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Ein verliebter Herrscher. Eine gefährliche Reise. Eine Königin erweckt ihre Magie.
Die Hochzeit der Dschinn-Königin Alizeh mit dem geheimnisvollen König Cyrus steht kurz bevor. Doch beide werden eine hohen Preis dafür zahlen müssen: Cyrus ist einen verhängnisvollen Pakt eingegangen, aus dem ihn nur der Tod befreien kann. Und Alizeh ist diejenige, die sich verpflichtet hat, ihm diesen zu bringen – nur so kann sie die Verpflichtung, ihrem Volk wieder zu einem eigenes Reich zu verhelfen, erfüllen. Als mächtige Widersacher versuchen diesen Plan zu vereiteln, bleibt Alizeh, Cyrus und ihren Freunden nur die Flucht in eine ungewisse Zukunft in den wilden Bergen von Ardunia. Und dort wird sich ihrer aller Schicksal entscheiden und das ihrer Liebe …
Die grandiose Fortsetzung der süchtig machenden Bestsellerreihe: voller Magie, großer Gefühle, dramatischer Verwicklungen und mit einer epischen Liebesgeschichte, von der Autorin des TikTok-Sensationserfolgs »Shatter Me«.
Die Bände der This-Woven-Kingdom-Reihe:
This Woven Kingdom (Band 1)
These Infinite Threads (Band 2)
All This Twisted Glory (Band 3)
Every Spiral of Fate (Band 4)
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tahereh Mafi
Aus dem Englischen von Mara Henke
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© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
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© 2025 Tahereh Mafi
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel: »Every Spiral of Fate« bei HarperCollins Children’s Books einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Publishers
Übersetzung: Mara Henke
Lektorat: Julia Przeplaska
Umschlaggestaltung und Einband: Geviert, Grafik & Typografie unter Verwendung des Originalcovers © Alexis Franklin
Gestaltung: Jenna Stempel-Lobell, und der Innenillustrationen © Shutterstock (Anna Poguliaeva) sowie der Motive von © Shutterstock (Pixel-Shot; Peyker)
MP · Herstellung: AnG
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-32701-9V001
Sie fragten: »Liebst du sie bis in den Tod?«Ich sagte: »Sprecht von ihr an meinem Grab,und ihr seht, wie sie mich zum Leben erweckt.«
Mahmoud Darwish zugeschrieben
CYRUSWARINDERHÖLLE.
Der südliche König hatte jegliches Bewusstsein eingebüßt, wusste nicht, in welchem Reich er umherstreifte. Er merkte nur, wie er nach und nach umfangen wurde von Dunkelheit, wie Rauch in seine Atemwege drang und finsteres Wispern seine Knochen umschlang.
Der Teufel war nah.
Schleichende Schatten rückten Cyrus auf den Leib, schwarze Kringel leckten an den Rändern seiner Wahrnehmung wie schwärende Zungen. Markerschütternde, zwitschernde Laute schrillten in seinen Ohren, während der Gestank des Todes alles durchdrang und Lichtblitze in der Dunkelheit aufzuckten, die ihn noch mehr verwirrten. Sein Kopf war schwer und fieberheiß, der Mund ausgetrocknet, die Augen schienen fast erblindet. Schmerz tobte durch Cyrus’ Glieder, seine Pupillen erweiterten sich, während glühende Hitze unter seinen Lidern pulsierte. Es fühlte sich an, als würden sein Körper und sein Geist auseinandergerissen, als befände sich sein Körper anderswo, auf der anderen Seite des Raums vielleicht. Und vage kam es Cyrus vor, als sei er nicht vollständig bekleidet.
Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand.
Er wusste kaum noch, wer er war.
»Cyrus?«
Entsetzt zuckte er zusammen, rutschte hastig nach hinten, seine Beine verhedderten sich in weichen Laken, als sein Kopf gegen etwas Hartes prallte und glühender Schmerz ihn durchfuhr.
Ihre Stimme.
Er nahm nur eine Silhouette wahr, verschwommen wie welliges Glas. Sie sollte überhaupt nicht hier sein, doch er konnte nichts Genaues erkennen, Hitze schmolz seine Gedanken, und er rang nach Atem.
Träumte er?
Tag und Nacht ließen sich nicht mehr unterscheiden, das Fieber vernichtete seinen Geist. Cyril erkannte die Anzeichen des Teufels, konnte in schrecklichen Momenten die Ankunft von Iblees voraussehen, bevor das Blutvergießen und die Grausamkeiten begannen. Diese Halluzination war zweifellos eine abscheuliche Verzerrung der Wirklichkeit, eine neue entsetzliche Foltermethode. Cyrus wollte nicht ihre Essenz mit seinem Unflat beflecken, sie sollte dem stinkenden Atem nicht nahe kommen, der seine Sinne vergiftete und an seiner Haut zu haften begann …
Er erstarrte. Sein Magen hob sich, und Ekel stieg in Cyrus auf, während das furchtbar vertraute Grauen sich zu einem wilden Wirbel steigerte …
»Nein!«, schrie er. »NEIN …«
»Deine Seele haben wir geraubt und befleckt mit Blut«, flüsterte der Teufel, »deinen Geist haben wir entführt und gefesselt mit Schuld …«
»Weg mit dir«, murmelte Cyrus verzweifelt, »verschwinde …«
»Dein Herz brachen wir aus Spaß«, fuhr Iblees fort, »Gründe nennen wir keine. So viele Jahre Stille und Wut, Jahrhunderte alleine …«
»Aber ich werde dich nicht im Stich lassen …«
Er erschrak. Wieder ihre Stimme.
Großer Gott, ihre Stimme.
Jetzt schien es Cyrus, als könnte er sie sehen, verschwommen und funkelnd wie in einem Prisma, einem Reigen aus Licht. Er blinzelte. Die Fenster hinter ihr flammten auf, als sei sie geflügelt, und da wusste er, mit mörderisch pochendem Herzen, dass er seinen eigenen Augen nicht mehr trauen konnte.
»Wir besitzen dich, jetzt und immerdar«, flüsterte Iblees.
War es ein Traum?
Cyrus’ halb blinde Augen tasteten angstvoll den Raum ab, doch die Stimme gab keine Ruhe …
»Wir besitzen dich, jetzt und immerdar«, zischelte Iblees, »unsere Ränke bedeuten stets Verderben …«
»Bitte«, sagte sie, »lass mich bei dir bleiben …«
»Doch wir beglückwünschen den unwilligen Erben …«
»Ich will nichts von dir«, schrie Cyrus. »Weg mit dir – verschwinde …«
»Cyrus …«
Wieder rutschte er weg von der Stimme, knallte erneut auf etwas Hartes, und der Schmerz explodierte in seinem Kopf.
»Ich will dir doch nur helfen«, sagte der Engel und trat auf ihn zu.
Cyrus atmete zittrig ein.
Sie war wie ein körperloser Glorienschein, ein schwebendes Strahlen, und Cyrus verstand, dass seine Träume in die Realität sickerten, dass sein Verstand ihn im Stich ließ …
Er wurde wahnsinnig.
»Nie haben wir ein Spiel verloren, wir schwören es bei den Sternen. Nie sollst du dieses Mädchen haben, ihr Schicksal ist nicht von unserem zu entfernen …«
»NEIN!«, schrie Cyrus, fieberglühend, dem Irrsinn nah. »Weg – lass mich in Ruhe …«
»Doch wir beglückwünschen den unwilligen Erben. Wir besitzen dich jetzt und immerdar, unsere Ränke bedeuten zumeist Verderben …«
»Ich lasse dich nicht allein«, hörte er ihre Stimme von irgendwoher. Ihr Gesicht war vollkommen verschwommen, überstrahlt von blendendem Licht. »Besonders in diesem Zustand …«
Cyrus zitterte heftig, sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
»Oh, der Narr ist wirklich von Herzen froh, dich zu sehen in solcher Pein! Dafür soll dein Anspruch auf dieses herrliche Erbe erfüllet sein …«
»Ich will nichts, nur das, was mir zusteht!«, brüllte Cyrus blindwütig. Ein Schweißtropfen rann seinen Hals hinunter, zerplatzte am Schlüsselbein. »Lass mich in Ruhe …«
Der Teufel rückte immer näher, und Cyrus erstarrte, panisch vor Abscheu, als sich das finstere Säuseln noch tiefer in ihn hineinschlängelte. »Damit die Reise leichter wird«, raunte Iblees, »zu jener berühmten Magie, gönnen wir Alizeh ihr Buch, das sie entwendet, schnell wie nie …«
»Was geschieht mit dir?«, fragte der Engel. »Bitte sag mir, was dir fehlt …«
Jetzt kam sie noch näher, und Cyrus, der ihrem gleißenden Strahlen entkommen wollte, rollte sich zur Seite, stürzte von etwas herunter und knallte auf den Boden.
»Hör auf«, flehte er würgend, »aufhören …«
Sein Körper war in Laken gefangen, und Cyrus riss daran wie ein Tobsüchtiger.
