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Mit Clare Waterford, einer Söldnerin und Gestaltwandlerin, ist nicht zu spassen. Das bemerkt Sam Merti bereits bei ihrem ersten Kennenlernen. Doch trotzdem fasziniert ihn ihre Gegensätzlichkeit. Als sie beide auf eine Mission nach Marlosh, seinem Heimatkontinent, geschickt werden, ist er mässig erfreut. Doch je länger sie unterwegs sind, desto mehr Einblicke bekommt er auf die Frau hinter den dicken Mauern. Eine Frau, die schon einmal alles verloren hat. Und die bereit war zu kämpfen, damit das nicht nochmal geschah.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Texte: © Copyright by Antonia GrafUmschlaggestaltung: © Copyright by Antonia Graf
Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Ever a Moment
Geschrieben von
Antonia Graf
Teil 1.
Die Suche
1.
Mit grimmiger Miene band sich Clare ihr schwarzes Haar zusammen und schnappte sich ihr Schwert. Ihr schwarzer, rot schimmernder Umhang bauschte sich hinter ihr auf. Warum zum Teufel wollte Jake sie nach Mondaufgang treffen? In der Nacht war Cargosh noch gefährlicher als am Tag. Sie wollte nicht wissen, was für Ungeheuer nun durch die Strassen streiften. Clare lief die paar Strassenzüge zum Lagerhaus im Armenviertel.
Im Lagerhaus stapelten sich Kisten mit Pergament und Schreibfedern. Niemand würde erwarten, dass eine schäbige Wohnung oberhalb des Lagers als Treffpunkt für Söldner, Krieger, Assassinen und einer Prinzessin verwendet wurde. Als Clare nun durch die Tür trat, traf sie nicht nur Jake, sondern auch einen jungen Mann an. Rasch analysierte sie ihn. Er hatte noch schwärzeres Haar als sie selbst, etwa kinnlang. Seine Augen waren vom selben Farbton, nur hatten sie kiefergrüne Einsprengsel.
Faszinierend.
Seine Kleidung war dunkel und an seiner Hüfte funkelten mehrere Dolche, ein Schwert und ein Beil. Unauffällig liess Clare eine ihrer Hände zu einem versteckten Messer gleiten.
«Hey, Jake», brummte sie und liess den Neuling nicht aus den Augen.
«Hi, Clare. Darf ich vorstellen, Sam Merti», sagte er freundlich. Sein Ton, wenn er wusste, dass er vorsichtig sein musste.
«Was bist du?», fragte Clare unverblümt. Die Augen hart auf den Mann gerichtet.
«Ich bin ein Magier. Und ein einfacher Bürger», sagte Sam vorsichtig.
Er hatte die Dunkelheit in den strahlend grünen Augen richtig gedeutet.
«Lasst uns doch setzen», schlug Jake vor.
«Ist die Tür verriegelt?», brummte Clare bloss und warf sich neben Jake auf das Sofa. Es ächzte altersschwach.
Nun stand Sam wie ein gescholtener Junge vor ihnen. Als Antwort auf ihre Frage schoss Magie durch den Raum und riegelte alles ab, zusätzlich noch verstärkt durch Jakes Magie.
«Also», begann Clare.
«Hattest du mich nur rufen lassen, um mit Sam Bekanntschaft zu machen oder für etwas anderes? Und bitte lass es eine gute Erklärung sein.»
Jake lehnte sich gelassen zurück. Mit einer Hand bedeutete er Sam, sich zu setzten. Der liess sich einfach auf den Boden plumpsen. Ein einfacher Bürger. So, so. Wer’s glaubt wird selig.
Ihr Kampfpartner holte tief Luft.
«Aus zuverlässiger Quelle weiss ich, dass der König ein Massaker an den Rebellen plant.»
«Was?!», stiess Clare aus. «Er hat den Befehl gegeben einen der Hexenzirkel von einer Legion zu ermorden.»
«Was ist mit Prinzessin Jeria?»
Prinzessin Jeria gehörte ebenfalls zu den Rebellen.
«Der König hat Jeria in einen Turm einsperren lassen. Sie hat alles versucht, konnte den Befehl aber nicht verhindern.»
Die Prinzessin galt allgemein als Rebellenprinzessin, wurde jedoch trotzdem manchmal in die Ratssitzungen des Königs eingeladen. Wie ihre Freunde gehörte auch sie zu einem eroberten Königreich. Wahrscheinlich war sie zu einer der wöchentlichen Ratsversammlungen eingeladen worden, um sie gefangen zu nehmen. Manchmal konnte die Prinzessin so was von naiv sein. Clare sprang auf.
«Ihr holt die anderen und versucht das Massaker zu verhindern. Ich rette die Prinzessin.»
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, blitzte es einmal auf und Clare flog in der Gestalt eines Falken davon.
∞
Sam sah der Gestaltwandlerin nach. Jake hatte sie zwar beschrieben, bevor sie sich trafen, doch die Realität war ein anderes Kaliber. Er hatte nicht die geringste Lust, gegen die Söldnerin zu kämpfen. Jake stand auf.
«Komm, wir müssen schnell handeln. Der Hexenzirkel ist einer der Besten, doch gegen ein paar 100 Männer halten auch 15 Hexen nicht ewig durch.»
Rasch verliessen sie die Wohnung. Hinter Jake rannte Sam über die roten Ziegeldächer bis zu einem Haus mit einem Dachfenster. Jake kauerte sich hin und steckte einen Dolch zwischen Dach und Fenster. Ein Klicken ertönte, dann brach das kleine Fenster auf. Der Söldner sprang, dicht gefolgt vom Magier, in den Gang darunter. Er eilte den Flur entlang und hämmerte ungestüm gegen eine Zimmertür.
«Brid, aufmachen!», rief er.
Ein lautes Stöhnen erklang, gefolgt von einem Ächzen. Dann öffnete ein verschlafener, gutaussehender Mann.
«Was ist denn los?» Sein Blick wanderte zu Sam. «Und wer ist das? Wärmt er dir derzeit das Bett?»
«Du bist ein Arsch, Brid. Die Zeit für eine Vorstellung kommt später. Und nein, es wärmt mir zurzeit niemand das Bett.»
Der Mann brummte etwas, das sich anhörte wie:
«Kein Wunder bist du genervt.» Jake verdrehte die Augen und entschied sich diese Bemerkung zu überhören.
«Der Hexenzirkel wird angegriffen und Prinzessin Jeria wurde in einen Turm gesperrt. Clare holt sie da raus und hat verlangt, dass wir uns um den Hexenzirkel kümmern», sagte er kurz und bündig. Brid rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen.
«Bin gleich fertig. Holt inzwischen die anderen.» Er liess die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen.
Kaum hatte er die Tür geschlossen, ging eine andere auf. Sam musterte den Krieger. Er stand, wie Sam selbst, in voller Kampfmontur da und musterte ihn seinerseits von Kopf bis Fuss. Nach Sams Empfinden fehlte nur noch eine Ritterrüstung.
«Was ist jetzt schon wieder los?», fragte der Mann mit dunkler Stimme. Jake schnaubte.
«Komm schon Rave. Ich weiss, dass du gelauscht hast. Also geh und hol den Rest.»
Sam sah zu, wie der Mann mit seinen blauen Augen rollte, aber ohne einen Kommentar den Gang hinunter ging und an diverse Türen hämmerte.
Wenig später standen alle zusammen in einem grossen Aufenthaltsraum. Insgesamt zwölf Männer und acht Frauen, Sam und Jake nicht mitgezählt. Wie Sam wusste, alles Krieger und Assassinen. Als seine Magie durch den Raum strömte, während Jake alles mit knappen Worten berichtete, sang sie von anderer Magie, alten Kreaturen und Zorn. Als Jake seine Rede beendet hatte, trat Rave in die Mitte. Sam spürte aufbrandende Macht und kurz darauf flogen sie durch Raum und Zeit.
∞
Clare flog. Der Wind bauschte ihre Federn und trieb sie an. Doch er sang ihr nicht mehr ins Ohr. Berichtete ihr nichts mehr.
Als wäre der Wind so tot wie ihre Familie. Rasch wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Eine Depression konnte sie sich heute nicht leisten. Es ging bei ihrer Mission einzig und allein darum, die Prinzessin zu befreien. Da erblickte sie das Schloss. Die Stadt schlang sich um einen Hügel herum. In weiser Voraussicht wohnte Clare auf der anderen Seite des Hügels. So musste sie dieses protzige Ding nicht jeden Tag sehen. Es bestand aus Mondstein und Eisen.
