich hab die Beine breit gemacht. Meine Mutter hat immer gesagt, wenn mans ein Mal gemacht, ist man erst richtig zufrieden, wenn mans wieder macht.«

»Warst du überhaupt schon mal richtig zufrieden?«

»Na, was denkst du?«

»Lass uns hier weg.«

»Und wo gehen wir hin?«

»Komm mit zu mir.«

»Ich kann heut Abend nicht. Ich blute.«

»Dann warten wir.«

Er fuhr mir mit der Hand durch die Haare und aß seinen Teller leer, dann bezahlte er, und wir gingen.

Was Elvira gesagt hat, wofür die Leute mich halten, dafür hat Davis mich wahrscheinlich auch gehalten. Komisch, wie einen jemand an jemanden erinnern kann, den man nicht mochte oder irgendwann nicht mehr mochte, sondern fürchtete – fürchtete ist das bessere Wort –, aber … Ich hatte lange Zeit kein Wort mehr gesagt, zu keinem Mann. Und Setz dich doch hatte ich noch nie gesagt. Vermutlich dachte er, das wär meine Angewohnheit, in dunklen Ecken rumzusitzen, damit Männer da … Yah, die würden da hinkommen, wo ich saß. »Scheißflittchen. Bleib doch zu Hause, wenn du von keim Mann nich angesprochen wern willst.«

»Wo bist du her, Schätzchen?«

»Scheiße, ich weiß genau, du hast ne Zunge. Hab noch nie n Flittchen gesehen, wo keine Zunge nich hat.« Und das eine Mal, als ich an einer Ecke stehe, kommt so ein Mann ganz dicht an den Bordstein gefahren und drückt die Tür auf. Ich steh bloß da und kuck ihn an, und dann reißt er die Tür zu und rast vom Bordstein weg. »Scheiße, bist das arschkälteste Flittchen, wo ich je im Leben gesehen hab.«

»Wenn du von keim Mann nich angesprochen wern willst, musst du …«

»Bist einsam?«

»Nah.«

»Willst mitfahren?«

»Nah.«

»Denkst wohl, ich will dich belästigen. Ich will dich nich belästigen. Hab nur gefragt, ob du mitfahren willst. Scheiße.«

Das war während des Busstreiks.

»Scheiße, bist das arschkälteste Flittchen, wo ich je im Leben gesehen hab.«

»Bist du einsam?«

»Nah.«

»Warum bist du so kalt?«

»Bist n mieses altes Luder. Du heißt nicht Eva, du heißt Evil. Ich hab gar nichts gemacht, ich wollte bloß …«

Bevor Elvira den Artikel in der Toilette runterspülen ging, wollte sie mir das Bild von mir zeigen. Sie faltete das Blatt so, dass ich den oberen Teil meines wilden Kopfs sehen konnte. Dann stopfte sie es in den Schlüpfer und ließ sich fürs Klo aufschließen. Ich durfte mir bei ihm nicht die Haare kämmen. Keine Ahnung, warum, aber ich durfte nicht raus aus dem Zimmer da und mir nicht die Haare kämmen. Er hat mir den Kamm abgenommen und in die Tasche gesteckt.

»Für was für n Scheiß willst du dir die Haare kämmen. Sieht dich doch kein Mensch hier außer mir.«

»Ich will nicht, dass du mich die ganze Zeit so siehst.«

»Scheiße.«

Ich sah ihn an. Ich weiß noch, ich hab ihn nur angesehen. Gesagt hab ich nichts.

Ich erzähle dem Psychiater, woran ich mich erinnere. Er sagt, ich kann imaginierte und reale Erinnerungen nicht auseinanderhalten.

»Weißt ja, was ich dir gesagt hab«, sagt Elvira von ihrer Pritsche aus. Ich starre weiter an die Decke.

»Der erste Mann, wenn du hier raus kommst. Ist auch der erste, der dich mies behandelt.«

»Vielleicht lass ich keinen Mann mehr so nahe ran, dass er mich mies behandeln kann.«

Sie lachte schallend. Ich sah hinüber auf ihre Fesseln.

