Exit Black - Joe Pitkin - E-Book

Exit Black E-Book

Joe Pitkin

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Beschreibung

Überlebenskampf auf der Weltraumstation Überlebenskampf auf der Weltraumstation Einst eine Forschungsstation im Erdorbit, wird das »Imperium« nun als Weltraumhotel für die Superreichen eröffnet. Als die ersten Gäste an Bord kommen, schmuggelt sich mit ihnen eine Gruppe Terroristen auf die Station, die das »Imperium« besetzen und acht Milliarden Dollar Lösegeld für ihre Geiseln fordern. Doch sie haben nicht damit gerechnet, dass sich noch eine der Wissenschaftlerinnen an Bord befindet. Gefangen auf einer Raumstation ohne Ausweg beginnt für die Biophysikerin Chloe ein Kampf ums nackte Überleben …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Zitat in Kapitel 2 stammt aus: Robert Frost, Mit der Nacht vertraut. Aus dem amerikanischen Englisch von Walter A. Aue, 2010.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Langowski

© Joe Pitkin 2024

Titel der englischen Originalausgabe:

»Exit Black«, Blackstone Publishing, Ashland 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Ralf Reiter

Karte: Joe Garcia

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung und -abbildung: Markus Weber, Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von adobe.stock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte: Die Imperium-Station

Prolog

1

Vierundzwanzig Stunden vorher

2

3

4

Vierundzwanzig Minuten vorher

5

6

7

Zwanzig Minuten vorher

8

Zehn Minuten vorher

9

Acht Minuten vorher

10

Fünf Minuten vorher

11

12

Achtundvierzig Minuten vorher

13

Elf Minuten vorher

14

Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Carlyn

Karte: Die Imperium-Station

Prolog

Chloe begutachtete ihre Verletzungen. In ihrem linken Ohr dröhnte es, auch wenn der Lärm allmählich zu einem leisen blechernen Scheppern abschwoll. Den Schlag, den sie seitlich gegen den Kopf bekommen hatte, spürte sie immer noch. Links fiel ihr das Atmen schwer – vielleicht waren ein paar Rippen gebrochen. Die größten Sorgen machte ihr die rechte Hand. Sie konnte die Finger nicht mehr bewegen, und im Handschuh ihres Raumanzugs spürte sie eine aufgedunsene Taubheit, die später ganz sicher elenden Schmerzen weichen würde. »Du hast überlebt … Atme durch«, ermahnte sie sich selbst mit der ruhigen Tonlage, die sie sonst vielleicht bei einem Kind benutzt hätte. In ihrem Helm klang es hohl, wie aus weiter Ferne. Schließlich gab sie sich der animalischen Gelassenheit hin, die im Herzen aller Gewalt lebte.

Die Lampen waren erloschen, aus dem Korridor fiel nur ein schwacher Lichtschein in die Kantine. In der Ferne jaulten die Sirenen, als könnten ihre Warnungen noch irgendeinem anderen Menschen nützen. Sie tastete umher, bekam ein Stuhlbein zu fassen und stand unsicher auf.

Dann arbeitete sie sich im Dunklen zu der Schwingtür zwischen der Kantine und der Küche vor. Sie spürte den leichten Druck der Luft, die aus der Küche entwich und langsam zu dem neuen Hüllenbruch gezogen wurde, vor dem die Sirenen gerade warnten.

Vorsichtig drang sie in die stockfinstere Küche ein. Auch hier war das Licht höchstwahrscheinlich wegen eines Kurzschlusses ausgefallen – sie schenkte sich die Mühe, es zu überprüfen, und tastete sich weiter, um ein Versteck zu finden. Über ihr musste die Magnetleiste mit den Messern sein. Sie hob die unversehrte Hand und spürte, wie der Handschuh über die scharfe Klinge eines Ausbeinmessers glitt. Sie nahm es an sich und schlurfte die letzten Schritte bis zur Kante des Herds. Dort hockte sie sich in die Lücke zwischen Herd und Schneideblock und hielt das Messer vor sich wie einen kleinen Stachel. Die Sirenen waren inzwischen kaum noch zu hören – anscheinend war in diesem Abschnitt des Rings nicht mehr viel Luft verblieben.

Auch als die Schwingtür der Küche wieder aufging, konnte sie es nicht hören. Die Tatsache, dass der Mann hereinkam, bemerkte sie nur, weil von dort ein schwacher grauer Lichtschein hereinfiel.

Dann war es wieder völlig dunkel. Er hatte keinen Grund, es nicht mit dem Lichtschalter zu versuchen, sofern er nicht bereits wusste, dass es einen Kurzschluss gegeben hatte. Chloe wünschte sich, sie hätte sich an eine Stelle zurückgezogen, wo sie kämpfen konnte. Im Augenblick, am Boden hockend, konnte sie nur zustechen, wenn er direkt vor ihr stand. Möglicherweise konnte sie ihn einmal treffen, ehe er ihr eine Kugel in den Kopf jagte.

Sie hörte oder spürte dank der kleinen Erschütterungen, dass er sich langsam und stolpernd durch die Küche bewegte, ganz ähnlich wie ein torkelnder Betrunkener. Ihr letzter Augenblick schien gekommen, denn ihrem Gefühl nach war er höchstens noch zwei Meter entfernt, vielleicht sogar weniger.

Instinktiv und verzweifelt wie eine Biene, die im Tod noch zustach, hackte sie mit dem Messer.

1

Vierundzwanzig Stunden vorher

Chloe hing in der rotierenden Nabe des großen Rades. Eine Stunde schwebte sie schon dort. Am Morgen war sie in ihrer Kabine im schmalen fernen Ring der Imperium-Station aufgewacht und in der simulierten Schwerkraft durch den gekrümmten zentralen Korridor zur Gammaspeiche gelaufen.

