Exit West - Mohsin Hamid - E-Book

Exit West E-Book

Mohsin Hamid

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Beschreibung

In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, in einem muslimisch geprägten Land, das am Rande eines Bürgerkriegs steht, in einer Stadt, die namenlos bleibt, lernen sie sich kennen: Nadia und Saeed. Sie hat mit ihrer Familie gebrochen, fährt Motorrad, lebt säkular und trägt ihr dunkles Gewand nur als Schutz vor den Zudringlichkeiten fremder Männer. Er wohnt noch bei seinen Eltern, ist eher schüchtern und nimmt die Ausübung seiner Religion sehr ernst. Doch während die Stadt um sie herum in Flammen aufgeht, sich Anschläge häufen und die Sicherheitslage immer prekärer wird, finden die beiden zusammen. Sie wollen eine gemeinsame Zukunft, in Freiheit. Und da sind diese Gerüchte über Türen, die diejenigen, die sie passieren, an ferne Orte bringen können. Doch den Weg durch diese Türen muss man sich mit viel Geld erkaufen. Als die Gewalt weiter eskaliert, entscheiden sich Nadia und Saeed, diesen Schritt zu gehen. Sie lassen ihr Land und ihr altes Leben zurück ... ›Exit West‹ ist ein überaus berührender Roman, der sich mit den zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: Flucht und Migration. Mohsin Hamid beweist, dass Literatur poetisch und zugleich politisch sein kann. Mit diesem »fesselnden Roman« (New York Times) stand Mohsin Hamid auf der Shortlist des Man-Booker-Preises 2017.

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Seitenzahl: 246

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In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, in einem muslimisch geprägten Land, das am Rande eines Bürgerkriegs steht, in einer Stadt, die namenlos bleibt, lernen sie sich kennen: Nadia und Saeed. Sie hat mit ihrer Familie gebrochen, fährt Motorrad, lebt säkular und trägt ihr dunkles Gewand nur als Schutz vor den Zudringlichkeiten fremder Männer. Er wohnt noch bei seinen Eltern, ist eher schüchtern und nimmt die Ausübung seiner Religion sehr ernst. Doch während die Stadt um sie herum in Flammen aufgeht, sich Anschläge häufen und die Sicherheitslage immer prekärer wird, finden die beiden zusammen. Sie wollen eine gemeinsame Zukunft, in Freiheit. Und da sind diese Gerüchte über Türen, die diejenigen, die sie passieren, an einen besseren Ort bringen können. Doch den Weg durch diese Türen muss man sich mit viel Geld erkaufen. Als die Gewalt weiter eskaliert, entscheiden sich Nadia und Saeed, diesen Schritt zu gehen. Sie lassen ihr Land und ihr altes Leben zurück …

›Exit West‹ beschäftigt sich mit den zentralen Themen unserer Zeit: Flucht und Migration. Dieser überaus poetische Text ist berührend und von großer Relevanz – Mohsin Hamid hat den Roman der Stunde geschrieben.

Mohsin Hamid, geboren in Lahore, Pakistan, studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton. Nach Stationen in New York und London lebt er heute mit seiner Familie in Lahore. Seine Romane wurden in über 30Sprachen übersetzt. ›Der Fundamentalist, der keiner sein wollte‹ stand auf der Shortlist des Booker-Preises und wurde von Mira Nair verfilmt. Bei DuMont erschienen zuletzt sein Roman ›So wirst du stinkreich im boomenden Asien‹ (2013) und der Essayband ›Es war einmal in einem anderen Leben‹ (2016).

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute freie Lektorin und Übersetzerin. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u.a. Naomi J.Williams, Richard C.