Meine Mutter und Miss Billie kamen herein. Zu der Zeit lebten wir in New York. Miss Billie arbeitete mit meiner Mutter in einem Restaurant. Sie und Mamma arbeiteten morgens und kamen gegen eins nach Hause. Mamma holte mich bei der Frau ab, die auf mich aufpasste. Ich war fünf und noch nicht in der Schule. Miss Billie kam eine Zeit lang mit zu uns und ging erst dann in ihre Wohnung. Sie war fast doppelt so alt wie meine Mamma. Sie wohnte nicht bei uns im Haus, sondern etwas weiter die Straße runter. Jedes Mal, wenn sie mitkam und Mr. Logan im Hausflur saß, fing sie an, über ihn zu reden, und immer dasselbe, was sie schon öfter gesagt hatte. Und Mamma hörte zu, als ob sie es schon öfter gehört hatte. Mr. Logan war der alte Mann, der gleich neben uns wohnte. Er hatte keine Frau oder sonst was und saß gern unten im Treppenhaus.

»Hab den Mann nie leiden können«, sagte sie, wenn sie ins Haus kam. »Das is einfach bloß n Scheißkerl. Einfach bloß n alter Scheißkerl.«

Mr. Logan konnte es hören, das Haus war so geschnitten. Mamma zog Miss Billie ins Wohnzimmer hinten. Die Wohnung war so geschnitten, dass man erst in einen kleinen Vorraum kam, aus dem hatte Mamma eine Stube gemacht. Rechts war die Küche und links erst das Schlafzimmer und dann das Wohnzimmer. Deswegen sagten wir immer »das Wohnzimmer hinten«. Ich schlief im Wohnzimmer hinten, auf einer Ausziehcouch.

Miss Billie redete den ganzen Weg bis ins Wohnzimmer. Manchmal hatte sie einen Schal um, damit sah sie aus wie eine Zigeunerin. Jetzt hatte sie den Schal auch um.

»Yah«, sagte sie. »Der war mal Zimmermann. Ich bin jeden Tag in das Gebäude, wo er am Arbeiten war, und hab zugekuckt. Mit höchstens fünf oder sechs. Nich älter wie das kleine Mädchen hier. Ich weiß gar nich, ob der sich noch an mich erinnert, der nickt ja jedes Mal, wenn ich im Hausflur an ihm vorbeikomme, aber der kuckt nich, wie wenn er mich kennt. Is einfach bloß n Scheißkerl. Ich hab immer zugekuckt, wie er in dem Haus da gearbeitet hat, und er hat mir so Sachen gezeigt, die man dafür braucht, also so Sachen zum Messen. Er hatte so n Stab mit so ner kleinen Blase in der Mitte, den hat er mir gezeigt und gesagt, damit kann man sehen, ob Sachen richtig hoch sind. Tja, also, er zeigt mir den und drückt n mir in die Hand, und ich darf den hin und her bewegen und zukucken, wie sich die Blase da drin bewegt. Dann sagt er: ›Ich kann dir auch noch n andern Stab zeigen.‹ Er hat gerade allein in dem Haus gearbeitet, und da wo wir standen, konnte kein Mensch uns nich sehen, und dann ist er ganz eng rangekommen und hat sein Ding rausgeholt. Direkt vor meiner Nase, ich schwörs. Darf ich auch anfassen, hat er gesagt. Ich bin n Schritt zurück, aber, naja, ich stand erstmal bloß da wie hypnotisiert oder sowas. Er hatte das Ding selbst in der Hand und hat da dran rumgerubbelt. Hat so lange da dran rumgerubbelt, bis lauter weißes Zeug rauskam – damals wusst ich nich, was das ist. Da hab ich die Biege gemacht und bin weggerannt. Mitsamt seinem Stab. Den hat er nie zurückgekriegt … Is jetzt wohl in Rente, oder?«

Mamma nickte. Miss Billie hatte das so oft erzählt, und ich hatte schon genug davon mitgekriegt, so dass Mamma mich irgendwann gar nicht mehr ins andere Zimmer geschickt hat, außerdem konnt ich ja auch im anderen Zimmer mithören. Sie saßen im Wohnzimmer, ich stand an Mammas Knie gelehnt und sah Miss Billie an. Sie sah zu mir herunter und lächelte mich ab und zu an.