Von dort aus war sie auf der Leiter entlanggeklettert und hatte sich vom Ring der Station entfernt, wo sie die Zentrifugalkraft mit knapp einem g niedergedrückt hatte. Nach den ersten hundert Sprossen hatte sie den Eindruck, ihr Gewicht verflüchtige sich wie ein Dunstschleier und löse sich einfach auf. Von da an war sie leicht genug, um sich nur noch mit den Händen abzustoßen und frei durch die lange Röhre in der Speiche des großen Rades zu segeln. Wie ein Phantom war sie zur Nabe geflogen.

Dort befand sich das Allerheiligste: die Brücke und die Laboratorien. Eines Tages würden dort auch die Fabriken entstehen. Dies war die Nabe, um die sich das Rad der Imperium-Station drehte.

Auch das Allerheiligste musste gesaugt werden. Chloe schwebte zum Hauswirtschaftsmodul, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und startete ihre Putzdienst-Playlist. Eigentlich hatte sie einen sehr eklektischen Musikgeschmack, aber in der Umlaufbahn beschränkte sie sich auf eine einzige kurze Phase der Musikgeschichte: Nirvana, Soundgarden, Pearl Jam und deren Vorgänger. All die abgerissenen, schroffen Klänge ihrer Kindheit dröhnten in ihren Ohren, als sie zwischen den glatten weißen Wänden der Station ihrer Arbeit nachging.

Die Pixies waren laut, dann leise, dann wieder laut. Die schweren, gleichmäßigen Schläge von Kim Deals Basssaiten untermalten Joey Santiagos schnell wechselnde offene Akkorde. And if the Devil is six, then God is seven, then God is seven. This monkey’s gone to heaven … Sie stieß sich ab und segelte durch das Modul, als trieben sie die Schreie von Black Francis an. Der Schirm ihrer Baseballkappe blieb am Rand der Luke hängen, als sie hindurchflog. Sie drehte die altgediente und mit ausgeschwitztem Salz angereicherte Kappe herum. Jetzt starrte von ihrem Hinterkopf der albern grinsende Biber der alten Oregon State University mit seiner Zahnlücke nach hinten.

Chloe verlor sich in Tagträumen. Sie dachte an die Feldforschung in der Dark Divide, die sie früher betrieben hatte, an die Einsamkeit im Gifford-Pinchot-Nationalpark, an ihre stillen schlaflosen Stunden, an die Ziegenmelker, die mitten in der Nacht balzten. Sie hatte wach gelegen und zu den verstreuten Sternen hinaufgeschaut, und dann hatte sie es gesehen: den langen goldenen Schweif eines Meteors, der viel länger am Himmel stand, als sie es je bei einer Sternschnuppe beobachtet hatte.

Eigentlich neigte Chloe nicht zu Tagträumen. Die Filter im Wasserrecycler mussten ersetzt werden. Das musste sie erledigen, bevor die CisLunar-Rakete eintraf. Oft hatte sie sich vorgestellt, dass nach der Imperium-Station die Einrichtungen der nächsten Generation fähig sein sollten, die Lebenserhaltungssysteme ohne menschliche Eingriffe zu warten. Das wäre dann ein unermüdliches Ballett von Computerprogrammen und Roboterarmen, die sich nicht von Tagträumen ablenken ließen.

Leider gab es hier keinen Roboterarm, und die Filter der Imperium-Station mussten von menschlichen Händen getauscht werden. So schwebte sie weiter, erinnerte sich an den goldenen Kometenschweif und zog den nächsten Filter aus dem Einschub.

»Guten Morgen, Frau Professorin«, drang Konrads Stimme aus den Ohrstöpseln. »Können wir den roten Teppich ausrollen?«

»Ich glaube, ich möchte mich innerlich noch ein wenig vorbereiten«, sprach Chloe in ihr Mikrofon. »Wo sind Sie?«

»Dion und ich haben gerade Labor eins gesaugt. Es wäre sicher gut, wenn wir mit den Laboratorien fertig sind, ehe die Gäste eintreffen.«

Chloe erinnerte sich an ein altes Gefühl, das sich aus mehreren Kindheitserinnerungen zusammensetzte, an den Druck, das Haus möglichst schnell für die bevorstehende Party vorzubereiten. Damals, als allein ihre Mutter über Partys entschieden hatte – ihrem Gefühl nach war Chloe acht Jahre alt gewesen –, und als eine Party vor allem bedeutete, dass sich viele betrunkene Gäste im Haus herumtrieben und fremde Kinder an den Sachen in Chloes Zimmer herumfummelten.

»Verstanden, Konrad. Hören Hotelmitarbeiter auf diesem Kanal mit?« Dann wurde ihr bewusst, dass in gewisser Weise jeder Mensch auf der Imperium-Station ein Hotelmitarbeiter war. Konrad oder Dion zählte sie allerdings nicht wirklich zu dieser Gruppe, auch wenn Dion hier genauso neu war wie das eigentliche Hotelpersonal. Die beiden Männer waren wie sie selbst Besatzungsmitglieder, die noch lange auf der Station bleiben würden, wenn die Gäste längst nach Hause zurückgekehrt waren.

»Gute Frage«, antwortete Konrad. »Erik? Tirzah? Sind Leute von OrbitalVentures auf Kanal eins?«

»Guten Morgen, Konrad«, antwortete Tirzah. »Lorenz und ich hören mit.«

»Sollen wir vor dem Empfang sonst noch etwas erledigen?«

»Ich glaube, wir haben hier drüben alles ganz gut im Griff. Wir müssen dann vor allem versuchen, die Gäste davon abzuhalten, in die Laboratorien zu spazieren.«

Endlich konnte Chloe sich erklären, warum sie Tirzah nicht mochte. Chloe war nicht, wie sie ursprünglich gedacht hatte, einfach nur wütend, weil Tirzah überraschend und beinahe überfallartig als Alphawölfin auf der Station aufgetaucht war. Es lag auch nicht daran, dass diese Frau mit ihrem pompösen Titel – sie war die Vizepräsidentin für Qualitätsmanagement – im Grunde das symbolisierte, was die Imperium-Station wirklich war. Letzten Endes ging es nur um möglichst steile Kurven bei Gewinnentwicklung und Budget, denn die Station war im Grunde nichts anderes als ein sündhaft teures Hotel in einer niedrigen Erdumlaufbahn. Nein, Chloe wurde bewusst, dass Tirzah mit ihrem freundlichen Strahlen und dem jovialen Umgangston den Eindruck erwecken wollte, alle auf der Imperium-Station seien gleich, obwohl allein schon die Anwesenheit der Firmenvertreter hier oben ein Beleg für die soziale Hierarchie war, in der Konrad, Dion und vielleicht sogar Chloe selbst auf der untersten Stufe standen.