TYRANNEI DES GESTERN

Ob in der Politik oder in der Popkultur: Nostalgie lähmt und provoziert Ängste. Ein Plädoyer fürs Vorwärtsdenken

Wir Menschen existieren in dem Wissen, dass wir eines Tages aufhören zu sein. Und so versuchen wir, gegen die Zeit zu rebellieren. Wie Liebende fühlen wir uns zur unerreichbaren Vergangenheit hingezogen, zu imaginierten Erinnerungen, zur Nostalgie. Wenn ich mit dem Smartphone, zu Fuß oder mit dem Flugzeug um die Welt reise, scheint es mir, als wäre die Nostalgie in diesem historischen Augenblick ganz besonders wirkungsmächtig. Die politische Rhetorik unserer Zeit ist voll von ihr. Der »Islamische Staat« und Al-Qaida rufen zur Rückkehr in die – vermeintlich – ruhmreiche Vergangenheit des Islam auf. Die Brexit-Kampagne wurde mit dem Schlachtruf geführt, man wolle an die – vermeintlich – glorreichen Zeiten Großbritanniens anknüpfen. Und schließlich wurde Donald Trump mit dem Slogan »Make America Great Again« Präsident. All diese Bewegungen sind in ihrem Kern restaurativ.

Nostalgie manifestiert sich auch in unserer Populärkultur, mit Superhelden, Superschurken, superironischen Symbolen einer supersexy Vergangenheit. Auch viele der beliebtesten Serien spielen in einer Vergangenheit, die sich massiv vom Heute unterscheidet. Ich habe Mad Men geliebt, meine Frau liebte Downton Abbey. Wir und viele unserer Freunde in Pakistan liebten diese Serien sogar so sehr, dass uns nur zeitweise bewusst wurde, dass sie uns aus unserer längst nicht mehr völlig weißen Gegenwart heraustransportieren. Selbst in Game of Thrones, wo feuerspeiende Drachen und untote Krieger auftreten, sind kaum einmal nichtweiße Menschen zu sehen. Die Gesetze des Rassismus scheinen dort unveränderbar. Die Serien gefielen uns trotzdem.

Auch in den sozialen Netzwerken sind wir damit beschäftigt, unsere eigenen jeweiligen Vergangenheiten sorgfältig auszugestalten und mit den Vergangenheiten anderer zu interagieren. Ich kann mich selbst vor fünf Sekunden sehen, meine Freundin vor fünf Stunden, mein erstes Kind vor fünf Monaten, meinen Hund vor fünf Jahren – und ich kann endlos durch diese Archive vergangener Augenblicke streifen, sie mit aktuellen Likes und Filtern vermischen und so neue Hybride aus Vergangenheit und Gegenwart erschaffen.

Warum zieht uns die Nostalgie so sehr an? Wenn man Eisbären genügend Zeit gäbe, könnten sie möglicherweise das arktische Eis verlassen und auch in einem wärmeren Klima gedeihen. Wenn aber das Eis, von dem sie abhängen, innerhalb von ein paar Jahrzehnten verschwindet, werden sie aussterben. Unsere menschliche Anpassungsfähigkeit ist wesentlich größer, aber auch wir erfahren Veränderungen als Stress. Die Welt, in der meine Großeltern aufwuchsen, wäre für deren Großeltern nicht allzu fremd gewesen. Aber die Welt, in der meine Kinder aufwachsen, ist für meine Eltern durchaus befremdlich: eine Welt voller kabellos verbundener Geräte, automatisierter Fabriken, genetisch verändertem Getreide und täglicher Flüge von Lahore nach Rio de Janeiro und Sydney.

Vielleicht programmieren wir schon bald unsere Zellen um, bauen Computer in unseren Nervenkreislauf ein, werden damit noch anpassungsfähiger – und letztlich weniger gestresst von all den Veränderungen. Doch für den Augenblick sehen wir nur die Umbrüche und die Unsicherheit vor uns. Gleichzeitig werden die herkömmlichen menschlichen Mittel untergraben, mit solchen Unwägbarkeiten und mit der Unvermeidbarkeit unseres Sterbens umzugehen. Familien leben heute über den gesamten Globus verteilt. Religion wird für politische Ziele zweckentfremdet und damit spirituell entleert. Und die Idee einer einheitlichen Nationalität wird von der Tatsache wachsender Hybridität infrage gestellt.

