Ewig währt am längsten – Der Pastor und das letzte Hemd - Markus Orths - E-Book

Ewig währt am längsten – Der Pastor und das letzte Hemd E-Book

Markus Orths

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Beschreibung

Skandal in Niederkrüchten! Wunder geschehen: Der Pastor Kasper macht sich nackig – und zwar am Altar und vor den Augen seiner treuen Schäfchen. Das hat seine Gründe und wächst sich aus zu einem echten Kriminalfall. Irma und Klärchen ermitteln. Und Benno, der Niederkrüchten-Heimkehrer? Er hat nur Augen für Sandkastenfreundin Sibille ...

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Über das Buch

»Was ist passiert?«, fragt Marta.

»Die Tante Erna ist tot«, sagt Klärchen.

Und dann erzählt Mutter Irma, dass die Tante inzwischen dreimal auf verschiedene Weise verschieden ist, zweimal scheinbar, einmal wirklich. »Jetzt liegt sie im Kühlraum. Die Beerdigung ist schon Donnerstag.«

 

Der Heimatbesuch bei den Eltern in Niederkrüchten nimmt für Benno einfach kein Ende. Aus einer vermeintlichen Beerdigung wird nun doch eine echte. Der alte Pastor legt in einem Verzweiflungsakt bei der Predigt ein außergewöhnliches Verhalten an den Tag. Und Bennos Mutter Irma und ihre Freundin entdecken ihre kriminalistische Ader und das langgehütete Pastorengeheimnis. Das Dorfleben steht Kopf – und Benno muss bleiben. Aber auch Sibille bleibt, die Freundin aus Kindertagen. Wenn das mal kein Wink des Schicksals ist …

 

 

Von Markus Orths

ist bei dtv außerdem erschienen:

Tante Ernas letzter Tanz

Markus Orths

Ewig währt am längsten

Der Pastor und das Letzte Hemd

Roman

1

Als kleines Kind saß ich immer zwischen meinen Eltern. In der Kirche. In der Niederkrüchtener Pfarrkirche Sankt Bartholomäus. Ein wahrhaft imposantes Gebäude. Malerisch, barock, flämisch, spätgotisch, alles auf einmal, errichtet auf einem älteren Gotteshaus, von dem nur das romanische Rundbogenportal geblieben ist. Ich mag diesen eckigen, wuchtigen Turm, dessen Spitze zu klein erscheint und aussieht wie der Hut eines Zauberers. 1909 ist die Kirche erweitert worden zum dreischiffigen Backstein-Hallenbau mit polygonalem Chor und Dachteller, wie ich soeben nachlas, ich habe zwar keine Ahnung, was das bedeutet, aber es klingt genauso bombastisch wie die Kirche selbst auf mich wirkte, damals, als Steppke, auf den harten Bänken, zwischen den Eltern.

Natürlich habe ich gedient, als Ministrant, und je älter ich wurde, umso mehr wuchs ich in meine Aufgabe hinein. Ich brachte es schließlich zum Obermessdiener, der in den nächtlichen Metten das Weihrauchfass schwenken durfte, meist zusammen mit Nille und Jürgen. Zwei von uns trugen dann die Weihrauchfässer und einer das silberne Schälchen mit Weihrauch und Löffel. Wenn die Priester am Altar uns gerade nicht brauchten, füllten wir selber – unbeachtet in der Ecke hinter einer Säule stehend – den Weihrauch nach. Und: Vor jeder Mette – gibt’s ’ne Wette! So sagten wir immer.

An unserem alles überglänzenden Rekordtag – es war eine dieser pompös-gloriosen Christmetten am Heiligen Abend, zu der unser Organist Franz Schaffrath seinen alten, engen Frack anziehen und nicht nur den Chor, sondern auch ein (wenn auch mickriges) Orchester dirigieren durfte –, da fragte Nille noch in der Sakristei die übliche Weihrauch-Wetten-Frage: »Wie viele?«