Wer baute einen riesigen Palast mit 15 Türmen, drei Verliesen und einen Wildpark im Inneren aus Mondstein und Eisen?
Eisen!
Clares Blick fixierte einen kleinen Turm. Über ihm kreisten mehrere Raubvögel, was ihr sagte, dass die Prinzessin dort eingesperrt war.
In den Turm zu gelangen war im Grunde nicht sonderlich schwierig. Doch die Wachen stellten ein Problem dar. Ohne hätte sie einfach mit ihren Krallen ein Fenster zerfetzen können. Doch mit den Wachen musste sie sich in ein grösseres Tier als einen Falken verwandeln.
Und ohne Wachen hätte es sicher eine kleinere Sauerei gegeben. Denn der Schlamassel, den sie anrichten würde, zog sehr wahrscheinlich ungewollte Aufmerksamkeit auf sich.
Nur Schade, dass Clare dramatische Auftritte liebte.
Ihre Laune hatte sich gebessert, als sie sich in einen riesigen, Drachen verwandelte. Die Wachen hatten kaum Zeit sich zu verwandeln, als der Drache sie angriff. Die grossen Klauen zerfetzten Gewebe und Federn. Manche Wachen liessen sich wachsen, doch sie wurden entweder ebenfalls in Stücke gerissen oder von einem Windstoss weggetrieben. Niemand verfügte über genügend Macht, um sich in der Schnelle ebenfalls in einen Drachen verwandeln zu können. Nur Clare konnte das.
Sie war die einzige Gestaltwandlerin mit solch einer Macht, die nach dem Krieg übriggeblieben ist. Nach wenigen Sekunden versperrten ihr keine Wachen mehr den Weg.
Mit ihren grossen, kräftigen Klauen riss Clare das Dach einfach ab. Prinzessin Jeria stand in Kampfmontur neben dem Himmelbett im Turmzimmer. Wenigstens hatten sie sie nicht ins Verlies geworfen.
«Du wirst wohl eine Rechnung für dies hier nachhause geschickt bekommen. Das Dach war bestimmt teuer», sagte sie, als sie dem Drachen auf den Rücken stieg.
Der Drache schnaubte nur. Jeria lächelte. Sobald Clare fühlte, dass Jeria sich gut festhielt, hob sie ab. Mit lautem Flügeldonnern flog sie los. Jeria umarmte ihre beste Freundin kurz und schützte ihren Bauch durch einen Schild aus durchsichtigem Eis. Das war so ziemlich alles, was sie an Magie zustande brachte. Vom Schloss her wurden Schreie laut, doch Clare kümmerte sich nicht darum.
∞
Rave hatte sie direkt auf die Lichtung teleportiert. Seine Kräfte mussten stark sein, um solch eine grosse Gruppe ohne Rumpler zu transportieren.
Der Hexenzirkel stand neben ihnen. Ihre Kleider und Waffen waren blutbespritzt. Doch sie kämpften nicht. Aufgrund des Blutes, das vom Schwert der Zirkelführerin tropfte, mutmasste Sam, dass es noch nicht besonders lange so war. Etwa hundert Soldaten lagen mit aufgeschlitzter Kehle oder Bauch auf dem Boden. Die restlichen, wie Sam schätzte, 200 Soldaten, standen stocksteif da. Sam suchte noch nach dem Grund, als er die Kreatur erblickte.
Es stand am Rand der Lichtung und streckte einen Arm nach den Soldaten aus. Dunkelheit schoss auf sie zu und als hätte jemand eine Kerze ausgepustet, fielen sie alle tot um. Es war, als wäre die Magie der Kreatur der Tod. Die Kreatur lief ungerührt zum nächsten Soldaten, kniete sich neben ihm nieder und schlug ihm die Zähne in den Hals.
Sam stockte den Atem, als er sah, wie es das Blut des Soldaten trank. Als es genug hatte, richtete es sich wieder auf.
Nun starrte es seinerseits den Hexenzirkel und ihre Gruppe an. Sam betrachtete die Kreatur genauer. Es hatte mondweisse Haut und sah ansonsten fast aus wie ein Mensch. Doch die Ohren liefen spitz zu und sehr lange, gefährlich aussehende Eckzähne ragten zwischen seinen Lippen hervor. Das schulterlange schwarze Haar war am Hinterkopf zusammengebunden. Es hob eine Hand mit langen scharfen Nägeln, von denen Blut tropfte. Sam war gar nicht aufgefallen, wie es die Nägel in den Mann gebohrt hatte. Oder bessergesagt die Krallen.
Die Kreatur legte sich die Hand auf die Brust und nickte ihnen zu. Dann verschwand es schliesslich geräuschlos im Wald. Noch während er den Schild, den er um seine Gruppe und den Hexenzirkel gelegt hatte, verstärkte, fragte Sam: «Was zum Teufel war das?»
Eine der Kriegerinnen, die sich als Hannah Till vorgestellt hatte, murmelte ehrfürchtig.
«Ein Vampir. Das war ein gottverdammter Vampir, der uns geholfen hat.»
Stille breitete sich aus. Manche betrachteten die Leichname der Legion, die der König geschickt hatte. Da ertönte Flügelschlagen.
Alle gingen in Kampfstellung. Nach einem Moment tauchte ein Drache in ihrem Blickfeld auf.
Ein Assassine, Tobias hiess er, berührte Sam an der Schulter.
«Senk den Schild», befahl er ihm. Sam war zwar besorgt, befolgte aber die Anweisung. Die anderen kannten diese Stadt und den Target Forest besser als er. Der Drache landete inmitten der Leichen. Eine junge Frau sprang von seinem Rücken.
«Hi Leute», meinte sie nur. Sie trug eine lederne Kampfmontur, ein Schwert auf den Rücken geschnallt und ein Gürtel mit Dolchen um die Hüften. Sams Herz stockte, als sich alle vor ihr verneigten. Schnell machte er es ihnen nach.
DAS war die Prinzessin von Domkosh?! Es blitzte auf und anstelle des Drachen stand Clare neben der Prinzessin. Sie hatte die Daumen in ihre Hosentaschen gehakt und machte sich nicht die Mühe, sich zu verneigen. Ihre Nasenflügel bebten.
«Was machte der Vampirfürst hier?», fragte sie leise. Ihre Stimme versprach einen baldigen Tod.
2.
«Das war der Vampirfürst?!», fragte Hannah panisch. Gleichzeitig fragte die Zirkelführerin gefährlich leise:
«Woher weisst du, wie der Vampirfürst riecht?»
Clare schlug mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes ihren nachtschwarzen Zopf nach hinten.
«Erstens: Ja, das war der Vampirfürst. Zweitens: Ich kenne ihn, da ich mal das Vergnügen hatte, ihm zu begegnen. Ich kann dir sagen, Randa, das war nicht ganz so toll. Allem voran aufgrund der Umstände.»
Alle starrten die Söldnerin an. Wie zum Teufel konnte sie eine Begegnung mit dem Fürsten überlebt haben? Sam war es ein Rätsel.
«Ihr habt ja auch gerade eine Begegnung mit ihm überlebt», meinte Clare, nachdem Brid Sams Frage laut gestellt hatte.
«Nun würde ich gerne meine Frage wiederholen.
Was machte der verdammte Vampirfürst hier?»
Clares Stimme hatte einen grimmigen Unterton angenommen. Als hätte sie nichts dagegen, ein paar Kehlen zu zerfetzen.
Randa drehte sich zu ihren Hexen um. Sie nannten sich schlicht «die Fünfzehn». Auf ihren Wink hin trat eine Hexe nach vorne. An der Art wie sie sich bewegte, mutmasste Sam, dass sie eine Spionin war.
«Wir kämpften bereits, als der Fürst aus dem Wald trat. Alle Soldaten des Königs fuhren herum und starrten ihn an. Gleich darauf erschienen die anderen. Der Fürst war von dunklen Rauchschwaden umgeben. Sie wirbelten um ihn herum.»
Sam stutzte. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Die Spionin trug ihr Amt also zu Recht.
