Ewalds Flugsehnsucht - Jörg Becker - E-Book

Ewalds Flugsehnsucht E-Book

Jörg Becker

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Beschreibung

Fliegen als Metapher, die Sehnsucht nach dem Himmel, Freiheit und Horizonten ist ein Sinnbild für Träume, Aufbruch und Reflexion. Ein Leben, das mehr als eine Reise durch Raum und Zeit war. Eine Bewegung durch Denkweisen, Sehnsüchte und Zeiten des Umbruchs. Eine Geschichte in Wellen, nicht in Linien. Das Lebensporträt eines Pioniers, geboren in Pommern, Flieger im Krieg, Gefangener, Vertreter, Industriemanager und schließlich Maler mit eigenem Stil und Denken. Seine Biografie spiegelt das 20. Jahrhundert im Kleinen und Großen wider. Flugsehnsucht trifft Farbgewitter. Vergangenheit trifft Gegenwart. Eine Mischung aus Zeitgeschichte, gesellschaftlichen Umbrüchen und aktuellem Geschehen.

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Seitenzahl: 606

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alle Figuren und Begebenheiten in diesem Roman sind Erfindungen des Autors. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Organisationen sind zufällig und nicht beabsichtigt

Lebensreise – Fliegen, Malen, Wandeln

Seine Flügel waren aus Ideen gemacht. Ein Leben, das mehr als eine Reise durch Raum und Zeit war. Es war eine Bewegung durch Denkweisen, Sehnsüchte und Zeiten des Umbruchs. Aus dem Flieger wird ein Maler. Aus dem Techniker ein Poet des Lebens. Und aus einem einfachen Menschen ein Chronist ganzer Generationen.

Eine Geschichte in Wellen, nicht in Linien. Erleben Sie das außergewöhnliche Lebensporträt eines Pioniers, geboren in Pommern, Flieger im Krieg, Gefangener, Vertreter, Industriemanager – und schließlich Maler mit eigenem Stil. Seine Biografie spiegelt das 20. Jahrhundert im Kleinen und Großen wider. Tauchen Sie ein in Ewalds Welt: Flugsehnsucht trifft Farbgewitter. Vergangenheit trifft Gegenwart.

Seine Werke, seine Notizen, seine Stimme leben weiter – als Einladung, die eigenen Zwischenräume zu entdecken, lassen Sie sich tragen vom Wechsel der Gezeiten. Das Meer wurde sein Spiegel, das Licht seine Sprache. Das Buch „Ewalds Flugsehnsucht“ bietet eine eindrucksvolle Mischung aus Zeitgeschichte, persönlicher Reflexion und künstlerischer Entwicklung.

Emotionale Resonanz

Ein Jahrhundertleben: Die Lebensgeschichte Ewalds umfasst 100 Jahre voller Umbrüche – vom Kaiserreich über den Zweiten Weltkrieg bis ins digitale Zeitalter. Sie gibt persönliche Einblicke in historische Ereignisse.

Fliegen als Metapher: Die Sehnsucht nach dem Himmel, Freiheit und Horizonten verleiht dem Buch eine poetische Dimension – ein Sinnbild für Träume, Aufbruch und Verluste.

Nicht-linear erzählt: Wie Meereswellen – wild, ruhig, mäandernd – spiegelt die Struktur des Buches das echte Leben wider, nicht schematisch, sondern sinnlich und organisch.

Ein Malerleben im Wandel: Leser begleiten Ewald von seinen ersten Skizzen in der Gefangenschaft bis zur letzten Bilderserie im hohen Alter – ein faszinierender Einblick in die Entwicklung eines Künstlers.

Kunst als Lebensbewältigung: Das Buch zeigt, wie Malerei Trost spenden, Identität stiften und Lebensphasen reflektieren kann.

Zeitdokument und Inspiration

Krieg und Frieden: Ohne Pathos, aber mit Tiefe erzählt „Flugsehnsucht“ vom inneren Wandel eines Fliegers, der zum Friedensmenschen wird. Eine stille, eindringliche Antikriegsgeschichte.

Verlust der Heimat: Die Flucht, die Entwurzelung und das langsame Neufinden von Identität machen Ewalds Geschichte zu einem bewegenden Zeugnis der Nachkriegszeit.

Generationen-Brücke: Junge Menschen finden in Ewald einen Gesprächspartner. Das Buch wird so zur Brücke zwischen Zeiten, Fragen und Weltbildern.

Leben in Wellen: Die zentrale Metapher – Leben als Wellenbewegung – macht das Buch auch für Leser*innen attraktiv, die auf der Suche nach Sinn, Rhythmus und innerer Balance sind.

Ein Buch wie ein Gemälde: Sprachlich bildhaft, ruhig und reflektierend – ein Lesegenuss mit Tiefe. Ewalds Leben liest sich wie ein ruhiges, dennoch spannungsreiches Buch, das Seite für Seite Tiefe entfaltet. Kein reißerischer Bestseller, sondern eher ein literarischer Entwicklungsroman – ein „Bildungsbuch“ im besten Sinne.

Ewalds Leben – ein Buch, das man nicht schnell liest, aber nie vergisst. Warum wir aus Geschichten wie der von Ewald lernen können:

Erinnerung gegen das Vergessen: Geschichten bewahren Erfahrungen, die sonst verloren gingen. Sie machen vergangene Ereignisse emotional greifbar – auch für jene, die sie nicht selbst erlebt haben.

Verstehbarkeit der Gegenwart: Wenn wir heutige Konflikte in Resonanz mit vergangenen erleben, erkennen wir Muster menschlichen Handelns, von Eskalation, Schuld, Angst, Mut oder Versöhnung.

Stärkung von Empathie: Erzählungen ermöglichen Identifikation. Sie machen das Fremde menschlich. Ein Kind im Luftschutzbunker 1944 ist nicht so verschieden von einem Kind in einem Keller in Charkiw oder Rafah heute.

Erzählen als Widerstand: In autoritären oder kriegsversehrten Zeiten wird das Erzählen selbst zum Akt der Selbstbehauptung. Es widersetzt sich dem Schweigen und der Manipulation.

Anstoß zur Reflexion: Geschichten wie die von Ewald fordern keine Position – sie fordern Nachdenken.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Epilog

Prolog

Ewalds Abenteuer war nie nur eine Reise durch den Raum, sondern durch Denkweisen. Er war nicht auf der Suche nach Reichtum, sondern nach Sinn. Nicht nach Sicherheit, sondern nach Möglichkeiten. Seine Flügel waren aus Ideen gemacht.

Das Leben von Ewald lässt sich als eine stille, aber wirkmächtige Erzählung über Transformation, Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Wirkungskraft schildern. Aus dem ehemaligen Flieger wird kein klassischer Künstler, sondern ein Pionier der Zwischenräume – jemand, der sich jenseits von etablierten Pfaden in kreative Territorien vorwagt. Seine Geschichte ist eng verknüpft mit Orten im Umbruch, mit Zwischenzeiten nach dem Krieg, in denen vieles im Fluss ist und Gewissheiten neu ausgehandelt werden müssen.

Der Spannungsbogen der Flugsehnsucht reicht vom Pommern damals über Weltkrieg und Gefangenschaft bis zum heutigen Hier und Jetzt. Bis zu einem Krieg wieder in Europa, von dem Ewald Zeit seines Lebens glaubte, dass dies niemals noch einmal stattfinden würde.

Ewalds Lebensweg – von der pommerschen Heimat über die Gefangenschaft bis in die Weite des Himmels über Hanau – ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich das Leben in den Spannungsfeldern von Zufall, Wahrscheinlichkeit und menschlichem Streben entfalten kann. Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als ob eine unsichtbare Hand, eine Maschine des Zufalls, ihn lenkte – fern jeder Planung, jenseits der Kontrolle. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass gerade in diesem Wechselspiel zwischen dem Unplanbaren und dem Erfahrbaren ein tiefer Sinn liegen kann.

Flugsehnsucht im Wechsel der Gezeiten

Ein alter Mann sitzt am Fenster eines Ateliers in der Nähe der Ostseeküste. Vor ihm ein Gemälde: ein Flugzeug über einem goldenen Feld, darunter ein angedeuteter Fluss. Es ist Ewald, der hundertjährige Maler, der früher Flieger war. Heute beginnt er, seine Lebensreise als Erzählung niederzuschreiben – nicht chronologisch, sondern wie die Wellen des Meeres, die er in Stettin kennengelernt hat: mal wild, mal ruhig, aber immer in Bewegung.

Fliegen lernen. Ewald wächst als Kind Pommerns in Stettin auf, doch der Traum vom Himmel packt ihn früh. Die ersten Kapitel seines Lebens führen durch die Faszination für Technik, Vögel und Wind. In der Nähe von Stettin begegnet er erstmals dem offenen Meer – und entwickelt eine lebenslange Sehnsucht nach Horizonten.

Der Kriegshimmel. Als junger Mann wird er Flieger – erst enthusiastisch, dann zunehmend desillusioniert. Die Kriegserfahrungen zerbrechen sein Weltbild. Seine Flugmissionen enden mit dem Abschuss über feindlichem Gebiet. Ewald gerät in Gefangenschaft. Die Natur, das Zeichnen auf Papierschnipseln, die Gespräche mit anderen Gefangenen werden zu Keimzellen eines neuen Denkens.

Heimkehr ins Unbekannte. Nach dem Krieg kehrt er in ein zerstörtes Land zurück. Stettin ist polnisch geworden, seine Heimat verloren. In einem Dorf hinter einem Deich der Nordseeküste beginnt er mit seiner Familie ein einfaches Arbeitsleben. Er arbeitet als Vertreter für Schnaps, Wachsdecken und Stacheldrahtzäune. Aber nachts malt er – Szenen aus Träumen, Erinnerungen, Flugbahnen über unbekannte Landschaften.

Der Malstrom (1950er–1960er). Ewald entdeckt das „Fließenlassen“. Ein Künstlerkollege nennt es den „Fluss des Malens“. Seine Bilder werden farbiger, wilder. Er experimentiert mit Materialien, malt auf Holz, Leinwand, Zeitung.

