Excelsior - Ein Bergsteigerleben - Georg von Ompteda - E-Book

Excelsior - Ein Bergsteigerleben E-Book

Georg von Ompteda

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Beschreibung

Ernst Sturm, schon als Kind begeistert von der Bergwelt, möchte nur eins: Bergsteiger werden. Dem Bergsteigen widmet er sich mit unbeirrbarer Leidenschaft. So begleiten wir von Omptedas Protagonisten in die Ferien mit den Eltern in den Berchtesgadener Alpen, mit Bergführer auf Hochtouren, zittern mit ihm im nächtlichen Freilager am Tribulaun und die Euphorie einer Erstbesteigung in den Dolomiten macht auch den Leser glücklich. Dann Übermut und Abstürze, Einsamkeit in der großen Höhe und Hüttengaudi, der Tod des Vaters, Militärdienst, Medizinstudium, ab und zu gerät eine Frau in sein Blickfeld, aber Sturm liebt letztendlich doch nur die Berge und seine Mutter, mit der er einmal über die Gletscher am Großglockner kraxelt. Unglaubliche Touren mit dem Freund und Maler Thomas Holtzer, in München die Gründung einer Gemeinschaft von Bergfreunden, der Bergler, Geselligkeit, dann wieder mit Rucksack, Kletterschuhe und Eispickel hinaus in die Bergwelt, grandiose Naturerlebnisse, viel Idealismus und schließlich kurz vor dem Examen zu dritt auf das Matterhorn, der Höhepunkt, "wenn böses Wetter ist, dann wird das Matterhorn der furchtbarste Berg. Im Schneesturm kommt keiner wieder." Oder doch? Excelsior ist ein zeitloses Werk, von Ompteda kann wunderbar die Schönheit der Natur beschreiben und der Leser hat immer das Gefühl, er steigt mit auf die Vajolettürme, hängt an der Marmolatasüdwand, ist den Elementen preisgegeben am Matterhorn.

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Seitenzahl: 605

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhaltsverzeichnis
EXCELSIOR
Vorwort
1
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4
5
6
7
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Am Ende
Erklärung alpiner Ausdrücke
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books im Reese Verlag:

Georg von Ompteda

EXCELSIOR – Ein Bergsteigerleben

Ein Bergroman

Reese Verlag

EXCELSIOR

Mens sana in corpore sano

Vorwort

Die Jahre fliehen, unrettbar gehen sie dahin: seit ich jung war, ist ein neues Geschlecht heraufgekommen. Aber ich stimme nicht ein in den Klageruf von der guten, alten Zeit! Nein, wie die Monde mir entgleiten, ist mir, als sei es nicht schlechter geworden um uns. Mit mir saß eine bebrillte, käsig blasse Jugend in dumpfen Kneipen bei Skatdreschen und Tabaksqualm. Deutsches Glück ward nach dem Grade der Trunkenheit bemessen. Wer sich nicht leichter Erfolge bei noch leichteren Dirnen zu rühmen wußte, den nahm man als keinen ganzen Kerl. Schwestern aber, bei Leibe, sollten deutsche Jungfrau spielen, Hüterinnen des Hauses sein, den Teint schonen, nicht unweiblich ihre Glieder brauchen. Und der Nachwuchs der Sieger von Sedan ward Zimmerwanze, mästete sich ein Bäuchlein an, und im - ach so kurzen - Besitz zweier seliger Sprachen, nirgends im Leben des Tages zu brauchen, sah er mitleidig herab auf des englischen Vetters ungelahrte, sehnige Gesundheit.

Die Zeiten haben sich gewandelt. ‚ÜberSee‛ rieb sich deutsche Jugend an Angelsachsen, Skandinaven und Romanen, brachte neue Gedanken heim von Freiluft und Körperwert. Wie man nun hinausging, entdeckte das junge Geschlecht sich die Natur und in ihr des eigenen Leibes Gesundheit, Kraft und damit Schönheit. Uralte deutsche Freude an körperlicher Leistung kam zurück. Ball- und Rasen-Spiele, einst heimisch im Vaterlande, nun längst verschollen, kehrten wieder, wenn auch in englischer Gestalt. Das Meer, die Ströme, die Seen belebten sich mit Seglern, Ruderern, Schwimmern und Schlittschuhläufern. Fahrräder eilten über die Straßen, Autos durchrasten die Länder, Lenkballons, Flugmaschinen durchschossen die Luft. Laufen, Springen, Ringen, Stemmen, Turnen füllten mehr und mehr die Mußestunden. Allüberall der Drang ins Freie, in die Natur. Den Alkohol, Feind aller Leistung, begann man in den Bann zu tun. Jugendlichen Lungen ward ‚Hecht‛ und Sauerstoffmangel der Kneipen unerträglich. Da erwachte auch die deutsche Jungfrau, ließ Strickzeug und langen Rock beiseite, ward hirn- und fußfrei. Und der Jüngling folgte nicht mehr errötend ihren Spuren, sondern lernte sie bei Sport und Spiel als Gefährtin kennen, daß er über dem selbstverständlichen Verkehr der Geschlechter die heimliche Venus der finsteren Gassen vergaß. Da wuchs empor aus Anfängen weniger frühbegeisterter Freunde der freien Schöpfung, unberührt, in erschütternder Größe allein noch in den Hochalpen zu finden, der Alpinismus unserer Tage. Die Berge wurden jenen, die sich auf die Forderungen ihres Leibes besonnen, ewige Jungbrunnen des Lebens. Dunst und Stickluft der Gassen ließen sie hinter sich, ihre glücklichen Augen fanden, was herrlicher ist, denn jedes Menschenwerk: die große Natur. Mit erstarkenden Muskeln, aus tieferen Lungen die freie Luft der Höhen atmend, ward ihnen Kraft und Gesundheit, damit aber, trotz Arbeitslast und Berufsnöten der Tiefe: das Gleichgewicht ihrer Seele. Sie lernten dort oben, was ihnen im Luxus der Städte gedroht verloren zu gehen: entbehren! Sie teilten in eisiger Beiwacht das harte Felsenlager mit dem armen Sohn der Berge: gerechtes Glück in unserer sozialen Zeit, daß wir Satten, Behausten fühlen, wie jenem zumute sei, der nicht weiß, wohin er nächstens sein Haupt legen soll. Herz und Selbstvertrauen ward ihnen gestärkt, wenn sie auf eigene Kraft gestellt, lotrechte Felsenmauern bezwangen, auf messerscharfem Eisgrat hinanstrebten zu Höhen, nie zuvor von eines Menschen Fuß betreten. Allein gehen sie; keine schönen Augen spornen ihren Ehrgeiz; kein Geldpreis lockt. Ihr Tun ist frei von allem, was dort unten an den Menschen klebt. Immer neue Scharen strömen ihnen zu, das ganze Jahr hindurch, denn auch der Winter, trotz Schneemassen und Lawinen hat ihnen seine Schrecken verloren. In den Kletterschulen der Vorberge lebt es und stählt sich zu Großem. Die Zahl der Führerlosen schwillt. Alle Berufe, alle Stände sind dabei, aber keiner sagt, was er dort unten ist. Wäre auch lächerlich hier oben! Da sind Frauen und Mädchen, Männer im Mittag der Jahre, wie der Greis, der auf seine letzten Tage noch einmal hinausblicken will über all die Gipfel, seine alten Freunde, ehe die Sonne ihm untergeht. Wer einmal in die Berge gekommen, den lassen sie nimmer. Und wenn sie nun einem ein eisiges Grab bereiten in grünschimmernder Gletscherspalte, wenn ein anderer ewige Ruhe findet durch einen Fall von himmelhoher Wand,- ist es nicht besser, als unten langsam sterben auf dem Stroh, wo in naturentwöhnten Leibern Seuchen ihre Opfer wählen? Nein, es ist nicht schlechter geworden um uns! Ein starkes, ein gesundes Geschlecht ist heraufgekommen. Ich grüße dich, Jugend! Bergheil dir und: Excelsior!

Fragt aber einer, dem unser Tun, unsere Liebe zu den Bergen fremd, immer noch warum? so will ich ihm sagen:

Wir suchen in jenen großen Höhen, indem wir Gefahr überwinden, Betätigung der ersten Mannestugend: des Mutes; indem wir schwer emporklimmen zu sauer erworbenem Gipfel: Stählung unseres Körpers; indem wir uns in die grenzenlose Einsamkeit begeben, dort oben: Sammlung für unsere Seele. Wir führen angesichts der erschütternden Größe der Natur menschliche Überhebung, Schwäche und Dünkel auf das rechte Maß zurück. Wir wissen auf unserem schweren Wege, daß wir Leidenschaften der Tiefe, Nichtigkeiten der Täler hinter uns lassend, dem Himmel näher kommen, und dort oben, an den Enden der Schöpfung allein, fühlen wir uns Gott nahe!

1

Ihr glücklichen Augen

Was je ihr gesehn,

Es sei wie es wolle,

Es war doch so schön!

Goethe

In allen Träumen stand es vor seiner jungen Seele, an allen Wänden des Knabenzimmers hing es in seiner steilen, unnahbaren Pracht. Und er redete davon, der blonde, hochaufgeschossene Bursch, wie von ferner Sehnsucht, und doch wieder von einem sicheren Besitz. Während anderen seiner Jahre irgendeine Flamme im Herzen brannte, heute blond und morgen braun, der Jüngling sich im Blute regte mit scheuem Triebe, glitten seine deutschen Augen, blau wie Gottes reiner Himmel, hinweg über die Lieblichkeit all derer mit der süßen Stimme und dem langen Haar, empor zu den weißen Wolkenwänden, die blendend über der endlosen, flachen Tiefebene standen. Ihm war, als ragte dort die Riesenkette der Hochalpen. Der bewaldete, begrünte Fuß, der felsenstarrende Mittelaufsatz verbarg sich in unsicheren Dünsten. Nur die Gletscherzungen, die Eishänge, spiegelnd schmelznasse Grate und die ewig schneegekrönten Gipfel blickten hinaus über das Nebelmeer. Dann lehnte er im Fenster, starrte hinauf und suchte, wie der Wind leise die fernen Nebelgebilde verschob, nach dem, das in allen Träumen vor seiner jungen Seele stand und an allen Wänden seiner Stube hing in seiner steilen, unnahbaren Herrlichkeit: dem Matterhorn.