»Wir werden dich nicht mehr quälen, das Blutvergießen hört auf. Wir werden dich nicht mehr plagen, wir schenken dir Ruhe zuhauf …«
»Cyrus …«
»Du schenkst mir gar nichts«, keuchte er, besinnungslos an den Laken zerrend. »Ich will nur, was mir zusteht …«
»Bitte, Cyrus …«
»Wir beglückwünschen den unwilligen Erben. Dein Herz brachen wir aus Spaß, denn wir wollen stets nur Verderben …«
»VERSCHWINDE!«, schrie Cyrus zornig.
ALIZEHSASSWIESOOFTSTICKEND im Licht der Sterne und des Feuers in der Küche, zusammengekauert, fast schon in der Kochstelle. Mondstrahlen stahlen sich durch die rautenförmigen Fenster und tauchten Alizeh in Silberglanz, während sie eifrig Rosen stickte mit einem goldenen Faden, rötlich schimmernd im Flammenschein. Ihre Bewegungen wirkten so trügerisch geschmeidig, die filigrane Tätigkeit ging ihren geschickten Fingern so leicht von der Hand, dass manch gaffender Tor sich vielleicht erdreistet hätte zu behaupten, er könne selbst binnen weniger Stunden ein solches Hochzeitsgewand anfertigen, hätte er nur die Zeit dafür.
»Das sieht doch gar nicht schwierig aus«, sagte ein Stalljunge, der sich die Nase am Fenster platt drückte, zum Kutscher. Der Junge kniff die Augen zusammen, um deutlicher zu sehen. »Es geht so schnell und leicht, siehst du? Ich verstehe das ganze Getue nicht.«
Der Kutscher, ein ergrauter alter Bursche, dem einmal bei Tageslicht ein Lächeln von Alizeh zuteilgeworden war, versetzte dem Jungen einen Stoß, bevor er ihn zum Stall zurückzerrte. »Elender Taugenichts«, brummte der Kutscher und beäugte mit finsterem Blick die Neuankömmlinge, die unverzüglich die frei gewordenen Plätze am Fenster einnahmen. Ein Schmied, ein Schäfer und ein Pfeilmacher entblödeten sich nun nicht, glotzend am königlichen Fenster herumzustehen. Der heiße Atem der Schaulustigen an der Scheibe trübte ihnen binnen Kurzem den Blick auf den Anlass ihrer Tratscherei. Alizeh meinte fast, das Quietschen zu hören, wenn wieder jemand mit dem Ärmel das beschlagene Fenster säuberte.
Ein kleines Lächeln brachte sie zustande.
Dieser Anblick hätte erheiternd sein können, wäre er nicht an jedem Fenster gleich gewesen: Gesichter, die wie Teig an der Scheibe hafteten, Zähne, die ans Glas stießen, Lippen, die sich zuckend bewegten, Finger, die nach Halt tasteten, während man sich auf Zehenspitzen stellte, um mehr sehen zu können. Vorhänge hatten sich als nutzlos erwiesen gegenüber diesen Neugierigen, die sich der sichtbehindernden Stoffe zu erwehren wussten, indem sie hartnäckig so lang ans Fenster klopften, bis jemand kam und die Vorhänge zur Seite zog. Sich unsichtbar zu machen, wäre auch sinnlos gewesen, denn die Gaffer waren eine ausgewogene Mischung aus Dschinns und Lehmlingen. Zwar hätte Alizeh sich in ein höher gelegenes Gemach im Palast zurückziehen können, doch sie wollte nicht zu weit entfernt sein von Cyrus, den man in einem Gästezimmer im Erdgeschoss untergebracht hatte, nachdem er den grauenvollen Blutschwur überlebt hatte. Freilich wäre sie viel lieber an seiner Seite geblieben, doch da das nicht infrage kam, sah sie sich gezwungen, Zuflucht in der vertrauten Küche zu suchen.
Alizeh rückte ein bisschen von den Flammen ab. Seit Cyrus’ hitziges Blut in ihren Adern floss, spürte sie kaum noch den Drang, ihren für gewöhnlich eiskalten Körper am Feuer zu wärmen. Sie erlebte jüngst sogar eine ganz und gar neuartige Empfindung: Ab und zu wurde ihr regelrecht heiß.
Sie atmete tief ein, ließ die Nadel ruhen, glättete den Stoff und hielt sich dazu an, aufzublicken, um ihr Publikum zu betrachten.
Die Köchin saß an dem langen Holztisch mitten in der Küche, den Kopf in die Hände gestützt, und vergaß zu blinzeln, während sie Alizeh anstarrte. Im Verlauf der letzten Stunden war eine Schar Snodas hereingeschlichen, und nun stand ein gutes Dutzend vor ihr und begaffte sie. Lakaien waren an den Wänden aufgereiht, eine Hauskatze tapste herbei, der Leibdiener stand mit Paketen in den Händen steif vor der Tür zu seiner Kammer.
Alizeh lockerte ihre Schultern und beschloss, sich der Lage tapfer zu stellen. Sie hob die Hand, um die vielen auf sie gerichteten Augen zu würdigen, und bemühte sich sogar um ein erneutes Lächeln in Richtung der beschlagenen Fenster, aber mit drei Stecknadeln im Mund geriet der Versuch ein wenig schief.
Doch auch durch diesen bescheidenen Gruß wurde das Stimmengewirr sofort tumultuöser. Fäuste hämmerten an den Rahmen, Knöchel klopften an die Scheibe. Die Köchin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, das Holz knarrte. Die Snodas sprangen wie aufgescheuchte Vögel auseinander. Die Katze schlich näher heran und verharrte dann lauernd, um ihr Plätzchen am Feuer zurückzuerobern.
Alizeh räusperte sich und senkte den Blick.
So viele Jahre ihres Lebens war sie Dienerin gewesen, dass sie die Kochstelle als einen Teil ihrer selbst empfand. Die vielfältigen Geräusche einer Küche vermittelten ihr ein Gefühl von Geborgenheit: das Hacken von Messern, das Blubbern in den Töpfen, das Schaben von Bürsten. Auch jetzt nahm sie die Gerüche wahr: würzige getrocknete Kräuter, prickelnd frische Zitrone, beißende Kupferpolitur. Sie liebte den Duft von Milchseife, das Prasseln eines munteren Feuers, puderige Mehlwolken. Eine stille, saubere Küche am Ende eines strapaziösen Tages war stets ein willkommener Zufluchtsort gewesen für eine Snoda ohne eigenes Heim.
Und Himmel, diese Tage nun konnte man mit Fug und Recht als strapaziös bezeichnen.
Das Problem war, dass bislang niemand mit ihren Gewohnheiten vertraut war. Gewiss hatte niemand Verständnis für ihr Bedürfnis, sich mit irgendetwas Vertrautem zu beruhigen, ob sich das nun ziemte oder nicht. Doch gewiss war es auch verzeihlich, dass man die Handlungen einer künftigen Dschinnkönigin verwirrend fand. Immerhin hatte man Alizeh erst kürzlich in den königlichen Haushalt eingeführt, nachdem sie beinahe einen Monat lang im Tempel der Wahrsager verborgen worden war.
Nun, da die Hochzeit bevorstand, fand sich die atemlos erwartete künftige Königin von Tulan den neugierigen Blicken ausgesetzt und wurde eingehend inspiziert.
Die Ergebnisse fielen bislang zwiespältig aus.
Zwar konnten sich die meisten darauf einigen, dass die baldige Braut über atemberaubende Schönheit verfügte. Es gab jedoch Zweifel daran, ob sie auch im Besitz eines gesunden Verstandes war.
Entsprechend fiel auch das Urteil über das Herz des Königs aus.
Bei diesem Gedanken stieß Alizeh so heftig die Luft aus, dass Aschewolken aufstoben.
Vielleicht, sagte sie sich, war es jetzt an der Zeit, sich zurückzuziehen.
Sorgsam sammelte sie ihre Nadeln und Garne ein und verstaute alles in einem reich verzierten Nähkasten, mit dem die Haushälterin sie nach dem geäußerten Wunsch binnen Minuten ausgestattet hatte. Behutsam raffte Alizeh den schweren Stoff des schillernden Seidenumhangs auf, der beinahe vollendet war. Seit Tagen hatte sie unermüdlich daran gearbeitet. Dieses Gewand war der letzte Teil der Garnitur, die losen Fäden konnten auch morgen abgeschnitten werden.
Alizeh erhob sich und schüttelte ihre Röcke aus.
Die Köchin sprang so ruckartig auf, dass ihr Stuhl umfiel. »Eure Majestät«, sagte sie und knickste. Dann verbeugte sie sich, überlegte einen Augenblick und salutierte schließlich.
»Bitte bleibt sitzen«, sagte Alizeh sanft. »Ihr müsst Euch nicht bemühen.«
Als ihre Stimme ertönte, kreischten die Snodas auf, die Lakaien zuckten erschrocken zusammen, und der Leibdiener griff sich ans betagte Herz, ließ die Päckchen fallen und verbeugte sich fast bis zum Boden.
Alizeh bemühte sich, so anmutig zu lächeln, wie es wohl von einer Königin erwartet wurde.