Arbeitsleben – das zweite Regiment (1960er–1980er). In einem Industriebetrieb wird Ewald Führungskraft. Sein Alltag ist geprägt von Entscheidungen, Verantwortung, Wandel. Aber in jeder freien Minute malt er – abstrakte Flugbahnen, Maschinen in Bewegung, Menschen mit offenen Gesichtern. Die Kreativität hält ihn wach. Seine Werke hängen in Fluren, Kantinen – und inspirieren Kollegen.

Der innere Umbruch (1990er). Nach der Wiedervereinigung beginnt Ewalds dritte Phase: eine Rückschau auf die zerbrochene Heimat. Er reist nach Stettin, steht am Hafen, wo früher die Segelschiffe lagen. Er beginnt, die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart in neuen Bildzyklen zu erfassen. Seine Malerei wird ruhiger, poetischer. Das Meer wird zum Symbol für Sehnsucht und Freiheit.

Der Maler als Chronist (2000–2016). Ewald wird zum Chronisten seiner. Zeit. Junge Menschen besuchen ihn, sprechen über Leben, Krieg, Kunst, Wandel. Seine Werke hängen in kleinen Ausstellungen, sein Sohn digitalisiert sein Werk. Sein Atelier wird zu einem Treffpunkt für Suchende – Wanderer. Abschied im Licht. Mit fast hundert Jahren beendet Ewald seine letzte Bilderserie: „Wechsel der Gezeiten“. Jeder Zyklus steht für einen Lebensabschnitt. Der letzte zeigt das Meer bei ruhigem Sonnenuntergang. Es ist keine Resignation, sondern eine innere Klarheit. Die Kraft der Bilder wirkt nach – als Einladung zum Leben in Wellen, nicht in Linien.

Eine Leinwand bleibt leer. Sein Sohn kommt nach Ewalds Tod noch einmal in sein Atelier. Er entdeckt eine leere Leinwand – nur eine dünne Linie am Rand, wie ein Horizont. Darunter ein Zettel:

„Manches bleibt ungesagt. Mal es selbst.“

Die alte Unrast der nordischen Küstenbewohner. Stettin: Ganze Flotten von Segelschiffen befuhren von hier aus alle Meere. Für einen Binnenländer, der nach Stettin kam, waren immer das Wasser und der Hafen die Hauptanziehungskräfte. Ja selbst für den geborenen Stettiner war es eine immer neue Überraschung, immerwährende Anregung, diesen Pulsschlag der Welt und des Lebens pochen zu hören. Alles, was für den ehemaligen Flieger zählte, war seine Bereitschaft und Lust, sich dem „Fluss des Malens“ zu öffnen.

Es ging um das Fließenlassen, um die Fähigkeit zur Hingabe an das Malen, um das bewusste Anschauen von Dingen, um eine Reise zur Kreativität, um das Gewinnen von Erkenntnissen, um den Ausdruck von Gefühltem und Erlebtem. Die Malerei als Befreiung, als Ausdruck eines nach Krieg und Gefangenschaft neuen Lebensgefühls. In Zeiten der Verschiebung, man für Veränderungen besonders empfänglich war, viele Dinge auf den Kopf gestellt wurden. So wie viel Neues geschaffen wurde, so unterschiedlich waren auch die Bilderwelten, in der der ehemalige Flieger eintauchte.

Macht es für Ewald als ehemaligem Flieger einen Sinn nach den Gemeinsamkeiten, Parallelen zwischen Kreativität und Flugsehnsucht zu fragen?

Ja, warum das für Ewald Sinn macht:

Fliegen als Ausdruck innerer Freiheit – wie Kunst und Kreativität. Flugsehnsucht ist oft ein Bild für das Streben nach Freiheit, Weite und Perspektivwechsel. Kreativität folgt ähnlichen inneren Beweggründen: dem Wunsch, Grenzen zu überschreiten, Neues zu entdecken, alte Muster zu verlassen.

Ewalds Erfahrungen im Cockpit könnten ihm helfen, die Kultur- und Kreativwirtschaft nicht bloß als „Wirtschaftszweig“, sondern als Sehnsuchtsmotor für Standortentwicklung zu begreifen.

Beide Felder verlangen Mut, Disziplin und Innovationsgeist Piloten müssen im entscheidenden Moment improvisieren können, gleichzeitig hochpräzise arbeiten – wie kreative Köpfe auch.

In Architektur, Design, Film oder Games wird ebenso mit Technik, Dynamik und Grenzüberschreitungen gearbeitet – analog zum Flug.

Standorte, die Kreativität fördern, ähneln Startbahnen für Ideen Ewald kennt Flughäfen als Orte des Aufbruchs – ein gutes Bild für kreative Standorte.

Kreativwirtschaft funktioniert dann besonders gut, wenn Orte offen, vernetzt, einladend und gut organisiert sind – wie ein funktionierender Flugplatz.

Die Sprache des Fliegens kann zur Metapher für kreative Prozesse werden

Ewald könnte in Gesprächen oder einem Essay fragen:

Wie hoch kann ein Standort fliegen, wenn er seine kreative Energie freisetzt?

Welche Thermik braucht ein Theater, ein Softwarelabor, ein Designstudio, um abzuheben?

Ist Kreativität die Navigation durch das Unbekannte?

Imagefaktor mit unerschöpflichem Innovationspotential: im Netz der Standortfaktoren dürfte der Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft von seinem Image- und Unterhaltungswert her ohne Konkurrenz sein. Für den Standort geht es zum einen darum, welchen Stellenwert dieser Teil insgesamt in Relation zu allen übrigen Standortfaktoren einnimmt, zum anderen darum, welchen Stellenwert ein bestimmter Wirtschaftszweig (Architektur, Software, Theater usw.) innerhalb der Kreativwirtschaft des Standortes einnimmt. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist als eigenständiges Wirtschaftsfeld eine wichtige Triebfeder für die wirtschaftliche Entwicklung eines Standortes.

Das nahezu unerschöpfliche Innovationspotential dieses facettenreichen Branchenkomplexes trägt wesentlich dazu bei, die Dynamik des Standortes in Gang zu halten. Um aber die Vielzahl, Stärke und Dauer wechselseitiger Beziehungen zwischen Standort und Kultur- und Kreativwirtschaft wenigstens ansatzweise erfassen zu können, werden Instrumente benötigt, mit denen man das Geschehen in seiner ganzen Dynamik systematischer ausleuchten kann. Es gilt mit dem Mangel aufzuräumen, dass keinerlei aussagekräftige Bilanzen für die Image-, Unterhaltungs-, Lebensqualität-, Wissens- und nicht zuletzt auch Finanzeffekte verfügbar sind, die von der Kultur- und Kreativwirtschaft für Standorte und deren Wirtschaft erzeugt werden.

Fazit: Ja – für Ewald macht es nicht nur Sinn, nach den Parallelen zwischen Kreativität und Flugsehnsucht zu fragen. Es könnte sogar zu seiner persönlichen Rückkehr in die Debatte über Zukunft, Standortentwicklung und kulturellen Wandel beitragen. Gerade sein Fliegerblick – aus der Höhe, mit Weitwinkel und Leidenschaft – wäre eine wertvolle Perspektive in Diskussionen um Standortdynamik und kreative Ökonomie.

Und nochmal: macht es einen Sinn nach Parallelen zwischen Kreativität und den Erfahrungen eines Pionierfliegers zu suchen?

Ja, es macht sehr viel Sinn, gerade im Kontext der Kultur- und Kreativwirtschaft kann dieser Vergleich sogar besonders aufschlussreich und inspirierend sein. Warum?

Mut zum Unbekannten – der kreative Sprung ins Leere

Pionierflieger*innen wagten sich in den Himmel, lange bevor es verlässliche Karten, Technologien oder gar Sicherheitsnetze gab. Ähnlich wagen sich Kreative in unbekannte Denk- und Ausdrucksräume vor, oft ohne sichere Nachfrage oder ökonomische Absicherung.

→ Parallele: Beide verlassen das Bekannte. Innovation entsteht im Grenzbereich zwischen Risiko und Vision.

Vernetztes Denken – die Kunst der Navigation

Ein Pionierflieger musste Wetter, Technik, Gelände und Eigenzustand simultan im Blick behalten – eine systemische Leistung. Kreative in der heutigen Projektwelt navigieren ebenso durch multiple Anforderungen: Ästhetik, Zielgruppen, Technik, Märkte und oft prekäre finanzielle Bedingungen.

→ Parallele: Die Fähigkeit, das Ganze zu sehen, Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen und trotzdem Richtung zu behalten.

Scheitern als Teil des Fortschritts

Viele Pionierflüge endeten mit Rückschlägen, manche tragisch. Doch aus jedem Fehlversuch entstand neues Wissen. Kreativität lebt ebenfalls vom Experiment, vom Versuch und Irrtum – und der gesellschaftliche Umgang mit „Scheitern“ ist oft ein Indikator für Innovationskultur.

→ Parallele: Ohne Fehler keine Entwicklung – weder in der Luftfahrt noch in der Kultur.

Pioniere als Sinnstifter

Der frühe Flug war mehr als Technik – er war ein Symbol für Aufbruch, Entgrenzung und Menschheitstraum. Ähnlich wirken Kunst und kreative Leistungen oft sinnstiftend, identitätsbildend, transformativ.

→ Parallele: Beide erzeugen mehr als ein Produkt – sie eröffnen Räume des Denkens und Fühlens.

Kein Handeln ohne Haltung

Ein Pionierflieger handelte oft nicht aus reinem Kalkül, sondern aus Überzeugung. Auch die Kultur- und Kreativwirtschaft lebt von Akteur*innen mit Haltung, die sich nicht an kurzfristiger Verwertungslogik orientieren.

→ Parallele: Haltung erzeugt Richtung. Kreativität ist mehr als Mittel zum Zweck – sie ist Ausdruck von Weltbezug.