«Er streckte die Hand nach ihnen aus, die Macht raste auf die Soldaten zu, hüllte sie ein und mit einem Mal fielen alle um. Sie waren tot. Einem hatte er die Zähne in den Hals getrieben und eine Mahlzeit genossen. Uns hat er nicht angerührt.» Clare hörte stirnrunzelnd zu, als die Spionin erzählte, was danach geschah. Die Prinzessin hörte ebenfalls zu. Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Als die Spionin fertig war, grummelte Clare etwas vor sich hin, dann wandte sie sich Randa zu.
«Randa, du kommst mit mir. Wenn du willst, kannst du Leibwächterinnen mitnehmen. Jeria, Jake, Rave und Sam kommen auch mit.»
Nun wandte sie sich ihren anderen Freunden zu.
«Ihr anderen legt euch wieder hin. Morgen führen wir eine Besprechung durch.»
Sam staunte. Anscheinend vertraute sie ihm bereits nach dieser kurzen Zeit. Oder es war ein Vertrauenstest. Als wollte sie schauen, ob er etwas weitererzählen würde. Die Hexen halfen den Kriegern und Assassinen auf ihre Besen und erhoben sich mit ihnen in die Luft. Dann verschwanden sie aus seinem Blickfeld. Sam spürte, wie Raves Magie aufbrandete und sie mit einem Mal wieder auf der Dachterrasse von Jakes Wohnung standen. Dicht hinter ihnen landete Randa.
Clare ging die Treppe hinunter, gefolgt von ihren Begleitern. In der Wohnung angekommen warf sie sich auf das Sofa. Jeria setzte sich neben sie. Jake auf der anderen Seite, auf die Lehne. Rave setzte sich mit Randa auf den Tisch, der unter ihrem Gewicht ächzte. Sam liess sich wieder im Schneidersitz auf den Boden nieder. Er sah, wie Clare sich das Gesicht rieb. Auf einmal sah sie sehr müde aus. Schliesslich begann sie zu erzählen:
«Nachdem der König den Fluch ausgesprochen hatte und die Magie weg war, sorgte Kat sich um mich.»
Sam erschrak. Clare war über 400 Jahre alt?! Er selbst war erst 80 Jahre alt. In der Welt des Magischen war er geradezu jung. Jake legte ihr eine Hand auf das Knie. Es schien, als käme nun etwas sehr Schlimmes.
«Sie kam beim Versuch mich zu beschützen ums Leben. Meine Cousine war eine der mächtigsten Magierinnen mit der Macht über den Wind, über 500 Jahre alt und doch brachten sie sie um.» Clare stockte. Sie schluckte schwer. «Ich konnte ihr nicht helfen. Der Fluch nahm mir meine Macht über den Wind – das Einzige, was ich mit ihr gemeinsam hatte – und das Gestaltwandeln konnte ich noch nicht kontrollieren. Deshalb konnte der Fluch dieser Gabe auch nichts anhaben.»
Sam sah, wie Jake und Rave einen Blick wechselten. Kannten sie diese Kat? Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Clare war nicht nur bereits auf der Welt gewesen, als der Fluch ausgesprochen wurde. Nein, sie war selbst vom Fluch betroffen! Und dabei war sie solch eine mächtige Gestaltwandlerin! Wie alt mochte sie da gewesen sein? Schliesslich hatte sie das Wandeln noch nicht kontrollieren können, dafür aber den Wind. Sam runzelte die Stirn. War das nicht seltsam?
Clare sprach weiter:
«Die Männer kamen auf mich zu. Doch sie konnten nur drei Schritte von Kat weggehen, da erschlug die Macht des Vampirfürsten sie. Er stand am Rand des Dark Forests und blickte mich an. Er sah genau so aus, wie deine Spionin ihn beschrieben hatte», fügte sie an Randa gewandt hinzu.
«Er ging nicht zu den Männern, sondern auf mich zu. Vorsichtig hob er mich hoch und sagte seinen Namen. Ich erstarrte vor Angst. Doch er strich mir nur über das Haar, sagte mir, dass er mir nichts tun würde und trug mich zum Wald. Dann weiss ich nur noch, dass ich bei Jake und Rave im Wohnzimmer lag und ihr mir einen Brandy gabt.»
Sam spürte, dass da noch mehr war, sah es in der Art, wie Jake und Rave sie ansahen. Aber Clares Geschichte erklärte wenigstens, warum Rave so mächtig war. Erst mit 300 Jahren hatten die Magier ihre volle Kraft erreicht. Es sei denn, man war nur mit sehr wenig Magie gesegnet. Oder gar keiner. Solche nannten sie Menschen. Diese Leute waren sterblich und wurden nicht älter als 90.
Sam beobachtete Randa, während er mit dem Beil an seinem Gürtel spielte. Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte nachdenklich. Jeria hatte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter gelegt. Schliesslich fragte die Hexe:
«Wer ist noch vom Fluch betroffen?» Diesmal antwortete Jeria.
«Die meisten sind bereits tot. Nur wenige haben überlebt. Meine kleine Schwester, die sich bedeckt hält, Nor, …»
«Wer ist Nor?», unterbrach Sam sie.
«Nor ist die Abkürzung für Norbert. Er arbeitet heute Nacht. Dazu gehören noch Tobias, Erias, Jenna und Tarek. Ich bin ebenfalls vom Fluch betroffen. Wir waren alle an demselben Ort, als der König kam. Es fand eine Besprechung zum Schutz der anderen Länder statt.»
Randa massierte sich die Stirn.
Dann meinte sie: «Wenn man einen Fluch ausspricht, muss man immer auch noch einen Gegenfluch aussprechen. Meistens weiss niemand - ausser der, der den Fluch ausspricht - was der Gegenfluch ist. Doch ich kenne eine alte, mächtige Hexe. Sie hat sich darauf spezialisiert, Gegenflüche zu sehen und an andere weiterzugeben.
Keine Sorge, sie betrügt ihre Kunden nicht. Besonders wenn sie von mir geschickt worden sind. Sie ist die Grossmutter meiner Zweiten», erklärte Randa, als sie die skeptischen Blicke bemerkt hatte. Clare runzelte die Stirn.
Jeria wechselte einen Blick mit ihr. Sam sah Hoffnung in ihren Augen glimmen.
«Wo können wir sie finden?», fragte Jake.
«Sie wandert immer zwischen Larkje und der Hafenstadt Sylrei hin und her. Man muss meistens grosses Glück haben, um sie gleich zu finden. In Sylrei kauft sie immer im gleichen Laden Gemüse ein. Die Inhaber haben ein sehr gutes Gedächtnis und werden bestimmt noch wissen, wann sie das letzte Mal dort war.»
Sam sah, wie die dunklen Schatten in Clares Augen immer mehr von einem hoffnungsvollen Schimmern überstrahlt wurde.
Randa stand auf.
«Ich muss gehen. Benachrichtigt mich, wenn ihr mich braucht.»
Mit diesen Worten schnappte sie sich ihren Besen und stieg die Treppe zur Dachterrasse hinauf. Jake rieb sich müde das Gesicht. Raves Mund hatte einen entschlossenen, ernsten Zug angenommen.
«Ich werde morgen zwei Plätze auf einem Schiff nach Sylrei reservieren. Ihr müsst nun noch ausmachen, wer sich auf die Suche macht von uns fünf. Ich kann nicht, diese Woche habe ich drei Aufträge.»
Jeria meinte, während sie sich ihren Zopf neu flocht: «Ich kann auch nicht, ich habe meine Verpflichtungen als Prinzessin.»
Nun sahen alle Jake und Clare an. Sam beachteten sie nicht.
Sein Freund hob abwehrend die Hände.
«Ich habe hier genug zu tun», wehrte er ab.
«Aber ich weiss mit ziemlicher Sicherheit, dass du, Clare, keinen einzigen Auftrag hast. Sam wird dich begleiten.»
Die Söldnerin hob zu einem Protest an, doch Jake unterbrach sie.
«Sam ist in Hunter aufgewachsen. Er kennt sich in Marlosh besser aus als wir alle zusammen.»
Clare zog eine Grimasse und starrte finster drein.
Sam konnte sie verstehen. Sie kannte ihn nicht und noch dazu schien sie zu wissen, dass er gefährlich war. Jake nahm versöhnlich ihre Hand.