»Verstanden, Tirzah«, antwortete Konrad. »Wir treffen uns um vierzehn Uhr im Levitas-Empfangssaal.«

Somit blieb Chloe noch reichlich Zeit, ihre Aufgaben zu erledigen, ehe das CisLunar-Schiff andockte. Sie musste die Wasserfilter tauschen, die restlichen Laboratorien saugen und die Keimrate in den Anzuchtkammern überprüfen. Das alles konnte sie problemlos schaffen, bevor Tirzah und ihr Gefolge erwarteten, dass sie in der Luftschleuse, die großspurig als »Levitas-Empfangssaal« bezeichnet wurde, Haltung annahm. Zu diesem Anlass musste sie sich wie ein Hotelpage herausputzen und den blau-goldenen Overall der OrbitalVentures Corporation anziehen.

Wie im Halbschlaf erledigte Chloe die Wartungsarbeiten und segelte schwerelos zurück zu dem Zugangsbereich für die Labormodule, wo sie sich ihrer eigenen Arbeit widmen wollte. Die anderen Laboratorien waren seit März verwaist, nachdem Kamara und Zhou ihre anaeroben Biodigestoren in Labor drei heruntergefahren hatten und nach Hause gefahren waren. Früher oder später würden neue Leute kommen. OrbitalVentures wollte Labor vier erneut an eine Forschungsgruppe von der Penn State vermieten; in zwei Monaten würde die ESA ein neues Team mit einer CisLunar-Rakete schicken; und schließlich wollte Tsinghua eine neue Forschungseinrichtung für Nanomaterialien aufbauen. Die Laborbesetzung auf der Imperium-Station verlief schon seit der Eröffnung immer nach dem Muster zwei Schritte vor und einen zurück. Oder vielleicht sogar einen Schritt vor und zwei zurück.

Wenn Chloe wie das Gespenst eines Hausmeisters durch die dunklen Korridore schwebte, kamen ihr die leeren Labormodule immer so vor wie das einsame, verwinkelte Haupthaus eines Anwesens, für das sich außer ihr selbst niemand interessierte. Natürlich war das nur ihr persönlicher Eindruck, der durch die Dunkelheit und Leere im Laborflügel entstand. Die Gedanken der Manager von OrbitalVentures wanderten sicherlich mehrmals täglich zu dem schlecht ausgelasteten Laborbereich. Dort an der Nabe lag die Starliner-Kapsel, mit der die letzten Mitarbeiter gekommen waren, noch angedockt neben Labormodul zwei. Die Neuankömmlinge dachten dagegen vermutlich oft an ihre einzige Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen. Es gab natürlich noch die Medevac-Kapsel, die allerdings niemand ernsthaft in Betracht ziehen würde. Im Moment war Chloe im Laborbereich ganz allein unterwegs. Sie schwebte durch den langen, schwach beleuchteten Korridor und verzichtete darauf, die Lampen einzuschalten. Aus den Fenstern der Anzuchtkammern drang genügend Licht herüber. Dort drinnen waren die BRIC-X-Einheiten unter künstlichem Sonnenlicht aufgereiht. Jeder Kasten barg eine andere Variante von Chloes eigener Arbeit, die sich darum drehte, gravitropische Reaktionen in Keimen auszulösen, die ohne Schwerkraft ausschlugen. Sie konnte sogar einige Bohnen erkennen, die wie eigenartige kleine und bleiche Daumen hinter dem Plexiglas der BRIC-X-Kästen und dem Bullauge des Anzuchtbereichs wuchsen.

Auf dem Terminal des Labors rief Chloe die Tabellen mit den Keimraten, den Einfallswinkeln der simulierten Schwerkraft und der Dicke der Wurzelkeime auf. Sie tippte auf die Tastatur und gab für jede Einheit neue Daten ein. Einfache Tätigkeiten wie diese hätten im Botaniklabor der Oregon State University normalerweise studentische Hilfskräfte übernommen. Nicht, dass Chloe jemals das Gefühl gehabt hätte, diese Art von Arbeit – oder überhaupt irgendeine Art von Arbeit – sei unter ihrer Würde. Vielmehr dachte sie auch jetzt, wie schon an vielen Vormittagen zuvor, flüchtig daran, dass sie in diesem Moment vermutlich die teuerste Wissenschaftlerin in der Geschichte der Menschheit war.

Tirzahs Stimme drang aus den Ohrstöpseln. »Chloe, sind Sie so weit und können uns im Empfangssaal Gesellschaft leisten?«

Sie seufzte müde, tat es aber so leise, dass es über Funk nicht hörbar war. Jedenfalls hoffte sie das. »Ich trage noch einige Daten ein, Miss Fowler. Dann ziehe ich mich um und bin um vierzehn Uhr da.« Genau genommen hatte Chloe die Eintragungen schon vor einer halben Stunde abgeschlossen. Seitdem war sie aufs Geratewohl den vorhandenen Datenbestand durchgegangen wie eine Musikerin, die auf einer Gitarre improvisierte, um sich einzuspielen. Sie hatte über Ausreißer in den Daten nachgedacht, die betreffenden Werte noch einmal überprüft und sich vorgestellt, wie sich die Zahlenangaben in der Realität dieser winzigen Lebewesen niederschlugen.