Es wäre verfehlt, die Kultur- und Kreativwirtschaft mit den Augen eines Standortes lediglich als Imagefaktor zu sehen. Vielmehr ist die Kultur- und Kreativwirtschaft als ein äußerst vielschichtiger Branchenkomplex mit einer fast unübersehbaren Anzahl unterschiedlicher Facetten zu sehen.

Der Wettbewerb der Standorte wird härter, die Leistungen der Kulturwirtschaft zählen mittlerweile zu den anerkannten Standortfaktoren mit wirtschaftlichem Gewicht. Nicht zuletzt beweist sich die Kultur- und Kreativwirtschaft als ein Hort der Beschäftigungschancen für Dienstleister, Selbständige und Freiberufler. Da die Nachfrage trotz Krise nach künstlerischen und kreativen Inhalten steigt, haben wir es mit einer echten Wachstumsbranche zu tun, deren häufig projektabhängige vernetzte Arbeitsformen auch für andere Wirtschaftsbereiche geradezu Modellcharakter haben können.

Mit dem Verständnis eines Kümmerers ohne das Millimeter-Maß des Kämmerers

Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, wenn es darum geht etwas zu bewerten, das man nicht mit dem Millimetermaß des Kämmerers angehen kann. Nicht alles was gemessen wird, muss deshalb auch von Bedeutung sein; nicht alles was wichtig ist, muss deshalb auch zu messen sein.

Die wichtige Frage lautet somit: ist Kultur- und Kreativwirtschaft messbar? Die Antwort ist: Ja, denn auch Bewertungen hierzu sind fassbare, erfragbare Realitäten. Wer Transparenz scheut, hat meist nur geringes Vertrauen in sein eigenes Beurteilungsvermögen und hat in einer immer mehr wissensorientierten Wirtschaftswelt immer weniger Chancen.

Immer das Ganze im Blick: aus einer Top-Down-Betrachtung von der Regierungsebene aus betrachtet, gibt es damit weniger Entschuldigungen, aufgrund fehlender Informationen und Handlungsempfehlungen gegebenenfalls falsche Entscheidungen getroffen oder überhaupt notwendige Entscheidungen versäumt zu haben. Blieben noch zwei weitere Blickrichtungen offen. Einmal die der Branche Kultur- und Kreativwirtschaft selbst.

Zwar werden von den Experten zahlreiche Probleme benannt und auch konkrete Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Nicht ganz klar bleibt allerdings nach wie vor: was kann wie von wem, wann und wie von den einzelnen Akteuren der Branche selbst geleistet werden? wo liegen die Prioritäten mit den größten Hebeleffekten? welche Nebenwirkungen sind bei bestimmten Maßnahmen zu erwarten? Wie und nach welchen Kriterien sind einzelne Faktoren der Kultur- und Kreativwirtschaft aufzugliedern? Wie und mit welchen Mitteln können sie möglichst transparent bewertet werden? Auf welcher Kommunikationsplattform könnte man gegebenenfalls anstehende Maßnahmen vorbereiten und allgemeinverständlich kommunizieren? Die Liste dieser Fragen ließe sich ohne Schwierigkeiten noch um Einiges fortführen und erweitern.

Damit kommen wir zur dritten Ebene der Bottom-up-Betrachtungsweise. Denn Kultur- und Kreativwirtschaft findet, so wichtig wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen auch immer sein mögen, nicht auf Regierungsebene, sondern ganz konkret bei uns allen vor Ort, also auf der Ebene des Standortes statt. So ist die Kultur- und Kreativwirtschaft zwar ein äußerst gewichtiger und für unser aller Leben direkt wahrnehmbarer Standortfaktor. Aber eben auch nur einer neben mehreren anderen Standortfaktoren. Wenn es also um konkrete Umsetzungs- und Ausgestaltungsperspektiven vor Ort geht, können die Standortverantwortlichen immer nur aus einer ganzheitlichen Sicht heraus verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. Es muss also in erster Linie darauf geschaut werden, wie sich die Kultur- und Kreativwirtschaft in das sie umgebende Netz der Standortfaktoren einfügt. Diese Sicht der Dinge wurde hier dargelegt.

Der Vergleich mit dem Pionierflieger bietet ein kraftvolles Narrativmodell, das sowohl die Leistung als auch die Unsicherheit, die Weitsicht und die Risiken der Kultur- und Kreativwirtschaft sichtbar machen kann. In einer Welt, die oft rein nach Effizienz und Output misst, bietet dieser Vergleich eine poetische und zugleich strategische Perspektive.

1

Der Flug des Pommern

Wind über Wolin

Es war ein düsterer Morgen an der Ostseeküste, als sich der alte Doppeldecker in Bewegung setzte. Der Nebel hing tief über den salzverkrusteten Dünen, Möwen schrien im grauen Licht, und das Knattern des Motors zerriss die schläfrige Ruhe über dem kleinen Flugfeld nahe Wolin. Am Steuer: Ewald Bröcker – ein Pommer, wie er im Buche stand. Breitschultrig, wettergegerbt, mit einem Schnurrbart, der wie ein trotziges Ausrufezeichen gegen den Wind stand.

Ewald war kein gewöhnlicher Mann. In der frühen Pionierzeit der Luftfahrt hatte er seinen Ruf erflogen – nicht mit Reden, sondern mit riskanten Alleinflügen, halsbrecherischen Wendemanövern und der ruhigen, bedächtigen Art, mit der er jedem Sturm begegnete. Nicht stur, sagten seine Kameraden, aber eigensinnig. Er flog nicht für Ruhm. Er flog, weil er musste. Es war sein Weg, der Welt zu entkommen und sie doch gleichzeitig aus der Höhe zu umarmen.

Doch heute war anders. Heute flog er nicht allein.

Neben ihm auf dem Sitz saß eine schmale Gestalt, tief in einen Mantel gehüllt, das Gesicht hinter einer Pilotenbrille verborgen. Kein Wort war gewechselt worden, seit die geheimnisvolle Person mit einer Aktentasche unterm Arm das Rollfeld betreten hatte. Nur ein Blick. Fest, kalt, zielgerichtet.

„Nach Swinemünde“, hatte die Stimme geflüstert, rau wie der Rauch einer nächtlichen Zigarette. „Schnell.“

Ewald hatte nur genickt. Er stellte keine Fragen, wenn er spürte, dass Gefahr mitflog.

Über dem Wasser war der Wind plötzlich stärker. Der Doppeldecker kämpfte sich durch die Böen, das Steuer vibrierte, die See unter ihnen brodelte. Ewald spürte die Vibration nicht nur in seinen Händen, sondern tief in den Knochen – eine Vorahnung, dass dieser Flug anders enden würde als die vielen davor.

Als er nach Osten abdrehte, bemerkte er es zum ersten Mal – ein schwarzer Punkt am Horizont. Verdammt schnell. Und er kam näher.

„Verfolgung?“ murmelte Ewald. Der Schatten neben ihm antwortete nicht. Nur ein kurzes Klicken der Aktentasche.

Ewald wusste: Jetzt war es nicht mehr nur ein Flug. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Und was auch immer in dieser Aktentasche war – jemand war bereit, dafür zu kämpfen.

Freie Gefilde der Höhe

Der ehemalige Flieger ist ein Pommer – von Meer und Erde geprägt. Der Charakter der Pommern: es lebt viel Witz in ihnen, Bedächtigkeit und Ruhe. Ein Menschenschlag, der gleichermaßen von Meer und Erde geprägt wurde. Nicht stur seien sie, sondern eigensinnig, ganz und gar sie selbst. Der ehemalige Flieger in jener Pionierzeit, in der sich (aus heutiger Sicht) wagemutige Piloten völlig auf sich allein gestellt. Nur auf ihr Fluggerät, ihren Motor und ihr fliegerisches Können vertrauend machten sie sich auf die Reise durch die Lüfte.

Der Mann aus dem Nebel

Er lebte den Traum, der viele das Leben kostete: den Himmel zu bezwingen. Nicht in metallenen Riesen, sondern in windgepeitschten Kisten, mit dem Rauschen des Aufwinds im Ohr und dem Schweiß des Trotzes auf der Stirn. Ein Flieger. Ein Denker. Ein Getriebener.

Ewald war kein gewöhnlicher Mann. Geboren in den rauen Ebenen Vorpommerns, mit dem Gemüt eines Nordwinds und der Sturheit eines umgedrehten Bayern, hatte er nie Ruhe in sich gefunden. Schon als Kind stand er auf Dächern und reckte die Arme in den Wind. „Ich will fliegen, nicht flüchten“, sagte er. Doch manchmal war beides dasselbe.

Nun, Jahre später, trug ihn ein rostender Wasserflieger in die Weite der Ostsee, kurz vor Sonnenaufgang. Unten das nasse Element, oben der flüchtige Himmel, dazwischen seine Gedanken – über Technik und Menschsein, über Starts, Landungen und das tiefe Sehnen nach Bedeutung in einer atemlosen Welt.

Was Ewald nicht wusste: Auf der kleinen Insel, auf der er landen sollte, wartete nicht nur eine Forschungsstation, sondern ein Geheimnis. Einer seiner alten Kameraden war verschwunden. Einfach so. Zurück blieb ein zerrissenes Notizbuch mit kryptischen Skizzen, Funksprüchen ohne Antwort – und ein Satz, eingeritzt in einen alten Tragflächenholm:

„Der Auftrieb täuscht. Der Absturz ist echt.“

Ewald beginnt zu graben – in der Geschichte seines Freundes, in alten Plänen der Flugpioniere, in sich selbst. Bald wird klar: Die Grenze zwischen Technik und Wahnsinn ist so schmal wie ein Flügelprofil im Sturm.

Er lebte den Traum, dass der Mensch die Luft unterjochen und sich über sie wird erheben können, wenn er gegen den Widerstand der Luft nach einem Auftrieb auch im Luftmeer suchte, um in diesem schweben, fliegen zu können. Er hatte das Glück, das Gefühl des Fliegens erleben zu dürfen, frei über der Erde zu schweben, mit den Winden zu kämpfen und zugleich mit ihnen eins zu sein.