»Cola-Rum, Miss Billie?«, fragte Mamma.

Miss Billie sagte Ja, und Mamma stand auf und ging in die Küche. Miss Billie nahm mich um die Taille und hob mich auf die Couch neben sich. »Sieh zu, dass der Alte nicht an dir rummacht, is nämlich einfach bloß n Scheißkerl.«

»Er hat nicht an mir rumgemacht«, sagte ich.

Das hatte nur einer im Haus, und zwar ein kleiner Junge mit einem dreckigen Lutscherstiel. Wir spielten in einer leeren Wohnung, die Hauswirtin hatte die offenstehen lassen hatte. Er hat gesagt, er will erst bei mir und dann darf ich bei ihm. Ich hab nicht gefühlt, dass er irgendwas macht, bloß dass er den Stiel hin und her bewegt, und dann sollte ich ihn ausdrücken wie n Wolfsmilchstängel.

»Jetz du bei mir.«

»Was macht ihr Kinder hier drin? Das erzähl ich aber euern Mammas«, sagte die Hauswirtin.

Sie hat aber nie jemandem was erzählt. Bei mir war Blut im Klopapier.

Ich saß im Bett und beobachtete ihn. Wir waren jetzt in seinem Hotelzimmer. Ich hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße auf dem Bett. Die Arme um die Beine geschlungen.

»Stimmt was nicht?«, fragte er.

»Nach heut Nacht gehts mir wieder gut. Sind nur die ersten Tage, da hab ich Krämpfe, danach gehts mir gut.«

»Hast du nichts, was du nehmen kannst?«

»Nah.«

Er griff in die Hosentasche und warf mir ein kleine Dose Aspirin hin. Auf dem Nachtisch stand ein Krug mit Wasser. Mit kleinen Blasen drin. Ich schenkte etwas in ein Glas. Ich gab ihm die Tabletten zurück, aber er sagte, ich soll sie auf den Nachtisch legen, vielleicht brauch ich sie nochmal.

Er sah mich an, dann kam er zu mir und rubbelte meine Stirn. »Deine Stirn ist wie Butter«, sagte er.

Ich sagte nichts. Ich konnte nie leiden, dass mich jemand am Kopf anfasst, aber ich ließ es zu. Ich langte nur hoch und fasste sein Handgelenk an.

»Wie lange?«, fragte er.

»Drei Tage«, sagte ich.

Der Junge hieß Freddy Smoot. Ich hab ich nie wieder mit ihm gespielt, nachdem er mir den Stiel reingesteckt hatte. Wenn ich die Treppe runterkam und er mich sah, hat er mir manchmal den Weg abgeschnitten oder mich unten im Treppenhaus abgefangen. Er war acht, aber ich war kräftig für mein Alter und fast so groß wie er.

»Lass mich in Ruhe.«

»Du hast mich doch schoma gelassen.«

»Nah.«

Er zieht wieder einen klebrigen Lutscherstiel aus der Hosentasche. »Ich muss dich nochma ›trolliern.«

»Nah.«

Genau da kommt Mr. Logan die Stufen hoch. »Mr. Logan, der soll mich in Ruhe lassen.«

Mr. Logan kuckt mich bloß an und grinst und geht an uns vorbei.

Freddy Smoot hat mich immer wieder abgefangen, um sich an mir zu reiben, und dann ist er lachend die Treppe hochgerannt. Ich mochte überhaupt nicht mehr rausgehen, oder nur zusammen mit Mamma, dann hat er mich nicht belästigt. Einmal ging Freddy Smoot an uns vorbei, als auch Miss Billie dabei war.