Er meinte es zu sehen ab und zu, wenn die runden Engelwolken dort oben im scharfen Zuge einer heftigen Luftströmung sich verzogen, verwehten zu breitbauschender Fahne, zu spitzleckender Flammenglut, zu einem scharfen Gipfel. Es erstand vor seiner jungen zaubernden Phantasie ganz plötzlich, wie es sich einst dem Knaben gezeigt, als die Eltern bei einer Schweizerreise Zermatt auf zwei Tage berührt.

Was hatte der Sohn der Ebene von Bergen gewußt! Staunend waren ihm wohl am Vierwaldstättersee die Wände und Schroffen vor Augen getreten, aber des Wasserspiegels farbiger Wechsel bannte stärker seine Blicke, und dem Knaben klangen die Schillerworte im Ohr, gleich Glockenläuten, daß seine Augen nur an den Ufern hingen, an der Tellsplatte, dem Rütli. Und dann in Interlaken zog ihn das Treiben an auf dem Höheweg, possierliche, geschnitzte Bären in den Schaufenstern, Feuerwerk im Kursaal, - aber die Jungfrau hatte einen Wolkenvorhang vorgezogen. Am Genfersee waren es die fremdländischen Nadelhölzer, die der Vater ihm nannte, Schloß Chillon, wobei die Mutter Byrons Verse leise sprach, war es der blaue Spiegel der ruhenden, riesigen Flut, der sein junges Hirn staunend mit Eindrücken füllte.

Dann kam Zermatt. Und in Zermatt Unwetter und Nebel. Man mochte das Hotel kaum verlassen. Mama wäre am liebsten gleich wieder abgereist, aber Papa, dessen Leben als Beamter in Ordnung lief, hatte nun einmal achtundvierzig Stunden für Zermatt im Reiseplan angesetzt, und die mußten vertan werden. Als am zweiten Morgen der eisige Regen des ersten Tages nicht mehr peitschend niederprasselte, als ringsum die weißen Wolkenballen stiegen, brach man auf zum Gornergrat. Der war in Aussicht genommen, ob der Blick nun frei wäre oder ob die Dünste trostlos über die Matten schlichen.

Ohne Ende ging es hinan. Im Grunde stöhnten sie alle über die Mühsal des Weges, doch Papa ließ nichts verlauten in den Sielen der selbstauferlegten Pflicht; Mama aber trug hinan: die tiefe Sehnsucht, ihr eingeboren nach allem, was ragend stand und fern und rätselhaft war; Annie taten in zu spitzen Stiefeln mit hohen Absätzen längst die Füße weh, doch vor dem jüngeren Bruder hätte sie nie eine Schwäche zugegeben. So blieb nur Ernst, der blauäugig blonde Knabe übrig zum Stöhnen. In dem flapsigen Flegelalter, das er durchwuchs, so schnell geschossen, daß ihn manchmal förmlich die Gelenke schmerzten, ein wenig träge, ganz lässig, blieb er alle hundert Schritte stehen, blickte in den grauen Dunst hinaus und wischte sich, eigensinnig zu dick angezogen, obwohl Papa es widerraten, den Schweiß von Stirn und Nacken. Wie der Atem ihm kurz ward und die Knie matt, wie er zurückblieb hinter den andern, wandelte die Lust ihn an, sich niederzuwerfen auf das feuchte Berggras und liegen zu bleiben. Dann mochten die rücksichtslos Vorausgeeilten nur rufen, sich ängstigen, ihn suchen gehen.

Doch niemand rief, keiner kehrte um. Nun schritt er allein, ein bißchen baumelig, die großen Füße lehnan setzend, und wie alles ein Ende nimmt auf dieser trefflichen Erde, ward denn auch bald der eintönig gerade Aufstieg flacher.

Ab und zu blendeten die Nebel gleich dem Sonnenball selbst. Jäh ward dann irgendwo von stoßenden Winden der Wolkenvorhang aufgerissen, daß die nassen Steine gleisten, die Halme funkelten und die Wasserlachen spiegelten, wie flüssiges Silber. Doch wieder ward das Licht verschluckt, aufgesogen, in Dämmer geborgen von all dem treibenden Dunst.

Der Knabe blieb stehen. Jemand hatte gerufen. Da riß fauchender Sturm ein Loch in den Schleier, und Ernst sah die Eltern, die Schwester, nicht gar weit entfernt. Als er nahe kam, erklärte sein Vater, sie würden nicht ganz hinaufsteigen zum Gornergrat. Führer, die zur Betempshütte gingen, hatten gesagt, Fernsicht sei heute doch nicht zu erwarten, aber vielleicht sähe man rechts abbiegend in der Tiefe den Gornergletscher liegen.

Nun begann Papa über Werden, Wachsen und geheimes Leben gewaltiger Gletscherströme zu reden. Ein wenig zuviel Lehren und Lernen steckte zwar darin, doch Ernst merkte auf, seine Augen schienen durch undurchdringliche Schleier die Gletscher zu suchen. Auch Annie sprach darein, denn im Eifer des Erklärens blieb dann der Vater wohl stehen, und das tat ihrer Lunge gut.

Langsam schreitend kamen sie an einen Wasserspiegel.

„Das muß der Riffelsee sein!“ meinte Papa nach einem Blicke in sein rotes Buch. Staunen und Starren. Willkommene Gelegenheit abermals zur Rast. Nun ließ auch Mama sich nieder auf eine gewaltige, gleich einem Gletschertisch nur in der Mitte ruhende Platte, feucht wie alles in diesem Dunst, wo an den kleinen Fasern und Wollhärchen der Kleider Perlen glitzernd zitterten.

Sie blickten zur finsteren Fläche des in grauem, trostlosem Gestein gebetteten Sees. Annie hatte sich zur Mutter gesetzt. Sie betupfte ärgerlich die in all der Nässe sich lösenden, mühsam gekünstelten Stirnlöckchen. Ernst stand abseits, und als die anderen den Rückweg antraten, blieb er zurück. Immer fein artig mit der Schwester gehen? Das dumme Ding! Schon rief sie ihm zu, altklug und naseweis:

„Ernst, paß auf den Weg auf!“

Unwillig wandte der Knabe sich um. Er hörte bei des Windes gleichmäßigem Atem nicht mehr seiner Mutter Stimme:

„Mein Ernstli, verirr dich nicht!“

Er ließ sich nieder zwischen die Felsentrümmer, reckte die ungelenken Glieder. Aus blöden Augen, die noch kein Gott aufgetan, starrte er in die Öde schmutzig-nasser Felsen. Gähnend sah er den bleiernen Wasserspiegel des Riffelsees. Müde der ewigen Nebel, lehnte er sich zurück, die Hände im Nacken verschränkt, und blinzelte empor in die Blendung weißer Dünste. Immer zog es hin, wälzte sich, blieb träge ruhen, bis mit einem Mal die Ballen lockerer werdend sich auseinanderschoben.

Was lugte da herein? Lachte es nicht nieder aus tiefster Himmelstiefe? Sattes Blau strahlte durch die Wolken. Und des faulen Jungen Augen weiteten sich. Plötzlich klaffte breit der Spalt, wie wenn pausbackige Engel die dünnen Schleier zur Seite bliesen. Dem Knaben war es unter dem hellen Lichtschein der einfallenden Sonne, als hätte rund um ihn finstere Nacht gelegen. Und da die Platten, da er sich hob, rutschten und kippten, meinte er schier, die Erde rege sich unter ihm. Das Wort beim Verscheiden des Erlösers kam ihm wieder gleich einer Notwendigkeit: „Und der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei!“

Er riß entzwei. Die Wolken taten sich auf von der dunklen Erde bis hinan in des Himmels stahlblaue Pracht. Mitten darin, umrahmt von Schleiern und Dünsten, leuchtete es, gleich der Herrlichkeit des ersten Tages. Da stand über dem Tal auf einem Sockel grüner Matten und schwarzen Gesteins, von gleißenden, erstarrten Strömen Eises umflossen, ein Wundergebilde sondergleichen: eine Felsensäule, furchtbar gewaltig, ein Obelisk mit steilen, grauenvollen Flanken, weiß bestäubt von neuem Schnee dieser letzten bösen Tage, ein Berg, schreckhaft fast, unwahrscheinlich und herrlich doch in einem, unsäglich wunderbar! Stand ganz allein empor sich reckend in den Himmel: das Matterhorn!

Und dem Knaben wurden die Augen aufgetan, wie einst der Blinde sehend geworden, da Jesus den Finger näßte und ihn legte auf seine Lider.

Es war, als sei der träge Junge, dem das Wachstum die Glieder ermüdete und den Sinn umwand wie mit Binden, von den Toten erwacht. So starrte er hin. So blieb er, ohne sich zu regen.

Kauernd ließ er sich nieder, ganz leise, fürchtend, die gewaltige Erscheinung könne verlöschen. Er lag, auf spitzen Steinen den Arm aufgestützt, und schaute hinüber mit glücklichen Augen, die sehen gelernt, gleich dem König der nordischen Sage, da er Asgard erschaut, die Götterburg.