»Ich bin Euch ungemein dankbar für alles, was Ihr für morgen vorbereitet habt«, sagte sie zu den versammelten Bediensteten und blickte dabei mit Bedacht auch zu den Fenstern hinüber. »Die vielen Verzögerungen bedauere ich außerordentlich. Ich weiß, das habe ich schon oft gesagt, aber Ihr solltet alle wissen, wie glücklich ich bin, hier bei Euch am Hofe zu sein. Und ich freue mich sehr darauf, Euch alle im Lauf der Zeit besser kennenzulernen.«
»Gewiss, Eure Majestät«, sagte der Leibdiener, noch immer vornübergebeugt. Dann fügte er, den Blick weiterhin zu Boden gerichtet, vorsichtig hinzu: »Seid Ihr zuversichtlich, dass der König morgen in Erscheinung treten wird?«
Alizehs Wangen röteten sich.
Während sie noch versuchte, eine diplomatische Antwort zu ersinnen, kam die Haushälterin, eine gewisse Frau Zaynab, mit einem Armvoll Tischtücher hereinspaziert. Sie erbleichte und wich entsetzt zurück.
»Eure Majestät«, keuchte sie. »Ich bitte um Verzeihung, ich hatte nicht erwartet …«
»Entschuldigt bitte«, sagte Alizeh, die sich in Grund und Boden schämte. »Es war keineswegs meine Absicht, die Bediensteten zu brüskieren.« Sie sprach leise, doch es gelang ihr, sich sehr aufrecht zu halten. »Ich bitte um Verzeihung.«
Und damit schritt sie so würdevoll hinaus, wie es ihr nur irgend möglich war.
ALIZEHWARDASREINSTENERVENBÜNDEL.
Sie hastete den Korridor entlang, getrieben von einem Zorn, der seit einiger Zeit ihr ständiger Begleiter war und tagtäglich von einer Unzufriedenheit genährt wurde, deren Charakter ihr bislang ein Rätsel blieb.
Diese Gefühle waren ihr vollkommen neu und gänzlich unverständlich, sie hatte keinerlei Erfahrung mit diesem inneren Beben, dieser Mixtur aus Wehmut und Ängsten, die sie plagte.
Niemand außer ihr selbst trug Schuld daran, dass die Bediensteten nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten, und ganz gewiss hatte Alizeh nicht die geregelten Abläufe durcheinanderbringen wollen. Aber sie war eben …
Nun, sie war überreizt.
Völlig überreizt, und sie hatte nicht gewusst, wie sie sich beruhigen konnte. Sie hatte ein Plätzchen zum Zurückziehen gesucht, einen Unterschlupf, der sie vor schaulustigen Blicken und geschwätzigem Klatsch schützte, und hatte angenommen, dass die Küche so spät am Abend leer sein würde. Doch offenbar war es mit ihrem klaren Verstand nicht mehr weit her.
So fixiert war sie gewesen auf die Tatsache, dass morgen die Hochzeit stattfinden würde, dass sie übersehen hatte, was an Vorbereitungen nötig war, damit ebendiese Hochzeit morgen stattfinden konnte.
Der gesamte Palast befand sich in Aufruhr.
Und Alizeh hatte keine Ahnung, wie sie ihren lastenden Gedanken entkommen konnte.
Es war schon schlimm genug, dass in der gesamten Welt Chaos tobte, und Alizeh hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, ihre vielen Zukunftsängste beherrschen zu können. Die Massen, die sich außerhalb des Palastes versammelten, wuchsen ins Unermessliche, denn Dschinns und Lehmlinge reisten von überallher an. Viele beabsichtigten, Alizeh Treue zu schwören, die meisten jedoch wollten sich das Spektakel der königlichen Hochzeit nicht entgehen lassen. Weshalb jede weitere Verschiebung immer noch ein wenig peinlicher gewesen war, aber auch für einen weiteren Ansturm an Besuchern gesorgt hatte.
Ohne die Wahrsager, welche die unüberschaubaren Massen in Schach hielten, hätte Alizeh nicht gewusst, wie man dieses Getümmels Herr werden sollte. Es quälte sie außerordentlich, dass sie ihr Volk seit dem jüngsten Anschlag auf ihr Leben nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Doch ohne eine Krone auf dem Kopf hatte sie ohnehin kein Recht dazu, vor diese Massen zu treten und zu ihnen zu sprechen.
Sie brauchte unbedingt ihre Magie. Sie brauchte unbedingt ein Königreich. Sie brauchte unbedingt …
Alizeh merkte, wie die Wut sie packte, was in letzter Zeit viel zu häufig geschah. Dass der Vorabend eines Hochzeitstags derartig trist sein könnte, hätte sie niemals vermutet. Sie fühlte sich einsam, konfus und abgelenkt, und die einzige Person, mit der sie sprechen wollte, weigerte sich, sie zu sehen.
Und das war noch milde ausgedrückt, denn Cyrus hatte ihr den Zutritt zu seinem Zimmer strikt untersagt.
Alizeh zuckte zusammen, als sie plötzlich erschrockene Rufe vernahm. So in Gedanken versunken war sie gewesen, dass sie, ohne es zu bemerken, in den Prunksaal geraten war, wo etliche geschäftige Bedienstete bei ihrem Anblick zunächst vor Schreck erstarrten und dann hastig auf die Knie fielen.
Alizeh blieb stehen, erneut um Haltung bemüht.
»Guten Abend«, sagte sie lächelnd. »Bitte macht Euch wegen meiner Anwesenheit keine Umstände. Lasst Euch nicht stören.«
Kurz herrschte Stille, dann kam nach und nach wieder Leben in die Snodas.
Der Prunksaal schien erleichtert aufzuatmen.
Trotz Hazans wiederholter Warnungen, dass sie nicht allein im Palast umherstreifen sollte, fand Alizeh es lästig, ständig auf einen Aufpasser warten zu müssen, und nicht förderlich, unentwegt damit zu rechnen, dass jemand sie umbringen wollte. Außerdem mussten die Bediensteten schließlich auch Gelegenheit bekommen, sich an sie zu gewöhnen, und umgekehrt. Denn dieser Palast würde ab jetzt ihr Zuhause sein …
Der Gedanke traf sie wie ein Blitzschlag.
Alizehs Herz pochte heftig, ihre Haut kribbelte unangenehm.
Dieser Palast würde ihr Zuhause sein.
Wenn sie erst Königin von Tulan war, würden die Dienstboten ihr unterstehen, und sie würde über das gesamte Land herrschen. All das würde ihr gehören, doch bevor sie Anspruch darauf erheben konnte, musste sie ihren künftigen Gatten umbringen.
Schlagartig war ihr ziemlich übel.
Von schrecklichem Unbehagen erfasst, wankte Alizeh zu einem Stuhl am lodernden Kaminfeuer, während die anwesenden Snodas sie nicht aus den Augen ließen.
Was für eine sonderbare Vorstellung, dass sie einst eine von ihnen gewesen war.
Es hatte eine Zeit in Alizehs Leben gegeben, in der sie eifrig nach solcher Beschäftigung Ausschau gehalten hatte. Da sie nicht auf der Straße vor die Hunde gehen wollte, war es ihr ungemein verlockend erschienen, in einem behüteten Haus unter einem unversehrten Dach Böden zu schrubben. Damals war ihre Stellung in der Welt gekennzeichnet gewesen durch die Tüllmaske über Augen und Nase, die sie gesichtslos und unkenntlich machte.
Oh, wie groß waren damals ihre Ängste gewesen.
Einst hatte Alizeh geglaubt, dass Macht und Ansehen ihr Schutz verschaffen konnten. Ein schwaches Bäumchen mit zitternden Zweigen war sie gewesen, das fürchtete, fruchtlos zu bleiben. Doch nun, beladen mit Früchten, fürchtete sie, die Fülle könne verrotten und sie selbst gefällt werden, weil sie es gewagt hatte, zu wachsen und zu gedeihen. Erst jetzt verstand Alizeh, dass Ängste an den einzelnen Wegstationen des Lebens nicht einfach verschwanden.
Sie wurden nur komplizierter.
Aufseufzend sank sie in den hochlehnigen Sessel am knisternden Kaminfeuer, umfasste Seidenumhang und Nähkasten auf ihrem Schoß. Vor Erschöpfung fielen ihr fast die Augen zu.
Ein gewaltiger Kronleuchter über ihr glitzerte im Kerzenschein, Tümpel aus Licht glänzten in hohen Mauerbögen über den dunklen Fenstern, in weichen, kunstvoll gewobenen Teppichen schimmerten Goldfäden. Der Prunksaal war von erlesener Ausstattung mit eleganten Möbelstücken und Samtsesseln, bei denen sich Schönheit und Bequemlichkeit die Waage hielten. Das Herzstück des Raums bildete ein Koloss von einem Kamin, an dem sich Alizeh nur gar zu gern genüsslich eingerollt und ausgeruht hätte. Aber in den öffentlich zugänglichen Räumen des Palastes war ihr nirgendwo Privatsphäre vergönnt, und sie musste dauernd dieses heitere Lächeln auf den Lippen tragen, um nicht Anlass für neuen Klatsch und Tratsch zu geben.
Doch heute war ihr das nahezu gleichgültig.