»Der Bengel is auch bloß wie n kleiner Gockel, was?«, sagte Miss Billie. »Bloß wie n geiler kleiner Gockel.«

»Er ist richtig schlimm«, sagte Mamma.

»Ich kann nicht leiden, wenn der mich nur ankuckt«, sagte Miss Billie, als wir ins Haus kamen.

»Wer, Freddy?«

»Nah, der Scheißkerl da. Der alte Scheißkerl da.«

»Du hast mich doch schoma gelassen.«

»Die hat überhaupt kein Benehmen«, sagte Miss Billie. Jetzt ging es um ihre Tochter, sie war fünfzehn. »Die denkt n ganzen Tag bloß an diesen Jungen. Deswegen hat sie sich ja die Hand in der Tür geklemmt, die ist mit ihren Gedanken viel zu viel bei diesem Jungen. Und kommt dann heulend zu mir. Ich sag, sie hat nichts zu schaffen mit diesem Jungen.«

»Was macht denn die Hand?«

»Heilt jetzt ganz gut. Hat aber teuflisch wehgetan. Ich hab ihr gesagt, sie soll zum Doktor, der soll das n bisschen aufschneiden, damit das Blut raus kann. Aber sie sagt Nah. Deswegen hat das ja so wehgetan, bei dem ganzen Druck da. Ich hab gesagt, lass den n bisschen am Nagel aufschneiden, dann tut das nich mehr so weh. Aber Nah, sie hat bloß diesen Jungen im Kopf. Sind eben so, wenn sie in das Alter komm.«

»Manche auch schon vor dem Alter«, sagte Mamma.

»Yah, tja, ich hoffe nur, sie hat ihn noch nich rangelassen, denn wenn sie ihn ein Mal ranlässt, kriegt sie keine Ruhe, bis er nochmal randarf.«

»Nah, wenn sies ein Mal gemacht haben, sind sie erst richtig zufrieden, wenn sies nochmal machen.«

»Yah, das macht mir ja so Sorgen«, sagte Miss Billie.

»Du hast mich doch schoma gelassen.«

»Ich lass dich aber nich nochma.«

»Wann darf ich dich wieder ficken, Eva?«

»Du hast mich noch gar nicht gefickt.«

Meine Mutter hat gesagt, seine Mutter ist nicht gut. Die Männer, die sie da rein lässt. Weiße und schwarze Männer.

»Is bloß ne Hure«, sagte Elvira über eine der Frauen in der Psychiatrie.

»Sieht gar nicht so aus«, sagte ich.

»Sieht keine so aus«, sagte sie.

»Ich kannte mal eine Hure«, sagte ich. »Eine Frau, die wohnte bei uns im Haus.«

»Und die sah so aus?«

»Nah. Hat Mamma mir erzählt.«

Elvira lachte.

»Wenn du die Beine erstmal breit gemacht hast, hat Miss Billie gesagt, kriegst du die nie wieder zu.«

»Wie bitte?«, fragte Elvira.

»Ich sag nur, was sie mir als kleines Mädchen immer gesagt haben.« Sie hat gefragt, und ich hab geantwortet.

Sie sah mich streng an. »Und was ist, wenn du die mal zu hast?«, fragte sie.

Ich saß da mit zusammengepressten Beinen und hielt die Knie fest. Ich hatte einen langen Rock an.

»Siehst aus wie n Löwe«, sagte Davis.

Er stand am Tisch und schälte Zwiebeln. Er wollte mir seinen Lieblingssalat machen, sagte er. Tomaten, Zwiebeln, Gurken, Kopfsalat, hart gekochte Eier. Manchmal Schinken- und Käsewürfel, wenn er Schinken und Käse da hatte. Heute hatte er weder Schinken noch Käse da.

»Siehst aus wie n Löwe, mit den ganzen Haaren.«

»Die mit den vielen Haaren sind die Löwenmännchen.«