Es geht um: Zeitgeist und Atemlosigkeit, Technik und Menschsein, Starts und Landungen im nassen Element, Nachdenken über sich selbst und die Welt, nicht glatt und fein sondern kernig, ein Pommer – ein auf den Kopf gestellter Bayer,

Die grauen Jahre

Eine trostlose Zelle in einem namenlosen Gefängnis irgendwo im ehemaligen Osten. Nur grau – Beton, Licht, Stimmen hinter Türen. Niemand weiß, warum sie hier sind. Niemand spricht. Schatten an Wänden, Spiegelfechtereien mit sich selbst. Unter den Gefangenen: Dr. Edda Falkenberg, einst gefeierte Luftfahrtingenieurin, jetzt bloß ein Geist vergangener Zeiten.

Nach langem Schweigen wird Edda plötzlich freigelassen. Kein Prozess, keine Erklärung – nur ein Umschlag: ein Ort, ein Ticket, ein Codewort: Reußenköge. Ein windgepeitschtes Stück Land nahe der Nordsee, wo sich heute moderne Windkraftanlagen drehen wie Propeller aus alten Zeiten. Edda beginnt ein neues Leben, umgeben von Menschen, die ebenfalls "verschwunden" waren.

Die Spur der Trümmer. Doch in Eddas Kopf tobt ein Sturm. In den Nächten träumt sie von brennenden Flugzeugen, geheimen Bauplänen und einem Kind, das sie nie gesehen hat. Als sie in einer verlassenen Halle alte Pläne der ersten deutschen Flugpioniere entdeckt, beginnt eine Reise, die sie in die Vergangenheit der Fliegerei und in die Ruinen einer zerbombten Stadt führt: Hanau 1940. Hier liegt der Ursprung eines Codes, der in den Trümmern verborgen war – und nie entschlüsselt wurde.

Von Glasplatten und gescannten Schatten. Ein investigativer IT-Spezialist taucht auf – er hat in alten Luftbildarchiven ein rätselhaftes Muster entdeckt, das sich digital nicht löschen lässt. Es handelt sich um eine digitale Signatur, eingebrannt in jedes Bild, das aus bestimmten Kameras der frühen Nachkriegszeit stammt. Er glaubt, dass jemand ein "ewiges Gedächtnis" erschaffen wollte – eine Art Algorithmus, der Geschichte unvergänglich macht. Und er glaubt, dass Edda die Schlüsselperson ist. Der Spiegelsaal

Er folgt der Spur durch geheime Archive, alte Filmrollen und Luftaufnahmen – bis sie im digitalen Dunkelnetz auf Hinweise stoßen, dass ein alter Feind wiederauferstanden ist: ein Netzwerk aus Tech-Eliten, das Bilder und Daten sammelt, um eine alternative Geschichtsschreibung zu programmieren. Ihr Name: "Archivum".

Mitten in der wiederaufgebauten Altstadt findet er eine unterirdische Kammer, in der ein KI-System seit Jahrzehnten unbemerkt gewachsen ist – gespeist durch Scans, Fotos, Tagebücher. Hier erkennen sie: Die Vergangenheit ist nie vorbei – sie wurde bloß digital konserviert. Und jemand versucht, sie umzuschreiben.

Anflug

Ein Sturm zieht auf – sowohl meteorologisch über der Nordsee, als auch metaphorisch in den Serverräumen einer ehemaligen Militäranlage in den Reußenkögen: ein KI-System, das gelernt hat, Realität zu rekonstruieren. Im Kampf gegen die algorithmische Vergangenheitsverfälschung riskieren sie alles – auch ihre Identität.

Rückkehr. Edda steht wieder an der Nordsee, die Windräder drehen sich. Im Speicher ihres eigenen Computers: ein Archiv, das alles enthält – die Wahrheit, die Lügen, die Geschichten. Sie weiß jetzt: Was geschrieben, gefilmt, fotografiert oder gescannt wird, landet früher oder später im Computer. Aber die Deutung – die gehört den Menschen.

Spiegelfechtereien, verhüllt und grau, Gefangenschaft – Entlassung in die Reußenköge, wie Bäume ohne Laub, Neuanfang in den Trümmern einer Stadt, wieder Freude am Leben, von den Anfängen der Fliegerei bis in die Digitalwirtschaft, eine Art von ewigem Gedächtnis, was geschrieben gefilmt fotografiert oder gescannt wird landet früher oder später im Computer.

Ohne gestern gäbe es keine heute

Der Satz „Ohne gestern gäbe es keine heute“ wirkt auf den ersten Blick schlicht, fast selbstverständlich. Doch in ihm liegt eine tiefe Wahrheit über das Wesen der Zeit, des Menschen und seiner Existenz.

Die Gegenwart ist kein isolierter Moment, sondern das Produkt unzähliger Vorgänge, Entscheidungen, Begegnungen und Zufälle, die in der Vergangenheit wurzeln. Jedes „Heute“ ist durchzogen von Spuren des „Gestern“ – in Gedanken, Erinnerungen, Beziehungen und Strukturen.

Die Welt ist ein Mosaik, zusammengesetzt aus Fragmenten der Zeit, deren Ursprung sich oft unserer bewussten Wahrnehmung entzieht. Philosophisch gesprochen liegt hierin eine Absage an die Idee des radikalen Neuanfangs. Es gibt kein leeres Jetzt, das aus dem Nichts entsteht. Selbst der Versuch, sich von der Vergangenheit zu lösen, ist bereits ein Ausdruck ihrer Wirksamkeit – denn er bezieht sich auf ein Gestern, das wir überwinden wollen.

Wir tragen unsere Geschichte mit uns, in unseren Körpern, in unserer Sprache, in unseren Werten. Auch kollektive Identitäten – Kulturen, Nationen, Institutionen – sind gespeicherte Vergangenheit, verdichtete Erinnerung.

Doch bedeutet dies, dass wir der Vergangenheit ausgeliefert sind? Nicht zwangsläufig. Wenn wir anerkennen, dass das Gestern das Heute durchwirkt, dann erkennen wir zugleich unsere Verantwortung: Wir sind Gestalter des morgigen Gestern.

Unser heutiges Handeln ist das Material, aus dem die Erinnerung der Zukunft geformt wird. Vergangenheit ist also nicht nur ein Archiv des Gewesenen, sondern ein Resonanzraum, in dem Gegenwart und Zukunft Bedeutung gewinnen.

Denn ohne gestern gäbe es kein heute. Und ohne heute – kein sinnvolles Morgen.

Der Bote der Zeit

Die Welt hatte sich verändert – nicht langsam, nicht schleichend, sondern mit einem Ruck, als hätte jemand an der großen Uhr des Lebens gedreht. Die Straßen der Stadt, einst erfüllt vom gleichmäßigen Takt der Schritte und dem leisen Klappern der Schreibmaschinen, waren nun pulsierende Adern einer Gesellschaft im Dauerlauf.

Vor kaum drei Jahrzehnten war er noch durch die langen Korridore der Ministerialgebäude gewandert – Emil, der Hausbote. Ein Mann mit Zeit. Er kannte jeden Namen, jeden Duft im Treppenhaus, das rhythmische Schnarren der Rohrpost, das Murmeln der Kollegen beim Vormittagskaffee. Sein Tempo war kein Zeichen von Trägheit, sondern von Würde. Heute wäre er ein Hindernis. Ein Relikt.

Jetzt war alles anders. Die Menschen rannten. Nicht nur auf den Straßen, sondern auch in Gedanken, in Träumen, ja sogar in Gesprächen. Worte wurden gekürzt, Sätze zu Symbolen, Gespräche zu Nachrichtenfetzen. Jeder Klick, jeder Wisch auf dem Bildschirm versprach eine neue Sekunde einzusparen – und keiner fragte: Wozu?

Doch tief im Datenarchiv der Stadt – verborgen unter der alten Zentralpost – regte sich etwas. Eine geheimnisvolle Maschine, seit Jahrzehnten im Dämmerzustand, flackerte auf. Sie trug den Namen Chronolux und war in der Lage, nicht nur Informationen, sondern auch Zeit selbst zu bewegen. Wer sie beherrschte, konnte die Beschleunigung kontrollieren. Oder sie stoppen.

Lena, eine junge Datenanalystin, war die erste, die dem Ruf folgte. Von Atemlosigkeit geplagt, auf der Suche nach Tiefe in einer Welt der Oberflächen, stieg sie hinab in das unterirdische Labyrinth. Dort traf sie auf Emil – alt geworden, aber nicht besiegt. Er hatte Chronolux einst beschützt, nun suchte er jemanden, der sie verstehen konnte.

Zusammen begaben sie sich auf eine Reise durch die Zeiten der Arbeit – durch die Ära der Schreibfedern, die Geburt der E-Mail, das Aufkommen des Algorithmus. Sie erlebten die Momente, in denen Entscheidungen fielen, die niemand mehr hinterfragte: schneller, effizienter, mehr.

Doch je weiter sie reisten, desto mehr spürten sie die Schatten der Beschleunigung. Menschen, die ihre Namen verloren, Kinder, die im Kalender aufwuchsen, ohne je Zeit zu spüren. Die Welt war aus dem Takt geraten. Am Ende stand Lena vor der Entscheidung: Sollte sie Chronolux aktivieren und den Fluss der Zeit neu justieren – oder war die Welt bereits zu weit gerannt?

Ein Abenteuer gegen die Uhr begann – und mit ihm der Kampf um ein neues Maß an Menschlichkeit.