Um keinen Preis wollte sie in das kalte Gästezimmer zurückgehen, das sie bezogen hatte, um in Cyrus’ Nähe zu sein. Alizeh fürchtete, wahnsinnig zu werden, wenn sie dort auf die kahlen Wände starren und sich Cyrus’ Qualen vorstellen musste. Wie konnte sie auf Ruhe hoffen, wenn sie doch wusste, wie sehr er litt? Wie sollte sie sich erholen, wenn das Band zwischen ihnen so heftig pulsierte wie ihr eigener Herzschlag?
Auch jetzt spürte sie das Wogen ihres eigenen Blutes in den Adern, heiß und berauschend. Selbst blind und taub hätte sie den Weg zu Cyrus gefunden, das wusste Alizeh mit Gewissheit, und sie merkte unversehens, dass sie auch jetzt unterwegs zu ihm gewesen war.
Sie war rastlos, begann zu verzweifeln.
Seit vier Tagen hatte sie Cyrus nicht zu Gesicht bekommen.
Niemals hätte Alizeh vermuten können, dass der geheimnisumwitterte tulanische König, der gegenwärtig wohl die schlimmste Phase ihres jüngst vollzogenen Blutschwurs durchzustehen hatte, niemanden außer Hazan in seiner Nähe dulden würde. Wenn der König etwas verlauten ließ, dann nur zu Hazan.
Allen anderen war der Zutritt untersagt.
Hazan stand Wache an der Tür zu den Gästegemächern und senkte bedauernd den Kopf, wenn er sich Alizeh widersetzen musste; Hazan bat sie freundlich, aber unerbittlich darum, auf Abstand zu bleiben; Hazan schickte sie fort, obwohl sie ihm begreiflich zu machen versuchte, dass ihre Nähe Cyrus’ Leiden lindern würde, während die Magie in seinem Körper wütete.
Doch Hazan ließ sich nicht erweichen.
Kein einziges Wort äußerte er über den Zustand des Königs, bat lediglich entschieden um Vergebung und Nachsicht, wenn er wiederum verkündete, Cyrus benötige noch einen weiteren Tag, um zu genesen …
Und noch einen und noch einen.
Die Hochzeit war mittlerweile dreimal verschoben worden.
Auch hätte Alizeh niemals vorhersehen können, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem sie so wütend auf Hazan war, dass sie ihn am liebsten mit Fäusten traktieren und anbrüllen wollte.
Gegen ihn kämpfen.
Vier Tage ohne auch nur einen einzigen Blick auf den König.
Um sich zu beruhigen, atmete Alizeh tief ein, wobei ihr der betörende Duft üppiger Blüten in die Nase stieg. Cyrus’ verzauberte rosafarbene Rosen hatten sich durch Spalten in den Fensterrahmen ins Schloss geschlängelt, wuchsen aus Wänden und Decken hervor, und wo man auch ging oder stand, regneten Blütenblätter herab. Weiche rosa Wolken bildeten sich in Waschbecken und Gängen, wehten Treppen hinab, taumelten durch Salons und Schlafgemächer.
Das permanente Entfernen anzuordnen, trieb Sarra, die Königinmutter, beinahe zur Raserei.
Alizeh blickte auf, als eine Rosenblüte ihr Gesicht streifte. Ihre Hände, die wie zum Gebet offen auf dem Schoß lagen, füllten sich mit zarten Blättchen. Alizeh vermochte nicht zu entscheiden, ob diese Zeichen, die an Cyrus erinnerten, Wohlgefühl oder eher Unbehagen erzeugten.
Beides gleichermaßen, beschloss sie.
Cyrus konnte natürlich nicht dazu angehalten werden, den Zauber zu beenden, mit dem er die gesamte Stadt belegt hatte.
Vier Tage.
Hochzeitstorten waren aufwendig glasiert und dann aufgegessen worden, Speisekarten entworfen und weggeworfen, Schlachterbeile an den Haken zurückhängt. Gemästete Hühner gackerten länger als vorgesehen. Tabletts mit Speisen landeten unberührt wieder in der Küche, in der Kammer des Leibdieners stapelten sich haufenweise Briefe und absonderlich geformte Päckchen, während Bauern und Edelleute gleichermaßen am Tor von händeringenden Bediensteten bedauernd wieder nach Hause geschickt wurden.
Am zweiten Tag des königlichen Rückzugs war es zu den ersten merkwürdigen Geschehnissen gekommen.
»Dürfte ich … würde es Euch stören, wenn ich mich zu Euch geselle?«
Alizeh blickte ruckartig auf, als sie die vertraute Stimme vernahm.
DEEN, GROSSUNDDRAHTIG und schmallippig lächelnd, schaute auf Alizeh hinunter, die Hände in den Hosentaschen. Er trug ein grob gestricktes rotwollenes Wams, an dessen Kragen nebst seiner Hornbrille zwei Büroklammern und ein säuberlich gefaltetes Stück Papier an einer dritten Klammer befestigt waren.
»Gewiss«, antwortete Alizeh herzlich, als ihre Überraschung überwunden war. »Nehmt Platz.«
Deen verließ seinen Arbeitsraum nur äußerst selten.
Der Apotheker verbrachte seine Tage emsig und in schönem Einvernehmen mit der Alchemistin des Palastes, einer spindeldürren Dame namens Ayla. Sie war ebenso groß und drahtig wie er, und ihr nüchternes, brüskes Wesen hatte der ardunische Apotheker von Anfang an so erquicklich empfunden wie Rosenstöcke einen feinen Regenschauer.
Die beiden hatten sich auf Anhieb angefreundet.
Hier in Tulan, wo Apotheker und Alchemisten Zugang zu großen Magiemengen hatten, entdeckte Deen ein euphorisches neues Interesse für seinen Beruf. Unter Aylas Anleitung lernte er, ihm bislang unbekannte Tränke und Elixiere herzustellen. Deshalb bekam Alizeh ihn seither stets nur kurz zu Gesicht, denn er strebte tagtäglich mit dem glühenden Eifer eines wunderlichen Erfinders zu seinem Arbeitsraum.
Noch nie zuvor hatte Alizeh den Apotheker so glücklich erlebt.
Sie betrachtete ihren Freund forschend, während er sich in dem anderen Sessel nah am Feuer niederließ, und fragte sich, weshalb er sie wohl aufsuchte.
Zu ihrem Erstaunen sagte er gar nichts.
Weshalb sie zunächst in einvernehmlichem Schweigen versanken und nur dem Knacken und Knistern der Scheite in den Flammen lauschten. Schließlich räusperte sich Deen leise, blickte zur Decke hinauf und folgte den sich verzweigenden Rosenranken mit dem Blick. Gedankenverloren pflückte er zwei Blütenblätter aus seinen Haaren und wischte sich weitere von seinem Wams, als sei das nichts Außergewöhnliches. Dann wies er mit dem Kopf Richtung Fenster.
»Die Spinnen konnten wohl noch nicht vertrieben werden?«
Alizeh schüttelte ergeben den Kopf.
Deen zog eine Augenbraue hoch. »Und wie sieht es mit den Heuschrecken aus?«
»Die sind zurückgekommen«, antwortete sie. »Sie kommen immer zurück.«
»Aber manchmal bleiben sie auch weg?«, erkundigte sich Deen.
Alizeh nickte und sah dabei aus dem Augenwinkel zwei Snodas, die sich in der Nähe herumdrückten, worauf ihr noch unbehaglicher zumute wurde.
Deen runzelte die Stirn und lehnte sich zurück. »Äußerst merkwürdig«, murmelte er, wie zu sich selbst.
»In der Tat«, pflichtete Alizeh ihm bei. Sie fürchtete, zu viel auszuplaudern.
Am zweiten Morgen von Cyrus’ Rückzug waren riesige Schwärme leuchtend grüner Heuschrecken in jenen Flügel des Palastes eingefallen, in dem der König untergebracht war, und flatterten dort durch die Gänge. Als wäre das nicht schon erschreckend genug, erschienen massenweise Hummeln, die ihr aufgeregtes Umherschwirren nur beendeten, wenn sie sich in den Rosen des Königs zur Ruhe begaben, acht oder zehn pelzige Insekten dicht aneinandergedrängt auf einer Blüte. Kurz darauf baumelten zahllose Spinnen in Türen und Fenstern an ihren Fäden und stießen im Luftzug klackend an die Scheiben.
Zunächst hatte man diese Vorkommnisse als lästige Plagen abgetan, obwohl sich Insekten wie Spinnen trotz aller Anstrengungen der Bediensteten nicht vertreiben ließen.
Dann jedoch hatte der alte Haushofmeister im Abendzwielicht eine Schar Füchse gesichtet. Jeder von ihnen hatte eine Aprikose zwischen den Zähnen und legte sie behutsam auf dem Rasen ab. Als Nächstes tauchten Schwärme von Krähen auf – Hunderte geflügelte schwarze Tintenkleckse, die sich auf dem Dach niederließen und einen höllischen Krach veranstalteten. Doch am unheimlichsten waren Dutzende Schlangen, die sich an den steilen Mauern des Palastes emporwanden, silbrig schimmernd wie Sicheln.