Unsere Reaktion ist vorhersehbar. Die Zukünfte, die wir uns wünschen würden, erscheinen unwahrscheinlich. Die Zukünfte, die wir für wahrscheinlich halten, erfüllen uns mit Angst. Das lässt uns hilflos zurück, macht uns wütend und anfällig für die gefährlichen Rufe von Scharlatanen, Fanatikerinnen und Xenophoben. Wir verlieren den Mut, und in unserer Niedergeschlagenheit werden wir gefährlich. Ein Selbstmordattentäter ist immer auch jemand, der sich selbst umbringt.

Als ich neun war, zog meine Familie aus Kalifornien, wohin wir gegangen waren, damit mein Vater seine Doktorarbeit fertigstellen konnte, wieder nach Pakistan, nach Lahore, wo ich zur Welt gekommen war. Heute kann man sich wahrscheinlich nicht mehr richtig vorstellen, wie tief greifend diese Veränderung für mich damals war. 1980 gab es noch keine E-Mails, die Post war langsam und unzuverlässig. Internationale Telefonate mussten vorab angemeldet werden und kosteten ein Vermögen. Ich hatte eine Welt verlassen und eine andere betreten. Die Menschen, die Gerüche, das Essen, die Sprache – alles war anders. Es gab nur einen Fernsehsender, der auch nur zu bestimmten Tageszeiten sendete. Also wandte ich mich Büchern zu, insbesondere dem Fantasygenre. Ich las Die Chroniken von Narnia von C.S. Lewis. Die Vorstellung, dass Kinder durch einen Kleiderschrank in ein fremdes und magisches Land hinüberwechseln, erschien mir vollkommen plausibel. Ich las die Mittelerderomane von J.R.R.Tolkien und war fasziniert von der Bedeutung, die Clans, Familien, Geschichte, Ehre und Förmlichkeiten haben konnten, selbst wenn es die Förmlichkeiten von Hobbits oder Elfen waren.

Ich war schon immer ein Tagträumer gewesen, und so verbrachte ich die langen heißen Sommer in Lahore damit, mir Dinge auszudenken. Ich entdeckte meine Faszination für Atlanten und Almanache mit ihren vielfarbigen Karten, ihren Symbolen für verschiedene Bevölkerungsgruppen, für Exportgüter oder Klimabedingungen. Und ich begann damit, selbst Länder zu erschaffen. Ich zeichnete ihre Grenzen, skizzierte ihre Geschichte, welche Güter von dort stammten, welche Sprachen gesprochen wurden. Häufig fanden sich Lahorer und Leute aus San Francisco unter den Bewohnern, oft auch Menschen aus China, Kenia, Brasilien oder Frankreich.

Ich brauchte dieses selbst entwickelte Geschichtenerfinden, um mich in einer verwirrenden Welt zurechtzufinden. Es half mir, Teile meiner Existenz zusammenzubringen, die mir aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Distanz voneinander getrennt erschienen. Das Geschichtenerfinden half auch dabei, mir eine Zukunft für mich globale Promenadenmischung auszumalen. Und schließlich wurden die Welten, die ich mir erschuf, zum Ausgangspunkt für meinen Beruf: Vor 25Jahren, ich war noch keine 22, habe ich meinen ersten Roman begonnen. Während der vergangenen 30Jahre habe ich in den USA, Großbritannien und Pakistan gelebt. Fast täglich korrespondiere ich mit Freunden und Kolleginnen auf verschiedenen Kontinenten. Und dieses Leben passt zu mir, auch wenn es für meine Großeltern unvorstellbar war.