Ich: »Sechs.«

Jürgen: »Sieben!«

Nille: »Zehn!«

Ich: »Zehn sind viel.«

Nille: »Topp?«

Jürgen und ich: »Topp!«

In den Pausen, in denen Kaplan Holm und Pastor Wilhelm den Weihrauch nicht brauchten, räucherten wir Halbstarken die ganze Bude ein, wir schwenkten und schleuderten die Fässer wie die Berserker, hoch und nieder, bis zum Anschlag, immer riskierend, dass die heiße, leis knisternde Kohle herausfliegen und ein Loch in den Teppich brennen könnte. Wenn der Rauch weniger wurde, hemmten wir den Flug der Fässer. Nille und ich zogen – perfekt eingeübt – mit den Mittelfingern an den Silberkettchen, wodurch sich die Deckel der Weihrauchfässer hoben, und Jürgen streute aus dem Schälchen zwei Löffel vielfarbig schimmernde Weihrauchkörner auf die glühenden Kohlen. Dann ratterten die Deckel der beiden Fässer wieder hinab, und wir vernebelten die gesamte Kirche mit unseren Schwaden.

Endlich, schon kurz vorm Sanctus, stand als Erster August Magolei auf, Ende vierzig damals, kreidebleich, er wankte durchs Mittelschiff nach draußen, an die frische Luft, er wollte einfach nur raus aus diesem Weihrauchwabern.

Nille raunte: »Nummer eins!«

Jetzt aber schien der Bann gebrochen. Einige folgten Magolei auf dem Fuß. Wir schafften dreizehn an diesem Tag, das war unser Rekord, nie wieder erreicht, und Nille schob grinsend seine zwei Fünfmarkstücke in die Tasche.

2

Meine Zeit als Ministrant ist lange vorbei. Ich bin nicht mehr 14, sondern 41, und es ist Sonntag in der Früh. Immer noch bin ich auf Wochenendbesuch in Niederkrüchten, meiner Heimat. Gestern ist Klärchens uralte Tante Erna zweimal gestorben, aber sie lebt immer noch. Außerdem habe ich Sibille geküsst. Meine Sandkastenfreundin. Besser gesagt: Sie hat mich geküsst.

Und jetzt sitze ich – halb acht! – mit den Eltern beim Frühstück, und meine 80-jährige Mutter fragt mich, ob ich mitkomme.

»Wohin?«, murmele ich, während ich mit dem Marmeladenbrötchen kämpfe.

»In die Kapelle«, sagt sie. »Zum Pastor Kasper, das weißt du doch. Der ist längst im Ruhestand, aber tut immer noch die Messen im Altenheim. Da gehen wir jeden Sonntag hin.«

Ich schaue sie an.

Mutter fragt nur, um mich zu necken.

»Ich weiß«, sagt sie. »Du bist ein Antichrist.«

»Atheist.«

»Gesundheit.«

»Danke.«

Nach einer Pause, in einem seltenen Moment der Stille, die mit Mutter immer nur kurz dauert und die man rasch nutzen muss, sage ich plötzlich, für mich selbst überraschend: »Ja.«

»Wie, ja?«

»Ich komme mit.«

»Wohin?«

»In die Kapelle.«

Mutter ist fassungslos. »Zur Messe?«

»Ja«, wiederhole ich und stopfe den Rest des Brötchens zwischen die Zähne. »Ich will endlich mal Pastor Kasper live und in Farbe predigen hören.«

Mutter ist gerührt. »Wunderbar!«, ruft sie.

»Und warum sind die Messen so früh?«, frage ich.

»Weil die alten Leute im Altenheim so schlecht schlafen können und weil die am frühen Morgen alle aus den Betten fliehen.«

»Senile Bettflucht?«

»Was sagst du?«

»Senil!«

»Apropos Nil. Da hausen die Ägypter. Und heute wird Pastor Kasper wieder über die Ägypter predigen. Das hat der mir gestern noch verraten. Über die Ägypter und die Isrealiten.«

»Über die Israeliten?«

»Genau. Über die Isrealiten. Das ist alles real ist das.«

Ich nicke ihr zu. Das nimmt Mutter als Zeichen, richtig auszuholen. Obwohl ich ihre Ausschweifungen liebe: So früh am Morgen ist es ein klein wenig anstrengend.