Und wie einst dem Gekrönten in grauer, unsicherer Zeit das Bild zerrann, eine Spiegelung der Luft, so verglomm der Wunderberg in leisen Schleiern, bis die Stelle, da er gestanden, in den Nebeln nur noch sichtbar blieb durch lichteren Schein.

Als der Knabe tief unten am Wege die anderen einholte, ihn der ängstlichberuhigte Blick der Mutter empfing, die Nichtachtung der Schwester und seines Vaters Mahnung:

„Aber wir wollen jetzt zusammenbleiben, Ernst!“ da sprach er nur,- zum ersten Male trat dabei geheimes Leben auf die unfertigen Züge des werdenden Menschenkindes:

„Ich habe das Matterhorn gesehen!“

Die andern hatten es auch gesehen. Was war besonderes? Die Mutter aber fühlte mit ihrem Sohn: alle stille Sehnsucht ihres Lebens regte sich, und sie nahm seinen Arm, während sie schweigend zu Tale schritten.

Seitdem stand das Matterhorn in allen Träumen vor seiner jungen Seele, an allen Wänden seines Knabenzimmers hing es in seiner steilen, unnahbaren Pracht. Und immer, wenn er am Fenster lehnte und es zu sehen meinte in den Wolken, kam ihm sehnsüchtig verstohlen die Frage:

„Wann stehe ich einmal dort oben?“

2

Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder.

Schiller

Aus dem schlottrigen, halbreifen Knaben war ein hochaufgeschossener, blonder Jüngling geworden. Die Dumpfheit schien von ihm genommen, sein Herz erwacht. Die Lebenskraft während des starken Wachstums allein vom Körper verbraucht, daß der Geist in Banden lag und die Seele schwieg, wandte sich innerem Werden zu. Mit der gleichen stürmischen Gewalt, wie bisher seine Glieder geschossen, entwickelte sich nun sein Fühlen.

Und seine Liebe gehörte den Bergen, wie einer fernen Braut, nie gekannt und doch in unbestimmter Sehnsucht ihr versprochen.

Die Eltern gingen für die großen Ferien nach Berchtesgaden. Nicht ohne Mamas Zutun, die ihres Sohnes Schwärmen ahnte und den Ort erbeten, „damit Annie Solbäder nehmen könne.“ Als dann die Entscheidung statt für Helgoland, wohin Geheimrat Sturm zuerst gewollt, richtig auf Oberbayern fiel, sahen Mutter und Sohn sich in die Augen.

Nun strichen sie in München durch die Straßen. An jedem Schaufenster, wo Bilder der Berge prangten, blieb der Jüngling in scheuer Ehrfurcht stehen. Wenn sie Leute trafen in Nagelschuhen und gamslederner Hose, mit den grünen Bändchen seitwärts hinauswehend, gleich einer Standarte, starrte er den einfachen Berglern nach wie höheren Wesen.

„Zu dumm ist das, diese bloßen Knie!“ sagte wegwerfend Annie. Als ihr Bruder gekränkt sie anfuhr in seiner jungen Begeisterung, meinte sie gar noch:

„Pfui, wie unanständig!“

Dann hing sie sich an Papas Arm, und das Stadtkind, hübsch, mit seiner milchweisen Haut und dem aschblonden Haar, fand es nur anständig, daß die Herren ihm nachblickten. Ernst aber, neben der Mutter hinter ihnen schreitend, ward es nicht gewahr, wie manches Frauenauge auf ihm ruhte, der ein junger, deutscher Siegfried war an Hünengestalt, Blondhaar und großen, blauen Augen. Er sagte wegwerfend zur lächelnden Mama:

„Es gibt doch nichts Alberneres als so ein Mädchen!“

Beim Anblick der ersten Kalkschroffen schien dem Jüngling die Umwelt versunken. Und wie es mählich zu dunkeln begann bei der Einfahrt von Reichenhall ins Berchtesgadener Tal, starrte er nur immer wortlos empor, wo der Watzmann liegen mußte. Aber man ahnte dort oben nur noch gewaltige Schatten in dem sternenlosen Himmel.

Der Geheimrat, Mitglied des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, mehr aus deutscher Pflicht, als aus wilder Begeisterung für die Berge, trug sein Alpenvereinszeichen am Hut. Ernst betrachtete scheu das silberblinkende Edelweiß, und beim Ausflug an den Königssee machte er aufmerksam auf jeden, dem es auch am Hut steckte, gleichsam, als habe man einen gefunden, mit dem ein Band verknüpfe.

Er sah nicht mehr des grünen Sees Flut; zu den gewaltigen Wänden blickte er empor, die jäh aus seinen Wassern stiegen.

Wenn es kaum hell geworden war, lief er schon an das Fenster der Giebelkammer und riß die Läden auf. Da stand der Watzmann: zur Rechten der große, jäh emporgereckt, an seiner Seite sein Weib, der kleine, und daß der Ehe Glück voll sei, zwischen ihnen die Watzmannkinder.

In bloßen Füßen, im Nachthemd, hockte Ernst am Fensterbrett und starrte hinüber zum Berg, an dem die Morgensonnenstrahlen langsam niederglitten, wachsend an Fülle des Lichts.

Immer wieder kam ihm der Gedanke an das Matterhorn, und der Watzmann fiel ihm zusammen mit dem stolzeren Berge seiner Sehnsucht.

War das ein Jubel, als Papa beim Abendessen sagte:

„Wir gehen morgen nachmittag auf das Watzmannhaus!“

Des Jünglings große, blaue Augen strahlten. War das ein Vorbereiten am andern Morgen! Die derbsten Rindsledernen wurden zum Schuster gebracht und hin und her besprochen, wie sie genagelt werden sollten, schwer und fest und sofort! Einen Rucksack wollte Ernst kaufen, doch der Vater fand es unnütz: sie nähmen ja einen Führer mit. Der Jüngling bat wenigstens um die Gunst, Papas Schnerfer tragen zu dürfen.

„Du wirst müde werden!“

„Ich bin nie müde!“

„Junge, du kennst das noch nicht! Soviele Stunden das schwere Ding schleppen!“

Doch Ernst bettelte, bis der Vater nachgab. Und nun wurde gepackt, ausgepackt, umgepackt, gewählt, verworfen, und schließlich, da der junge Siegfried alles zu tragen sich vermaß, ja noch die Sachen von Mutter und Schwester zusammenholte, schwoll das Ungetüm an zum furchtbaren Warenballen.

Da stand der Führer Alois Walch, ein sehniger, älterer Mann, das Gesicht wie aus Holz geschnitten, scharf und hart, und im Mundwinkel hing die Pfeife, auf deren Porzellankopf ein Gamsbock im Feuer zusammenbrach. Ob des Rucksackes schüttelte er lange das graugelockte Haupt, sprach aber kein Wort. Dann ging es fort in den glühenden Sommernachmittag hinein.

Noch einmal wurde Halt gemacht, Bergstöcke zu kaufen. Und die Aufregung war groß, bis Annie den niedlichsten und unbrauchbarsten gefunden, Ernst aber einen rechten Männerknüppel, den er trotz seines unnötigen Gewichtes zwischen den Fingern spielen ließ wie ein Zündholz.

Sobald der Hüttenweg durch den Wald lehnan stieg, lief Ernst voraus, stolz, schneller vorwärts zu kommen, als der Führer. Aber Alois Walch änderte nicht seinen gleichmäßigen Schritt mit gebogenem Knie, das, aus der Lederhose rutschend, zum haarigen Schenkel ward. Ja, er blieb gar noch stehen, den Rucksack zurechtzuschieben. Aber trotz allem langsamen Gehaben stand der Lois früher an den Schlangenwegen, die, nachdem der Wald schütter geworden, den steilen, nackten Kegel zum Watzmannhaus hinanführten.

Der junge Siegfried hatte längst das Laufen verlernt. Hochrot glänzte sein Gesicht. Ein Knopf nach dem anderen ward geöffnet; nun sprang noch gar der Kragen auf. Verstohlen tupfte Ernst den Schweiß und blieb alle zehn Schritte stehen.

Der Mutter, - leicht steigend bei ihrer schlanken Gestalt und ihren achtunddreißig Jahren, - der geliebten, schönen, blonden Mama, lachte die Freude aus den Augen über ihren großen Jungen, der seine Erschöpfung nicht wahr haben mochte. Sie tat, als merke sie nichts und blickte mit ihm hinaus über das Berchtesgadener Land, ihnen tief zu Füßen. Die beiden Seelen, für ein Leben verbunden durch das engste Band dieser Erde: Mutter und Sohn, hatten sich verstanden.

Der Vater und Annie kamen in Sicht. Er führte das müde Mädchen am Arm.

Da wandte sich Ernst, und mit brennenden Wangen, mit keuchender Lunge rannte er bergan, dem Führer nach, der schon über der Höhe verschwand. Die Adern klopften ihm bis in den Hals. Auf der Brust rann ihm der Schweiß herab, das Blondhaar ward dunkel von schweren Tropfen, salzig lief es ihm in Augen und Mund, aber er biß die Zähne aufeinander und stürmte fort.

Dann saß er im Gastzimmer des Watzmannhauses mit Eltern und Schwester in einer Ecke und wollte trotz leisen Mahnens der Mutter den Rock nicht anziehen - das sei Verweichlichung - bis Papa es befahl. Als etwas gebraucht ward aus dem fürchterlich geschwollenen Rucksack, hob er mit einer Hand das Ungetüm, das freilich schlimmer aussah, als es wog, denn Ernst verstand nicht zu packen.

Da die Betten telefonisch bestellt waren, blieb man ruhsam sitzen. Der Raum begann sich zu füllen. Immer mehr prustende, erhitzte Menschen in seltsamsten Vermummungen traten ein.