Das war zu viel für das betagte Herz des Haushofmeisters, und der bedauernswerte Mann fiel vor Grauen um.
Alizeh hatte unverzüglich den Apotheker rufen lassen, der einen belebenden Arzneitrank anrührte, dank dessen der Bedienstete wiederbelebt werden konnte. Inmitten des ganzen Tumults hatte Deen ihr einen stummen, forschenden Blick zugeworfen.
»Heute früh im Morgengrauen«, sagte Alizeh nun und wandte sich Deen zu, »saß ein Schneeleopard am Hintereingang. Als die Köchin vom Markt zurückkam, entdeckte sie ihn dort, wie er seine Pfoten leckte. Und auch er ließ die abgebissene Hälfte einer Aprikose zurück.«
»Noch mehr Aprikosen?«
»Nur diese halbe.«
Deen gab einen nachdenklichen Laut von sich.
»Die Großkatze wirkte wohl recht furchteinflößend«, fügte Alizeh hinzu. Das brauchte sie nicht zu verbergen, denn die gesamte Dienerschaft war im Bilde über das Vorkommnis. »Das Geschrei der Köchin weckte den halben Palast.«
Deen zog die Augenbrauen hoch. »Das war die Köchin? Ich hatte angenommen, es sei Sarra gewesen.«
»Nun, zurzeit«, erwiderte Alizeh geistesabwesend, »lässt sich schwer sagen, wer gerade schreit.«
Am dritten Tag des königlichen Rückzugs waren schrill kreischende Snodas zu vernehmen gewesen, die in einem der ungenutzten Gemächer des Königs auf eine Zusammenkunft von Eulen gestoßen waren, welche mit starrem Blick auf Tischen und Stühlen hockten und tote Mäuse verzehrten. Auch hier war von Aprikosen berichtet worden, einem angefaulten halben Dutzend, verstreut auf den kostbaren Teppichen. Als die aufgeregten Dienstboten mit Staubtüchern wedelten, zuckten die Vögel der Weisheit nicht einmal mit einem Flügel, und dieses absonderliche Benehmen ließ nur den Rückschluss zu, dass sie auf etwas warteten.
Worauf, wusste jedoch niemand.
Keines der Tiere zeigte sich angriffslustig, sie warteten allesamt geduldig und konnten nicht zum Verschwinden bewegt werden, so oft auch kunstvolle Ornamente aus Achtbeinern mit Besen von den Fenstern entfernt wurden.
Selbstverständlich hatte Alizeh darüber nachgesonnen, ob diese Kreaturen womöglich nach Cyrus suchten – denn dass sie sich gleich nach seinem Rückzug eingefunden hatten, schien mehr als deutlich auf einen Zusammenhang hinzuweisen. Außerdem erinnerte sie sich daran, einmal eine angebissene Aprikose in seinem Privatgemach gesehen zu haben.
Laut ausgesprochen, büßte dieser Gedanke jedoch an Beweiskraft ein.
Viele Leute aßen Aprikosen, nicht wahr?
Für Alizeh galt das nicht, sie hatte noch nie eine solche Frucht gekostet. Das Bedenklichste an ihrer Vermutung war jedoch, dass sie überhaupt keinen Sinn ergab. Denn was sollte ein Schwarm Heuschrecken mit dem Verbleib eines Königs zu schaffen haben?
Die Frage allein hörte sich vollkommen abwegig an.
Sogar Sarra, die verstörte Königinmutter, konnte sich offenbar nicht entscheiden, ob sie beunruhigt war über diese eigenartige Klausur ihres Sohnes oder sie begrüßte. Was die Kreaturen anging, konnte man auch keine Experten zurate ziehen, und niemandem wollte eine Erklärung einfallen. Wahrsager und Wahrsagerinnen waren einbestellt worden, die sich aber rundweg weigerten, sich zu der Menagerie zu äußern oder sie zu vertreiben. Das Erscheinen des Schneeleoparden an diesem Morgen gab zwar reichlich Anlass zur Besorgnis, war jedoch noch harmlos im Vergleich zu der Truppe riesiger Drachen, die das Königshaus in Angst und Schrecken versetzten. Tagtäglich stapften sie um den Palast herum und ließen die Mauern erbeben. Die Bestien schürften wutentbrannt mit ihren mächtigen Krallen die Erde auf und versengten die Turmspitzen mit ihrem brüllenden Feueratem.
»Glaubst du, sie wollen ihn auffressen?«, hatte Huda gestern ihrer Befürchtung Laut gegeben, während sie eine winzige Schlange von den Mauersteinen pflückte. Das Reptil starrte Huda an, als seine Zunge zuckend aus dem Maul hervorschoss, und Huda starrte fasziniert zurück. »Mir ist nicht klar, ob all diese Wesen froh sind, weil sie Cyrus für tot halten, oder wütend, weil sie ihn nicht selbst töten konnten.«
Wie zur Antwort stieß einer der Drachen ein markerschütterndes Gebrüll aus, wobei er beinahe den Palast in Brand steckte.
Huda zuckte zusammen, als ihr das Haar aus dem Gesicht gepustet wurde.
Vor Schreck ließ sie die kleine Schlange fallen und sah Alizeh mit großen Augen an. »Das war doch bestimmt Zufall, oder nicht?«
Doch es schien sich vielmehr um ein Zeichen zu handeln.
»SEIDIHRDENNBEREIT? FÜRMORGEN?«
Alizeh wurde in die Gegenwart zurückbefördert durch die etwas gepresste Stimme von Deen, der sich hörbar bemühte, ausdruckslos zu klingen.
Sie beäugte ihren Freund bedächtig und blinzelte, als sie die Sorge in seinem Blick erkannte. Als ihr ferner auffiel, wie angespannt er die Hände auf dem Schoß verschränkt hielt und wie ernst seine Miene war, dämmerte ihr, dass er sich nur aus einem einzigen Grund hierher begeben hatte, und zwar um ihr Trost zu spenden. Diese Geste war klein und zugleich so groß, dass ein sorgsam errichtetes Bollwerk in Alizeh in Stücke brach und ihr Herz von Furcht und Angst überschwemmt wurde.
Der Tratsch am Königshof kreiste dieser Tage hauptsächlich um die Frage, was Alizeh angestellt haben mochte, um den König zu diesem hartnäckigen Rückzug zu veranlassen. In den Zeitungen erging man sich ausführlich in Mutmaßungen und behauptete unverfroren, er leide an verheerender Reue. Denn schließlich hatte die Ankunft der Dschinnkönigin in Tulan für enormen Aufruhr gesorgt, nicht nur im Lande, sondern weltweit. Weil die Vermählung mehrmals verschoben worden war, gab es nun reichlich Wetten, dass der König der Braut am Altar den Laufpass geben würde – und viele Leute würden ihm das nicht einmal verdenken.
Die Ansichten dieser Zweifler hatten auf Alizeh abgefärbt.
»Nein«, flüsterte sie, wobei ihr das Wort kaum über die Lippen kam. Und kaum hörbar fügte sie hinzu: »Ich habe Angst, dass Cyrus gar nicht erscheinen wird.«
Der Apotheker seufzte, als habe er nichts anderes erwartet, und die Furchen in seiner Stirn vertieften sich. »Ihr habt ihn immer noch nicht zu Gesicht bekommen?«
Alizeh schaute nach links und nach rechts und schüttelte dann den Kopf. »Er lässt mich nicht in seine Nähe.«
Trotz der unverbrüchlichen Verbindung durch den Blutschwur keimte zusehends der Verdacht in ihr, dass es sich Cyrus womöglich anders überlegt hatte. Logisch betrachtet ergab das natürlich keinerlei Sinn, denn Cyrus war durch den Schwur körperlich außerstande, von seinem Wort zurückzutreten. Aber sie konnte sich seine Abwesenheit und die zahlreichen Verschiebungen nun einmal nicht erklären, und Hazan hatte sich dazu ausgeschwiegen. Er hatte lediglich versichert, Cyrus würde morgen zugegen sein.
Das hatte der König angeblich geschworen.
Doch das hatte er an den vergangenen Tagen ebenfalls getan.
Alizeh hatte grübelnd noch einmal alle jüngsten Ereignisse an ihrem geistigen Auge vorüberziehen lassen, um die Ursache zu ergründen. In der ersten Nacht nach dem Blutschwur hatte sie sich geweigert, von Cyrus’ Seite zu weichen, und in einem Sessel in dem Gästezimmer geschlafen, um die Pein des Königs nach ihrer frischen Verbindung jederzeit lindern zu können. Im Morgengrauen war sie hochgefahren, weil er schrie, und hatte sich sofort um ihn gekümmert. Es kam zu einem, wie sie fand, Moment großer Zärtlichkeit, bevor er erneut in Schlaf sank. Weshalb es sie vollkommen überraschend traf, als er sie dann im hellen Tageslicht entsetzt anstarrte und völlig den Kopf verlor.
In einem heftigen Gefühlsausbruch wich er so angstvoll vor ihr zurück, als richte sie ein Schwert auf ihn, und schrie, sie solle verschwinden. Alizeh war wie vom Donner gerührt.