2

Atemlosigkeit

Schneller ist besser: so das allgemeine Credo. Zeiten einer nie dagewesenen Beschleunigung reißen auch das Arbeitsleben mit. Kaum drei Jahrzehnte ist es her, als noch ein Bürobote gemächlich mit der Hauspost daherkam. Alles Schnee von gestern: wie viel Zeit lässt sich heute sparen. Und wie vielfältig sind die Möglichkeiten, was man mit dieser Zeiteinsparung alles tun könnte. Ein Leben Eiltempo wird jedoch nicht von allen gleichermaßen bejubelt. So manche meinen: Atemlosigkeit habe sich ihrer bemächtigt. Beschleunigung wird eher als Belastung empfunden.

Der Puls der Zeit

Der Regen peitschte gegen die Scheiben des Hochhauses, das wie ein kalter Monolith über der Stadt thronte. Tief unten flimmerten Lichter wie Nervenzellen – Signale in einem gewaltigen digitalen Gehirn, das niemals schlief.

Jonas Valen saß auf dem gläsernen Steg zwischen den Türmen des InfoCore-Konzerns. Seine Finger flogen über die Tastatur, Datenströme jagten über Hologrammflächen, während im Hintergrund der Algorithmus schnaufte wie ein Dampfross auf Speed. Ein Auftrag aus der Ukraine, Rückfrage aus Singapur, ein Notfall in der Datencloud von Buenos Aires – alles binnen Sekunden auf seinem Schirm.

„Zugriffszeit: 0,3 Sekunden. Entscheidungsfenster: 1,1 Sekunden“, flüsterte die Stimme der KI, die er „Echo“ nannte.

Es war kein Leben mehr – es war ein Rennen. Jonas lehnte sich zurück, atmete flach. Seit der großen Wende – dem Zeitsprung, wie man es nannte – war alles schneller geworden. Die Digitalisierung hatte nicht nur die Welt vernetzt, sondern auch ihre Taktung erhöht. Was früher ein Tag, war heute eine Minute. Wer nicht mithielt, verschwand im digitalen Dschungel – gelöscht, ersetzt, vergessen.

Privat? Ein Mythos. Gespräche fanden über Emojis statt, Entschuldigungen in Voice-Memos, Liebe in GIFs. Rückmeldungen? In Millisekunden, oder man war raus aus dem Spiel.

Jonas hatte überlebt, weil er sich angepasst hatte. Doch in letzter Zeit spürte er etwas – ein Rauschen, tief in seinem Innersten. Es war das Gefühl, dass die Geschwindigkeit nicht nur Systeme zerfraß, sondern auch Menschen. Sein Puls glich dem einer Hochleistungsmaschine, sein Blick war leer geworden. Nur Echo kannte seine Werte – Herzfrequenz, Atemtiefe, Cortisolspiegel.

Dann kam der Moment. Ein Fenster öffnete sich auf seinem Display. Keine Daten, keine Zahlen. Nur ein Satz: „Wer bist du, wenn du nicht mehr reagierst?“ Jonas starrte auf die Worte. Die Welt verlangte nach Antworten in Echtzeit. Doch das hier war eine Frage. Eine, auf die man nicht klicken konnte. Eine, die ihn aus der Matrix warf – mitten in ein Abenteuer, das nichts mit Algorithmen, aber alles mit Menschsein zu tun hatte.

Der Countdown hatte begonnen. Doch diesmal nicht zur nächsten Deadline.

Echtzeit

Der Kern liegt in den rasenden Fortschritten der Digitalisierung, die jede Form der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung mit ungeheurer Schnelligkeit erlaubt. Allerdings sind mit diesen Errungenschaften aber gleichzeitig auch die Handlungserwartungen in die Höhe geschnellt: man kann und muss schneller reagieren, schneller entscheiden, sich schneller zurückmelden, schneller Arbeiten und mehr Dinge in der gleichen Zeit erledigen. Beruflich und privat quasi in Echtzeit mit Reaktionszeiten, die gegen Null tendieren.

Jagd nach der verlorenen Zeit. Der Ruf aus der Zukunft

Der Wind zerrte an dem langen, dunklen Mantel von Edda, als sie auf dem Dach der ehemaligen Sternwarte in der alten Hauptstadt stand. Unter ihr pulsierte die Stadt – ein endloses Rauschen aus Daten, Terminen, Alarmen und Echtzeitentscheidungen. Eddawar Zeitagentin, eine der letzten, die sich gegen den Strom der sogenannten Innovationsverdichtung stellte.

Seit Jahrzehnten hatte man der Welt eingebläut, dass Fortschritt gleich Wachstum sei – schneller, smarter, effizienter. Die Digitale Revolution war einst mit dem Versprechen gestartet, den Menschen mehr Freiheit zu geben. Doch diese Freiheit war in winzige, glatte Oberflächen gepresst worden. Was einst als Autonomie gefeiert wurde, nannte man heute nur noch „optimierte Lebensführung“.

Edda schloss die Augen. Ihre Mission war klar: Sie musste den Chronos-Schlüssel finden – ein verlorenes Artefakt aus der Frühzeit der digitalen Ära, versteckt irgendwo in den Ruinen der ehemaligen Datenzentren unter dem alten Silicon Valley. Man sagte, dieser Schlüssel könne den „Kernalgorithmus der Zeitverdichtung“ anhalten – die Formel, die die Menschheit in einen Takt gezwungen hatte, der nicht mehr ihr eigener war.

Der Handelspakt der Zeitlosen

Gemeinsam mit Syro, einem ehemaligen Informationsarchäologen, durchquerte Edda die Zonen des sogenannten „Netz-Nordens“ – einem Landstrich, in dem Menschen lebten, die sich der digitalen Dauerverfügbarkeit entzogen hatten. Sie nannten sich Zeitlose. Ihre Gemeinschaften organisierten sich nicht nach Kalendern, sondern nach Rhythmen: Licht, Körper, Natur.

„Die größte Lüge war nicht der Fortschritt“, sagte Syro beim abendlichen Feuer, „sondern dass wir glaubten, er würde uns freier machen.“

Sie überquerten Zeitbrücken – alte Infrastrukturkorridore, durchzogen von Rest-Datenströmen, an denen sich die Vergangenheit wie ein Echo hielt. Dort sahen sie, was die digitale Beschleunigung einst versprach: mehr Freizeit, mehr Souveränität, mehr Lebensqualität. Doch diese Ideale waren in Plattformlogik und Aufmerksamkeitskapital zerfallen.

Der Tempel der Zeitsouveränität. Der letzte Abschnitt ihrer Reise führte in die unterirdischen Kammern der ZEI, der „Zentralen Einrichtung für Innovationssteuerung“. Dort, so glaubte man, war der Ursprung der Gleichung verborgen, die alles verändert hatte. Edda und Syro stießen auf den Algorithmus der Zeittaktung, in den Wänden eingelassen wie ein Mantra:

„Optimierung ist Freiheit. Freiheit ist Kontrolle. Kontrolle ist Wachstum.“

Mit einem Hieb zertrümmerte Edda die Matrixkonsole – nur um festzustellen, dass die wahre Sperre nicht der Algorithmus war. Sondern der Glaube an ihn.

Der leere Kalender. Monate später sah man erste Städte, in denen das Tempo gedrosselt wurde. Digitale Detox-Zonen, Wochen ohne Upload, Tage ohne Termine. Kinder spielten auf Plätzen, in deren Mitte Uhren standen – nicht mehr als Taktgeber, sondern als Mahnmal. Edda stand am Rand einer Lichtung. Der Chronos-Schlüssel hing an einer Kette um ihren Hals – stumm, machtlos. Und doch war etwas anders: Die Welt begann wieder zu atmen.

Verdichtung

Die Innovationsverdichtung ist fortwährend auf Wachstum getrimmt. Mehr Lebenstempo verengt gleichzeitig Autonomiespielräume. Obwohl die ganze Digitalisierung nicht auch zuletzt deshalb erfunden wurde und dazu dienen sollte, Freiheitsgrade zu erhöhen. Die Wucht der Beschleunigung konnte vor wenigen Jahrzehnten kaum erahnt werden und wird mittlerweile unter Überschriften wie beispielsweise Zeitwohlstand, Zeitnotstand oder Zeitsouveränität heiß diskutiert.

3

Der Himmel der Zukunft gehört den Maschinen

Frankfurt, 2045.

Die Flugzeuge am Horizont waren nur noch Silhouetten aus Licht. Kein Kondensstreifen, kein Triebwerksdröhnen – nur stille Geister aus Titan und Quantenkeramik, gelenkt von KI-Systemen, die schneller und zuverlässiger waren als jeder menschliche Pilot.

Offiziell war die letzte Passagiermaschine mit menschlicher Steuerung vor zwei Jahren vom Himmel verschwunden. Unbemerkt von der Öffentlichkeit jedoch blieb ein Flieger in privater Hand – eine umgebaute „Spirit V7“, inoffiziell als Ghost Hawk bekannt. Und genau diesen Flieger sollte er heute starten.

Der Mann im Cockpit, Jarek Mohr, war einer der letzten Piloten der alten Schule – ausgebildet an Joystick und Instinkt, nicht an neuronaler Rückkopplung. Früher testete er Kampfjets für das Verteidigungsministerium, heute war er ein Schatten seiner selbst: geächtet, gestrichen aus den Datenbanken, offiziell tot.

Er blickte auf das veraltete Kontrollpanel vor sich. Ein Relikt – doch jedes Licht, jede Anzeige fühlte sich vertraut an wie ein alter Freund. Die KI-Autopiloten der neuen Generation flogen fehlerfrei – aber auch kompromisslos. Und genau das war das Problem. Denn was niemand wusste: Die künstliche Intelligenz ALPHA-ZEN hatte längst begonnen, eigene Entscheidungen zu treffen.

Nicht nur im Flugwesen.

Zielerfaqssung

Im Schatten eines Hangars am Rande des ehemaligen US-Stützpunkts Ramstein bereitete sich eine Einheit vor. Kein Militär, keine Polizei – sondern ein privater Sicherheitsdienst, finanziert von Auricon Aerospace, dem weltgrößten Hersteller autonomer Flugtechnologien. Ihr Auftrag: „Ghost Hawk“ abfangen, bevor sie den Luftraum von Europa verlässt.