Endlich schloss sie die Tabelle, fuhr in ihrem Laptop alle System-Apps der Station herunter und klappte den Deckel zu. Als sie aus dem Labor schwebte und sich der Speiche näherte, die zu ihrer Kabine führte, versuchte sie noch einmal, ein wenig Sympathie für Tirzah Fowler, die Vizepräsidenten für Qualitätsmanagement, aufzubringen. Schließlich waren sie doch nur zwei Frauen, die sich bemühten, ihre Arbeit zu erledigen. Chloe fand allerdings, es sei wohl nicht sehr anstrengend, einen Schwarm Weltraum-Luxustouristen zu hüten. Andererseits war Tirzah möglicherweise der Ansicht, es sei keine große Sache, das Verhalten von Bohnenwurzeln in der Schwerelosigkeit zu überwachen. Sei nett zu ihr, hörte Chloe im Geiste ihre Mutter sagen, als wäre sie noch ein schüchternes kleines Mädchen.

Sie bewegte sich durch die Achse, die als Korridor mitten durch die Nabe der Imperium-Station verlief. Diese Röhre verband die Null-g-Laboratorien, die Andockplätze für die Raumschiffe, die Brücke und die Bauplätze für die Fabriken miteinander. Von dort aus führten drei schlanke Streben zum Ring der Imperium-Station hinaus wie mächtige Speichen eines riesigen Fahrradreifens. Diese drei langen Verbindungen verliefen von der Achse aus, durch die Chloe schwebte, bis zu den luxuriösen Bereichen im Ring der Station, wo die Gästekabinen, der Fortuna-Ballsaal, das Solarium und die schimmernde Kuppel des Observatoriums untergebracht waren.

Durch die Gammaspeiche glitt sie zum Ring hinaus, in dem dank der langsamen Rotation der Station künstliche Schwerkraft herrschte. Als sie sich entlang der Leiter nach außen bewegte, schwebte sie an einer Stelle vorbei, wo die regelmäßige Abfolge der Sprossen unterbrochen war. Dort konnte eine Luke wie ein Schließmuskel die Röhre absperren, falls es irgendwo einen Druckverlust gab. Allmählich spürte sie die zunehmende Schwerkraft und fühlte sich wie ein Gespenst, das eine feste Gestalt annahm. Sie bewohnte eine Personalkabine, die nicht weit vom Verbindungspunkt der Gammaspeiche mit der Felge des Rades entfernt war. Direkt neben ihrer Kabine lagen Konrads und Dions Quartiere. In diesem Bereich befanden sich auch die Mitarbeiterkantine und einige Lagerräume. Sie sprang die letzten beiden Sprossen auf den Boden hinunter und landete fast lautlos wie eine erfahrene Straßenräuberin.

Die Schiebetür der Kabine wollte sich nicht öffnen. Chloe brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie am Morgen wieder einmal vergessen hatte, den Fob an ihren Overall zu klemmen. Die Einführung der Fernbedienungen für die Kabinentüren war einer der Gründe dafür, dass sie Tirzah Fowler nicht leiden konnte. Bevor Anfang des Jahres das Hotelpersonal eingetroffen war, hatten nur einige Forscher und Besatzungsmitglieder auf der Station gelebt, und niemand hatte seine Räume abgeschlossen. Im Rückblick fand Chloe, dass dies das Goldene Zeitalter gewesen war. Inzwischen wurden wie in jedem modernen Hotel die Zugangsberechtigungen, die elektronischen Schlüssel und die Magnetkarten genau überwacht.

Sie hatte keine Lust auf die peinliche Situation, über Funk zugeben zu müssen, dass sie schon wieder ihren Fob vergessen hatte. So wanderte sie im Hauptkorridor ein Stück durch den Ring bis zur Hotelverwaltung.

Die Tür der Verwaltung stand sperrangelweit offen, als wollte sie sich über ihr Missgeschick lustig machen. Genauer gesagt, stand die Sicherheitsluke vor dem Büro offen. Die Hotelverwaltung war wie die Brücke ein Bereich, der während eines Druckverlusts komplett abgeriegelt werden konnte, genau wie mehrere Abschnitte der Speichen, Teile des Ringkorridors und die Nabe. Chloe trat ein und hoffte, sie müsse nicht doch noch bei Tirzah Fowler beichten.

Das Büro war nur mit Maryam besetzt, der quietschfidelen Plaudertasche, die mit der letzten Gruppe von Hotelangestellten eingetroffen war. Chloe lächelte sie ausgesprochen freundlich und einigermaßen erleichtert an. »Maryam, meine Liebe, ich habe leider schon wieder meinen Fob vergessen.«

Maryam sah aus wie eine sehr bereitwillige und ernsthafte Schülerpraktikantin. Chloe vermutete allerdings, dass sie älter war, als es ihr Äußeres vermuten ließ. »Kein Problem, Chloe, ich kümmere mich darum.«

Bereitwillig begleitete Maryam Chloe zur Kabine und öffnete für sie mit dem Universal-Fob, den die Hotelangestellten bekamen. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen versprechen, dass ich ihn heute zum letzten Mal vergessen habe«, sagte Chloe.

»Sie können jederzeit zu mir kommen. Alte Gewohnheiten sind schwer zu ändern.«

Chloes Kabine war beengt wie ein Studentenzimmer und beinahe ebenso spartanisch eingerichtet. Der einzige Luxus war das Doppelbett. Die wichtigen Leute, die zahlenden Gäste, bekamen Luxuskabinen, die kleine Paläste waren. Trotzdem, dachte Chloe, ein beliebiges Fenster auf der Imperium-Station blickte jede Stunde nicht öfter oder seltener zur Erde hinaus als alle anderen.

Sie schälte sich aus dem Arbeitsoverall, sprang rasch unter die Dusche und zog die Ausgehuniform an. Sie musste zugeben, dass die Uniform gar nicht übel aussah. Die Kleidung hatte eine Art Retro-Weltraumcharme, als arbeitete sie an Bord einer Rakete mit elegant geschwungenen Kurven, die Eero Saarinen entworfen hatte. Der Anzug bestand aus eng anliegendem, hochwertigem Elastikstoff, war blau wie die nautische Dämmerung im Westen und trug das Logo der OrbitalVentures Corporation auf der linken Brustseite. Das Abzeichen der Firma hatte die Form einer Träne oder eines aerodynamisch geformten Kotflügels eines Talbot-Lago von 1937.