«So ist es halt am sichersten, Mädchen. Er kennt sich am besten aus von uns allen. Du kannst ja morgen vorbeikommen und ihn mit Fragen durchlöchern», meinte er. Sam beobachtete, wie Clare mit wütend funkelnden Augen die Hand zurückriss. Sie sprang auf und stürmte die Treppe nach oben. Kurz darauf sah man ein schwaches Aufblitzen. Der wütende Schrei eines Falken ertönte. Dann war es wieder still.
Jake sah der Söldnerin traurig nach. Seinem Mädchen. Moment mal. Jake hatte sie Mädchen genannt. Das hiess, dass er erheblich älter sein musste, da Sam sich nicht vorstellen konnte, dass die Beiden eine Beziehung hatten. Wie alt waren diese Leute eigentlich?!
Natürlich war Jake sein Freund. Doch Sam fand es enorm unfreundlich, wenn man einen erwachsenen Magier nach seinem Alter fragte.
Jeria legte Jake eine Hand auf die Schulter.
«Keine Angst. Sie wird sich schon wieder beruhigen.»
«Und sie wird morgen kommen», fügte Rave hinzu.
«Warum?»
Sam konnte sich diese Frage nicht verkneifen. Jeria stiess ein, nicht gerade edles, Schnauben aus.
«Weil es ihr Stolz nicht zulässt, wegzubleiben. Und wappne dich, Sam. Sie wird dich mit Fragen bombardieren, bis du durchlöchert bist wie ein Kochsieb.»
Aufmerksam sah Rave Jeria an. Dann stand er auf, reichte ihr die Hand und zog sie hoch.
«Komm», meinte er. «Ich bringe dich nach Hause. Glaube ja nicht, dass ich nicht sehe, wie müde du bist.»
Jeria nickte und winkte ihnen noch kurz zu. Dann waren auch sie verschwunden. Jake rieb sich mal wieder über das Gesicht. Sam beobachtete seinen Freund besorgt.
Er stand auf.
«Wir sollten zusehen», sagte Sam zu Jake, «dass wir wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekommen.» Jake stimmte ihm zu.
«Morgen warten ein paar nervenaufreibende Gespräche auf uns. Schauen wir, dass wir ins Bett kommen. Du kannst das Gästezimmer benutzen.»
Er gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Sam hörte das laute Krachen der zuschlagenden Zimmertür.
Dies war seine Welt. Rettungsaktionen mit Überraschungen, Kämpfe, launische Söldner, eine, sich eindeutig nicht prinzessinnenhaft verhaltende Prinzessin und Leute, die anscheinend ohne jeglichen Anstand gesegnet waren. Grinsend schloss er die Tür hinter sich. Clare konnte so lange schmollen, wie sie wollte. Doch sie würde trotzdem morgen vorbeikommen.
∞
Clare warf wütend ihren Umhang auf einen Sessel. Nie und nimmer würde sie nur mit diesem Merti auf ein Schiff nach Sylrei steigen!
Andererseits war da die Hoffnung nach einer Lösung. Aufgewühlt stampfte sie durch die Räume. Vor einem Regal blieb sie stehen und betrachtete ein Bild. Es zeigte ihre ganze Familie zusammen. Da waren ihre Eltern, ihre Tanten und ihre Onkel. Neben ihr selbst stand Kat. Vorsichtig strich Clare mit den Fingern über die Ölfarben. Ihre Mutter hatte es gemalt. Es war ihre Leidenschaft gewesen. Vielleicht konnte sie sich Merti ja mal anschauen. Nur um etwas über ihn herauszufinden. Seufzend legte sie ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Heute war wirklich eine scheussliche Nacht.
3.
∞
Sam verleibte sich zusammen mit Jake sein Frühstück ein, als Clare mit wehendem Umhang in die Wohnung stürmte. Die Kapuze war wie immer tief ins Gesicht gezogen. Die Männer hoben gleichzeitig den Kopf. Keine Sekunde später bohrten sich Dolche vor ihnen in den Tisch. Sam musste schlucken. Hätte er etwas zu spät den Kopf gehoben, hätte er jetzt einen Dolch in der Stirn. Da schien jemand wütend zu sein.
«Na aber Hallo», begrüsste Jake sie etwas unbeholfen. Clare sagte nichts, sondern durchbohrte Sam weiter mit ihrem Blick. Da kamen wie auf Bestellung Rave und Brid die Treppe hinunter. Clares Kopf fuhr herum. Wenig später roch auch Sam das Blut. Doch er kannte den Geruch nicht. Da wanderte sein Blick ebenso wie Clares zu Brids Händen. Sie waren bedeckt mit Blut. Die Söldnerin schnaubte verächtlich. Anders als andere arbeitete sie zwar neben dem Söldnern auch als Auftragskiller, doch sie nahm keine Aufträge zum Foltern an. Es graute sie davor.
Sam stand auf und holte einen nassen Lappen aus der Küche. Dankbar nahm Brid ihn aus seinen Händen und versuchte das Blut aus seinen Lederhandschuhen zu bringen. Raves Blick blieb an den Dolchen im Tisch hängen. Unter hochgezogenen Brauen sah er Jake an. Der zuckte nur mit den Schultern. Zweifellos als Antwort auf die Frage, ob Rave auch was zu befürchten hatte. Rave gab sich damit zufrieden und wandte sich Clare zu. Sie sah ihn finster an. Ungerührt meinte Rave zu ihr:
«Ich habe ein Schiff organisiert. Es lichtet morgen um 8 Uhr den Anker. Du und Sam teilt euch ein Doppelzimmer.»
Clares Hand zuckte zu ihrem Dolch. Doch sie beherrschte sich. Sam beobachtete mit wachsendem Unbehagen, wie Rave die Söldnerin mit einigen Bemerkungen zum Kampf lockte.
Als er mit einem Mal plötzlich vor ihr stand und sie provozierend angrinste, griff Clare ihn an. Bald bestanden sie nur noch aus einem Gewirr aus Stoff und Gliedmassen. Die Waffen wurden nicht eingesetzt.
Brid machte einen grossen Bogen um die Streitenden und nahm sich einfach etwas aus Jakes Teller. Der schlug ihm protestierend auf die Finger. Mit vollem Mund meinte Brid zu Sam: «Das könnte eine Weile dauern.»
Sam konnte ihn kaum verstehen. Grinsend dachte er sich: Genau. Leute, die ohne jeglichen Anstand auf die Welt gekommen waren.
Später sassen Sam und Clare am grossen Tisch. Brid war gegangen und hatte gleichzeitig auch Jake und Rave mitgenommen. Auch wenn auf ihrer Wange bereits ein Bluterguss blühte, ihr Kiefer violett verfärbt war und ihr rechtes Auge bereits zuschwoll, hatte Sam gesehen, dass Rave deutlich übler zugerichtet war als seine Gegnerin. Sam reichte ihr einen Eisbeutel, den sie auf ihr Auge legte. Ihr anderes beobachtete ihn unablässig. Er konnte nur vermuten, wie sie sich fühlte, als er ihr Frühstück machte. Er stellte ihr einen Teller mit gebratenem Speck und Brot hin. Speck war teuer und war deswegen eine Rarität bei den Rebellen. Clare sah ihn unter hochgezogenen Brauen an.
«Versuchst du mich zu bestechen, Merti?» Sam schnaubte.
«Nicht wirklich. Ehrlich gesagt ja, aber nur, damit du mich nicht zu arg ans Messer lieferst.»
Gegen ihren Willen musste Clare lachen. Es war ein herzhaftes, strahlendes Lachen. Immer noch schmunzelnd meinte sie.
«Wenn du so erpicht darauf bist, können wir ja gleich anfangen. Zur ersten Quizfrage.» Sam musste grinsen. Clare lächelte boshaft.
«Das Lachen wird dir bald vergehen, Kleiner. Also, zurück zur Frage. Wer bist du wirklich? Und erzähl mir nicht wieder, dass du ein einfacher Bürger bist. Wer dir das abkauft, wird selig.»
«Und du wirst nicht selig?», fragte Sam sie. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.
«Oh nein, Merti. So leicht kommst du mir nicht davon.»
Sam fuhr sich mit seinen Fingern durch seine verstrubbelten Haare. Schwer liess er sich auf einen Stuhl fallen. Ohne zu fragen, schnappte er sich Clares Brandy und trank ihn in einem Zug aus. Sie funkelte ihn wütend an.
«Das war mein Brandy!» Sam grinste und stellte das leere Glas vor der Söldnerin hin. Fauchend füllte sie es neu und stürzte ihrerseits alles auf einmal die Kehle hinunter.