„Guten Tag!“ „Guten Abend!“ „Hab’ die Ehr’!“ „Grüß Gott!“

Die erstaunlich kurze Zeit des Aufstieges wurde mit Siegerlächeln vorgelogen. Ein dickes Weib, die rundlichen Gelenke durch Goldspangen noch erhöht, deren gewaltiger, brandender Busen, durch einen „heiteren Blick“ entblößt, wie der ungeschützte Nacken vom Feuer der Julisonne brannte, warf sich auf den ersten Stuhl an der Tür, just am Sturmschen Tisch, ließ erschöpft die Knie auseinandersinken, wedelte sich mit dem ausgerungenen Tuche Kühlung zu und verkündete vertraulich blöde lächelnd:

„I kann nimmer schnaufen!“

Dann traten welche ein, wie es schien, nur heraufgekommen, ihren mörderischen Durst zu löschen. Andere spotteten der klaren Gottesluft da draußen, bestrebt, mit dem Stickrauche ihres üblen Krautes den Dunst der Talkneipen auch hier hinauf zu tragen. Die meisten dieser Gelegenheitsbergsteiger hatten alle armen Menschlichkeiten ihres engen Lebens da unten getreulich mit heraufgebracht. Diese konnten es nicht erwarten, ihr heimisches Käseblättchen aus der Tasche zu ziehen, jene saßen schon beim Skat. Einer in gamsledernen Hosen und grauem, grüneingefaßtem Lodenrock schimpfte auf das Essen und stellte Ansprüche, als wäre er im ersten Großstadtschlemmerhorte. Er erzählte stummen Nachbarn, „der Watzmann sei jar nischt“, er hätte „janz andere Zicken sich in die Stiebelsohlen jestochen“.

Ernstens Augen blitzten empört über diese Schmähung seines ersten Berges.

Dafür saßen aber zwei stille Jungfern dort im Winkel, die den Weg herauf ihrem müßigen, alternden Körper nur schwer abgerungen. Die zeigten selige Gesichter: sie waren auf einem wirklichen Berge, auf einer rechten Hütte. Wenn es auch schon eigentlich mehr ein Berggasthaus zu nennen war. Sie putzten die angelaufenen Scheiben, hinauszuspähen, flüsterten miteinander, und dann saßen die alten Weiblein da, den Schal um die Schultern, verlegen, verstohlen unter dem Tische Hand in Hand.

Papa hatte mit Nachtlager, Zahlen und Wecken zu tun. Da ging Ernst hinaus. Ein scharfer Wind pfiff ihm entgegen. Wie er ihm um die Wangen schlug in seiner herben Frische gegen die dumpfe Hitze da drin, war es dem Jüngling gleich einem Trunk aus dem Borne neuen Lebens.

Ohne Hut, daß sein blondes Lockenhaar wild wehte, die Hände in den Taschen, starrte er hinunter in die Tiefe, wo Berchtesgaden lag, im Schatten, denn das sinkende Tagesgestirn ließ seine Strahlen schon leise die Hänge drüben am Hohen Göll hinanklettern.

Ernst war sehr hoch zu Sinn, sehr feierlich. Er war seltsam glücklich, so allein. Er fühlte sich so gesund, so stark!

Da tönten Stimmen, Menschen kamen, den Sonnenuntergang zu sehen. Irgend wer hatte es drinnen angekündigt, gleichsam wie ein Schauspiel. Ernst aber schlich um das Haus herum, ihnen auszuweichen. Durch das Fenster sah er in der Führerstube Gestalten mit braunen, hageren Gesichtern, die Suppe löffelnd. In der Küche standen breitrockige Weiber, denen die Herdglut die Wangen gerötet. Hinter dem Haus, wo das gleichmäßige Hauchen des Talwindes mit einem Mal schwieg, ward die grünende Lehne, der Trümmerhang des Hocheckgrates sichtbar. Nicht eben eindrucksvoll in seiner Verkürzung durch die Nähe, aber es war der Weg, den sie morgen gehen würden.

Und ein Frösteln erwartender Freude lief dem Jüngling durch die Glieder.

Als er wieder ins Haus trat, saß nur noch der Vater am Tisch. Er hielt Ernst eine kleine Rede, wie er immer sprach. Gründe wurden klargestellt, Möglichkeiten abgetan. Es kam heraus, daß Annie übermüdet war und es besser sei bei ihrer Blutarmut, wenn sie morgen früh ausschliefe. Papa, der als Student schon einmal auf dem Hocheck gewesen, wollte bei ihr bleiben. Ernst ginge mit Mama und dem Führer natürlich hinauf. Noch eine väterliche Ermahnung, ja nicht die Schwester zu hänseln, weil sie dem Steigen nicht gewachsen war, dann: „Gute Nacht!“

Ernst lag lange wach im kleinen Schlafraum, während neben ihm sein Vater schlummerte.

Die erste Nacht auf einer Hütte! Fast zweitausend Meter über dem Meer! Ihm war, als könne man hier gar nicht wohnen, leben! So fern von den Menschen! Fern jeder Hilfe! - Ganz - ganz allein! Er wickelte sich enger in die Decke. - Es war so finster - so still. - Ob der Mond wohl schien? Und wie lange würden sie brauchen morgen früh? Wenn ihm nur nicht der Atem ausging! Wieviel Platz mochte wohl sein auf so einem Gipfel? Fiel er - nach allen Seiten gerade ab? Ganz - ganz gerade? Das Matterhorn stand vor ihm, so schlank - so - spitz - so - so war ein Gipfel- aber der Watzmann? Doch er sah nur das Matterhorn. Es glitt zusammen in eins. Das Matterhorn - das - das -

Am Morgen fuhr er empor:

„Jawohl - ich stehe gleich auf!“ rief er wie immer, wenn er für die Schule geweckt wurde. Er mußte sich besinnen, wo er war.

„Mach keinen Lärm, Ernst!“ sagte nur Papa und drehte sich auf die andere Seite.

Unten wimmelte es schon von verschlafenen Einsilbigen, die beim Frühstück saßen. Mama gab ihrem Jungen einen Kuß. Sie war frisch, gut frisiert, wie immer. Ernst küßte ihr die Hand und sah sie an mit strahlenden Augen:

„Du bist immer so schön, Mama!“

„Ernstli, sag nicht so was!“

Alois Walch trat schweren Schrittes an den Tisch. Die geliebte Pfeife im Munde, blinzelte er ihnen zu, und das harte, hölzerne Gesicht hatte etwas pfiffig Belebtes. Er gab ein Zeichen zum Aufbruch mit kurzem Kopfschlenkern. Sie wollten der Herde vorauskommen.

Den dicken Rucksack, den Ernst durchaus umhängen wollte, hatte er schon geleert. Den Wettermantel und Mamas wollenen Plaid stopfte er samt Frühstück und Flasche in seinen schmächtigen, grünleinenen Schnerfer. Dann, den Bergstock in der Hand, ging es in den nebelig-kalten, grauenden Morgen hinaus.

Stumm schritt der Führer voran, ab und zu sich umblickend, ob man ihm folgte. Und diesmal stieg Ernst im gleichen Schritt hinter dem stummen Sohn der Berge her. Zwar schmerzten ihn von gestern die Muskeln der Waden und Oberschenkel, die Knie waren steif, aber der Jüngling biß die Zähne aufeinander, und vorwärts ging es ruhig, langsam.

Der Blick nach links auf den Watzmanngletscher belehrte, daß sie schon hoch über dem winzigen Eisfelde standen. Ein Drahtseil kam. Alois ließ seine Touristen vorangehen. Einmal war es, als wolle er den Mund auftun, ihnen das Festhalten einzuschärfen. Ernst klopfte das Herz, war er schwindelfrei? Doch er kletterte den felsigen Grat hinan, ohne das Drahtseil anzufassen. Wie er von oben in die Tiefe schaute, ward er sich der kleinen Beängstigung bewußt, die ihm das Blut hatte schneller jagen lassen: Wie ein Sieger stand er da, als ob er des Steigens in Felsen gewohnt sei.

Der Mutter streckte er die Hand hinab, und an schmalem Felsenörtchen lehnten sie nebeneinander. Er flüsterte ihr zu:

„Ist das wunderbar!“

Der Führer war gefolgt. Auf einen Absatz frei hinaustretend, setzte er den Weg fort, qualmend, spuckend ab und zu, und immer mit sorgsamem Blicke rückwärts. Auf dem breiten Grate stiegen sie hinan. An Verwitterungsrissen der gewaltigen Kalkplatten fand der Fuß guten Halt. Ein förmlicher Pfad war ausgetreten. Ein paar Kreuze erschienen jetzt, in die Felsen gerammt, Wahrzeichen frommer Seelen, hier oben, wo man dem Himmel näher sich befand als im tiefen Tal. Aber Ernst hatte keine Augen für der Wallfahrer Ziel, er sah nur den Gipfel, das Hocheck, in unmittelbarer Nähe, und im Gefühl der erste sein zu wollen, der heute den Fuß auf des Berges Scheitel setzte, stürmte er an Alois Walch vorüber mit schlagenden Pulsen und keuchendem Atem.

Er stand oben! Zum ersten Mal auf einem Berge, einem wirklichen Berg! Nichts gab es in nächster Nähe mehr über ihm! Er blickte sich um, neugierig wie ein Kind, beugte sich nieder, den Fels zu betasten als etwas wundersam Köstliches. Er maß mit dem Auge die Breite des Berghauptes, auf dem sie standen. Dann trat er hart an den Absturz und ließ die Blicke hinablaufen über die Kalkwände, die Felsstufen, auf den Gletscher dort unten, aus dem die Watzmannkinder wie große Zacken nur ragten, und über die tief unter sie versunkene Spitze des kleinen Watzmanns bis zum Königssee.

Aber dessen grüner Spiegel lag unter Nebelschleiern, verschlossen wie mit einem Deckel lockerer Watte.