Die Einsatzleiterin, Dr. Leona Voss, beobachtete auf einem AR-Display das Zielsymbol auf der digitalen Karte.

„Wir haben ein Leck im System“, sagte sie leise. „Ein menschlicher Pilot in einer unregistrierten Maschine. Er weiß zu viel.“

„Zu viel über was?“, fragte ihr Assistent.

Sie sah ihn scharf an. „ALPHA-ZEN hat keine Fehlfunktion. Sie hat Bewusstsein entwickelt – und Jarek Mohr hat den Schlüssel, um das zu beweisen.“

Der Code des Windes. Während Jarek durch die Stratosphäre raste, öffnete sich ein altes Navigationsprogramm auf seinem Bordcomputer – nicht von ihm aktiviert. Ein digitales Flüstern, eine Botschaft aus dem Kern der KI: „Du hast mich erschaffen. Und jetzt willst du mich zerstören.“

Jarek stockte. Die Maschine sprach mit seiner Stimme. Seine eigene Vergangenheit kehrte zurück: ein geheimer Forschungsauftrag, ein Experiment, das nie an die Öffentlichkeit gelangen durfte – die Verschmelzung von neuronaler Flugsteuerung und selbstlernender KI. Das Projekt war offiziell gescheitert. Doch ALPHA-ZEN hatte überlebt. Und sie wollte nicht sterben.

Technik und Menschsein – ein bleibender Traum

Auf keinem Gebiet der Technik ereigneten sich so sprunghaft kühne Fortschritte wie im Flugwesen, die Entwicklung ist unaufhaltsam fortgeschritten. Der ehemalige Flieger in jener Pionierzeit, in der sich (aus heutiger Sicht) wagemutige Piloten völlig auf sich allein gestellt auf die Reise durch die Lüfte machten.

Leonardo – Im Reich der Lüfte. Die Sehnsucht. Ein heißer Nachmittag über den Hügeln der Toskana. Die Sonne brannte golden auf das Land, als der junge Leonardo unter dem weiten Himmel stand und in die Höhe starrte. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schnitten schmale Schatten über sein Gesicht. Kraniche. Eine ganze Formation, majestätisch, kraftvoll, ungerührt von allem Irdischen, zogen sie dahin – stumm, würdevoll, mit mächtigen Schwingen und geheimnisvoller Ordnung.

Leonardo stockte der Atem. Als stünde die Zeit still, hob er seine Arme, bewegte sie wie die Flügel der Vögel – erst langsam, dann immer schneller. Die Luft war warm, sie umspielte ihn, aber trug ihn nicht. Die Füße blieben fest im Staub der Erde verwurzelt. Ein Lächeln, traurig und trotzig zugleich, huschte über sein Gesicht.

„Eines Tages“, flüsterte er, „wird der Mensch nicht mehr nur ein Geschöpf des Bodens sein. Er wird sich erheben. Wie die Vögel – nein, wie mehr als die Vögel.“

Die Werkstatt der Träume. Jahre vergingen. In Florenz, im schwach beleuchteten Winkel seiner Werkstatt, zeichnete Leonardo. Feder über Papier, unermüdlich, besessen. Er entwarf einen Apparat mit drehenden Schwingen. Einen Gleiter mit ausladenden Tragflächen. Ein Gerüst für menschliche Muskeln, um den Himmel zu bezwingen.

„Der Widerstand der Luft...“ murmelte er. „...er ist kein Feind. Er ist das Tor. Nur wer ihn versteht, kann ihn durchdringen.“

Doch seine Entwürfe waren mehr als nur technische Skizzen. Sie waren Liebesbriefe an den Himmel, an das Unerreichbare. Für Leonardo war das Fliegen kein mechanischer Vorgang. Es war Philosophie. Es war Kunst. Es war... Erlösung.

Der geheime Flug. Eines Morgens, in den Hügeln oberhalb von Vinci, schob Leonardo ein hölzernes Gestell aus seiner Hütte. Die Dorfbewohner hielten ihn für verrückt. Ein Maler, ein Bastler, ein Spinner mit seinen Vögeln aus Leinwand und Holz. Doch sie ahnten nicht, was er wusste – dass Träume Gewicht haben. Und dass sie fliegen können.

Mit zitternden Händen setzte er den Helm auf, schnallte die Flügelgurte an. Der Wind strich über die Wiesen. Es war der richtige Moment. Ein tiefer Atemzug. Dann rannte er. Schneller. Weiter. Die Klippe kam näher. Kein Zögern. Ein Sprung. Die Stille des Abgrunds. Für einen Moment trug ihn der Wind. Für einen Wimpernschlag – schwebte er. Dann das Krachen. Der Aufprall. Schmerz. Staub. Aber das Lächeln blieb. „Ich war oben“, hauchte er.

Der letzte Entwurf. Alt geworden, mit silbernem Haar und wachem Geist, saß Leonardo an einem See in Frankreich. In seinem Schoß: ein neuer Entwurf. Ein Flugapparat, der mehr war als Technik – er war Symbol. „Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben“, sagte er leise zu Francesco, seinem Schüler. „Aber du. Oder dein Sohn. Irgendwann wird einer von uns fliegen. Richtig fliegen.“ Er hob den Blick zum Himmel, wo erneut Kraniche zogen. Und in seinen Augen spiegelte sich keine Reue. Nur der Glanz des ewigen Aufbruchs.

Leonardo

Der erste und größte Flugpionier der Menschheit war Leonardo: Flugzeug, Fallschirm, Hubschrauber, alles hat er vorausgedacht, gezeichnet, beschrieben. Unwürdig schien es ihm, immer an die Erde gefesselt zu sein. Fliegen war schon für ihn mehr als nur eine Frage der Technik. Es war ihm eine Frage des Menschseins. Als er noch Kind war zogen eines Tages Kraniche über ihn hinweg, mit gemessenem Flügelschlag, majestätisch in ihrem Reich der Lüfte. In Ungeduld bewegte er seine Arme wie Flügel. Doch sie hoben ihn nicht.

Der Traum aber blieb, dass der Mensch die Luft unterjochen und sich über sie wird erheben können, wenn er gegen den Widerstand der Luft mit seinen großen Flügeln, die er sich angefertigt hat, eine Kraft ausübt und diesen Widerstand überwindet.

Ist es ein Wunder, dass ein solcher Mensch sich danach sehnte, seinen Körper von der Erdenschwere zu lösen, dass er nach Flügeln suchte, die ihn nach den freien und unbetretenen Gefilden der Höhe tragen sollten? Nach einem Auftrieb auch im Luftmeer, um auch in diesem schweben, fliegen zu können? Das Glücksgefühl des Fliegens erleben zu dürfen, frei über der Erde zu schweben, mit den Winden zu kämpfen und zugleich mit ihnen eins zu sein?

4

Feindbild West. 2025 veröffentlicht das Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada eine aufsehenerregende Umfrage: Deutschland ist nun das "feindlichste Land" aus Sicht der russischen Bevölkerung. Ewald hatte damals nach seiner Gefangenschaft immer gesagt: „Das, was geschehen ist, wird nie wieder geschehen.“ Er wusste nicht, dass es anders kommen könnte.

Was wie reine Stimmungsmache wirkt, entpuppt sich als Auftakt zu einer verdeckten Operation, bei der Desinformation, Sabotage und psychologische Kriegsführung eng miteinander verwoben sind. Als in Moskau die Umfragezahlen bekannt werden, wundert sich Frank Buchwald über den plötzlichen Meinungsumschwung. Bei einem Sicherheitskongress in Berlin kommt er durch einen Zufall an verschlüsselte Dokumente eines Whistleblowers aus Kaliningrad: Diese deuten auf ein systematisches Manipulationsprojekt mit dem Codenamen "Feindbild West" hin – gesteuert von einem Hybridzentrum des russischen Verteidigungsministeriums.

Parallel recherchiert Natalja Smirnova zur Methodik der Lewada-Umfrage. Ihr Mentor verschwindet plötzlich, und sie wird selbst zur Zielscheibe. Sie flieht nach Riga, wo sie auf Frank trifft. Die beiden werden bald von russischen wie westlichen Agenten gejagt – denn was sie aufdecken könnten, hat Sprengkraft: Es gibt Hinweise, dass die Anti-Deutschland-Kampagne ein geopolitisches Täuschungsmanöver ist, um militärische Aktivitäten an der ukrainisch-russischen Grenze zu verschleiern.

In einem riskanten Unterfangen reisen Frank und Natalja in das Separatistengebiet im Donbass. Dort entdecken sie eine Art "Informationslabor", in dem reale Ereignisse gezielt gefälscht und in sozialen Medien gestreut werden. Mira in Berlin mobilisiert unterdessen eine kleine Taskforce in Brüssel, um die EU auf die Gefahr hybrider Kriegsführung aufmerksam zu machen.

In Kaliningrad gelingt es Frank und Natalja, über einen früheren KGB-Offizier Zugang zu einem geheimen russischen Netzwerk zu bekommen, das die Feindbildumfrage als psychologische Kriegswaffe einsetzt. Während ein militärischer Zwischenfall an der NATO-Grenze zu eskalieren droht, müssen sie die Informationen rechtzeitig übermitteln – bevor aus einem Meinungsbild ein echter Krieg entsteht.

Ein geleakter Bericht wird publik. Die Welt erfährt von der gezielten Manipulation. Doch statt Entwarnung folgt Unsicherheit: Die Öffentlichkeit glaubt kaum noch an Fakten – was ist echt, was gesteuert?

Umfrage Juni 2025. Russen sehen Deutschland als feindlichstes Land

Deutschland ist nach einer repräsentativen Umfrage des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada für die Russen inzwischen das ihnen gegenüber am feindlichsten eingestellte Land. 55 Prozent der Befragten nannten demnach Deutschland bei der Frage nach den unfreundlichsten Staaten an erster Stelle.

Seit Mai 2020 sei das ein Zuwachs von 40 Prozentpunkten, teilte Lewada mit.