«Also», meinte er. «Ich wuchs als Bastard auf den Strassen von Hunter auf. Nachdem ich zehn geworden war, wanderte ich umher. Quer durch Marlosh. Etwa nach zwei Jahren fiel ich einem alten Assassinen auf. Er nahm mich unter seine Fittiche.» Clare ahnte, was nun kam.
«Ich war dankbar dafür, dass er mir ein Dach über dem Kopf und Essen bot. Er bildete mich bis zu meinem dreissigsten Lebensjahr aus. Nicht nur im Kämpfen, sondern auch in der Magie. Er lehrte mich alte Zaubersprüche und Sagen, die man sonst nicht mehr kannte.
Ich kam gerade von einem Auftrag zurück, als ich ihn ermordet im Wohnzimmer fand. Natürlich hatte er mich hart ausgebildet. Einmal musste ich mir selbst das Handgelenk brechen und trotzdem danach noch gegen ihn kämpfen. Er wollte mir zeigen, wie es war mit schlimmen Schmerzen zu kämpfen.
Doch er war auch Familie für mich. Ich habe nie erfahren, wer meine Eltern sind. Sobald ich nicht mehr von der Muttermilch abhängig war, setzte mich meine Mutter aus. Eine alte Frau kümmerte sich danach um mich. Sie starb als ich sieben war. Daher war der alte Mann wie ein Ersatzvater für mich. Ich trauerte um ihn.
Danach ging ich nach Etraj und wanderte dort wieder umher. Ich bot meine Dienste verschiedenen Leuten an und machte die verschiedensten Dinge, vom Kühe melken bis zu Auftragsmorden.»
Clare runzelte die Stirn. Eigentlich hatte sie weniger erwartet. Doch, dass Sam ihr so viel erzählt hatte, gab ihm auf jeden Fall mal einen Pluspunkt. «Ich denke nicht, dass der Mörder deines Ausbildners noch lange gelebt hat.»
«Nein», erwiderte Sam düster. «Definitiv nicht.»
Clare rieb sich nachdenklich das violette Kinn. Sie stand auf und stellte ihren Teller in die Spüle. Jake konnte es schön selbst abwaschen. Sie zweifelte nicht daran, dass es da noch mehr zu Sam gab. Doch es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn er ihr gleich alles erzählt hätte. Sie erzählte ihm ja auch nicht alles. Verstohlen betrachtete sie die Narben an seinen Händen. Welche hatten wohl eine ähnliche Geschichte wie das gebrochene Handgelenk?
«Wann hast du Jake kennengelernt?», fragte sie. «
Vor zwei Jahren. Ich lagerte etwa zwei Kilometer entfernt von einem Auftragsziel in einem Dorf, gleich in der grossen Flussbiegung des Eja-Rivers. Dann stand plötzlich Jake vor mir, blutbespritzt und sein Schwert gezogen.»
Clare musste grinsen, bei der Vorstellung wie ein Assassine nicht bemerkte, wie sich jemand anschlich. Man sollte doch annehmen, dass es einem Auftragskiller auffiel, wenn auch nur ein Ast knackte. Clare überlegte in welcher Reihenfolge sie ihre nächsten Fragen stellen sollte.
«Wie alt bist du?», fragte sie und liess sich wieder gegenüber von Sam nieder.
«Diese Frage finde ich unhöflich», brummte er. «Ich sag dir mein Alter sonst auch», bot Clare an. Anstatt einer Antwort auf ihren Deal meinte er nur: «Ich bin 80 Jahre alt.»
Clare zog überrascht die Brauen hoch. Leise pfiff sie durch die Zähne.
«Ich habe dich älter geschätzt. Aber um unserer Abmachung gerecht zu werden: Ich bin 478 Jahre alt.»
Sam runzelte die Stirn.
«Warum konntest du zur Zeit des Fluches denn deine Gestaltwandelmagie noch nicht kontrollieren?»
Aus Clares Kehle drang ein tiefes Knurren.
«Ich stelle hier die Fragen!», sagte sie. Die Worte gingen fast unter in ihrem Knurren. Sam hob beschwichtigend die Hände.
«Schon gut, schon gut!»
Irgendetwas musste dahinterstecken, wenn sie so allergisch auf die Frage reagierte. Nur was? Ohne auf den leicht besorgten Blick zu achten, ging Clare wieder nahtlos zu den Fragen über.
«In was für Formen zeigt sich deine Magie?»
«In ziemlich vielen. Eis, Schnee und Feuer. Ich kann aber auch mit Toten und Tieren kommunizieren. Das mit den Toten hat mir mein Meister beigebracht. Es braucht keine explizite Magie. Nur Rituale.»
Clare sah ihn unter hochgezogenen Brauen an. Es blitzte und auf einmal sass ein bildhübscher Hund vor Sam. Sein kurzes schwarzes Fell glänzte gesund und die dunklen Agen sahen in prüfend an. Er hörte, wie Clare einmal tief durchatmete. Mit einem Seufzen legte sie sich hin und bettete ihren Kopf auf die Pfoten. Sam stand auf und kniete sich vor ihr hin. Ihre Augen schimmerten.
«Was …», setzte er an. Dann weiteten sich seine Augen vor Schreck.
«Oh, verdammte Scheisse!», fluchte er, als er merkte, dass er ihr geradewegs in die Falle gegangen war. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig wegdrehen, als sie ihn angriff. Knurrend stürzte sie sich auf ihn. Kaum hatte sie angegriffen, hörte sie auch schon wieder auf. Ein Funken glomm in ihren Augen auf, als sie brav, Sitz‘ machte. Ein Gedanke flog zu Sam herüber.
Respekt, gut gemacht!
Sam lächelte.
Gleichfalls.
∞
Jake sprang über die Dächer. Er kam von einem Auftrag zurück und beeilte sich nun zur Wohnung zu kommen, da er nicht wollte, dass Sam und Clare einander umbrachten. Obwohl Jake und Clare Söldner waren, brachten sie mehrheitlich für irgendwelche reiche Schnösel Leute zur Strecke. Nachdem der König von Saltorsh die meisten Reiche von Etraj und Marlosh erobert hatte, hatten es Söldner schwer. Wenn man nicht gleich in eine Legion des Königs wollte, fand man so gut wie keine Arbeit. Nachdem Rave, Clare und er vor rund 100 Jahren nach Cargosh gezogen waren, hatten sie sich schnell dieser Gruppe angeschlossen.
Rave blieb im Haus der Rebellengruppe, während sich Clare und Jake eigene Wohnungen suchten. Treffen taten sie sich immer bei Jake. Er hatte im Gegensatz zu Clare genug Platz und sein Mündel weigerte sich strickt das Heim von so vielen ihrer Rebellen zu betreten. Warum, hatte sie nie gesagt. Jake erreichte die Dachterrasse seines Lagerhauses und stieg die Treppe herunter. Die Szene, die sich ihm bot, überrascht ihn. Sam lehnte auf dem Sofa zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
«Das war’s? Ich hätte mehr Fragen erwartet.»
Clare schnaubte und gab ihm einen Stoss.
«Der Herr hier», sie deutete auf Jake, der hereinkam, «übertreibt gerne ein bisschen.»
Jake blickte ganz unschuldig drein.
«Wer, ich?»
Alle lachten. Clare grinste ihn an.
«Ja, genau du bist gemeint.»
In dem Moment hämmerte jemand an die Tür. Alle wurden sofort ernst. Sam sprang auf und nahm neben Clare die Kampfhaltung ein, als Jake zur Tür ging. Brid stand davor. Sofort entspannten sich alle wieder. Brid grinste Clare an. «Du musst mal Rave sehen, Süsse. Hast ihm mal wieder seine hässliche Visage zu Brei geschlagen!»
«Aber klar doch! Wer hätte es sonst machen sollen? Ausserdem warst du dabei», erwiderte die Gestaltwandlerin. Man merkte, dass Jake das Gespräch unruhig machte.
«Raus mit der Sprache. Warum bist du hier?» Brid schnaubte. «Uns wurde eine Besprechung versprochen. Nun ist es bereits mittags. Manche von uns müssen am Nachmittag noch arbeiten und nicht nur am Vormittag oder in der Nacht, um Adelsleute in ihrem Schönheitsschlaf umzubringen.» Jake verdrehte die Augen.