Lange vor Anbruch der Geschichte haben menschliche Wesen sich um flackernde Lagerfeuer versammelt, um sich Geschichten zu erzählen und sie zu teilen. Wir tun das noch immer, auch wenn die Lagerfeuer heute leuchtende Bildschirme sind. Fiktionale Erzählungen geben uns so vieles. Vor allem bieten sie ein Gegenmittel gegen Nostalgie. Indem wir uns etwas vorstellen, schaffen wir das Potenzial dessen, was sein könnte. Geschichten besitzen die Kraft, uns von der Tyrannei dessen zu befreien, was war und was ist. Diejenigen von uns, die schreiben, genießen die besondere Freiheit, das zu schaffen, was wir uns wünschen. Wir Geschichtenerzähler sind die Start-ups des Kommenden, die verrückten Erfinder in den Forschungsabteilungen der menschlichen Vorstellungskraft.

Die Zukunft ist zu wichtig, um sie Berufspolitikern oder Technologinnen zu überlassen. Wir brauchen alternative Vorstellungen und Perspektiven. Wir brauchen radikale, politische Literatur. Diese Literatur muss nicht aus Dys- oder Utopien bestehen. Vielmehr muss sie mit all der Verrücktheit und Weisheit, zu der wir imstande sind, prüfen, wohin wir erstrebenswerterweise gehen könnten – als Individuen, Familien, Gesellschaften, Kulturen, Nationen, Erdlinge. Dazu muss Literatur nicht zwingend in der Zukunft spielen. Es erfordert vielmehr eine radikale politische Auseinandersetzung mit dem Heute – und dadurch auch mit dem möglichen Morgen.

Mohsin Hamid. ›Tyrannei des Gestern‹. In: Der Freitag 10/17.09.03.2017, S.13. Aus dem Englischen von Holger Hutt.

Im Original erschienen unter ›We Need to Imagine a Brighter Future.‹ In: The Guardian. 25.02.2017.

Mohsin Hamid

EXIT WEST

ROMAN

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

Exit West‹ bei Riverhead Books, New York.

© 2017 by Mohsin Hamid

eBook 2017

© 2017 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Monika Köpfer

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN

Für Naved und Nasim

IN EINER VON FLÜCHTLINGEN wimmelnden Stadt, in der es überwiegend noch friedlich zuging oder jedenfalls kein offener Krieg herrschte, begegnete ein junger Mann in einem Klassenzimmer einer jungen Frau, ohne sie jedoch anzusprechen. Das ging etliche Tage so. Sein Name war Saeed und ihrer Nadia, und er hatte einen Bart, keinen Vollbart, eher einen penibel gepflegten Dreitagebart, und sie war stets vom Hals abwärts in ein fließendes schwarzes Gewand gehüllt. Damals genossen die Menschen noch das Privileg, in Sachen Kleidung und Haar mehr oder weniger zu tragen, was oder wie es ihnen gefiel, daher hatten die jeweiligen Vorlieben der beiden durchaus etwas zu bedeuten.

Es mag merkwürdig erscheinen, dass in einer Stadt am Rand des Abgrunds junge Leute nach wie vor zum Unterricht gingen – in diesem Fall zu einem Abendkurs über Corporate Identity und Product Branding –, aber das ist nun einmal der Lauf der Dinge, die Menschen gehen trotz allem ihrem gewohnten Leben nach, denn auch wenn wir gerade eben noch Besorgungen gemacht haben, kann es sein, dass wir im nächsten Moment sterben, und das stets wie ein Damoklesschwert über uns schwebende irdische Ende hindert uns nicht daran, Neues zu beginnen oder mit Bereits begonnenem fortzufahren, bis zu dem Moment, da unser Leben eben endet.

Saeed fiel auf, dass Nadia einen Schönheitsfleck am Hals hatte, ein rötlich braunes Oval, das sich manchmal, selten, aber eben doch hin und wieder, mit ihrem Pulsschlag bewegte.

Nicht lange, nachdem ihm das aufgefallen war, sprach Saeed Nadia zum ersten Mal an. Noch waren in ihrer Stadt keine großen Kampfhandlungen ausgebrochen, es gab nur hie und da einen Schusswechsel, oder eine Autobombe explodierte, was man im Brustkorb wie das dumpfe Vibrieren von Bässen aus übergroßen Lautsprechern spürte, so wie bei Rockkonzerten.