»Das geht so«, beginnt Mutter. »Die Isrealiten fliehen vor den Ägyptern. Die Isrealiten mit Moses an der Spitze, die Ägypter mit Ben Hur und Konsorten. Die Isrealiten haben nichts als ihre bloßen Hände, die Ägypter allerhand Waffen. Aber dann teilt Gott das Rote Meer: Es bleiben zwei Wasserwände stehen, rechts und links. Der Pastor Kasper erzählt das immer wieder gern, ein paarmal im Jahr erzählt der das. Der liest ja schon lange nichts mehr aus der Bibel vor. Das tut der nicht mehr, aus Prinzip. Der hat den ganzen Keu schon so oft vorgelesen, sagt der, das kommt dem aus den Ohren raus. Der will dafür lieber eigene Worte finden, wie seinerzeit der Karl May. Und wenn Pastor Kasper die Flucht der Isrealiten erzählt, erfindet er immer ein kleines Mädchen, weil: Die Isrealiten, sagt der, das klingt nach nichts, da weiß man auch gar nicht, wer das sein soll. Aber ein kleines Mädchen namens Maya, das kann man sich viel besser vorstellen als so viele Leute, von denen man keinen kennt, so rein persönlich. Jedenfalls, das kleine Mädchen verliert immer ihren Teddybär in der Geschichte vom Pastor Kasper, und ohne ihren Teddybär kann die Maya nicht einschlafen. Die Maya läuft also zurück durch das trockene Rote Meer, während alle anderen Isrealiten weiterfliehen. Das Mädchen läuft zurück, nur um den Teddybär zu retten, und da vorn liegt auch schon der Teddybär, und das Mädchen geht in die Knie und legt ihre Hände um den Teddybär und hebt ihn in die Höhe – der Pastor Kasper, der kann das richtig geschickt hinauszögern in seiner Drama-Liturgie –, und dann aber sieht die Maya plötzlich die Ägypter mit Wagen und Waffen um die Ecke biegen. Ob die Wände von dem Roten-Meer-Wasser damals Ecken hatten, weiß ich auch nicht, aber das erfindet alles der Pastor Kasper, damit das so richtig spannend wird und man die Ägypter nicht schon von Weitem sieht, sondern eher plötzlich, wenn die also um die Ecke preschen. Das Mädchen Maya sieht die Ägypter, und ganz vorn fährt auf seinem Wagen der Chef von denen, das war doch der Yul Brynner. Genau, ich glaube, der hieß Yul Brynner. In dem Film, meine ich. Den kennst du doch. Und die Maya sieht also den Brynner und die Ägypter und erschrickt zu Tode, weil: Der hat ja eine richtige Glatze, der Brynner. Aber dann kommt immer in letzter Sekunde Moses angesprengt. Meistens auf einem Pferd. Und wenn das Pferd Iltschi heißt, wissen wir, der Pastor Kasper hat wieder einen Karl-May-Rückfall. Iltschi, so heißt nämlich das Pferd vom Winnetou. Pastor Kasper liest für sein Leben gern Karl May, das weißt du ja. Manchmal hat das Pferd vom Moses auch zwei Höcker, und dann wissen wir, das Pferd vom Moses ist diesmal ein Kamel, ein richtiges Trampeltier, also das Kamel, nicht der Moses. Und der große Held Moses hebt das Mädchen vom Boden zu sich aufs Pferd oder aufs Trampeltier und reitet mit den übrigen Isrealiten in den roten Sonnenuntergang am Roten Meer. Herrlich ist das: auf der einen Seite der Untergang der Sonne, auf der anderen Seite der Untergang der Ägypter.«

3

Um halb neun sitzen wir in der Kapelle. Die ist keineswegs rappelvoll wie einst Sankt Bartholomäus am Heiligen Abend. Im Gegenteil: Sie ist quasi rappelleer. Es gibt nur fünf Besucher außer mir: Das sind meine Eltern Irma und Paul sowie das Klärchen, Mutters Doppelhaushälften-Nachbarin und beste Busenfreundin, und dann sitzen da noch zwei ältere Dämchen namens Frida Kling und Rosa Heyer. Ihre Namen erfahre ich von Mutter. Die Kapelle gehört zum Altenheim, aber was heißt schon Kapelle, es ist nur ein einfaches Zimmer, ein schmuckloser, funktionaler Raum, immerhin mit einem erhöht liegenden Altar.