«Ja, ja. Wir kommen ja schon.» Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter in den Lagerbereich. Die ganze Truppe hatte sich dort eingefunden. Jeria stand am Rande und schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. Alle starrten sie erwartungsvoll an.
4.
Clare konnte Randa mit ihrer Zweiten ausmachen. Tara Tirla hiess sie, soweit sie wusste. Rave stand bei zweien seiner Freunde. Eine Welle schlechten Gewissens überrollte sie, als sie sein mitgenommenes Gesicht sah. Es war übersäht von Blutergüssen. Doch von dem, was sie von seinen zugeschwollenen Augen sah, sprach Freundlichkeit. Er nickte ihr aufmunternd zu. Clare atmete noch einmal tief durch. Dann klatschte sie in ihre Hände.
«Also, Leute», rief sie. «Ich habe euch eine Besprechung versprochen und nun gebe ich euch eine. Merti und ich», sie zeigte auf Sam, «werden morgen ein Schiff nach Sylrei besteigen. Manche werden sich nun denken: Hä? Warum das denn? Ganz einfach. Wir haben von der Zirkelführerin der Fünfzehn einen Tipp bekommen, wie wir den Fluch des Königs auflösen können. Nur müssen wir dafür nach Marlosh. Eigentlich wollte ich allein gehen, doch Merti kommt mit, da er dort aufgewachsen ist.»
Sie strich sich mit einer Hand über die kurzen Haare. Sie reichten ihr nicht mal bis zum Schlüsselbein.
«Ich erwarte, dass in dieser Zeit kein allzu grosses Chaos losbricht. Manche bekommen vielleicht auch noch eine spezielle Aufgabe. Die wird Jake dann verkünden. Dies wird aber nicht bei der Besprechung geschehen. Wer mit den anderen über seine Aufgabe reden will, darf das. Irgendwelche Fragen?»
Ruhe erfüllte das Lagerhaus. Dann meldete sich einer von Raves Freunden: «Bekommt jemand auch die Aufgabe Rave zu vermöbeln?»
Schallendes Gelächter erfüllte den Saal. Rave blickte den Übeltäter finster an.
«Das war nicht nett», schimpfte er. Doch er grinste.
«Ich glaube diesen Posten gibt es nicht.» Jake schmunzelte. Die anderen hatten sich wieder beruhigt.
«Dafür wird Brid vielleicht offiziell Krankenschwester.» Daraufhin brach wieder Gelächter aus. Nachdem nur noch hier und da Kichern zu hören war, fragte Clare:
«Weitere Fragen?» Als sich niemand meldete, fuhr sie fort: «Falls nicht, ist diese Versammlung beendet.»
Kaum redeten alle wieder durcheinander, kam eine junge Frau auf sie zu. Jake fragte Sam etwas und gemeinsam entfernten sie sich ein Stück.
«Was ist?», fragte Clare.
«Ich habe etwas gesehen. Können wir in deine Wohnung gehen?»
Clare zog die Augenbrauen hoch. Anscheinend wollte sie nicht, dass jemand lauschte.
«Ich spreche nur noch kurz mit Rave, Sarah. Dann gehen wir zu mir.» Sarah nickte erleichtert. Sie war froh, dass die Söldnerin ihr zuhörte. Clare ging zu Rave.
«Hey, Rave», meinte sie zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Krieger wandte sich ihr zu und lächelte sie an.
«Hey! Gute Rede.» Clare legte ihm vorsichtig eine Hand an die blaue Wange.
«Mir tut’s nicht leid, dass ich dich angegriffen habe. Doch ich bin froh, dass ich dir nichts gebrochen habe.»
Rave lächelte wieder.
«Ich bin schon mit Schlimmerem fertig geworden.»
«Ich gehe mit Sarah nachhause. Sie muss mir etwas erzählen», sagte sie noch über die Schulter zu ihm, während sie bereits auf den Ausgang zusteuerte. Rave nickte. Gemeinsam mit Sarah lief Clare durch die Strassen. Sarah hatte Angst vor dem Fliegen, weshalb sie nicht in einer Minute sicher auf der Dachterrasse ihres Appartements sein konnten. Clare griff nach ihren Waffen, als ein Tiger mit Teufelshörnern vorbeilief. Dieser Art sagte man ganz einfach Teufelstiger. Sie konnten ihre Feinde mit roten Magieschwaden verbrennen. Bei dem Teufelstiger sah man nun keine Schwaden. Beim Vorbeigehen beobachtete er sie mit den rötlich glühenden Augen. Ein Markenzeichen für ihre Art. Clare hielt Sarah die Tür auf. Das Haus, das in einem der Elendsviertel der Stadt stand, war eher klein. Es hatte eine braune Fassade und knallgrüne Fensterläden. Überraschend gepflegt für ein Haus in diesem Viertel. Clare schloss die Wohnungstür auf und bedeutete Sarah einzutreten. Die ganze Wohnung war mit einem Hang zu rostrot und rauchgrau gestaltet. Sarah setzte sich auf einen der grauen Sessel. Clare tat es ihr gleich.
«Also», sagte die Gestaltwandlerin ruhig und legte ihre Hände übereinander.
«Was hast du gesehen, Sarah?» Die junge Frau strich sich müde über das Gesicht.
«Es war ein riesiger Tornado. Doch kein gewöhnlicher. Im Kern war er schwarz, aussen durchzogen von farbigen Streifen. Es war ein Tornado aus Magie. Davor stand eine riesige Streitmacht, angeführt vom König. Gegenüber von ihnen standen verschiedene Armeen bereit zum Kampf. Sie hatten unterschiedliche Rüstungen und manche waren zu Pferd, manche zu Fuss. Zuvorderst, an der Front, sass Prinzessin Jeria auf einer schwarzen Stute. Sie hatte einen dunkelgrünen Waffenrock an. Mehr als die Hälfte der Soldaten trugen schwarze Rüstungen mit silbernen Nieten. Wenn ich mich nicht irre, sollte die Rüstung so das funkelnde Licht in der Dunkelheit darstellen. Etwas in dieser Art. Ich konnte viele unserer Leute ausmachen. Auch mehrere dunkle Kreaturen hatten dieselbe Rüstung an. Den Himmel konnte ich nicht sehen. Doch ich merkte, dass Jerias Streitmacht versuchte den Tornado zu zerstören. Ebenso, dass der König versuchte, den Tornado in eine Stadt zu lenken. Nach Tarmi.»
Clare erschrak. Die Hauptstadt von Fanjari hatte schon vor 400 Jahren eine bemerkenswerte Abwehr gehabt. Tarmi war vom Taramo-Gebirge umgeben. Es gab nur eine Lücke, der Nebenfluss des Eja-Rivers, die Stelle, an der man an Land gehen konnte. Die Taramos begannen an der Grenze zu Bakar und reichten hin bis zum Dark Forest. Es war schwierig die Taramos zu überwinden. Besonders wenn Schnee lag. Wenn Tarmi fiel, wäre alles verloren. Das war schon vor vier Jahrhunderten so gewesen. Sobald Tarmi gefallen war, fielen auch die anderen Städte wie Dominosteine. Clare selbst hatte vom Fall der Städte nichts mitbekommen. Damals war sie bei Jake und Rave gewesen. Die beiden hatten sie so gut es ging abgeschirmt. Obwohl sie bereits 64 gewesen war. Nun ja. Sie musste zugeben, dass diese Jahreszahl in der magischen Welt nicht gerade hoch war. Doch dieser Kampf der Sarah gesehen hatte, hiess auch, dass es eine Revolte geben würde. Gegen den König und seine Herrschaft.
«Hast du gesehen, wann das geschieht?» Sarah schüttelte beschämt den Kopf.
«Nein. Das Orakel sagte mir nicht mal, welche Jahreszeit es war. Das lag alles unter einem dicken Schleier. Es tut …»
«Es muss dir gar nichts leidtun!», fuhr Clare auf. Sarah zuckte zusammen.
«Ent… Okay.»
Schnell bremste sie sich, bevor sie sich wieder entschuldigte. Clare nickte. Dann stand sie auf und trat zu einem Fenster. Versunken schaute sie in den Nachmittag hinaus. Sarah stand ebenfalls auf und trat vorsichtig auf die Söldnerin zu. Clare drehte sich wieder um. Ihre Augen funkelten.