Saeed und Nadia hatten ihre Bücher eingepackt und waren im Begriff, das Klassenzimmer zu verlassen. Im Treppenhaus drehte er sich zu ihr um und fragte: »Sag mal, hättest du Lust auf einen Kaffee?«, und fügte nach kurzem Zögern hinzu, um in Anbetracht ihrer konservativen Aufmachung nicht aufdringlich zu erscheinen: »In der Cafeteria, meine ich?«

Nadia sah ihm direkt in die Augen. »Gehst du nicht das Abendgebet sprechen?«

Saeed lächelte schief. »Nein, ich bete nicht immer. Traurig, aber wahr.«

Ihr Ausdruck veränderte sich nicht.

Mit der wachsenden Verzweiflung eines Kletterers, der nicht mehr vor und zurück konnte, behielt Saeed sein Lächeln bei und fügte hinzu: »In meinen Augen ist das etwas ganz Persönliches. Jeder von uns hält es anders. Oder … jede von uns. Niemand ist perfekt. Jedenfalls …«

Sie unterbrach ihn. »Ich bete nie«, sagte sie.

Noch immer sah sie ihn unverwandt an.

Schließlich sagte sie: »Vielleicht ein andermal.«

Er sah ihr nach, während sie auf den Parkplatz hinausging und sich dort, statt sich den Kopf mit einem schwarzen Tuch zu bedecken, wie er es erwartet hatte, einen schwarzen Motorradhelm aufsetzte, der an einem verschrammten leichten Geländemotorrad angekettet war, dann das Visier herunterklappte, sich auf den Sitz schwang, losfuhr und mit einem gedämpften Knattern in der Abenddämmerung verschwand.

Am nächsten Tag im Büro musste Saeed unaufhörlich an Nadia denken. Saeed arbeitete für eine auf Außenwerbung spezialisierte Werbeagentur. Sie besaß einige Reklametafeln, die in der ganzen Stadt platziert waren, hatte noch ein paar zusätzliche angemietet und handelte Verträge mit anderen Werbeträgern aus, wie zum Beispiel mit Busunternehmen, Sportstadien und Hochhausbesitzern.

Die Agentur befand sich in einer ehemaligen zweistöckigen Stadtvilla und hatte etwas mehr als ein Dutzend Angestellte. Zwar war Saeed einer der jüngsten, aber sein Chef mochte ihn und hatte ihn mit einem Pitch für eine ortsansässige Seifenfirma betraut, und er musste die Präsentation bis um fünf Uhr nachmittags per Mail abschicken. Normalerweise machte Saeed zunächst umfangreiche Online-Recherchen und schnitt seine Präsentation genau auf den jeweiligen Kunden zu. »Eine gute Geschichte muss das Publikum erreichen«, pflegte sein Chef zu sagen; für Saeed hieß das, man musste dem Kunden klarmachen, dass die Agentur ihr Handwerk verstand und in der Lage war, sich in ihn hineinzuversetzen, seinen Blickwinkel einzunehmen.

Aber an diesem Tag konnte sich Saeed einfach nicht konzentrieren, obwohl der Pitch wichtig war – nun, jeder Pitch war wichtig: Die Wirtschaftslage war angesichts der wachsenden Unruhen angespannt, und von sämtlichen Kosten schien die Außenwerbung immer der erste Posten zu sein, den die Firmen kappten. Ein großer, wild gewachsener Baum ragte auf dem winzigen Rasenstück hinter der Villa auf und schirmte den Boden darunter fast vollständig vor der Sonne ab, sodass dort, wo früher Rasen spross, beinahe nur noch blanke Erde und ein paar wenige Grasbüschel waren, und dazwischen lagen ein paar verstreute Kippenstummel der an diesem Morgen gerauchten Zigaretten, denn der Inhaber der Agentur hatte den Mitarbeitern das Rauchen in den Büros untersagt. Und ganz oben im Geäst dieses Baums hatte Saeed einen Falken ausgemacht, der dabei war, ein Nest zu bauen. Er arbeitete unermüdlich. Hin und wieder schwebte er beinahe reglos vor dem Fenster im Wind, um dann mit einer einzigen, kaum sichtbaren Bewegung eines Flügels oder durch Aufstellen der Federn einer Flügelspitze abzudrehen.