»Aber ich will dich nicht verlassen«, sagte sie. »Bitte lass mich bei dir bleiben …«
»Ich will nichts von dir«, schrie er. »Weg! Verschwinde!«
»Aber ich will dir doch nur helfen«, sagte sie, während sie sich besorgt näherte.
»Nein!« Seine Augen glänzten fiebrig. »Weg! Verschwinde! Lass mich in Ruhe …«
Alizeh schüttelte den Kopf, heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich lasse dich nicht allein. Besonders in diesem Zustand …«
»Ich will nichts von dir, nur das, was mir zusteht«, schrie er sie darauf an.
»Was geschieht mit dir?«, hatte sie gefragt, während das Herz ihr bis zum Hals schlug. Alles fühlte sich ganz verkehrt an. Alles war falsch. Und sie konnte nicht verstehen, was er mit was mir zusteht meinte.
Ihr Gelöbnis, ihn zu heiraten?
Oder ihr Versprechen, ihn zu töten?
Wie nur hatte sich in so kurzer Zeit so viel verändern können? Es war unübersehbar, dass Cyrus schon ihren bloßen Anblick verabscheut hatte, und sie konnte nur mutmaßen, dass er wütend auf sie war, weil sie ihm das angetan hatte …, weil er wegen ihr in diesem Zustand war …
Dennoch schrien ihre Instinkte förmlich, dass noch etwas anderes im Argen war.
»Bitte sag mir, was dir fehlt«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Er rückte hastig von ihr ab, verhedderte sich im Bettzeug, fiel vom Bett und schrie zornig: »Weg! Weg mit dir!«
»Cyrus …«
»Du schenkst mir gar nichts«, erwiderte er rasend vor Wut. »Ich will nur von dir, was mir zusteht …«
Verzweiflung packte sie. »Bitte …«
»RAUS!«, schrie er.
Ein Schluchzen war in ihr aufgestiegen, und sie war aus dem Zimmer gestürzt.
Es war nun nicht so, als ob Alizeh danach nichts zu tun gehabt hätte, um sich die Zeit zu vertreiben.
Da war zum Beispiel die Kleinigkeit einer Hochzeit, die organisiert, und einer Reise, die sorgfältig durchdacht werden musste. Alizeh hatte sich in Cyrus’ Gemächer begeben, und es war ihr ein Leichtes gewesen, ihr Buch von Arya aus seinen verschlossenen Schränken zu entwenden. Darüber brütete sie dann, während sie sich vorstellte, wie man sich nach der Hochzeit zu den legendären Bergen begeben würde. Die Vorstellung, die Reise noch länger aufzuschieben, wurde zusehends unerträglich. Alizeh hatte Hazan mitgeteilt, dass sie gleich am Morgen nach der Trauung nach Ardunia aufbrechen wolle, und hoffte nun inständig, dass nichts mehr dazwischenkommen würde. Sie sehnte sich danach, ihre Magie zu erhalten. Nützlich zu sein. Mehr tun zu können als in diesem Elend auszuharren.
Kurz gesagt: Sie war vollkommen verzweifelt.
Tag für Tag hatte sie versucht, zu Cyrus vorzudringen, hatte ihren Stolz mit Füßen getreten, um wie eine Bittstellerin vor seiner Zimmertür zu stehen und Hazan anzuflehen, ihr Zugang zu gewähren, damit sie dem König helfen könne …
Doch vergebens.
Unterdessen war sie beschäftigt worden und hatte sich selbst beschäftigt, hatte dabei jedoch nie ihre Befürchtungen zum Verstummen gebracht. Cyrus litt in ihrer Abwesenheit schrecklich, das wusste sie. Dass er grauenvolle Qualen ihrer Anwesenheit vorzog, war wohl die schlimmste Kränkung, die Alizeh jemals hatte erdulden müssen, und zuletzt hatte sie dann aufgegeben.
Nicht einmal ihre Freunde hatte sie noch sehen wollen.
Auf Hazan war sie wütend. Kamrans spöttische Bemerkungen wollte sie sich nicht mehr anhören, und sogar Huda, die stets mit Kamran stritt, ihm aber ausgerechnet in seiner Haltung Cyrus gegenüber beipflichtete, ging ihr auf die Nerven. Omid, dessen Anwesenheit sie begrüßt hätte, schlief. Und Deen …
Alizeh erstarrte urplötzlich, als sie das Rascheln von Papier vernahm, und tauchte aus ihrem Tagtraum auf.
Deen hatte das zusammengefaltete Pergament von seinem Kragen abgenommen und es entfaltet. Jetzt setzte er seine Brille auf. »Ich meine, ein Rezept gegen Eure Misere anbieten zu können«, bemerkte er vage. »Wenn ich so unverfroren sein dürfte, es Euch vorzutragen.«
Alizeh setzte sich ruckartig auf. »Ein Rezept?«
»Ja.«
»Ihr meint so etwas wie ein Gift?«
»Was? Nein …«
»Einen Trank also?« Sie runzelte die Stirn und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Aber, Deen, Ihr solltet doch selbst am besten wissen, dass die Schmerzen nach einem Blutschwur nicht durch Arznei gelindert …«
»Was?«, sagte der Apotheker erneut. »Gewiss weiß ich das …«
Alizeh reckte den Hals, um auf das Pergament zu spähen. »Was ist das dann?«
»Das hier?« Er lehnte sich zurück und blickte auf das Papier in seiner Hand. »Das ist eine Bestellung für Bechergläser, die ich heute Morgen einzureichen vergaß.« Er schüttelte den Kopf und faltete das Pergament wieder zusammen. »Obwohl ich sie eigens an meinem Kragen befestigt hatte, habe ich doch wahrhaftig vergessen, sie loszuschicken.«
Alizeh sank in ihren Sessel zurück. »Oh.«
»Nein«, sagte Deen munter. »Die Lösung für Eure Misere ist in meinem Kopf verstaut. Es besteht keine Notwendigkeit, sie schriftlich festzuhalten.«
»Ah?«
Während er das Pergament wieder sorgsam mit der Büroklammer am Kragen befestigte, verkündete der Apotheker: »Ihr müsst zu ihm gehen.«
Alizeh, die ihn voll gespannter Erwartung angestarrt hatte, sank in sich zusammen vor Enttäuschung und warf ihrem Freund einen ermatteten Blick zu.
»Das habe ich doch schon längst versucht«, murmelte sie und blickte auf ihre Hände, in die fortwährend weitere Blütenblätter hineinschwebten. Dann fügte sie leise hinzu: »Wieder und wieder habe ich mich darum bemüht, was nicht das Geringste geändert hat. Zu meiner Bestürzung lässt er keinen Zweifel daran, dass er mich nicht sehen will.«
»Werteste«, sagte Deen und schob seine Brille auf die Nasenspitze, um Alizeh zu beäugen. »Wenn ein Mann in Flammen steht, bittet man nicht um Erlaubnis, sie löschen zu dürfen. Ich nehme stark an, dass Ihr nur Frieden finden werdet, wenn Ihr Euch mit Gewalt Zugang zu seinem Zimmer verschafft.«
CYRUSWARGANZUNDGARNICHT in Stimmung für Dramen jedweder Art. Mit nacktem Oberkörper tigerte er ruhelos im Zimmer hin und her, schweißüberströmt und um Atem ringend. Seine Augen glänzten fiebrig, seine Haut war aschfahl, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Die Hose rutschte ihm beinahe von den Hüften, denn er hatte seit Tagen kein Essen mehr bei sich behalten. Wie ein Tier im Käfig lief er mit verbissener Miene auf und ab, ballte die Fäuste und löste sie, ballte sie aufs Neue, während ein mörderischer Schmerz seinen Körper durchzuckte, seine Knochen erschütterte und im Verlauf der Stunden nur unerheblich nachließ.
Der König konnte weder schlafen noch stillstehen. Die Magie konnte nichts für ihn tun, außer ihn wachzuhalten und den dräuenden Wahnsinn wegen fortwährendem Schlafentzug einzudämmen. Nur seine jahrelange Ausbildung bei den Wahrsagern befähigte ihn dazu, sich so weit zu beherrschen, dass er Hazan nicht mit eigenen Händen in Stücke riss.
»Es ist der Abend vor Eurer Hochzeit«, sagte der Dschinn. »Möchtet Ihr nicht vielleicht die Gefühle der Braut …«
»Ich warne Euch, Hazan. Wenn Ihr nicht mit diesem Moralgefasel aufhört, übernehme ich keine Verantwortung mehr dafür, was mit Eurem Kopf geschieht.«
»Meinem Kopf?«
»Ich werde ihn von Eurem Körper trennen«, bellte Cyrus, obwohl er sich zugleich einer neuen Schmerzattacke erwehren musste.