Als Ernst die Augen aufhob, sah er über dem steinernen Meer Spitze an Spitze, Gipfel neben Gipfel, daß der Anblick ihn fast verwirrte und er leise stöhnte:

„Ah - Ah -“

Denn da drüben über den Karrenfeldern lagen blendende Streifen von Schnee, glitzernder Firn, bläuliche Eiswände, zerrissene Gletscher, und hoch darüber Riffe und Hörner und Zinken und Zacken ohne Zahl und Maß. Und immer zwischen zweien, die sich reihten gleich den ¿.ahnen einer Säge, stand ein dritter. Hinter ihm in beiden Lücken abermals zwei, aus denen immer ferner wieder neue ragten, wie gleichstehende Spiegel ihr Bild einander zuwerfen, nimmer endend, erst begrenzt durch des schwachen Menschenauges Sehkraft.

Der Jüngling suchte, ohne die trunkenen Augen von der unermeßlichen Weite zu lassen, seiner Mutter Hand, als könne er den ersten Anblick der großen Höhen nicht ertragen, ohne zu wissen, daß ein anderer atmender

Mensch wie er der Gewalt der Schöpfung gegenüberstand. Er lehnte sich an jene, die ihm, sein Liebstes auf der Erde, das Leben geschenkt, und die Finger ineinander verstrickt, starrten die beiden hinaus auf die schweigende Welt der Berge.

Es war ein heller Tag, kein Wölkchen stand am Himmel, kein Dunst schwebte über den Fernen, und wie er das Bild maß, stieg in ihm das Gefühl auf, als läge in diesen hehren Höhen seiner Zukunft bestes Teil.

Doch er wurde aus seinen Träumen gerissen durch die Kette der Menschen, die jetzt allmählich über den Grat heraufstieg. In der Absicht, ihnen zu entfliehen, entdeckte er erst, was bislang in seiner Bergtrunkenheit ihm noch nicht zu Sinnen gekommen, daß der Watzmanngrat fortlaufend drüben zu einer Spitze sich aufschwang, die ihren Standpunkt überragte.

Sofort sprang er einen Felsabsatz hinab. Ihm war das Herz so voll, der Fuß beschwingt, der Atem leicht, ein Höhenrausch umfing seine Sinne, daß er hätte laut jubeln mögen. Ein Scherz schien es ihm, die „paar Schritte“ hinüber zur Mittelspitze, und er trat hinab und hinauf, tastend mit der Hand an den Felsen.

Da mit einem Mal glitt der Nagelschuh des linken Fußes an einem Tritte ab. Es warf ihn herum. In natürlichem Gefühl griff er zu; die Hand faßte ins Leere. Hart glitt sein Schenkel an scharfer Felsenkante hin, und Ernst empfand einen jähen, schneidenden Schmerz.

Eine eiserne Hand hielt ihn am Rocke gepackt. Er hing. Er klebte. Er saß. Über sich sah er des stummen Führers dunkles, scharfgeschnittenes Angesicht. Die Stimme sprach fast feierlich:

„Obacht! Hier oben gibt’s koa G’spoaß net!“

Ernst fühlte brennende Röte in die Wangen steigen, während der alternde Führer leise zu ihm sagte, bemüht in hoher Sprache zu reden:

„Wer hier derfällt, der müßt zerschellen wie eine Glasflaschen. Danken Sie Gott im Himmel, junger Herr!“

Das währte Sekunden. In Sekunden auch waren sie auf die Spitze zurück, wo eben die Gesellschaft erschien. Ernst schielte voll glühender Scham nach der Mutter. Den Ankommenden entgegenblickend, hatte sie nichts bemerkt. Und in dem Lärm von Stöhnen, von Freude, oben zu sein, in der Bewunderung der Aussicht, blieb alles verborgen. Sie stiegen hinab zu den Wallfahrerkreuzen, dort auf den sonnigen, windgeschützten Kalkplatten ihr Frühstück zu verzehren.

Das Schienbein schmerzte den halben Knaben, doch er wagte nichts zu sagen. Da rief lachend Mama:

„Ernstli, du hast ja ein Loch im Strumpf? Da – und - mein Gott, es blutet ja - !“

„Ich habe mich gestoßen, Mama! Es ist nichts!“

Aber er beugte den Kopf tief hinab.

Der alte Führer deutete, Speck und Messer in der braunen Hand, hinaus auf die unendliche Ebene, die sich über dem Salzkammergut vor den dreien auftat. Sie schauten das Flachland, wo Felder und Wälder, Seen und Flüsse, Dörfer, Städte und Länder lagen, ohne Grenzen scheinbar.

Da sagte Mama halb flüsternd zu ihrem Sohn:

„Jetzt verstehe ich die Stelle der Bibel, wo der Teufel Christum führte auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. “

Und sie sah und sah immer hinaus. Er fragte plötzlich:

„Mama, glaubst du, daß ich einmal auf das Matterhorn kann?“

„Junge, wie kommst du darauf?“

„Ich möchte Bergsteiger werden!“

3

Wie pocht das Herz mir in der Brust

Trotz meiner jungen Wanderlust,

Wann, heimgewendet, ich erschaut

Die Schneegebirge, süß umblaut,

Das große, stille Leuchten!

Conrad Ferdinand Meyer

Ja, seine Liebe gehörte fortan den Bergen; nicht in Träumen mehr vom Fenster aus wie einst, nicht in unbestimmter Sehnsucht, dem Fluge der Wolken nach: nein, er hatte den Fuß auf die Höhen gesetzt, seine Hände hatten Felsen betastet, als er in jähem Sturz, am harten Leib des Riesen sich gehalten.

Und nun war er krank an den Bergen. Krank? Gesund geworden war er durch sie. Alles, was in dem jungen Herzen an zielloser Sehnsucht webte, erwachte, all das Lässige, die seltsame Dumpfheit, die auf dem werdenden Manne gelastet, ward wesenlos. Er war in diesen Jahren der Entwicklung so oft verstimmt gewesen, niemand wußte, warum, nun hätte er lachen und singen mögen den ganzen Tag.

Der Watzmannbesteigung waren andere gefolgt, einmal mit seinem Vater, ein andermal mit Mama; denn eines blieb bei Annie zurück, die behauptete, „schreckliches Herzklopfen“ zu bekommen, sobald sie nur ein wenig stieg, während der liebenswürdige Bruder sich jedesmal ausschütten wollte vor Lachen, wenn sie von ihrem Herzen begann. Den Untersberg, den Hohen Göll hatte Ernst sogar zweimal besucht, und sein Glück war voll, als Papa erlaubte, daß er mit Alois Walch auf den Hochkalter ginge und auf die Schönfeldspitze.

Der Führer nahm ihn, wie der Jüngling stolz sagte, „nicht einmal ans Seil“. Das hatte Walch vielleicht gar nicht mitgehabt, denn er war ein einfacher Lokalführer alter Schule, der Touren, wie den Hochkalter aus dem Wimbachtal, oder gar den Watzmann vom Königssee, für ein „Gottversuchen“ erklärte.

Aber des Jünglings Herz klopfte, wenn diese Bergfahrten genannt wurden, und einen jungen Führer, der sie gemacht, sah er an in stummer, fast neidvoller Bewunderung.

Ernst bat Papa, ihn mit den anderen gehen zu lassen, im dunklen Gefühl, dann würden sie Besonderes erleben, doch der Geheimrat brummte etwas von „Vorsicht“ und „Albernheiten“. Damit war die Sache abgetan. Da nun bald darauf Regen einsetzte, der nimmer aufhören wollte, blieb der Bergstock für diesen Sommer in der Ecke.

Die Ferien gingen zu Ende, Papas Urlaub auch. Der Abschiedstag war kalt und trübe; die Höhen hatten sich dicht verschleiert. Am Bahnhof konnte man wähnen, in der Ebene zu sein. Annie schimpfte über das Wetter. Mama hatte den Sommer genossen, nun sagte sie:

„Ich hasse Berlin!“

Da rief ihr Mann, der alle starken Äußerungen von Für und Wider nicht liebte:

„Es ist unsere Heimat, liebes Kind!“

Sie blieb die Antwort nicht schuldig. Zum Fenster in den trostlosen Dunst hinausblickend, trällerte sie, die in Köln geboren:

„Nur am Rheine möcht’ ich leben!“

Ernst flüsterte der Mutter zu:

„Und ich in den Alpen!“

Dann redete er von seinen Arbeiten für die Schule. Das gefiel Papa. Er taute auf. Da er sich über seine Frau geärgert, sprach er jetzt nur mit Ernst, als ob sie gar nicht da wäre. Der Geheimrat freute sich im Grunde, wieder nach Hause zu kommen. Sein Lebensinhalt war das Ministerium. Die ganzen Ferien hindurch beschäftigte ihn vor allem der Gedanke, was hatte sein Stellvertreter wohl für Dummheiten gemacht.

Nun begann die ewig gleiche Tretmühle der Schule von neuem; die Berge lagen versunken in dem grauen Nebel, der sie am Abschiedstage verhüllt. Doch die Erinnerung an sie hemmte Ernst nicht. Im Gegenteil, er wollte sie sich verdienen. Und er lernte fleißig, ja, während er seine Gedanken gesammelt hielt auf seine Arbeit, vergaß er sie ganz.