Während Saeed den Falken beobachtete, dachte er an Nadia.

Erst im allerletzten Moment raffte er sich auf und machte sich daran, den Pitch vorzubereiten, indem er Auszüge früherer Präsentationen kopierte und einfügte. Nur wenige der ausgewählten Bilder hatten entfernt mit Seife zu tun. Schließlich ging er mit seinem Entwurf zu seinem Chef und zuckte innerlich zusammen, als er unterwegs nochmals kurz die Seiten überflog.

Sein Chef schien indes in Gedanken woanders zu sein. Er kritzelte lediglich ein paar Verbesserungsvorschläge an den Rand der Ausdrucke, ehe er sie Saeed mit wehmütigem Lächeln zurückgab und sagte: »Schick es raus.«

Als er die bedrückte Miene seines Chefs wahrnahm, bekam Saeed irgendwie Mitleid mit ihm. Er wünschte, er hätte sich mehr angestrengt.

Während Saeeds E-Mail von einem Server heruntergeladen und von seinem Kunden gelesen wurde, schlief weit weg in Australien eine hellhäutige Frau allein in ihrem Haus in Surry Hills, einem Stadtteil von Sydney. Ihr Mann war geschäftlich in Perth. Die Frau trug nur ein langes T-Shirt, das ihm gehörte, und ihren Ehering. Ihr Oberkörper und linkes Bein waren von einem Laken bedeckt, das noch weißer war als ihre Haut; ihr rechtes Bein und ihre rechte Hüfte waren entblößt. In der kleinen Mulde zwischen Achillessehne und äußerem Knöchel war ein blaues Tattoo zu sehen, das einen kleinen mythologischen Vogel darstellte.

Ihr Haus verfügte über eine Alarmanlage, die jedoch nicht eingeschaltet war. Frühere Bewohner hatten sie installieren lassen, Menschen, für die das Haus irgendwann einmal ihr Zuhause gewesen war, bevor sich ein Phänomen namens Gentrifizierung unaufhaltsam in diesem Viertel ausgebreitet hatte. Die schlafende Frau nutzte die Alarmanlage nur sporadisch, meistens nur, wenn ihr Mann abwesend war, aber an diesem Abend hatte sie vergessen, sie einzuschalten. Ihr Schlafzimmerfenster, das sich vier Meter über dem Boden befand, war offen, nur einen Spaltbreit.

In der Schublade ihres Nachttischs lag eine angebrochene Schachtel Antibabypillen, von denen sie die letzte drei Monate zuvor eingenommen hatte, als ihr Mann und sie noch verhüteten. Des Weiteren ihre Pässe, Scheckhefte, Quittungen, Münzen, Schlüssel, ein Paar Handschellen und in Stanniolpapier eingewickelte Kaugummistreifen.

Die Tür des Wandschranks stand offen. Ihr Zimmer war in den LED-Schein des Ladegeräts ihres Computers und des kabellosen Routers getaucht, nur in den geöffneten Schrank fiel kein Licht, darin war es dunkler als die Nacht, ein vollkommen schwarzes Rechteck – das Herz der Dunkelheit. Und aus dieser Dunkelheit trat ein Mann.

Auch er war dunkel, hatte dunkle Haut und dunkles, krauses Haar. Nur mühsam gelang es ihm, herauszutreten, indem er sich mit beiden Händen am Türrahmen festhielt, als kämpfte er gegen die Schwerkraft oder stemmte sich einer gewaltigen Welle entgegen. Zuerst war da sein Kopf, dann der vorgereckte Hals, an dem sich die Sehnen abzeichneten, dann seine Brust mit dem halb aufgeknöpften, schweißgetränkten graubraunen Hemd. Unvermittelt hielt er inne. Sah sich in dem Zimmer um. Sein Blick fiel auf die schlafende Frau, die geschlossene Zimmertür, das geöffnete Fenster. Dann sammelte er sich erneut und versuchte unter Aufbietung seiner letzten Kraftreserven, den Raum zu betreten, in verzweifeltem Schweigen, dem Schweigen eines Menschen, der sich spätnachts in einer dunklen Gasse von Händen zu befreien suchte, die seinen Hals umklammerten und ihn zu Boden drückten. Nur dass da keine Hände um seinen Hals waren. Er wünschte sich einfach nur, dass niemand ihn hörte.