«Wenn du meinst, dass es nicht mehr lange geht bis zu diesem Krieg, dann musst du es unbedingt jemandem sagen. Am besten Jeria, Jake oder Rave. Ich werde mir etwas ausdenken.»
Sarah atmete aus. Sie war noch nicht lange bei der Gruppe und hatte ständig Angst, etwas nicht gut genug zu machen. Ihren neuen Freunden hatte sie nie erzählt, was vorher passiert ist. Doch sie bemühten sich, die Seherin zu beruhigen und ihr mehr Selbstvertrauen zu geben.
«Geh nun nachhause, Sarah. Du sollst etwas essen und dich ausruhen. Ich muss heute Nachmittag noch packen.»
Sarah nickte. Allein verliess sie die Wohnung, während Clare weiter aus dem Fenster starrte. Sie entdeckte einen Teufelstiger, der es auf der Strasse mit einem gewöhnlichen Wolf trieb. Der Tiger war riesig im Vergleich mit dem Wolf. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging in ihr Schlafzimmer. Im Gehen streifte sie sich den Umhang ab. Die Waffen folgten. Seufzend setzte sie sich auf das alte Bett. Starr blickte sie auf den alten, mit Ebenholz gebauten Schrank. Niemand konnte sagen, wann sie wieder zuhause sein würden. Ob ihre Freunde dem Horror, den Sarah gesehen hatte, allein gegenüberstehen würden. Clare zwang sich einmal tief durchzuatmen. Sarah hatte mal erzählt, dass sie einmal etwas gesehen hatte, was erst fünfzehn Jahre später passiert war. Es sprach nichts dagegen, dass es nun wieder so war. Doch so richtig glaubte sie trotzdem nicht daran. Um an etwas anderes zu denken, stand sie auf und fing an zu packen.
∞
Sam hatte sich endlich von der Versammlung losreissen können. Alle wollten etwas von ihm wissen. Nun stand er in seinem Zimmer in Jakes Wohnung und hatte keinen Plan, was er tun sollte. Seit dem gestrigen Tag, als Jake ihm anbot bei ihm zu wohnen, war er nicht dazu gekommen auszupacken. Wodurch er nun nichts zu tun hatte. Sein Blick wanderte zu einem alten Apfel auf der Kommode. Sam stand auf, nahm einen leeren Seesack unter seinem Bett hervor, ging in die Küche und begann Essen einzupacken. Proviant würden sie schliesslich auch brauchen. Er bezweifelte, dass Clare daran denken würde.
5.
∞
Clare wurde von einem lauten Poltern geweckt. Jemand hämmerte an ihre Zimmertür.
«Los! Aufstehen du Faulpelz! Das Schiff wartet nicht!»
Stöhnend presste sie sich ihr Kissen auf die Ohren. Auch der noch. Seufzend stand sie dann doch auf. Rave hatte ja recht. Ein Schiff wartet nicht. Als sie vollständig bekleidet und bewaffnet mit ihrem Bündel aus ihrem Zimmer trat, sass der grosse Mann an ihrem Küchentisch.
«Na endlich», grummelte er und stand auf.
«Komm», meinte er. «Wir gehen.»
«Aber ich habe noch nichts gegessen!», protestierte die Söldnerin lautstark.
«Das kannst du bei Jake. Er hat grosszügigerweise dargeboten zu kochen.»
Ohne ein weiteres Wort verliess er das Zimmer. Knurrend stapfte Clare ihm hinterher.
∞
Sam stand schon bereit, als Clare hinter Rave in die Wohnung kam. So wie die Gestaltwandlerin ihn ansah, hatte Rave sie aus dem Bett geworfen. Sam beschloss, vorsichtig zu sein. Er hatte nicht vor, gleich am ersten Tag ihrer Reise mit einem Dolch in der Stirn zu enden.
Sein Bündel und der Seesack mit dem Proviant lagen bereits auf dem Tisch und er war bereit zum Aufbruch. Jake kam aus der Küche und reichte Clare einen vollen Teller. Hungrig hatte sie, ehe er sich versah, alles heruntergeschlungen. Jake ging nochmals mit ihnen alles durch, was sie wussten. Was sehr wenig war. Irgendwann kam Randa mit ihrem Zirkel herauf.
«Wir wollen uns bereits jetzt verabschieden. Wenn euer Schiff fährt, werden wir bereits mehrere Kilometer entfernt sein.» Clare nickte.
«Danke für den Hoffnungsschimmer, den ihr uns gegeben habt.»
Tara trat nach vorne. Randa nickte ihr zu.
«Noch einen letzten Tipp, den wir euch geben. Meine Grossmutter nimmt immer die Route quer durch die Berge. Dort müsst ihr euch vor den wilden Wölfen in Acht nehmen. Es sind keine gewöhnlichen Tiere. Alte Kreaturen sitzen in ihnen. Vergessen von den Welten. Ach und meine Grossmutter heisst übrigens Merina Tirla.»
Als Dank für die Hilfe verbeugte sich Clare. Sam und die anderen machten es ihr gleich. Randa hielt einfach Clares Blick. Etwas Urtümliches lag darin. Dann erwiderte der ganze Hexenzirkel die Verbeugung, zur Überraschung der Magier. Ein letztes Mal nickte Randa ihnen zu, dann war der Zirkel verschwunden, so schnell wie sie aufgetaucht waren. Jake rieb sich über das Gesicht.
«Die Berge in Marlosh sind praktisch unüberwindbar», stöhnte er. Sam strich sich das Haar aus dem Gesicht.
«Ich kenne aber einen Weg hindurch.»
Alle blickten ihn stumm an.
«Könnte ich eine Karte haben?»
Rave holte eine hervor. Auf der Karte waren beide Kontinente abgebildet. Etraj und Marlosh.
Mit dem Finger fuhr Sam der Route entlang. Clare hatte Bedenken.
«Merti, das Marol-Gebirge ist riesig. Es erstreckt sich über den ganzen Kontinent. Niemand ist so dumm, sich dort hin zu wagen. Da kommen wir nie hindurch.»
Sam widersprach: «Oh doch. Erstens: Merina geht auch immer da durch. Zweitens: …»
«Merina Tirla kann fliegen und wir nicht!» Halb amüsiert beobachteten Jake und Rave den Schlagabtausch. Sam liess sich nicht beirren.
«Zweitens: Ich bin diesen Weg bereits mehrmals gegangen. Und Drittens: Gegen die wilden Wölfe können wir uns behaupten.» Zur Unterstützung dieser Aussage wirbelten Feuer, Eis und Schnee um seine erhobene Hand. Clare blickte verdrossen an die Decke. Ein Blick auf Jakes Gesicht zeigte, dass dieses schnelle Verstummen schon an einem Wunder grenzte.
Rave holte eine uralte Taschenuhr hervor, die man noch mechanisch aufziehen musste.
«Wir müssen gehen», grummelte er. Also verliessen alle die Wohnung und gingen zum Hafen. Sie kamen am Haus der Rebellen vorbei, wo sich ihnen viele anschlossen. Clare redete mit allen. Am Hafen angekommen wendete sie sich Jeria zu.
«Viele Leute aus den eroberten Ländern sind arm. Die Älteren kennen das Söldnern. Sie wissen, was es heisst, ein Söldner zu sein. Das Land leidet schon zu lange unter den Klauen von Saltorsh. Dies wissen die Farmer», flüsterte Clare ihr zu. «Die Söldner würden sich nie in den Dienst von Saltorsh stellen. Egal für wie viel Geld. Eher würden sie sterben. Doch in einer Gegenbewegung würden sie kämpfen. Bis zu ihrem letzten Tropfen Blut würden sie für solch eine Armee und für ihr Land kämpfen. Trommle sie zusammen. Bald wird man ihren Dienst brauchen.»
Der Kapitän rief: «Abfahrt in drei Minuten!»
Clare nickte ihren Verbündeten zu.
«Stellt nicht zu viel Scheiss an, während ich weg bin», sagte sie mit einem wilden Grinsen. Zusammen mit Sam kehrte sie ihnen den Rücken zu und betrat das Schiff. Jeria blickte ihnen nach. Clares Beweggründe hatte die Prinzessin nie richtig verstanden. Doch was sie zu tun hatte, dies wusste sie. Schon morgen würde sie Leute in die armen Dörfer schicken. Sie sollten alle dieselbe Nachricht verbreiten. Es ist Zeit zurückzuschlagen. Zeit den König zu entmachten. Die Söldner sollten sich einfach melden und auf einen Einsatz warten. Warten, um zurückzuschlagen. Sie sollten sich nicht verstellen, sondern als das auftreten, was sie sind. Man solle bereit sein. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es Zeit sein würde zu kämpfen.