Hazan funkelte ihn aufgebracht an. »Ein besinnungsloser Narr seid Ihr. Ihr habt weder geschlafen noch gegessen. Sie möchte doch nichts, außer Euch ein wenig Linderung …«
Cyrus biss die Zähne zusammen, während er von den brutalen Wellen geschüttelt wurde. Er machte größere Schritte und rang um Atem, während Schweißrinnsale über seine Schlüsselbeinknochen rannen und sich über seinen breiten Brustkorb schlängelten. Nur aufgrund seines gepeinigten Zustands offenbarte er einen Bruchteil der Wahrheit, als er schließlich antwortete. »Ihr habt nicht die leiseste Ahnung, was mir Linderung verschaffen könnte«, brachte er mühsam hervor. »Ihr würdet auch nie begreifen, warum ich diese Tortur«, er knirschte mit den Zähnen, während der Schmerz sich ins Unerträgliche steigerte, »den Qualen ihrer Nähe vorziehe.«
Hazan trat vor, flammenden Zorn in den Augen. »Und Ihr habt ebenso wenig Ahnung, was ich begreife oder durch welche Höllen ich bereits gegangen bin«, konterte er mit bedrohlich erhobener Stimme. »Ihr seid ein törichter Kretin, wenn Ihr glaubt, ich könnte kein Mitgefühl empfinden. Ich weiß, dass Ihr sie liebt. Ich habe schließlich Augen im Kopf und sehe, wie Ihr sie anschaut. Ferner verfüge ich über ein funktionstüchtiges Gehirn …«
»Weshalb Ihr Euch dennoch nicht …«
»Ich kann es mir sehr wohl vorstellen«, schrie Hazan erbost. »Haltet Ihr mich für einen Einfaltspinsel oder einen Schuft? Was glaubt Ihr wohl, warum ich sie von Euch fernhalte? Warum sonst sollte ich so töricht sein – und so treulos –, Euch Euren Kummer zu gestatten? Aus ebendiesem Grund, weil ich mir vorstellen kann, wie verheerend es für Euch sein muss, wenn Eure fiebrige Stirn von derselben Hand gekühlt wird, die Euch bald töten wird!«
Erst in diesem Augenblick blieb Cyrus schlagartig stehen.
Er stürzte beinahe, als er aus dem Gleichgewicht geriet, und schluckte schwer, während er langsam den Kopf hob und den Blick auf den Dschinn richtete, als sähe er ihn zum ersten Mal. Das kalte Feuer in Hazans Augen gewann unversehens eine vollkommen neue Bedeutung.
Der Mann hütete Geheimnisse.
Cyrus wollte erneut Widerwort geben, zitterte aber so unkontrolliert, dass er bezweifelte, sich noch länger auf den Beinen halten zu können. Er keuchte hilflos, während monströse Krämpfe seine Brust zu zerquetschen drohten. Jetzt fürchtete er endgültig, dieser tagelangen Folter nicht mehr standzuhalten und zugrunde zu gehen. Sein Geist schien durchlöchert, seine Zähne taten furchtbar weh, und er fühlte sich so benebelt, als wäre er berauscht von Tränken jedweder Art. Als er den Kopf schüttelte, bereute er es sofort bitterlich.
»Ich kann es einfach nicht ertragen, sie anzusehen«, ächzte er.
Hazan starrte ihn ausdrucklos an. »Das weiß ich.«
»Ich bin nicht stark genug, ich kann sie nicht überleben … sie versteht nicht, dass ich nur aus Fleisch und Blut bestehe …«
»Cyrus?«
Der Klang ihrer Stimme war wie ein Schlag in die Magengrube. Cyrus krümmte sich würgend und erreichte gerade noch eine Wand, um sich abzustützen. »Nein …«
»Cyrus!« Ungeduldiges Hämmern war zu vernehmen. »Lass mich augenblicklich ein, oder ich breche die Tür auf!«
»Sie soll weggehen«, stotterte Cyrus in heller Panik und hielt nach einem Versteck Ausschau. »Sie soll nicht in meine Nähe kommen …«
»Es reicht jetzt«, versetzte Hazan zornig. »Es ist gewissenlos, wie Ihr Euch selbst Schaden zufügt. Außerdem gefährdet Ihr damit die Versprechen, die Ihr Alizeh gegeben habt …«
»Cyrus!«, schrie sie zum dritten Mal. Das Hämmern wurde lauter. »Du benimmst dich lächerlich. Ich gebe dir jetzt noch eine letzte Chance, diese Tür zu öffnen.«
»Nein«, stöhnte er, während grelle Blitze vor seinen Augen zuckten. »Bitte schick sie weg. Ich will nicht, dass sie mich sieht … nicht in diesem Zustand …«
Er hätte lieber nicht stehen bleiben sollen.
Der Boden schwankte unter seinen Füßen, die tagelangen Strapazen schienen ihm jetzt endgültig den Garaus zu machen. Er hörte das Rütteln der Klinke, sah das Gewitter, das sich in Hazans Augen zusammenbraute. Plötzlich wurde alles zugleich schneller und langsamer, das Hämmern in Cyrus’ Kopf war so ohrenbetäubend, als käme es von außerhalb, als erbebten die Wände …
Mit lautem Krachen brach die Tür aus den Angeln.
»Tut mir leid«, sagte Alizeh kleinlaut. »Ich hatte dich gewarnt. Ich hoffe, jemand kann den Schaden reparieren. Wenn nicht, dann …«
Sie keuchte entsetzt.
Cyrus hörte ihr Erschrecken, bevor er ihr Gesicht sah, und dieser Anblick gab ihm den Rest. Er konnte es nicht ertragen, sie anzuschauen, aber seinen Blick von ihr abwenden, konnte er genauso wenig. Ihre Schönheit war eine andere Form von Gewalt, die seine geschwächte Abwehr angriff, obwohl die Wucht der Schmerzen nachließ, während sich Alizeh näherte. Sie war wie ein Wundermittel gegen alles, was ihn peinigte, ein schillerndes Band, gewoben aus Licht und Zorn, die Ursache und die Heilung. Der wüste Ansturm von Qualen ließ nach und verwandelte sich in ein dumpfes Brummen. In seiner immensen Erleichterung wäre Cyrus beinahe in die Knie gegangen, hätte Hazan ihn nicht unter den Armen gepackt. Der Dschinn schleifte den wankenden König zum Bett, wo er mit einem würdelosen Grunzen in die Kissen sank, dankbar, dass Stolz ihm in diesem Zustand ohnehin gleichgültig geworden war. Ein leichtes Zittern verweilte hartnäckig in seinen Gliedern, und das Fieber erhitzte sein Blut. Doch dann konnte er nach vier Tagen endlich die Augen schließen.
Seine Welt geriet aus den Fugen, als er spürte, wie Alizeh sich zu ihm setzte und ihre zarte, kühle Hand auf seine Stirn legte. Er wusste nicht, ob er vor Genuss oder Schmerz sterben wollte, doch das spielte keine Rolle mehr.
»Vergebt mir, Eure Majestät«, sagte Hazan leise. »Ich hätte Euch nicht anweisen sollen, ihm fernzubleiben.«
»Hazan«, flüsterte sie, und in ihrer Stimme hörte Cyrus eine ohnmächtige Wut, die er nicht an ihr gekannt hatte. »Raus.«
AMMORGENIHRESHOCHZEITSTAGS saß Alizeh, einer rankenden Blume gleich, im Fenster, ließ die Beine baumeln und hielt das Gesicht in die leichte Brise, während die Sonne am Himmel emporstieg. Am Vorabend hatte Alizeh endlich wieder in ihre eigenen Gemächer zurückkehren können und genoss nun die wunderschöne Aussicht auf die üppigen Gärten, die ihr gefehlt hatte. Zum ersten Mal seit Tagen konnte sie die friedliche Szenerie ohne die Befürchtung, in fremde Augenpaare blicken zu müssen, beschaulich betrachten.
Zu diesen Fenstern konnte niemand hinaufkraxeln.
Hier gab es keine an die Scheibe klopfenden Knöchel.
Stattdessen seilte sich eine handtellergroße Spinne an einem seidenen Faden ab, trieb einen Moment im Wind, bevor sie sich drehte und Alizeh anstarrte. Vorsichtig berührte sie eines der haarigen Beine, woraufhin sich das achtbeinige Wesen eilends in den Fensterrahmen verkroch. Als Alizeh nun wieder ungehindert sehen konnte, entdeckte sie den Heuschreckenschwarm in der Ferne. Er hatte sich heute einen anderen Platz gesucht und wallte auf Höhe ihres Fensters in der Luft auf und ab wie ein atmender Leib.
Alizeh fürchtete, dies könnte ein schlechtes Omen sein.
Dass die Insekten sie ausgerechnet am Morgen ihrer Hochzeit heimsuchten, erschien ihr wie ein Vorbote nahender Ereignisse; anders konnte sie deren Erscheinen nicht deuten. Der Schwarm erzeugte ein unablässiges Summen, das vom donnernden Rauschen der nahe gelegenen Wasserfälle beinahe übertönt wurde, an das sich Alizeh bereits so gewöhnt hatte, dass sie es kaum noch wahrnahm. Insgesamt hatte die Geräuschkulisse eine beruhigende Wirkung auf sie.
Diese Stimmung hatte Alizeh ersehnt, sie wollte sich in Ruhe gegen die Absurditäten ihres Lebens wappnen und gegen alles, was da noch kommen mochte.