Ein letztes Mal stemmte er sich mit voller Kraft gegen einen unsichtbaren Widerstand, dann hatte er es geschafft und glitt zitternd wie ein neugeborenes Fohlen zu Boden. Reglos lag er da, völlig erschöpft. Bemühte sich, nicht zu keuchen. Er stand auf.

Er rollte furchterregend die Augen. Ja: furchterregend. Oder vielleicht auch nicht furchterregend. Vielleicht blickte er sich einfach nur um, nahm die Frau in Augenschein, das Bett, das Zimmer. Aufgewachsen unter den nicht selten gefährlichen Umständen, die dort herrschten, wo er herkam, war er sich der Zerbrechlichkeit seines Körpers bewusst. Er wusste, wie schnell ein Mensch sein Leben verlieren konnte: Wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort war und aus Versehen einen Schlag abbekam, von einem Schuss oder einer Messerklinge getroffen oder von einem um die Ecke biegenden Auto überfahren wurde oder sich beim Händeschütteln oder wenn jemand hustete, einen tödlichen Mikroorganismus einfing. Er wusste, ein Mensch allein war so gut wie gar nichts.

Die Frau, die schlief, schlief allein. Er stand vor ihr, auch er allein. Die Schlafzimmertür war zu. Das Fenster offen. Er entschied sich fürs Fenster. Im nächsten Moment war er hinausgeklettert und kam geschmeidig auf der Straße unten auf.

Während sich in Australien dieser Vorfall ereignete, kaufte Saeed auf dem Nachhauseweg noch rasch frisches Brot fürs Abendessen. Er war ein auf seine Unabhängigkeit bedachter junger Mann, noch unverheiratet, mit einer guten Arbeitsstelle und einer guten Ausbildung, und wie die meisten jungen unverheirateten Männer mit einer guten Ausbildung und einer guten Stelle damals in seiner Heimatstadt wohnte er noch bei seinen Eltern.

Saeeds Mutter hatte die bestimmende Art mancher Schullehrerinnen an sich, was sie früher auch gewesen war, und sein Vater hatte das leicht verloren wirkende Gebaren eines Universitätsprofessors, der er noch immer war – allerdings mit vermindertem Gehalt, war er doch über das Pensionsalter hinaus und sah sich gezwungen, als Gastprofessor zu arbeiten. Saeeds Eltern hatten vor einer halben Ewigkeit ehrbare Berufe gewählt, in einem Land, das, wie sich herausstellte, jenen, die ehrbare Berufe gewählt hatten, keinen Respekt mehr entgegenbrachte. Ein sicheres Auskommen und Ansehen konnte man nur finden, wenn man ganz anderen Tätigkeiten nachging. Als Saeed geboren wurde, waren sie beide schon in einem so fortgeschrittenen Alter, dass seine Mutter dachte, ihr Arzt wolle sie auf den Arm nehmen, als er sie fragte, ob ihr schon der Gedanke an eine Schwangerschaft gekommen sei.