∞
Clare lehnte am Bug. Sie hatte Sam gebeten, ihre Bündel in das gemeinsame Zimmer zu werfen. Ohne auf die Antwort zu warten, war sie an den hinteren Bug getreten. Still beobachtete sie ihre Familie, die immer kleiner wurde. Für lange Zeit würde sie sie nun nicht mehr sehen. Und das nächste Mal vielleicht auf dem Schlachtfeld. Sie dachte zurück an ihren ersten Einsatz.
Sie hatte in Shatou gekämpft und viele Freunde verloren. Damals hatte der König Marlosh noch nicht erobert. Sie war gerade mal 81 gewesen. Eine winzige Zahl im Vergleich mit ihrem jetzigen Alter. Jake und Rave wollten sie nicht gehen lassen. Doch Clare hatte sich durchgesetzt.
Mittlerweile fragte sie sich, ob sie nicht auf sie hätte hören sollen. Doch der Krieg war ihr Leben. Egal was für grausige Dinge im Krieg passierten. Egal zu was der Krieg fähig war. Egal wie hoch das Risiko war, das nächste Mal ohne Arme oder Beine dazustehen.
Clare war mit dem Krieg aufgewachsen und war für den Krieg gemacht. Jake hatte sie lange auf den Kampf vorbereitet. Und davor ihre Eltern, Kat und ihre anderen Verwandten. Sie hasste den Krieg, liebte ihn aber auch. Ihre Familie war verschwunden. Bald darauf folgte das Land, das ihr Käfig und Heimat zugleich gewesen war.
Nur noch das Wasser glitzerte in der Vormittagssonne. Clare drehte sich um und nahm keine Notiz von Sam, der unweit dastand und sie anstarrte. Sie ging die Treppen herunter und schlich die Gänge entlang, bis zu ihrem Zimmer. Sam hatte ihren Beutel auf das Bett nahe der Schiffsluke gelegt. Auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers lag die Karte ihrer Kontinente. Daneben lag ein Zettel, mit allem drauf, was sie wussten. Clare sah nochmals auf das weite Meer hinaus. Hoffnung glomm in ihrem Herzen aus Asche auf.
6.
Sam hatte genug davon, dass Clare mit niemandem redete. Als sie sich umgedreht hatte und gegangen war, hatte sie ihn nicht mal wahrgenommen. Dieser leere Ausdruck in ihrem Gesicht war ihm unheimlich gewesen. Was hätte er darum gegeben, zu wissen worüber sie nachgedacht hatte. Nun redete sie schon seit den drei Tagen auf See kaum zwei Wörter mit ihm. Er stiess sich von der Reling ab und schritt die Treppen herunter. Kraftvoll schlug er gegen die Zimmertür. Nachdem ein geknurrtes: «Herein» erklungen war, riss er die Tür auf und polterte ins Zimmer. Clare sass auf ihrem Bett. Vor ihr auf dem Tisch lagen verschiedene Karten. In der Hand hielt sie eine alte Schreibfeder. Auf einem Stück Pergament vor ihr stand ein halb fertiger Satz.
«Was?», blaffte sie. Sorgfältig zeichnete sie Buchstaben auf das Blatt. Sam setzte sich neben sie. Wie so viele andere alte Magier behielt sie alte Bräuche bei.
Jüngere, wie Sam, schrieben in einer anderen Schriftart, längst nicht so kompliziert wie die alte Sprache und benutzten auch jüngere Erfindungen. Auch wenn es seinerzeit bereits Papier gegeben hatte, benutzte Sam trotzdem Pergament. Es war billiger und in der Lagerhalle gab es Unmengen davon.
«Ich muss mit dir reden.» Clare sah auf.
«Worüber?», fragte sie kurz angebunden.
«Darüber, was mit dir los ist verdammt nochmal!»
Die Söldnerin zog die Augenbrauen hoch.
«Herr Mystiker benutzt solche Wörter? Ich bin schockiert!» Ein unwilliges Knurren ertönte.
«Ich meine es ernst, Waterford!»
«Ja, ja», grummelte diese.
«Inwiefern los?»
Sam verdrehte die Augen. Noch so ein Klugscheisser.
«Warum du, seitdem wir an Bord sind, kaum drei Wörter mit mir sprichst.» Clare lehnte sich an den Bettpfosten, die Arme vor der Brust verschränkt.
«Warum sollte ich dir das Verraten, wenn ich fragen darf?»
«Weil wir ein Team sind und notgedrungen miteinander reden müssen. Wenn uns auch nur ein kleinstes Problem mit dem jeweils anderen dazwischensteht, könnten wir sehr gut auch scheitern.»
Ein Muskel zuckte in ihrer Wange. Sam wusste, dass er damit einen Nerv bei Clare getroffen hatte. Die Gestaltwandlerin musterte ihn von oben bis unten.
«Eins will ich klarstellen, Jungchen. Wir sind keine Freunde, sondern nur vorübergehende Kampfkameraden. Dass wir uns verhältnismässig gut verstehen, ändert daran rein gar nichts. Und deshalb: Wenn du eine Antwort darauf willst, musst du es halt selbst herausfinden.»
Sam stöhnte. 478 Jahre alt und trotzdem stur wie ein Esel. Schlimmer gings ja nicht. Clare hatte feine gestrichelte Linien auf den Plan gezeichnet. Ein kleiner See inmitten des Marol-Gebirges wurde weit umrundet. Sam verstand das nicht. Den Umweg, den Clare gezeichnet hatte, war umständlich. Den See auf einem Floss zu durchqueren sparte zwei Tage. Er zeigte auf den eingezeichneten Umweg und fragte: «Warum?» Clare blickte ihn kalt an.
«Glaub mir, Kleiner. Ich weiss sehr gut, was für Ungeheuer in diesem See wohnen. Als Söldnerin bin ich genügende Male in Marlosh gewesen. Ich weiss, wovon ich rede. Du musst mir nichts über diesen Ort sagen. Und glaub mir, Merina wird nicht über diesen See paddeln.»
Sam runzelte die Stirn.
«Hättest du die Güte mir mitzuteilen, was für Kreaturen denn in diesem See hausen?»
«Nein!», erwiderte Clare scharf. «Es gibt sie in keinen Büchern und da sie sich nicht die Mühe gemacht hatten mir ihre Namen zu verraten, bevor sie mein Team angriffen, weiss ich es nicht. Und ich will es ehrlich gesagt auch nicht herausfinden.» Sam schüttelte unwillig den Kopf, beliess es aber dabei.
Am Abend, als Clare bereits schlief, stand Sam auf. Leise ging er zum Tisch, zündete die Lampe an und nahm das Dokument zu sich. Er war in der Zeit der neuen Sprache geboren, doch sein Meister hatte immer in der alten Sprache geschrieben. Dadurch konnte er die Schreibweise problemlos lesen. Während er las, wurde das Fragezeichen auf seinem Gesicht immer grösser. Für ihn gaben die Stichworte keinen Sinn.
•Chase
•Katjal
•Toro
•Taramo Gebirge
•Tarmi
•Magietornado
•Meeresteufel
•Wilde Wölfe
Oberhalb der Liste stand der Satz, den Clare geschrieben hatte, als Sam ins Zimmer kam.
Carrie, füge alles zusammen.
Und auf einmal bildeten sich wie aus dem Nichts Sätze.
Zu ihrer Zeit wird sich alles fügen. Lass ihr Freiheit und sieh zu, wie sie erwacht.
Dann verschwanden sie wieder. Ein kalter Schauer fuhr Sam den Rücken herunter. Dass die Dinge sich mit der Zeit fügen würden, verstand er. Alles fügte sich mit der Zeit. Doch wer war diese Sie, die erwähnt wurde? Clare? Und warum sollte er zusehen, wie sie erwacht? Was hatte das Ganze mit der Liste zu tun. Wer war diese Carrie? Und wie war es möglich, dass auf einmal Wörter auf dem Dokument aufgetaucht waren, nur um wieder zu verschwinden, sobald er sie gelesen hatte? Halluzinierte er etwa?