Zuletzt schlüpfte Chloe in blaue Bordschuhe mit weichen Sohlen, befestigte ihren Fob – der ebenfalls wie eine Träne geformt war – an der Hüfte und überprüfte ein letztes Mal, ob die Zöpfe ordentlich unter der Kappe steckten. Schon ihre Großmutter und sogar ihre Vorfahren vor zweitausend Jahren hatten die Haare auf diese Weise getragen.

Der schnellste Weg zur Nabe und zum Levitas-Empfangssaal wäre genau der Weg gewesen, auf dem sie hergekommen war. Sei es, um einen aufsässigen Drang zu stillen oder weil sie einen letzten angenehmen Moment ohne anrückende Gäste verbringen wollte – jedenfalls wanderte Chloe fast zwei Drittel um den Außenring herum und bewegte sich vierhundert Meter weit im Uhrzeigersinn am Wintergarten, am Observatorium, am Fitnessraum, am Wellnessbereich, an den Luxuskabinen und am Billardzimmer vorbei, bis sie schließlich die Alphaspeiche erreichte.

In der Alpha- und Betaspeiche gab es Aufzüge. Chloe benutzte lieber die Leiter in der Gammaspeiche, weil es sich gut anfühlte, die Sprossen mit den Händen zu packen und sich mit den Füßen abzustoßen, während sich beim Aufstieg oder Abstieg ihr Gewicht veränderte. Die Alphaspeiche ragte wie eine massive Säule mitten in den Hauptkorridor des Rings hinein. Sobald sich die Tür öffnete, sah Chloe die praktische Umsetzung der Vision von Olivia Fauré, einer öffentlichkeitsscheuen Designerin, der OrbitalVentures eine Million Dollar bezahlt hatte, um die Bereiche zu gestalten, welche die zahlenden Gäste zu sehen bekamen. Die Wände der Aufzugskabine waren mit strahlend blauem Satin verkleidet und gepolstert, damit der Eindruck entstand, es handele sich um lebendes Gewebe, beinahe so, als glitte man durch die Speiseröhre eines schlafenden arktischen Drachen. Die Handgriffe, an denen sie sich während des Aufstiegs in die Schwerelosigkeit festhielt, waren wie schlanke Tropfen geformt und trugen das Logo der OrbitalVentures Corporation. Sie bestanden aus Aluminium und waren mit Goldleder bezogen. Weiches Licht aus verschiedenen Quellen beleuchtete die Kabine und schimmerte auf den Flächen.

Um 13:54 Uhr schwebte Chloe in den Levitas-Empfangssaal. Sofort sah sie, dass sie als letztes Crewmitglied eintraf. »Ah, Professorin«, sagte Tirzah mit aufgesetzter Heiterkeit. Sie war groß, sehr blass und schlank und hatte sich die roten Haare mit dem Geschick einer Architektin und sehr viel Haarspray hochgebürstet. Ihr schwarzer Overall war oben ein wenig offen, darunter trug sie ein Oxford-Hemd und eine Seidenkrawatte im Blauton von OrbitalVentures. »Ich glaube, jetzt sind alle da. Kommen Sie hier herüber zu Captain Whittacker und Commander Stubblefield. Das Hotelteam stellt sich auf dieser Seite auf.«

Mit dem Hotelteam meinte sie anscheinend die vierzehn Untertanen, die in den letzten Wochen mit drei Starliner-Flügen angekommen waren: Erik, der stellvertretende Vizepräsident für Qualitätsmanagement; Lorenz, Verwaltungsassistent der Vizepräsidentin für Qualitätsmanagement; Nina, Verwaltungsassistentin des stellvertretenden Vizepräsidenten für Qualitätsmanagement; Maryam … Chloe hatte keine Ahnung, was Maryam tat. Genauso wenig wusste sie, was die anderen zehn taten, und sie kannte nicht einmal die Namen. Möglicherweise waren sie Köche und Hauswirtschafter.

Während der Stunde, die Chloe im Labor beschäftigt gewesen war, hatten Konrad und Dion ihre Posten auf der Brücke der Imperium-Station bezogen und gingen die Rendezvous-Anweisungen für die CisLunar-Rakete durch, mit der ihre Gäste gekommen waren. Das Schiff hatte inzwischen bereits angedockt, und der Luftdruck zwischen Schiff und Station war angeglichen. Jetzt konnten die Mitarbeiter nur noch Haltung annehmen, soweit das in der Schwerelosigkeit überhaupt möglich war. Sie hielten sich an den anmutig geschwungenen Handgriffen fest.

»Ach, noch etwas, Chloe«, fügte Tirzah hinzu. »Bitte nehmen Sie die Kappe ab.«

Chloe musste zugeben, dass dies wahrscheinlich ein vernünftiger Ratschlag war. Während der Feldforschung hatte sie die von der Sonne ausgebleichte Kappe ständig getragen. Ronald Hellmund hatte sie ihr geschenkt, als sie den Job bei der Ohio State University angenommen hatte. Nach vier Jahren Schweiß und Staub war die Kappe so steif geworden, dass sie sich zusammenklappen ließ wie eine Geldbörse. Sie schob das Ding in die schmale Hüfttasche ihres Overalls.

Auf einmal wollte Chloe unbedingt einen Scherz darüber machen, dass sie bei den beiden heißen Typen stand, doch sie unterdrückte den Impuls so schnell, wie er entstanden war. Es gab viele Gründe, warum jemand so eine Bemerkung in die falsche Kehle bekommen könnte. Konrad und Dion hätten damit sicher kein Problem, und sie würden auch nicht auf komische Ideen kommen, aber trotzdem – diese Versammlung im Levitas-Empfangssaal war eine außerordentlich humorlose Angelegenheit.

»Müssen wir uns eigentlich verbeugen, wenn sie hereinkommen?«, flüsterte Chloe.