Ein paar Augenblicke für sich ganz allein.
Sie atmete den vertrauten Duft der Zauberrosen ein, blickte zu den Ranken auf, die sich beharrlich weiter an der Decke ihres Gemachs ausbreiteten. Auch hier war alles mit Rosenblättern bestreut, die über Teppiche und Tische wehten und ab und an in ihren Tee fielen. Welke, herabgefallene Blüten wirbelten bei jedem Windstoß umher, ein Bild von solcher Zartheit, dass Alizeh fast die Tränen kamen.
Solange sie sich jedes andere Gefühl und jeden Gedanken untersagte und sich nur auf den Augenblick konzentrierte, empfand sie beinahe so etwas wie Zufriedenheit.
Alizeh beschloss, das als Erfolg zu betrachten.
Von ihrer Position im Fenster aus konnte sie die bunten Leiber der mächtigen Drachen sehen, die im Schlosspark umherstreiften, und beobachtete fasziniert, wie ein glänzendes grünes Wesen in der Ferne aus dem Wasser brach und mit einem wütenden Brüllen gen Himmel flog, schillernd in den ersten Strahlen der Morgensonne. Unwillkürlich fragte sich Alizeh, wie es sich wohl anfühlen mochte, so hemmungslos erzürnt zu sein, so ungeniert in den Himmel zu brüllen und einfach davonzufliegen.
Ihr fiel auf, dass das wohl ein larmoyanter Gedanke war.
Die ganze Nacht hatte sie mit einem Strudel von Gefühlen gerungen, wobei Zorn zweifellos die Oberhand hatte. Das war eine verstörende Erfahrung für Alizeh, die mit Leid nur allzu vertraut war und nicht selten Trauer und Kummer als Gefährten gehabt hatte. Zorn jedoch hatte sich ihr nur äußerst selten zugesellt. Von Kindesbeinen an war ihr beigebracht worden, das Mitgefühl zu wählen, wenn die Wut lockte, denn diese galt als schlechter, wenig hilfreicher Begleiter. Deshalb hatte sie sich sogar für unfähig gehalten, die Emotion überhaupt zu empfinden. Doch nun wagte sie sich von Tag zu Tag weiter auf dieses unbekannte Terrain vor und erkannte sich darob selbst kaum wieder.
Alizeh wandte sich von der Sonne ab und schaute mit leerem Blick über die Gärten. Ein solches Durcheinander herrschte in ihrem Kopf, dass sie sich manchmal vorstellte, wie sie hineingriff und ihr Gehirn entnahm, um dem strapazierten Organ ein Bad in lauem Seifenwasser zu gönnen und es hernach in der wärmenden Sonne trocknen zu lassen.
War jemals jemand behutsam mit ihrem Geist umgegangen?, fragte sie sich. Das arme Ding wurde doch ständig misshandelt.
In diesem Augenblick entfernte sich eine einzelne Heuschrecke von dem Schwarm und landete kurz darauf neben ihr auf dem Fenstersims. Alizeh zuckte zusammen. Das große Insekt starrte sie einen Moment an, die Flügel zuckten, während es den kleinen Kopf bewegte, dann sprang es unvermittelt auf ihren Schoß.
Alizeh war so überrascht, dass sie beinahe auflachte.
Da das Tier offenbar nicht davonfliegen wollte, bewegte Alizeh ihre Finger vorsichtig darauf zu, falls es auf ihre Hand krabbeln wollte.
Es schien zu überlegen und machte gerade einen winzigen Schritt auf die Hand zu, als die Tür aufgerissen wurde und Huda hereingestürmt kam.
»Wo hast du gesteckt?«, schrie sie.
Alizeh stürzte vor Schreck fast in die Tiefe, und die Heuschrecke rettete ihr Leben, indem sie jäh das Weite suchte.
»Ich war hier«, sagte Alizeh und kletterte rasch vom Fenstersims, »in meinem Zimmer. Was ist geschehen?«
»Cyrus ist ausgerissen! Er hat dich sitzen lassen! Er hat seinen Eid gebrochen!«
Alizeh stieß einen erleichterten Seufzer aus, und ihr Herzschlag beruhigte sich, während sie ihren Morgenmantel zuband. »Wie kommst du auf die Idee, dass Cyrus mich hat sitzen lassen?«
»Er ist nicht in seinem Gemach! Nirgendwo auffindbar – und das am Morgen seiner Hochzeit!«
»Komm, setz dich«, sagte Alizeh sanft und geleitete Huda zu einem kleinen Tisch. Vor Kurzem hatte man Tee gebracht, die Kanne war noch warm. »Cyrus hat mich nicht verlassen. Er ist«, sie wies mit dem Kopf auf eine Wand, »nebenan.«
Huda kam der Aufforderung, sich zu setzen, nicht nach, sondern starrte Alizeh fassungslos an. »Er ist – Verzeihung, aber hast du gerade gesagt: Er ist nebenan?«
»Ja.«
Jetzt blieb Huda der Mund offen stehen. »Und was macht er dort?«
»Er nimmt ein Bad.«
»Er nimmt ein Bad?«
Alizeh verkniff sich ein Grinsen. Hudas Entrüstung war eine willkommene Abwechslung von den Wirren ihres eigenen Geistes. »Bitte setz dich«, wiederholte sie.
Noch immer blieb Huda stocksteif stehen. Jetzt flüsterte sie verschwörerisch: »Willst du mir damit etwa sagen, dass der König unbekleidet ist? Also nackt in deinen Gemächern in einer Badewanne herumplanscht?«
Nun ließ Alizeh sich selbst nieder und stellte Teetassen zurecht. Sie wollte sich nicht einmal selbst eingestehen, was das Wort nackt im Zusammenhang mit Cyrus in ihr anrichtete. Heute früh hatte sie einen Tumult in sich vorgefunden: atemlose, zornige, verzweifelte Gefühle. »Von Plantschen ist mir nichts bekannt«, sagte sie tonlos.
»Und möchtest du mir nicht vielleicht mitteilen, weshalb du etwas derart Skandalöses zulässt, wie den nackten König in deinen Gemächern baden zu lassen – bevor ihr euch das Jawort gegeben habt?«
Alizeh gestattete sich jetzt ein Lächeln, das sich allerdings gezwungen anfühlte. »Hazan und ich haben Cyrus gestern Abend hierhergebracht. Das Gästezimmer, in dem er sich zuletzt aufhielt, war zum Krankenlager geworden, und ich fand, er bräuchte eine andere Umgebung, um zu genesen. Ein stilles Gemach mit frischer Luft, in dem ich mich um ihn kümmern kann.« Unwillkürlich ließ sie den Blick über die üppig blühenden Rosen schweifen. Der Anblick dieser wunderschönen Blüten – ihr zu Ehren gezaubert von ebenjenem Mann, der sich verbissen weigerte, sie auch nur anzusehen – schürte die Glut in ihrer Brust und versetzte sie in fieberhafte Unruhe.
Als Alizeh sich wieder ihrer Freundin zuwandte, bemerkte sie deren bohrenden Blick.
»ISTSOWEITALLESINORDNUNG, LIEBES?«, fragte Huda, die immer noch nicht Platz genommen hatte. »Du fürchtest dich doch nicht etwa vor deinem vorgetäuschten Ehegelübde?«
»Danke, es geht mir gut.« Alizeh zwang sich erneut zu einem Lächeln. »Aber Cyrus war schrecklich krank. Der Blutschwur, wie du dir gewiss denken kannst, hat ihn sehr geschwächt, und das Fieber ist erst heute früh zurückgegangen. Auf mein Drängen hin nimmt er nun ein Heilbad, das ihm bestimmt guttun wird.« Sie deutete ausdrücklich auf den leeren Stuhl ihr gegenüber.
»Aha.« Huda blickte ziellos um sich, bevor sie endlich den angewiesenen Sitzplatz einnahm, und seufzte tief. Sie schien zu bedauern, dass kein größerer Skandal zu erwarten war. »Dann wird er also hinter dieser Wand verbleiben? Nackt?«
»Musst du dauernd dieses Wort aussprechen?«, sagte Alizeh, der die Röte ins Gesicht stieg. »Erwartest du, dass er bekleidet badet?«
»Ja.«
»Huda!«
»Was denn?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Mörder sind notorische Schwerenöter! Das eine bringt das andere hervor!«
»Dann wäre also im Umkehrschluss auch jeder Schwerenöter ein Mörder«, versetzte Alizeh.
»Richtig, denn jeder Schwerenöter tötet die Seele einer Frau!«
Alizeh hielt inne, und ein echtes Lächeln trat auf ihre Lippen, während sie den Einwand überdachte und nickte. »In diesem Punkt gebe ich dir recht.«
»Danke.«
»Du kannst jedoch ganz unbesorgt sein«, fuhr Alizeh fort, während sie Huda Tee eingoss. »Der Blutschwur hält ihn davon ab, mich ohne meine Erlaubnis zu berühren.«
Huda blickte auf und nahm die Tasse in Empfang. »Nun, aber das weiß schließlich niemand. Haben die Bediensteten ihn heute Morgen hier gesehen? Schon allein der Tratsch …«