Ich sitze also hier, um meiner Mutter eine Freude zu machen und den Pastor Kasper predigen zu hören. Endlich betritt der alte Mann die Bühne. Seine Glatze funkelt wie frisch gebohnert. Allein ist er, ohne jeden Messdiener, und ich zucke kurz und will ihm beispringen, eine Art Ministrantenreflex tief in mir, doch beherrsche ich mich und bleibe sitzen: Ja, man kann Atheist werden, aber achtzehn Jahre katholische Erziehung lassen sich nimmermehr abschütteln oder – wie im Buch Gottesvergiftung über die religiöse Erziehung sinngemäß steht: Man kann zwar den ganzen Schlamm und Dreck aus dem Innern spülen, aber die dort verankerten Röhren und Kanäle bleiben für immer unzerstörbar.

Pastor Kasper ist überaus schwergewichtig, wie ein zweibeiniges Walross mit seinen 150 Kilogramm, kurzatmig, keuchend, ab und an Pausen machend, so erklimmt er die drei Stufen zum Altar, es ist, als stehe er kurz vorm Gipfelkreuz des Mount Everest.

Dann hat er es geschafft.

Er dreht sich zu uns um.

»Da stimmt was nicht«, sagt meine Mutter sofort.

Sie hat recht. Des Pastors Wangen sind rot, okay, das kann noch von der Anstrengung herrühren, aber in seine Augen krallen sich Tränen, ob vor Traurigkeit oder Wut oder beidem vermag ich nicht zu sagen. So gut kenne ich ihn nicht. Im Grunde genommen kenne ich Pastor Kasper fast nur aus den Geschichten meiner Mutter. Er lebt allein in Niederkrüchten, in einer viel, viel, viel zu großen Villa für eine einzelne Person, einer Villa, die er einst von seinen stinkreichen Eltern geerbt hat. Direkt am Lüttelforster Bruch liegt die Villa. Richtig schön einsam. Zwischen der malerischen Lüttelforster Mühle und der weniger malerischen Conifrit Cox Geflügel- und Pommes-frites Großhandel und Import KG am Kamper Weg. Direkt ans Ufer der Schwalm haben die Vorfahren vom Pastor die Villa in die Landschaft gepflanzt, zu Zeiten, da man noch nicht wusste, wie Naturschutzgebiet geschrieben wird.

Pastor Kasper wirkt fahrig am Altar, sowohl in sich gekehrt als auch irgendwie außer sich. Er betet nicht wirklich, er presst die Gebete durch die Lippen, als stecke ihm ein Messer zwischen den Zähnen. Ich kann seine Wut förmlich greifen. Auch Mama und Papa schauen sich fragend an. Das Klärchen dagegen verschlingt seelenruhig ein Brötchen, das sie vom Frühstück mitgenommen hat. »Damit ich unterwegs nicht verhunger.« Sie ist genauso dick wie der Pastor und steht während der Messe weder auf noch kniet sie sich hin, sie bleibt immer sitzen. »Von den Bänken da unten komme ich nie wieder hoch!«

Wie von Mutter angekündigt wächst sich die Lesung aus zu einer freien Erzählung über die Israeliten. Das Pferd vom Moses ist diesmal tatsächlich ein Kamel, aber das Kamel hat vier Höcker. Es gibt auch zwei Mädchen und zwei Teddybären, die aber alle ganz gut aufs Kamel passen, weil: Bei vier Höckern ist Platz für drei Leute zwischen den Höckern. Held Moses – mit Silberbüchse und einer Feder im wallenden schwarzen Haar – kann es dagegen nur einmal geben. Meine Mutter beugt sich zu mir und raunt mir zu: »Der hat heute Morgen bestimmt schon was getrunken!«

Der Pastor erzählt die Geschichte zu Ende, er pfeift aufs Evangelium, und schon geht’s los mit der Predigt. Ich zucke zusammen. Denn der Pastor fängt unvermittelt an zu schreien, seine gesamte Wut scheint zu platzen wie eine reife Frucht. Es ist eine Welle des Zorns, die aus dem Pastor schießt und über unseren Köpfen tosend zusammenschlägt wie gerade eben noch das Wasser vom Roten Meer über den Köpfen der Ägypter. Ich habe immer noch keine Ahnung, woher diese Wut stammt. Pastor Kasper wirft seine Fäuste gen Himmel und ruft: »Was ist das überhaupt für ein Gott!? Der einen ganzen Stamm Ägypter einfach so ersaufen lässt!? Gut, die sind jetzt nicht unbedingt sympathisch, die Ägypter, aber dass man die gleich alle um die Ecke bringen muss!«