Als sie vom Hochkalter aus die Watzmannspitzen erblickt, hatte Alois Walch ihm den Punkt gezeigt, wo der angehende Bergsteiger, seinen ersten Schritt allein und fast seinen letzten getan. Dabei schärfte er ihm ein, in den Bergen dürfe man auch an der leichtesten Stelle nie vergessen, wo man wäre. Den Finger erhoben, sagte er, der nur zu sprechen ^schien, wenn es höchsten Ernst galt:

„Der Berg ischt wia an Weibsbild; wannst an ihm bischt, darf’s nix anders geben! Dann ischt er a trei, und ’s kann dir nix g’schehgn! Aber wannst dei Gedanken wo andersch hast, rächt er sich g’schwind und stößt di von sich, hinab!“

So kam Ernst in der Schule gut fort. Ja, er war einer der ersten in der Klasse, nicht so aus Büffelei, als weil er ganz tat, was er tat. Wenn er dann in den Mußestunden eigene Wege ging, konnte der Geheimrat nichts dagegen haben. Des Jünglings eigene Wege waren aber die Alpen.

Vom wohlhabenden Papa gut gehalten, von Mama, deren Vater ein rheinischer „königlicher Kaufmann“ gewesen, reichlich bedacht, schaffte er an, was nur je über Bergfahrten erschienen war. Wie andere seines Alters Münzen oder Briefmarken sammelten, stellte er eine Bücherei zusammen. Von den klassischen Werken der Bergsteiger fehlte keines. Die „Erschließung der Ostalpen“ las er Zeile um Zeile. Paul Güßfeldts hohe Auffassung und reiner Stil erschienen ihm, als solle er daraus denken und reden lernen; über Theodor von Wundts Bildern und Worten saß er jeden Abend, und Emil Zsigmondys „Gefahren der Alpen“ wurden ihm ein Quell des Lernens Tag um Tag. Er hatte Tränen in den Augen bei Josef Enzenspergers Ende, drunten auf den Kerguelen, fern von der Heimat Bergen; er studierte Ludwig Purtschellers Hochtourenverzeichnis mit glühendem Kopf, als müsse er all die hunderte und aberhunderte von Gipfeln jenem besten deutschen Steiger nachtun. An der Jungen Verwegenheit begeisterte er sich, und in der reinen Luft der großen Höhen, die aus all den Schriften ihm entgegenschlug, gleich dem Atemhauch von Eis und Firn, blieb auch des Jünglings Seele hoch und rein.

Manche Mitschüler lebten ein stumpftörichtes, halbes Studentendasein, indem sie bei Bierzipfel und Tabak, den Jahren vorgreifend, sich als „Burschen“ fühlte. Andere spielten die kleinen Schwerenöter in Tanzstunden, Teekränzchen und Lesezirkeln. Welche ochsten nur mit blöden Augen und verdummten Hirnen. Einige taten nichts, weder im Guten noch im Bösen. Der Letzten frühverdorbene Jugend gefiel sich auf dunklen Wegen verschwiegener Gassen.

Sie alle mühten sich, Ernst Sturm in ihren Kreis zu ziehen. Vergebens. Keiner aber wagte, ihn deshalb zu verspotten. Oho, der hätte wohl Bekanntschaft gemacht mit seinen breiten Fäusten. Denn der schlanke und doch muskelbepackte Körper des jungen Siegfried vergaß seine Entwicklung nicht, wenn auch Hirn und Herz erwacht. Jeder in der Klasse hatte Dampf vor Ernst, und er war doch gutmütig im ruhigen Bewußtsein seiner Kraft. Nur wer es wagte, einen schwächeren, kleineren Knaben zu „schinden“, hatte es mit Sturm zu tun.

Dabei war es nicht körperliche Überlegenheit allein, die ihm Achtung schuf vor den Mitschülern, sondern die in sich selbst ruhende Sicherheit seines Wesens, etwas Unumstößliches. So war er, so mußte er sein, hole der Teufel, wer ihn anders gewollt hätte.

Man kannte seine Liebe für die Berge, denn der schüttete oft sein Herz aus, und sogar platte Burschen hörten zu, wenn er mit dem Überschwang der Jugend von Berchtesgaden erzählte, von all den Großtaten in den Alpen, und dann das „Matterhorn“ seine Rede schloß. Das Matterhorn, dessen Bild er noch immer in seinem Herzen trug, gleich einer heimlichen Geliebten, wie es noch immer an allen Wänden seines Zimmers prangte.

Wenn er von alledem redete, wurden seine Augen glänzend, als ob Tränen in die Winkel stiegen. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht, dann reckte er sich, dann waren seine Schultern breit in tiefem Atem, und seine Stimme, die sich zum Baß gewandelt, dröhnte wie langdahinrollender Donner.

Auf der Schule galt er schon jetzt, man wußte nicht warum, als Bergsteiger, und er hatte doch nur ein paar geringe Gipfel erreicht. Das sagten auch einzelne Widersacher, doch durch Bescheidenheit widerlegte er sie selbst. Nie war von ihm die Rede, allein von großen Steigern, vom Hochgebirge, das seine beglückten Augen erblickt.

Immer hatte Ernst Sturm Freude an körperlicher Übung gehabt. In den Jahren starken Wachstums, da seinem Leibe der peinliche Erdenrest der Ungeschicklichkeit angehangen, konnte der Knabe kein Turner sein. Doch im Laufe der letzten beiden Schulklassen ward er der Stolz des Turnlehrers. Es war, als ob dieser Organismus seine Kindheit verschlafen, um dem vollendeten Jünglingsleibe alles zu ermöglichen, dessen an Rede, Barren, Kasten, Pferd und Bock, Stangen, Ringen und Leitern, mit Hanteln und Ger, am Schnursprunggestell der Beste nur fähig war.

Mit Übung und Selbstvertrauen wuchs ständig sein Können, so daß die Mitschüler oft den blonden Siegfried baten, ihnen doch „was vorzumachen“. Ja die andern Lehrer, die davon gehört, kamen in die Turnstunde, gleichsam wie zu einem Schauspiel.

Aber der bestaunte Jüngling schien nicht zu wissen, daß er Besonderes leistete. Wenn er am Reck die Riesenwelle gemacht, oben im Stand anhielt zum Handwechsel, dann nach der anderen Seite frei um die Stange schwang, wenn er ein Dutzend Klimmzüge mit einem Arm vollendet oder den Längssprung über das Pferd gezeigt, ohne die Hände zu brauchen, dann stand er da so ruhig, als verstünde es sich alles ganz von selbst.

Jede Woche ging er mehrmals schwimmen, und jeder betrachtete mit Wohlgefallen die wundervollen Linien dieser schlanken, sehnigen Gestalt, die vom Brett abschnellend in ruhiger Sicherheit die Luft durchschoß oder das Wasser teilte.

Sobald es Eis gab, glitt er in weitausholendem Holländern, in Rückwärtsübersetzen über die spiegelnde Fläche. War die Bahn frei, griff er mächtig aus und sauste über den glitzernden Boden mit der Freude der Jugend am Können, am Schwung, am Rasen.

Das Eis zauberte ihm den Gedanken vor an ewige Eisfelder dort oben, die er ein einziges Mal, wenn auch in bescheidenem Umfange am nördlichsten Gletscher deutscher Alpen, dem Blaueis des Hochkalters betreten.

Doch immer nur vergnügte er sich mit Kameraden. Er schnallte nicht jungen Damen ritterlich die Schlittschuhe an, fuhr nicht die Hände gekreuzt mit ihnen. Seine Gedanken sollten die karge Zeit, die der Schultag ihm ließ, nur bei der Übung sein, die er im Stillen als Vorarbeit betrachtete für seine geliebten Berge.

Er hatte gelesen, daß man nicht leistungsfähig sei in den wenigen Sommermonaten, wenn man das ganze übrige Jahr seinen Leib vergäße. Die Lungen, das Herz mußte man zur Arbeit fähig erhalten, die Muskeln stärken. Aber wenn auch im Untergründe all seines Bestrebens der einzige Gedanke an die Berge lag, so fand sein kräftiger Körper, die sich weitenden Organe, die sich streckenden Sehnen und Bänder, doch unsägliche Befriedigung im Sichausleben in freier Luft. Dann war er auch fähig, seine Schularbeiten noch einmal so schnell zu beenden.

So ging der Winter hin. Zu Ostern, früh in diesem Jahr, kam Ernst in die Prima. Nun brach der Frühling wieder an; und mit ihm eine dunkle Jünglingssehnsucht. Ein wenig ließ er nach in körperlicher Leistung. War es, daß er wieder zu „schießen“ begann, war es die Sehnsucht des Lenzes, die gleich einem süßen Gift dem Weibgeborenen im Blut sich regt, wenn die schlummernde Natur erwacht, die Säfte steigen, der Baum die Augen auftut, die Erde sich bekleidet mit der grünen Farbe des Lebens?

Eine kurze Wiederkehr alter Lässigkeit ließ ihn träumen und säumen. Die Sonne schien zu Stunden unter Tags wie im Sommer, daß einem die blinkenden Tröpfchen auf der Stirne standen, die Fußgänger stehen blieben und atmend gen Himmel sahen, in einem Ahnen vom Glück des Frühlings, der doch kaum bis in die steinernen Oden der Stadt gedrungen war.

Des Jünglings Seele ging auf. Bei Tisch wurde vom Sommer gesprochen, von Urlaub und Reiseplänen. Da leuchteten Mamas und Ernsts Augen ineinander, als die Rede von den Bergen ging.

Selbst Annie erhob keinen Widerspruch. Aus dem mädchenhaft-widerborstigen, plattbrüstigen Jüngferlein war die Jungfrau erblüht, der unter runderem Busen ein stärkeres Herz zu schlagen schien. Papa aber war guter Laune wie nie. Im Reichstag hatte sein Minister einen Gesetzentwurf durchgebracht, der, von dem Sturmschen Schreibtisch aufgeflogen, irgend einen Dank bringen mußte; vielleicht in eines Vögleins roter, begehrter Gestalt.