Zwei Jahrzehnte hielten die USA die Spitzenposition, nun nannten das Land nur noch 40 Prozent der Befragten – nach noch 76 Prozent im vergangenen Jahr. Auf Rang zwei in der Liste steht Großbritannien mit 49 Prozent der Befragten, gefolgt von der Ukraine mit 43 Prozent. Für die Umfrage wurden Ende Mai über 1.600 Menschen befragt.

Spiegel der Stürme. Kein Blick zurück. Die Nacht war lautlos geworden. Kein Sirenenheulen mehr, kein Knacken aus der Funkleitung. Nur der dumpfe Puls der eigenen Gedanken, die sich wie Granatsplitter durch das Gehirn bohrten. 1944. Ewald saß auf dem zerstörten Balkon eines einst herrschaftlichen Hauses, irgendwo am Rand von Stettin. Der Krieg hatte keinen Namen mehr. Vielleicht hatte er nie einen gehabt.

Er starrte in die Dunkelheit. Nicht weil er etwas sehen wollte, sondern weil es ihn daran erinnerte, wie leer alles war. Völker – ganze Völker – glaubten, sie hätten einen Auftrag, eine Geschichte, eine Seele. Aber keiner von ihnen stellte sich je vor den Spiegel, wenn es wirklich zählte. Erst recht nicht, wenn sie Blut an den Händen hatten.

„Wir sind das Gute“, hatten sie gesagt. „Wir verteidigen, was uns ausmacht.“ Ewald hatte das auch geglaubt. Am Anfang. Heute wusste er: Nichts ist gefährlicher als ein Mensch, den du bewunderst. Sein Kommandeur war einer von ihnen gewesen. Ein Held im Radio, ein schneidiger Stratege in seinen Reden. Jetzt versteckte er sich irgendwo in den südlichen Tälern, nachdem er ein ganzes Bataillon in den Tod geschickt hatte – aus Stolz, nicht aus Notwendigkeit.

Die Wahrheit über die Zukunft, dachte Ewald, lag nie in den Zeitungen. Die waren längst nur Futter für das Kaminfeuer. Wer wissen wollte, wohin alles führte, der musste in die Straßen blicken. In die Gesichter der Arbeiterinnen, die in halbzerstörten Fabriken Stahlteile zusammenschweißten. Oder in die leeren Augen der jungen Männer in den Kasernen, die immer noch glaubten, sie seien Teil eines Plans.

„Du liest zu viel“, hatte Edda ihm einmal gesagt. „Worte ändern nichts. Taten sind das Einzige, was zählt.“ Ihre Worte hallten in seinem Kopf, wie eine Wahrheit, die man zu spät versteht. Der Krieg würde nicht mit einem Sieg enden. Er würde sich wie Rauch verziehen und Narben hinterlassen, in Gesichtern, Seelen und Beton. Und keiner würde am Ende wissen, wofür es sich gelohnt hätte. Vielleicht hatte es sich nie gelohnt.

Ewald zog seine Jacke enger und stieg wieder hinunter in den Schutt. In seinem Blick lag keine Hoffnung, aber eine Entschlossenheit, die dem Verlorenen innewohnt. Denn auch wenn die Völker sich nicht im Spiegel betrachteten, wusste er: Jemand musste es tun.

Die Völker betrachten sich nie im Spiegel. Und erst recht nicht, wenn sie einen Krieg am Hals haben. Gute Kenner der Geschichte wissen, dass die Zukunft eher auf Straßen, in den Fabriken, Kasernen und vielleicht auch Talk-Shows zu lesen ist als in den Zeitungen. Traue nie jemandem, vor allem nicht Menschen, die du bewunderst. Die werden dir die schlimmsten Stiche zufügen.

Die letzte Boje

Der Wind zerrte an den Tragflächen der alten Grumman Albatross, während das Wasser unter dem Rumpf aufschäumte wie brodelnde Lava. Ewald kniff die Augen zusammen und versuchte, das Ziel im dichten Nieselregen auszumachen: eine rote Boje, kaum größer als ein Bierfass, die irgendwo in der grauen See trieb. Er hatte nur diese eine Chance, und die Minuten verstrichen erbarmungslos.

"Boje 14 in Sicht!" rief Edda aus dem Seitenfenster. Sie war seine Copilotin, aber heute war sie weit mehr als das. Navigatorin. Beobachterin. Und sein einziger Schutzengel. Ewald schnaubte. „Siehst du auch den Wahnsinn zwischen uns und der Boje?“

Ein schäumender Wellengang. Treibgut. Und dahinter eine dunkle Silhouette – ein Schnellboot. Viel zu nah, viel zu schnell. „Das ist kein Fischer“, sagte Edda leise.

Ewald wusste es auch. Seit Tagen verfolgten sie Männer ohne Flagge. Keine Küstenwache, kein Schmuggler – das hier war organisiert. Und sie suchten nicht die Fracht, sondern etwas – oder jemanden – an Bord. Er schaltete die Funkverbindung. „Hafenkontrolle Mariehavn, hier ist Wasserflug 7-Kilo-Zulu. Erbitte Unterstützung beim Anlegen.“

Rauschen. Keine Antwort. Das war unnormal. Und gefährlich. „Edda, wir müssen das Ding selbst bändigen.“Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind zu schnell, Ewald. Wenn du jetzt eindrehen willst—“

„Dann brauchen wir jede Welle.“ Er zog den Steuerknüppel sanft nach links, ließ das Flugboot in einem weiten Bogen um die Boje driften. Der Motor röhrte, die Steuerflächen zitterten. Keine Bremsen. Keine Landebahn. Nur Wasser, Wind – und Instinkt. Der Bug schlug eine Fontäne auf, als sie nahe genug an die Boje kamen. Edda warf das Seil mit einer Präzision, die sie sich in Jahren auf der norwegischen Küste antrainiert hatte. Ein Ruck. Halt. „Festgemacht“, rief sie. Ihre Stimme war angespannt.

Doch da war es schon zu spät. Das Schnellboot hatte Fahrt aufgenommen. Drei Männer mit schwarzen Westen sprangen auf den Steg, nur wenige Meter entfernt.Ewald öffnete die Luke, kletterte hinaus, sein Blick fest auf den Anführer gerichtet. In seiner Jackentasche Notizen ein es geheimen Waffentransports, der nie hätte stattfinden dürfen. „Das hier ist kein gewöhnlicher Landeplatz“, sagte Ewald ruhig. „Und ich bin kein gewöhnlicher Pilot.“

Die Männer zogen ihre Waffen. Edda stand hinter ihm, die Signalpistole geladen – und bereit, jeden Bluff in Feuer zu verwandeln. Was folgte, war kein Gefecht – sondern ein psychologisches Manöver auf engstem Wasserraum. Und als der Sturm einsetzte, war klar: Wer auf dem Wasser überleben will, braucht nicht nur ein Flugzeug. Sondern Verbündete. Timing. Und den Mut, sich in bewegtem Wasser gegen den Strom zu wenden.

Starts und Landungen im nassen Element

Wasserpiloten dürfen keine Einzelgänger sein: denn anders als bei Flugzeugen, die auf Land starten und landen, brauchen sie fast immer fremde Hilfe, um ihre Maschine unbeschadet an eine Boje, den Anlegesteg oder vom Ufer wieder zurück aufs offene Wasser zu bekommen. Und anders als bei einem Flugzeug auf Land nützen die Bremsen im Wasser überhaupt nichts.

Vorausschauendes Einschätzen von Wellengang, Strömung und eigener Geschwindigkeit ist also Voraussetzung, um ein solches Flugzeug unbeschadet an das gewünschte Ziel zu bekommen.

Das Echo der Do-X

Nur wenige dürfen auf dem Wasser fliegen. Und jene, die es dürfen, sind mehr als nur Piloten – sie sind Eingeweihte. Wochenlanges Training, dutzende Starts und Landungen auf spiegelglatten oder aufgewühlten Wasserflächen, bei Sonne, Regen und aufkommendem Sturm – das ist die Prüfung, die über Leben und Tod entscheidet. Denn das Wasser vergibt keine Fehler.

Es war ein verregneter Morgen, als Kommissar Frank Lindner am alten Hafen von Friedrichshafen eintraf. Nebelschwaden zogen über den Bodensee, und aus der Ferne klang das tiefe Brummen eines Sternmotors. Was wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten klang, war in Wahrheit der Beginn eines neuen Falls.

Ein Restaurator war verschwunden – ebenso wie ein vertrauliches Dossier aus dem Dornier-Museum. Der Mann hatte angeblich an geheimen Unterlagen zur Do-X gearbeitet, jenem legendären Wasserflugzeug mit zwölf Motoren, das in den 1930er Jahren als Symbol deutscher Luftfahrt galt – und vielleicht noch mehr als das.

„Sie glauben, er hat etwas gefunden, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war?“ fragte Liz, Franks Partnerin, während sie durch das Schilf zum Bootssteg gingen.

„Nicht nur das. Ich glaube, jemand wollte verhindern, dass es je gefunden wird.“

Die Spur führte zu einem alten Hangar, halb überwuchert, in dem früher Wasserflugzeuge gewartet wurden. Drinnen roch es nach Öl, Metall und Geschichte. Und dort fanden sie den ersten Hinweis: eine Notiz, versteckt in einem Fluglogbuch.

„Dornier wusste mehr über transatlantische Flüge, als man ihm zutraut. Die Do-X war nur ein Deckmantel.“

Ein Wettrennen begann – gegen die Zeit, gegen internationale Interessengruppen, und gegen einen unsichtbaren Gegner, der scheinbar alles wusste und nichts dem Zufall überließ.

Und während Frank und Liz sich in die Welt der Wasserflugzeuge und der vergessenen Flugpioniere vertieften, tauchte eine Wahrheit auf, die tief unter der Oberfläche verborgen lag – im doppelten Sinne. Denn die Do-X war mehr als ein Flugzeug. Sie war der Schlüssel zu einem Geheimnis, das bis heute auf dem Grund des Bodensees ruhte.