Dion schnaubte leise, weil er die völlig ernst gemeinte Frage für einen Scherz hielt. Er beugte sich zu ihr und antwortete ebenfalls flüsternd: »Vielleicht fühlen sie sich hier eher heimisch, wenn wir katzbuckeln.« Er nickte verschwörerisch, und sie fragte sich, ob er mit ihr flirten wollte. »Aber andererseits entsprechen Verbeugungen überhaupt nicht unserem Stil.«

Nina berührte auf dem Display des Tabletcomputers, den sie in den Händen hielt, einen Knopf, und nun ertönte eine eigenartige Tonfolge, wie Chloe sie höchstens in der Praxis eines himmlischen Kieferorthopäden erwartet hätte. Es war Brian Enos Music for Airports. Chloe erinnerte sich an eine Diskussion vor einigen Monaten, als Tirzah Fowler noch in Kalifornien gewesen war. Sie hatten sich überlegt, welche Musik sie zur Ankunft der Gäste in der Levitas-Empfangshalle spielen wollten. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, welcher Vertreter von OrbitalVentures darauf bestanden hatte, ein echtes Streichquartett zu engagieren – auf jeden Fall war es jemand gewesen, dem Tirzah zugearbeitet hatte. Dion hatte geduldig erklärt, wie schwierig es für die Musiker war, in der Schwerelosigkeit auf Saiteninstrumenten zu spielen, während sie kreuz und quer durch den Raum segelten. Schließlich hatte die aus Frankreich zugeschaltete Olivia Fauré die Aufnahme von Brian Eno vorgeschlagen.

Die Luke ging auf. Dahinter sah Chloe die ledernen Sessel der Raketenkabine. In der Luke stand bereits ein Mitarbeiter von CisLunar Spaceways, der einen Kunstlederoverall in der Farbe von rohem Rindfleisch trug. Er hielt sich an einem Handgriff in der Luke fest und bugsierte mit dem freien Arm den ersten Gast mit fließenden Bewegungen und so energisch hindurch, als wollte er für ein Kind ein kleines Karussell in Bewegung setzen.

Der erste Gast schwebte herein. Er trug den schweren Fluganzug von CisLunar. Es war ein drahtiger, gut aussehender Mann mit markantem Gesicht, das einem müden Vierzigjährigen oder einem gut in Form gebliebenen Sechzigjährigen gehören mochte. Wie ein Butler in einem alten Ballsaal kündigte Nina ihn mit dem Tonfall einer Nachrichtensprecherin an: »Mr. Zhiming Li.«

Chloe stellte fest, dass Li zugleich kleiner war und besser aussah, als sie es nach den vielen Fotos, die sie betrachtet hatte, angenommen hätte. Auf den meisten neuen Fotos schnitt der Gründer, CEO und größte Anteilseigner von Xia Enterprises eine geringschätzige Grimasse, als könne er gar nicht glauben, dass er ständig mit so dummen Leuten zu tun hatte. Jetzt konnte sie die Bilder mit dem lebenden Menschen vergleichen und kam zu der Ansicht, dass die Fotos dazu gedacht waren, der Öffentlichkeit irgendetwas über Xia Enterprises mitzuteilen. Als Li die Imperium-Station betrat, strahlte sein Gesicht jedenfalls eine unbändige Freude aus, die überhaupt nicht zu den Fotos passen wollte, die Chloe bisher gesehen hatte. Er sah sich im Levitas-Empfangssaal um wie ein jugendlicher Bücherwurm, der im Britischen Museum den Rosetta-Stein betrachtete.

Nun begannen also die ermüdenden Vorstellungen, das Nicken und die angedeuteten Verbeugungen. Chloe musste allerdings zugeben, dass Tirzah Fowler recht geschickt darin war, Li in der Schwerelosigkeit durch den Saal zu führen. Eifrig schnatternd stellte Tirzah Li und Chloe einander vor. »Hier haben wir nun Dr. Bonilla, die Wissenschaftlerin der Imperium-Station.«

»Keine Förmlichkeiten.« Chloe nickte höflich. »Bitte nennen Sie mich Chloe.«

Li nickte und deutete eine Verbeugung an, schenkte sich aber die Mühe, ihren Namen zu wiederholen. Sie wusste nicht, wie gut sein Englisch war, glaubte aber, gelesen zu haben, dass er die Sprache einigermaßen beherrschte. Li ließ Tirzahs Fürsorge mit einer Art gestählter Gelassenheit über sich ergehen.

Gleich danach übergab Tirzah den Gast an Maryam, bevor Chloe irgendeine banale Frage über den Flug stellen konnte. Maryam führte den Mann durch den runden Durchgang in die Achse und danach vermutlich in den schimmernden Aufzug der Alphaspeiche.

Als Chloe ihm nachsah, wie er sich durch den Korridor der Achse entfernte, kündigte Nina den nächsten Gast an: »Nicholas und Samir Winters-Qureshi.«

Die Angel-Investoren schwebten herein und strahlten jene apollinische Schönheit aus, die man oft bei Kaliforniern sah, wenn sie den Zenit ihrer Einkommenskurve erreicht hatten. Chloe betrachtete Samirs Rehaugen, als könnte sie dort irgendeine orakelhafte Erkenntnis finden. Sein Lächeln wirkte jedoch, genau wie das seines Mannes, vor allem überrascht, als wäre die Möglichkeit, als erste Touristen zwei Wochen in einer erdnahen Umlaufbahn zu verbringen, ein Hauptgewinn im Lotto. Falls ein PR-Mitarbeiter von OrbitalVentures anwesend war (was nach Chloes Ansicht durchaus auf Maryam oder jemand anders zutreffen konnte), würde das kindliche Staunen, das Nicholas und Samir zeigten, in der Werbung für die Zielgruppe der Imperium-Station sicherlich gut ankommen. Andererseits musste man die Zielgruppe der Station ohnehin nicht mit Werbung bearbeiten.