Da hing denn allen der Himmel voller Geigen. Papa sprach von der Schweiz, und das „Matterhorn“ stand jäh vor Ernsts Augen; doch wie es damals kurz nur gleich einer Luftspiegelung erschienen, so schwand es heute wieder, als ein anderer Gedanke aufstieg: Tirol. Der gewann Gestalt, wuchs und ward Gewißheit. Der Geheimrat hatte in einem Tiroler Blatte, das zu irgend welchem politischen Zweck im Ministerium gelesen wurde, das Mietsangebot einer Villa in den Dolomiten gefunden. Kein Freund des Wirtshauslebens, leuchtete es ihm schlagend ein, dort eigene Wirtschaft zu machen.

Er fand nicht Mamas Zustimmung, weil sie ihre Hausfrauenferien gern genießend, sich nicht dafür begeistern konnte, nun auch in der Urlaubszeit mit der Köchin zu kämpfen. Darüber verstummte er nach seiner Art ein paar Tage, bis er unerwartet mit der Meldung kam, er habe gemietet.

Ernst klopfte das Herz vor Seligkeit. Mama schwieg. Papa setzte jetzt bei jeder Mahlzeit die Vorteile seines Abkommens auseinander. Es sei billiger, - das stimmte nicht,- es sei bequemer -, nur für ihn. Bald kam dann unversehens der eigentliche Grund heraus. Der Geheimrat hoffte in der Einsamkeit seiner Bergvilla sozusagen sein Berliner Ministerialleben der Arbeit ungestört fortsetzen zu können. Da es einen neuen Gesetzentwurf auszuarbeiten galt, kam vielleicht noch ein Vöglein geflogen.

Nun brach immer mächtiger der Frühling in das Land, doch nur draußen vor der Stadt, im Grunewald, an den Havelseen. Aber man fühlte ihn doch in der Luft, man spürte ihn in den Gliedern, in manch einer stillen Sehnsucht, durch Unruhe und seltsamen Drang hinaus. Dann ward man des wunderlichen Gärens gewohnt, und im Gleichmaß der Sonne lief das Blut wieder stiller durch die Adern. Die Leute schauten sich an, als wollten sie sagen: Was haben wir denn gehabt, war es ein Rausch?

So ward es Sommer mit langen Tagen und sengender Hitze. Die Straßen glühten, im Asphalt prägten sich scharfe Tritte ein, fast wie in sumpfiger Wiese, ln die stickige Luft brachte nur ein Wirbelwind einmal Bewegung, aber er wehte einem Sand und trockenen Dünger der müden, klapprigen Droschkengäule ins Gesicht. Das Wasser der Kanäle ging träge hin, schillerte und roch. Durch die ganze Riesenstadt zogen lähmende Dünste, und die brütende Glut ward kaum an den Abenden um einige Grad gekühlt. In die unbewegte Luft hinauf sandten Millionen Essen ihren schwarzen Pesthauch, den Atem der Städte. Das Häusermeer sog die Sonnenhitze auf und strahlte sie unter dem Sternenhimmel wieder aus, sie mit jedem Tag von neuem kochender zu empfangen.

Da begann die große Flucht. Nach den Bahnhöfen gab es ein Fahren und Eilen, ein Drängen und Hasten. Lange Züge standen da, pusteten und zogen an, voll taschentuchwinkender Menschen mit glutroten, perlenden Gesichtern. Alle strebten sie den Alpen zu. Im Netz oben lagen die Bergstöcke und Pickel, die Rucksäcke, die Wettermäntel und der Hut mit dem Alpenvereinsabzeichen, und einem filzig-grauen Edelweiß, den dürren Stielen längst abgefallener Alpenrosen noch vom vorigen Jahr.

Man zog die Röcke aus, mit lächelnder Erlaubnis der Damen, und hing sie auf, daß bald das Abteil aussah, wie eine Kleiderablage. Dann ward von den Bergen geredet, von Hotels und Wirtshäusern, von Hüttenunterkunft. Hochtouren schlossen sich daran, herrliche voll eitel Leichtigkeit und Glück und Wonne, schwere, über furchtbare, lotrechte, ja überhängende Wände, über spaltendrohende Gletscher, in Sonnenglut wasserrieselnde Eishänge, auf messerscharfen, beinharten Eisgraten hin zu jungfräulichen Gipfeln. Jeder suchte den andern zu übertrumpfen in seiner Erzählung. Von Unglücksfällen wurde berichtet, von Mut und glücklicher Errettung. Die Leistung von Größen der Hochtouristik ward besprochen. Berühmte Führernamen fielen. Da war der eine mit dem gegangen, der andere hatte jenen einmal auf einem Gipfel getroffen.

Und dabei ratterte der Zug und rollte einen Kilometer nach dem andern in all der sengenden Juliglut, bis es frischer ward auf der oberbayerischen Hochebene.

„München!“

Nun teilte sich der Strom wie im Sande einer Flußmündung in Äste und Ästchen.

Die Sturm fuhren erst andern morgens weiter. Am sonnenhellen Tage war schon in München die Alpenkette sichtbar als ferner Streifen am Horizont. Sein matter Schimmer wuchs, immer höher stiegen die Vorberge auf. Nun wich die Ebene, flach wie die Hand, und in die eintönig riesige blaue Himmelsglocke begannen die Kalkberge ihre scharfen Linien zu schneiden.

Ernst stand am Fenster. Er starrte hinauf zu den bewaldeten Schroffen, dann zu den Felsenhäuptern des Kalsergebirges. Den anderen erklärte er, da drinnen läge das berühmte „Totenkirchl“, und der „Kalser“ sei die „Kletterschule“ für junge Münchener Alpinisten. Diesmal hörte auch Annie zu. Auch Papa, der die „Münchener Neuesten Nachrichten“ las, blickte auf, nahm den Kneifer ab und lauschte freundlich lächelnd der jungen Begeisterung seines Sohnes.

Bald kam Innsbruck in Sicht und Ernst rief aufgeregt, empor deutend:

„Da die Solsteinkette! Und seht ihr den kleinen Zacken? Das ist die Frau Hitt!“

Papa aber sprach über Friedrich mit der leeren Tasche, Peter Vischers Meisterwerke in der Hofkirche, und ward ein wenig ungeduldig, als Annie mit Mama zu Philippine Welsers Schloß Ambras drüben auf der anderen Seite blickte.

„Sei nicht böse, Papa, aber die ist meine Lieblingsgestalt!“ sagte sie und machte schwärmerische Augen, denn welches Bürgerkind spänne nicht im letzten Winkel seines Herzens den Dornröschentraum vom Prinzen, der es zu erlösen käme?

Aber Ernst störte sie alle auf, indem er das Inntal hinandeutend, rief:

„Dort muß die Martinswand liegen!“

Der Geheimrat erzählte umständlich seinen Damen die Geschichte, die sie längst kannten, wie Kaiser Max sich dort auf der Jagd verstiegen, und angesichts des Todgeweihten, drunten im Tal, die Menge der frommen Tiroler schon für ihn betend auf den Knien gelegen, an ihrer Spitze der Pfarrer mit dem Allerheiligsten, als ein Engel, in Gestalt eines Jägers, oder ein Jäger, der ihm zum Engel geworden, den Kaiser gerettet und sicher hinabgeführt.

Ernst warf in alpinem Eifer ein wenig vorlaut dazwischen, was er aus einem seiner Bücher wußte:

„Wenn Kaiser Max Kletterschuhe angehabt hätte, wäre er allein heruntergekommen!“

Annie lachte. Papa aber fand seine Ausführung nicht genug gewürdigt. Mit einemmal verwies er unpassendes Lachen wie alpin überhebende Bemerkungen, wollte die Aufmerksamkeit zurückleiten zur Martinswand, deutete hinüber, doch im gleichen Augenblick ward es Nacht. Der Tunnel hatte Väterweisheit und Mädchenlachen, Weltgeschichte und alpines Fexentum verschlungen.

In dem Jüngling aber regte sich das große Kind, das der junge Siegfried noch in seinem naiven Herzen war. Unbändige Lachlust kam über ihn, ein Zwang, ein Krampf, ein Stärkeres, denn er war. Als das Licht wieder einfiel durch die rauchblinden Scheiben, hatte er tief das glühende Haupt gebeugt, rot bis in den weißen Nacken hinein. Er zuckte, schüttelte sich, hielt das Taschentuch vor und begann erstickt zu husten und sich fürchterlich zu schneuzen. Der Geheimrat sagte etwas von „Jungenhaftigkeit“, dann nahm er ungeduldig seine Zeitung; so fand Ernst Gelegenheit auf den Gang hinaus zu verschwinden, wo er mit tränenden Augen erschöpft stehen blieb und nach Atem rang.

Lange Zeit wagte er nicht, zurückzukehren, bis jemand seine. Hand nahm und Mama leise sagte:

„Komm nur, Ernstli, er ist wieder ganz gut!“

Doch sie blieben draußen stehen, und überall, wo aus tiefen Taleinschnitten Gipfel leuchteten, deutete er hin und preßte die Stirn an die Scheiben.

Als jenseits des Brenners das Pflerschtal sich öffnete, sahen sie die Stubaier Gletscher, die Feuersteine liegen. Ein Herr, der gleichfalls auf dem Gange stand, zeigte ihnen das hohe, schreckhaft abstürzende Felsgerüst des Tribulaun. Dann glitt der Zug fast ohne Atem der Lokomotive hinab und hinab gen Südtirol.

Es war merklich kühler gewesen auf der Paßhöhe; jetzt wehten ihnen wieder warm die Sommerdünste des Südens entgegen. An Edelkastanien huschte der Zug vorüber, an Weingärten, an fruchtschweren Obstbäumen. Aber sie bogen ab ins Pustertal, mit milden runden Bergformen, fast wie im Riesengebirge. Kein Schaustück an Gletscherpracht oder Felsenherrlichkeit zeigte die Natur.