»Siehst du!«, raunt Mutter mir zu. »Hat das Rote Meer also doch Ecken!«

Pastor Kasper schreit weiter: »Was denkt der sich dabei, dieser Herr und Gott! Schon rein vom Logischen her! Von Menschlichkeit will ich gar nicht erst anfangen. Wie kommt der denn auf so was? Gott hätte doch einfach eine Fähre schicken können, um die Israeliten trocken übers Meer zu bringen. Und der Noah schipperte damals bestimmt auch noch irgendwo rum da unten, auf seinem Arsche. Warum denn immer gleich so brutal? Wenn der doch in der Lage ist, dieser Gott, ein Meer in zwei Hälften zu spalten, dann hätte der die Israeliten auch einfach ganz sanft übers Meer pusten können! Ans andere Ufer! Das wäre doch auch ein toller Zaubertrick gewesen. Da sind die Ägypter belämmert genug, wenn die ans Rote Meer kommen, und die Israeliten gondeln über den Fluten und drehen den Ägyptern eine lange Nase. Das hätte doch auch gereicht, um die Ägypter zur Räson zu bringen und um denen mal so richtig eins auszuwischen. Da muss man als so ein Gott doch nicht gleich die ägyptischen Indianer alle umbringen! Und hat denn dieser fiese Gott gar nicht gedacht an die ägyptischen Kinder und an die Frauen, die jetzt in den Zelten der Ägypter warten!? Und ihre Ehemänner kommen nie mehr wieder!? Da sitzen die mit ihren selbst gestrickten Mokassins und weinen vor sich hin an den Birkenholz-Lagerfeuern. Wer soll denn jetzt die Bisons jagen, fragen die sich, wenn die Männer alle tot sind? Wer soll uns vor den Grizzlybären schützen und vor den Angriffen der Komantschen?«

4

Das Ganze geht eine Weile so weiter. Pastor Kasper predigt nicht wie üblich nur zwei Minuten, nein, dieses Mal will er gar nicht mehr aufhören. Meine Eltern und das Klärchen sitzen senkrecht in den Bänken, fast so senkrecht wie die Wasserwände vom Roten Meer, ja, mit ähnlich roten Ohren sitzen sie da.

»Und wie blöd kann man sein, als Ägypter!«, ruft der Pastor. »Dass man nicht merkt: Das ist eine Falle! Die sich dieser saubere Gott mal wieder ausgedacht hat! Wie bekloppt kann man sein!? Dass man in ein Meer tappt, wo rechts und links zwei Wasserwände stehen!? Das muss man doch sehen als Ägypter! Also dass die Wände jederzeit wieder zusammenklappen können! Das ist doch eine wackelige Angelegenheit, so zwei Wasserwände. Da sag ich mir doch als ägyptischer Häuptling: Komm, lass die Meute sausen, Manfred, vergiss die Irokesen, wir schnappen uns einfach neue Sklaven! Da lauf ich doch nicht mittenmang in das Mienenfeld, wo sich die Mienen doch an den Seiten förmlich neben mir aufbauen. So blöd kann doch keine Sau sein! Das sind doch alles geschickte Fährtenleser, die Ägypter. Da guckst du doch nicht stur auf den Boden, da schaust du doch auch mal nach links und rechts.«

Er macht eine Pause.

Er wird etwas ruhiger.

»Ich habe jetzt endgültig die Nase voll«, zischt er, »und zwar gestrichen voll hab ich die Nase von diesem brutalen Alten Testament. Das ganze Hiobzeug und Saddam und Camorra und Kain und Babel und Isaak und Konsorten und Vater Abraham und die ganzen miesen Schlümpfe, das reicht mir jetzt. Ab heute lasse ich das Alte Testament einfach weg. Und basta. Einverstanden?«

Mutter ruft: »Recht haben Sie, Herr Pastor!«

Ich schaue mich um. Die beiden alten Dämchen in ihren Rollstühlen fummeln an ihren Hörgeräten.

Plötzlich bekommt der Pastor Kasper einen ganz weichen Blick nach innen, es sieht so aus, als würde er gleich anfangen zu weinen, und dann murmelt er: »Selbst in meinem biblischen Alter noch schickt mein Gott mir schwerste Prüfungen! Ich weiß nicht, mein Gott, womit ich deine grausame Prüfung verdient habe? Was für ein Zeichen willst du damit setzen? Was willst du mir sagen? Dass ich alles