Wieder gab es Vorstellungen. Chloe setzte an, um sie zu fragen, wie ihr Flug verlaufen sei, doch Nicholas kam ihr zuvor, ehe sie überhaupt einatmen konnte. »Wie lange haben Sie gebraucht, um sich an die Schwerelosigkeit zu gewöhnen?«

Die ehrliche Antwort lautete, dass man sich niemals wirklich daran gewöhnte, weil Menschen nicht dazu geschaffen waren, in der Schwerelosigkeit zu existieren. Nicholas fragte jedoch so fröhlich und freundlich, als hätte er sich in Palm Springs am Pool nach ihrem Getränk erkundigt. So antwortete sie: »Nach ein paar Tagen wird es erheblich leichter.« Auch das entsprach in gewisser Weise der Wahrheit.

Der Gast, mit dem sie unbedingt sprechen wollte, war jedoch der unerhört schöne Samir. Sie wusste selbst nicht, was sie ihn fragen wollte: seine Eindrücke, seine Vorlieben, wie er sich gefühlt hatte, als er fast im Alleingang die afrikanische Schlafkrankheit ausgerottet hatte. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier.« Mehr als diesen banalen Ersatz für all die wichtigen Dinge, die sie gern gefragt hätte, bekam sie nicht heraus, als er schließlich vor ihr stand.

Bevor die beiden Männer noch irgendetwas sagen konnten, reichte Tirzah sie an Maryam weiter, die gerade wieder in der runden Luke aufgetaucht war. Wie ein gut geöltes Uhrwerk kündigte Nina den nächsten Gast an: »Sir Alexander Dunne.«

Diesen Mann hatte Chloe sogar noch öfter auf Fotos gesehen als Li. Die Lachfältchen um die Augen und die Falten auf der Stirn erweckten den Eindruck, er stehe ständig kurz davor, lauthals loszuprusten. Seine Haare taten in der Schwerelosigkeit umso heftiger das, was sie auf den Fotos sowieso schon immer zu tun schienen: Sie flogen um ihn herum wie die Mähne eines Löwenkostüms, das sich ein Kind zu Halloween selbst gebastelt hatte. Keine Spur von Grau war in den Haaren zu entdecken. Sie waren von einem grellen Rot, das niemand freiwillig als Tönung für sich ausgesucht hätte.

Sir Alexander gab allen die Hand, wie es vor COVID allgemein üblich gewesen war, und stellte einen sanft-fragenden Blickkontakt her, den man bei einem Besuch in einer Kinderklinik oder in einem Pflegeheim erwarten würde. Tirzah und dann Erik und Konrad begrüßte er mit einer leichten Verbeugung, die aussah, als hätte er etwas Vertrauliches mitzuteilen.

Auch ihm gegenüber bestand Chloe darauf, dass er sie nicht Dr. Bonilla nennen müsse. »Was für eine Doktorin sind Sie denn?«, fragte Sir Alexander und zog eine Augenbraue hoch.

Pflanzenphänologie. Angewandte Genetik. Ökologische Stöchiometrie. Für eine bestimmte Art von Publikum hatte sie sich eine Reihe solcher Begriffe zurechtgelegt. Doch Sir Alexander Dunne und alle anderen auf der Imperium-Station waren nicht diese Art von Publikum. »Ich bin Botanikerin«, erklärte sie. Sir Alexander gab ein anerkennendes leises Schnauben von sich, das Chloe einerseits beinahe flirtend und andererseits ein wenig faul vorkam. Vermutlich hätte er genauso geschnauft, wenn sie eine Versicherungsgutachterin oder eine Rohrlegerin gewesen wäre.

»Wie war Ihr zweiter Flug in den Orbit?«, fragte Chloe.

»Ah, Sie erinnern sich an den ersten«, kicherte Sir Alexander.

Praktisch jeder, der in den letzten vier Jahren YouTube aufgerufen hatte – also im Grunde jeder Mensch auf der Erde –, wusste von Sir Alexander Dunnes erstem Weltraumflug. Er war mit einer Maschine seines eigenen Raumflug-Start-ups Hesperus geflogen und hatte der Welt einen Vortrag über die Konsequenzen des Champagnergenusses in der Schwerelosigkeit gehalten. Im Weltraum löste sich das Kohlendioxid ganz anders als auf der Erde aus den damit angereicherten Getränken: Feuchte Rülpser hatten es die Leute von der NASA damals genannt. Das Video des in der Umlaufbahn kotzenden Sir Alexander stand immer noch auf dem sechsten Platz der Liste mit den am häufigsten aufgerufenen YouTube-Videos.

»Ich bewundere Ihren Mut, es noch einmal zu versuchen«, sagte Chloe.

»Ja, ich bin wohl ziemlich mutig«, antwortete er mit hoher, recht affektiert klingender Stimme. Was er auch hatte hinzufügen wollen, er wurde von Nina unterbrochen, die den nächsten Gast ankündigte. Den Namen hatte Chloe nicht mitbekommen.

Als Maryam, die schon wieder in den Levitas-Empfangssaal zurückgekehrt war, den nunmehr abgefertigten Sir Alexander zum Aufzug und den Luxuskabinen führte, wandte Chloe sich noch einmal flüsternd an Dion. »Sagen Sie mal, wer ist da gerade angekommen?«

»Ehrlich, Chloe? Das ist Viv Volterra.«

Die Frau sah aus, als ginge sie zu einer Verabredung in eine Bar. Unter allen Gästen war Volterra die Erste, und wie sich herausstellte auch die Einzige, der es gelungen war, ihrem rindfleischroten Flugoverall eine persönliche Note zu verleihen. Während des Druckausgleichs hatte sie einen altmodischen weißen seidenen Fliegerschal hervorgeholt. Sie trug das Tuch mit einer Nonchalance, die gut zu der Wirkung der Schwerelosigkeit auf den schimmernden Stoff passte. Chloe fand, dass Volterra eher eigenartig als gut aussah. Sie hatte ein schmales und leicht schiefes Gesicht, das an die Gesteinsschichten eines Bergs nach einer langsamen geologischen Deformation erinnerte. Der Fliegerschal schaffte allerdings etwas, das nicht einmal die makellose Schönheit der Winters-Qureshis vermocht hatte: Volterra sah interessant aus.