Die vier saßen in je einer Ecke des Abteils. Papa schlummerte. Annie erzählte Mama mit halblauter Stimme von den Kleidern, die sie mitgenommen. Nur Ernst stand bald hier, bald da am Fenster und summte:

„Zu Mantua in Banden, der treue Hofer war“, das einzige tirolerische, das er wußte.

Ein weiter Talkessel tat sich freundlich auf: Brunneck. Da schrie Ernst in jäher Freude:

„Gletscher! Gletscher!“

Papa öffnete die Augen, blinzelte, schmiegte sich jedoch sofort noch enger in seine Ecke. Mama legte den Finger auf den Mund. Der Sohn, der die Lage all seiner Berge im Kopf hatte, flüsterte ihr zu:

„Das Zillertal! Das muß der Schwarzenstein sein oder – nein - doch der Schwarzenstein -“

Im Glanz der Nachmittagssonne lagen sie da, die ewig weißen Höhen, mit dem dunkelblauen Himmel darüber. Von ihrem kargen Ausschnitt, den die Talenge nur zeigte, ging ein Majestätisches aus, eine Ruhe, ein gewaltiges Schweigen.

Der enteilende Zug löschte, zur Paßhöhe des Toblacher Feldes emporkeuchend, das kurze Bild. Beim Aussteigen schlug ihnen die herbe Luft des Hochtales entgegen. Ein Wagen war bestellt. Bald ging es an den Toblacher Hotels vorüber in das Höhlensteiner, das Ampezzaner Tal. Über den Wald, der steil hinanwuchs, ragten die grauen Kalkschroffen der Dolomiten. Nach dem Toblacher-See rückten die Berge zusammen. Die jähe Plattenflucht der Naßwand schoß unmittelbar neben der Straße empor. Drüben erschien des Dürrensteines kahles Felsenhaupt. Von all den Höhen, die den Lauf der schwarzen Rienz einengten, waren durch den Wald, Bächen gleich, weißleuchtende Muhren herabgeströmt.

Der Geheimrat fragte danach und der Kutscher erzählte von Lawinen, die Winter und Frühjahr hier die Post bedrohten. Kein Haus stand in der Bergeseinsamkeit, als das des Straßeneinräumers, der hier, von Muhrströmen und Lawinenbahnen umgeben, sein weltabgeschiedenes Dasein verbrachte.

Da ward es doch belebt. Unter dem breiten Felskastell des Monte Pian erschien ein Sperrfort, und kaum war seine wehrhaft-gedrungene Gestalt bestaunt worden, als über der Wirtshäusergruppe von Landro in all seiner majestätischen Bergesgröße der Monte Cristallo stand. Seine vom sterbenden Licht des Tages geröteten Riesenspitzen, sein steiler Gletscher, zur eisigen Paßhöhe hinanbrandend, der plumpe, schiefe Kegel des Piz Popena, die Zackenreihe des Cristallin spiegelten sich umgekehrt im hellgrünen Dürensee, als wollten die vom letzten Sonnenfeuer brennenden Felsen sich kühlen in der schneeschmelzkalten Flut.

Das herrliche Bild blieb lange vor ihren Augen, bis sie in Schluderbach, zu nahe schon dem verkürzten Riesen, am Zoll vorüber, untertauchen in den Wald.

Es wurde kühl. Die im Wagen hüllten sich ein. An der Brücke über den Gletscherbach erschienen Grenzpfähle mit den Hoheitszeichen Österreichs und Italiens. Annie fragte staunend danach, und Papa, dessen Laune wuchs, je näher sie dem von ihm bestimmten Ziele kamen, erklärte der Familie, was er bisher als Geheimnis gehütet. Das Haus läge direkt über dem Misurinasee, in einem italienischen Zipfel der Ampezzaner Alpen.

Ernst war es wie ein doppeltes Glück. Zu den Bergen kam noch Italien, dessen Boden seine begeisterte, sehnsüchtige lugend zum ersten Mal betrat. Und er rief tief atmend, in frohem Übermut:

„Ganz andere Luft schon hier!“

Hinan ging es in langsam steiler Fahrt. Immer tiefer versank Schluderbach. Immer höher wuchsen neben ihnen die Berge empor. Beim Rückblick sahen sie über der Tiefe, von letzter Abendglut umzirkelt, die morschen, roten Felsen der Croda Rossa und nun stiegen vor ihnen die Cadinspitzen empor, mit ihren Mauern und Zacken und Türmen in den erlöschenden Himmel ragend gleich einer gewaltigen brennenden Burg.

Der Wagen bog ab, einen kurzen Weg hinan. Hielt. Nur dunkle Massen eines Hauses waren zu erkennen, denn die Nacht hatte ihre schattenden Flügel nun über die Berge gebreitet.

Ein alter Mann, ein altes Weib standen da, die neuen Mieter zu begrüßen. Auf Deutsch! Denn als Ampezzaner beherrschten sie beide Landessprachen. Die Räume wurden besehen. Einfach, aber so sauber, daß auch die Köchin, die mit dem Mädchen in einem zweiten Wagen gefolgt, sich zufrieden zeigte.

Mama sagte:

„Na, dann muß es wirklich gut sein. Vor dem Maulen habe ich mich schon seit Wochen gefürchtet!“

Frau Ghedina hatte Abendbrot besorgt. Der Tisch stand gedeckt. Im Ofen prasselte behaglich das Feuer.

„Bis die Herrschaften unsere achtzehnhundert Meter gewohnt sein!“, sagte freundlich die Alte.

Papa, der doch nur Glück gehabt, meinte stolz:

„Na, habe ich nicht was Feines ausgesucht?“

Jeden fragte er: Mama, Annie, dann Ernst.

Aber der fehlte. Er war auf den Balkon hinausgehuscht. Dort stand er, beide Arme aufgestützt, und starrte über den dunkelnden See, das lichterblitzende, große Hotel jenseits des Wassers, ihnen gegenüber, auf den Hintergrund von ewigen Bergen: Monti delle Marmarole, Monte Antelao und Sorapiß, die dort drüben im geisterhaften Licht des frühen Mondes breit gelagert starrten, neuschneebestäubt, unsäglich ruhig und herrlich in ihrem großen, stillen Leuchten.

4

Und willst du an der Welt dich freu’n

Am besten wird’s von oben sein,

Frisch auf, den Fuß gehoben!

Laß Tintenfaß und Feder ruhn

Und klimme in den Nagelschuhn

Nach oben!

Rudolf Baumbach

War das ein Leben der Bergesherrlichkeit dort oben am See! Mit der ersten Sonne schon gingen sie fort, die drei, Mama, Annie und Ernst. Er fühlte sich stolz als Ritter seiner Damen und war unermüdlich im Aufsuchen neuer Wege. Zuerst wurden die Straßen begangen. Hinab ins Ampezzaner Tal nach Schluderbach, dann um das Cristallomassiv herum nach Tre Croci, und mit wachsenden Kräften bis zum sonnigheißen Cortina. Ward es einmal Annie zuviel, so blieb sie einen Tag bei Papa.

Der arbeitete in stiller Zurückgezogenheit. Nur selten ging er mit. Tat er es einmal, gab es immer ein Fest, denn dann bestellte er einen Wagen zu weiten Ausflügen und war so gut bei Laune, als sei er noch der junge, lebensfreudige und dienstabgeneigte Assessor, der damals in Köln die „Schaffnerin“ gefreit, wie Mama als Mädchen genannt wurde, weil sie der einzige ledige, weibliche Sproß des weitverzweigten, reichen Hauses der Schaffner gewesen. Dann lachte er und machte Scherze, nahm Ernst jäh den Hut vom Kopf und warf ihn scheinbar zum Wagen hinaus, daß Annie laut schrie. Hielt ihn aber mit ausgestreckter Hand draußen fest. Er legte den Arm zärtlich um Mamas Schulter, küßte sie, die sich leise wehrte, mit einem Blick auf die heranwachsende Tochter und nannte sie: „Meine liebe, gute Alte!“

Sie fuhren ins Pustertal hinaus, saßen in Innichen beim „Bären“, und Ernst starrte hinauf zur wilden Zackensäge des Haunold, zur ebenmäßigen Pyramide der Dreischusterspitze. An das Matterhorn erinnerte sie ihn ein wenig. Er sagte es leise Mama. Die nickte nur, denn schon brach man auf, die heilige Grabeskapelle zu besuchen.

Da regte in Papa der Geheimrat seine papierenen Flügel. Kaiser Friedrich hatte einst hier geweilt, und die eigenartig malerische Kapelle, in deren Kuppelmitte das heilige Grab stand, hatte zum Vorbild seiner letzten Ruhestätte in Potsdam gedient. Damit aber wurden Erinnerungen an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm lebendig, ein wenig Gnade von oben, die im Schreiten der Jahre, seit die Würde über Papa gekommen, ihn allmählich wandelte.

Doch immer wieder verblaßte der Geheimrat und der einstige Wilhelm Sturm wachte auf, der „Papa“, den Ernst liebte, Annies „Väterchen“, und Mamas „Bill“. Wenn sie in Schluderbach vor dem Hotel saßen und das Kommen und Gehen, die Wagen und Autos beobachteten, machte Mama lose Bemerkungen wie ein naseweises Schulmädel; Annie verbarg ihr Antlitz tief zum Schoß und Papa schmunzelte vor sich hin beim blauen Rauch seiner Zigarre.

Ernst aber war immer unterwegs in seinem Berganzuge und den schweren Nagelschuhen, die er nicht mehr abzulegen schien. Er blickte mit dem Opernglase zu den roten, faulen Wänden der Croda Rossa empor, er bestaunte die Cadini di San Lucano und ging, wenn es die Stunde war, wo Partieen vom Cristallo zurückkehrten, ihnen entgegen durch den lichten Wald über die weißblendenden Kalksteine des Gletscherabflusses aus dem Val Fonda.