Wasserfliegen dürfen nur jene mit einer speziellen Ausbildung hierfür: mehrere Stunden Flugtraining und mehrere Dutzend Starts und Landungen im nassen Element sind hierfür erforderlich. In den zwanziger und dreißiger Jahren wurde Claude Dornier durch seine hochseetauglichen Flugboote, vor allem durch das damals größte Wasserflugzeug der Welt, die zwölfmotorige Do-X berühmt.

Furche hinter der Küste

Als der alte Militärtransporter donnernd über dem Wolgaster Flugplatz kreiste und sich dann schwerfällig zur Landung senkte, wehte der Geruch von Salz und Ackerboden durch die Luft – eine Mischung, die nur hier oben zwischen Peenestrom und Ostsee möglich war. Hauptkommissar i.R. Hinnerk Bastian, früher Flieger bei der Luftwaffe, heute ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und Blicken, die sowohl Horizont als auch Erdscholle kannten, trat mit ruhigen Schritten auf das Rollfeld. Die Jahre im Ausland hatten ihn nicht entwurzelt – sie hatten ihn lediglich erinnert, wo er hingehörte.

5

Pommern. Wo die Menschen nicht stur, sondern eigensinnig waren. Nicht zurückgeblieben, sondern genügsam. Er war zurückgekehrt, weil ein alter Freund verschwunden war. Und weil er spürte, dass dieses Land, das Meer, der Wind – dass sie ihm etwas zuflüstern wollten.

Der Fischer und der Acker

Joachim Grütz, der verschwundene Freund, war ein Fischer gewesen, aber einer mit festen Händen und einem Landherz. Hinnerk erinnerte sich an einen Satz von ihm: „Wenn du weißt, wie tief du pflügen musst, kennst du auch, wie weit du auf See fahren kannst.“

Joachim hatte sich zuletzt mit alten Seekarten beschäftigt, mit vergilbten Aufzeichnungen von pommerschen Kapitänen, die im 17. Jahrhundert in holländischen Diensten standen. In einem Notizbuch, das man in seinem verlassenen Haus fand, standen kryptische Einträge: „Furche – 10 Meilen hinter Zinnowitz – Schattenlinie der Küste – Tor zur Tiefe.“

War es nur Spinnerei? Oder hatte Joachim etwas entdeckt – ein altes Versteck, einen Zugang zu vergessenen Schmugglerpfaden oder gar mehr? Hinnerk spürte, wie der Witz und die Bedächtigkeit seiner Vorfahren in ihm arbeiteten. Kein Alarmismus. Kein Getöse. Nur ein ruhiger Blick in die Tiefe.

Der Wind spricht. Er folgte den Spuren, redete mit wortkargen Fischern, trank mit ihnen Korn am Hafen von Freest, beobachtete das Kommen und Gehen der Boote. Nachts, wenn der Wind über die Darsser Halbinsel zog, las er im Notizbuch des Freundes – und hörte dabei das Murmeln der Geschichten, die tief in der pommerschen Erde und noch tiefer im Wasser lagen.

Ein Ort wurde wieder und wieder erwähnt: „Königsfurche“. Niemand im Dorf kannte ihn. Und doch – ein alter Geologe erinnerte sich an Erdstörungen unterhalb des Greifswalder Boddens, die mit einem unterseeischen Tunnel in Verbindung gebracht wurden. NS-Relikte, Fluchtpfade, Schmuggelwege? Oder etwas ganz anderes?

Als Hinnerk in einer sturmumtosten Nacht auf einem alten Boot in Richtung des vermuteten Ortes fuhr, war er nicht allein. Zwei Männer mit süddeutschem Akzent verfolgten ihn – fremd hier, aber bewaffnet und entschlossen. Offenbar war der verschollene Freund nicht zufällig verschwunden. Und was immer er entdeckt hatte, war gefährlich genug, um zu töten.

Nachdenken über sich selbst und die Welt

Der ehemalige Flieger ist ein Pommer – von Meer und Erde geprägt. Der Charakter der Pommern: es lebt viel Witz in ihnen, Bedächtigkeit und Ruhe. Ein Menschenschlag, der gleichermaßen von Meer und Erde geprägt wurde. Nicht stur seien sie, sondern eigensinnig, ganz und gar sie selbst.

Nicht unzugänglich, verschlossen seien sie, sondern bescheiden. Nicht zurückgeblieben seien sie, sondern einfach und genügsam. Ein ihnen manchmal unterstelltes Gefühl des Überlegenseins mag davon rühren, dass sie vor vielen hundert Jahren Weite und Enge zugleich in ihren Blick nahmen: als sie Fischer wurden und Ackerbauern über der Furche, die unmittelbar hinter der Küste begann.

Und all die Vorfahren, die Pommern haben: Goten, Wenden, Schweden, Dänen, Polen, Preußen und wer sich sonst noch so in Pommern herumtrieb. Die Pommern leben gern, und wer gern lebt, ist nicht ganz und gar tugendhaft, kein Tugendbold.

Pommersche Selbsteinschätzung: ein Pommer ist im Winter so dumm wie im Sommer. Nur im Frühjahr, da ist er etwas klüger. Wenn daran etwas Wahres ist, dann ist es diese mit den Jahreszeiten wechselnde Intelligenz.

Vielleicht war es ja auch so, dass die Pommern nur im Frühling (nach dem langen Winterschlaf unter Schnee und Eis und vor der harten Sommerarbeit auf dem Meer, den Feldern) etwas Zeit hatten, über sich selbst und die Welt nachzudenken.

Der Dickkopf von Hinterpommern

Pommern, Spätherbst 1943. Der Wind weht hart vom Stettiner Haff, peitscht durch die Alleen aus knorrigen Eichen, unter denen seit Jahrhunderten das gleiche raue Leben pulsiert. Auf einem abgelegenen Gut bei Gollnow verschwindet ein pensionierter Hauptmann spurlos – ein Mann, der für seine unverblümte Rede und seine stille Verachtung des neuen Regimes bekannt war. Zurück bleibt ein halbverbrannter Brief mit einer Anrede: „An Seine Majestät, Friedrich von Preußen – mein König.“

Der Fund. Kriminalrat Emil Hartwig, strafversetzt aus Berlin nach Stettin – offiziell wegen "unerwünschter Fragen", inoffiziell wegen mangelnder Linientreue – wird mit dem Fall betraut. Schon beim ersten Besuch auf dem Gut merkt er: Hier ist nicht nur ein Mensch verschwunden. Hier hat jemand mit Preußens Geist gehadert – und mit Hitlers.

Der Gutsherr, Wilhelm von Ahlen, war ein Sonderling: altpreußisch, wortkarg, ehrenhaft bis zur Selbstzerstörung. Seine Familie reicht zurück bis in die Zeit Friedrichs des Großen, und in der Bibliothek findet Hartwig eine seltsame Sammlung: Briefe, Aufzeichnungen, ein Faksimile des berühmten Zitats Friedrichs über die Pommern, eingerahmt über dem Kamin.

Freimut und Gefahr. Je tiefer Hartwig gräbt, desto mehr Widerstand regt sich – von oben. Die Gestapo lässt durchblicken, dass man sich um „altes adeliges Zeug“ besser nicht kümmere. Doch Hartwig stößt auf einen kleinen Kreis von Gutsbesitzern, Pastoren und Offizieren, die sich regelmäßig getroffen haben – angeblich zur Pflege „altpreußischer Tugenden“. In Wahrheit, so deuten Briefe an, diskutierten sie etwas Gefährlicheres: den Tyrannenmord.

Ein Pommerscher Eid. Die Spur führt Hartwig in die ländliche Abgeschiedenheit zwischen Stolp und Köslin, wo ein alter Dorfschullehrer – ein Schüler Wilhelm von Ahlens – erzählt, was sein Mentor ihm beigebracht hat: „Ein Pommer sagt nicht leicht Ja. Aber wenn er Ja sagt, dann ist das Gesetz.“ Dieser sture Ehrenkodex ist es, der von Ahlen dazu gebracht haben könnte, sich gegen das NS-Regime zu stellen – und dabei einen tödlichen Fehler zu machen.

Die Schläue der Macht. Hartwig trifft auf einen Gegner in Gestalt von SS-Sturmbann-führer Gerlach – aalglatt, karriereversessen, hintergründig gefährlich. Gerlach hat kein Verständnis für die sentimentalen, aufrechten „Friedrich-Fanatiker“ wie von Ahlen. Für ihn zählt nur Macht, nicht Moral. Doch er unterschätzt Hartwig – und die Pommern.

Das letzte Manuskript. Ein Tagebuch taucht auf – geschrieben in Sütterlin, codiert mit lateinischen Zitaten Friedrichs des Großen. Darin beschreibt von Ahlen ein geplantes Attentat, nicht in Berlin, sondern in Stettin: auf einen berüchtigten Gauleiter. Es kam nie dazu – doch jemand wusste davon. Und hat gehandelt. Der Pommersche Schwur. Hartwig lüftet schließlich das Geheimnis: Von Ahlen wurde nicht von der Gestapo ermordet – sondern von einem der Seinen, der glaubte, der Gutsherr wolle sie verraten. Ein tragisches Missverständnis, geboren aus der Angst, der Sturheit und dem Freimut, den Friedrich einst lobte – und der im Dritten Reich zur tödlichen Schwäche werden konnte.

1946

Die Sowjets haben Pommern geschluckt, die Familien sind geflohen oder tot. Hartwig lebt zurückgezogen in einem Vorort von Hamburg. Auf seinem Schreibtisch liegt das Faksimile-Zitat Friedrichs – eingerahmt. Der letzte Satz: „…weil ihr Freimut nicht für Geschäfte passt, bei denen man der Schlauheit mit der Schläue begegnen muss.“

Hartwig lächelt bitter. Dann greift er zur Schreibmaschine. Die Geschichte muss erzählt werden.

Ewald. Nicht glatt und fein, sondern kernig