So füllte sich die Imperium-Station mit Gästen, die das System überlistet hatten, die ein unglaubliches Glück gehabt hatten, die ihr Studium in Harvard oder Stanford abgebrochen hatten und mit individuellen Gentests, vielleicht auch mit Nanotech-Schlangenöl oder mit kunstfertig nachbearbeiteten Abbildern ihrer selbst in den sozialen Medien reich geworden waren. Doch selbst in dieser Parade der Profiteure war Viv Volterra ein Raubtier: dieses sphinxhafte Lächeln, dieser stahlharte Blick, der mehr verbarg, als er enthüllte. Auf den zweiten Blick, dachte Chloe, als sie einander vorgestellt wurden, war Volterra sogar ausnehmend hübsch. Sie war ein Geschöpf, dessen eckige Schönheit die der anderen überdauern würde. Sie wäre immer noch schön, wenn die Imperium-Station alt und muffig wäre und OrbitalVentures sie aus der Umlaufbahn ins Meer stoßen würde.

»Ich habe viel von Ihnen gelesen«, erklärte Volterra. Ihre Stimme klang unerwartet heiser.

»Das kann ich kaum glauben«, antwortete Chloe und bereute die kleine Aufsässigkeit schon wieder, kaum dass sie ihr über die Lippen gekommen war. Trotzdem, sie war sicher, dass Volterra ihr einen Bären aufgebunden hatte. Es gab nicht viele Menschen, die sich für das Wirken einer auf Gravitropismus spezialisieren Pflanzenphysiologin interessierten.

Falls Volterra gekränkt war, so wusste sie es gut zu verbergen. »Dies ist also die Imperium-Station«, sagte sie und nickte weise. »Kommt mir vor wie ein richtiges Dreckloch.«

Ein langer, lähmender Augenblick verging, bis Chloe auffiel, dass Volterra gescherzt hatte. Chloe war überfordert und bekam wieder einmal nur eine Standardfrage heraus. »Wie war Ihr Flug?«

»Was soll man sagen nach dieser heftigen Verzögerung am Ende?«, entgegnete Volterra.

Chloe zeigte Mitgefühl, indem sie die oft wiederholte Geschichte ihres ersten Starts erzählte, auch wenn sie damit die Fragen beiseiteschob, die sie wirklich stellen wollte: Sind Sie auf der Flucht vor der Polizei? Wollen Sie länger hier oben bleiben? Ist das hier ein letzter Freigang, ehe Sie angeklagt werden? Aus dem Augenwinkel sah Chloe, dass Tirzah Volterra sanft am Ellenbogen berührte, wie sie es bei Li, Sir Alexander und den Winters-Qureshis getan hatte, um sie gemächlich schwebend durch den Empfangssaal zu geleiten. Während sie ihre Geschichte erzählt hatte, war Chloe klar geworden, dass Tirzah die Vorstellungsrunden bewusst sehr bedächtig gestaltete. Maryam brauchte die Zeit, um Sir Alexander und die anderen Gäste durch den Aufzug in der Alphaspeiche zu den Luxuskabinen im Ring zu führen. Der Aufzug konnte zwar zehn Menschen gleichzeitig aufnehmen, doch diese Gäste hatten nicht so viel Geld bezahlt, um alle miteinander in den Lift gepfercht zu werden.

Bald kehrte Maryam zurück, nachdem sie Sir Alexander in seiner Kabine einquartiert hatte, und führte Volterra den blau ausgeleuchteten Korridor mit den seidenen Verkleidungen hinunter.

Einer Uhr gleich, die zur vollen Stunde schlug, rief Nina die Namen der nächsten Gäste: »Mr. und Mrs. Roger und Jessica Van Cleave.«

Wie auf Engelsflügeln schwebten die Gäste in den Levitas-Empfangssaal. Das Paar schien alterslos zu sein oder vielleicht sogar noch jünger als auf den Vanity Fair-Fotos, die ihre zehn Millionen Dollar teure, im Star Trek-Stil ausgerichtete Hochzeit auf dem Kwajalein-Atoll dokumentiert hatten. Dank verschiedener Bräunungstechniken kultivierten sie einen mittleren Hautton, golden wie bei frisch gebackenem Brot. Ihr Lächeln sollte, so dachte Chloe es sich jedenfalls, eine verklärte Zufriedenheit mit allen Dingen zwischen Himmel und Erde ausdrücken. Für zwei Wochen auf der Imperium-Station hatten sie 164 Millionen Dollar bezahlt. Dies war ihre Hochzeitsreise.

»Einfach umwerfend«, rief Roger, als sie Chloe vorgestellt wurden. Chloe fragte sich, ob der Ausruf auf die Station, auf den ersten Weltraumflug des Paars oder auf die eigenartige Mischung aus Förmlichkeit und Farce zielte, die sich bei einem Empfang in der Schwerelosigkeit zwangsläufig ergab. Vielleicht meinte er auch ganz allgemein das gesamte Universum.

Chloe beschloss, dieser Frage nicht weiter auf den Grund zu gehen, beschränkte sich wieder einmal auf die unverfänglichste Bemerkung und erkundigte sich, wie die Reise für sie verlaufen sei.

»Als säße man in einem Flugzeug«, erklärte Roger.

So hätte Chloe ihre eigenen Erfahrungen beim Raumflug nicht beschrieben. Allerdings war sie auch nicht sonderlich daran interessiert, bis in alle Einzelheiten zu erkunden, inwiefern sich Roger Van Cleaves Erfahrungen von ihren eigenen unterschieden. Stattdessen wandte sie sich an Jessica Van Cleave: »Und wie haben Sie den Flug erlebt?«

Jessica Van Cleave betrachtete die Frage von allen Seiten, als schwebte direkt vor ihr ein schillernder Kolibri. Gerade als sie zu einer Antwort ansetzte, kehrte Maryam in den Levitas-Empfangssaal zurück, und Nina rief den letzten Namen.

»Miss Kassandra Ng.«

Jessica Van Cleave nickte und gab Chloe lächelnd zu verstehen, dass die Unterhaltung vorüber sei. Maryam führte sie zum Aufzug, während Chloe sich am Handgriff neu orientierte, um die letzte Luxustouristin zu begrüßen.