Ihre kleine Wohnung befand sich in einem ehemals hübschen Gebäude mit einer schmucken, aber nunmehr bröckelnden Fassade aus der Kolonialzeit in einem einst gehobenen, aber inzwischen beengten, geschäftigen Viertel. Sie war einmal Teil einer sehr viel größeren Wohnung gewesen und bestand aus zwei Schlafzimmern und einem Raum, den sie als Ess- und Wohnzimmer nutzten, wo sie Besuch empfingen und fernsahen. Dieser dritte Raum war ebenfalls von bescheidener Größe, verfügte aber über hohe Fenster und einen nützlichen, wenngleich schmalen Balkon über einer Seitengasse und mit direktem Blick auf eine Allee, die geradewegs auf einen inzwischen versiegten Brunnen zulief, aus dem früher einmal Wasser sprudelte und in der Sonne glitzerte. Es war die Art von Blick, der in ruhigeren und prosperierenden Zeiten eine exklusive Lage ausmachte, wohingegen er in kriegerischen Zeiten keineswegs einen Mehrwert darstellte, befände man sich auf diesem Balkon doch direkt in der Schusslinie von schwerem Maschinenfeuer und Raketen, sollten die Kämpfer in diesen Stadtteil vordringen: Es wäre, als blickte man geradewegs in einen Gewehrlauf. Lage, Lage, Lage werden die Immobilienmakler nicht müde zu betonen. Geografie ist Schicksal lautet die Antwort der Historiker.

Bald sollte der Krieg die Fassade ihres Gebäudes gänzlich zerstören, so als hätte er am Rad der Zeit gedreht; die Kampfhandlungen eines einzigen Tages würden mehr Tribut fordern als ein ganzes Jahrzehnt.

Als sich Saeeds Eltern kennengelernt hatten, waren sie im gleichen Alter wie Saeed und Nadia jetzt. Ihre Verbindung war eine Liebesheirat, eine Heirat zwischen zweien, die sich kaum kannten, aber dennoch keine von ihren Eltern arrangierte Ehe, was damals in ihren Kreisen zwar nicht beispiellos, aber doch unüblich war.

Sie sahen sich zum ersten Mal im Kino, als der Film, der von einer findigen Prinzessin handelte, kurz unterbrochen wurde. Saeeds Mutter beobachtete seinen Vater verstohlen, wie er eine Zigarette rauchte, und war verblüfft von seiner Ähnlichkeit mit dem männlichen Hauptdarsteller. Diese Ähnlichkeit war indes nicht völlig zufällig: Obwohl er ein bisschen schüchtern war und ein Bücherwurm, ahmte Saeeds Vater den Kleidungsstil und die Gestik der damals bekannten Filmstars und Musiker nach, genau wie die meisten seiner Freunde auch. Hinzu kam, dass die Kurzsichtigkeit im Verein mit seiner Persönlichkeit ihm einen verträumten Ausdruck verlieh, was dazu führte, dass Saeeds Mutter dachte, er sehe nicht nur aus wie der Hauptdarsteller, sondern verkörpere ihn. Und sie beschloss, sich ihm zu nähern.

Sie stellte sich direkt vor ihn hin, plauderte angeregt mit einer Freundin und tat, als bemerkte sie das Objekt ihrer Begierde gar nicht. Er bemerkte sie. Und lauschte. Brachte sogar den Mut auf, sie anzusprechen. Und damit war es, wie beide hinterher gern sagten, wenn sie von ihrer ersten Begegnung erzählten, um sie geschehen.

Sowohl Saeeds Mutter als auch sein Vater lasen viel und diskutierten gern, wenn auch auf unterschiedliche Weise, und zu Anfang ihrer Romanze trafen sie sich häufig heimlich in Buchhandlungen. Später, nachdem sie geheiratet hatten, besuchten sie nachmittags oft ein Café oder Restaurant und lasen dort, oder sie lasen, bei schönem Wetter, gemeinsam auf dem Balkon. Er rauchte und sie angeblich nicht, aber wenn sie sah, dass die Asche seiner Zigarette abzufallen drohte, weil er sie offenbar zwischen seinen Fingern vergessen hatte, nahm sie ihm die Zigarette weg, klopfte sie vorsichtig an einem Aschenbecher ab und nahm einen langen und verwegenen Zug, ehe sie sie ihm mit einer anmutigen Bewegung zurückgab.

Das Kino, wo sich Saeeds Eltern kennengelernt hatten, gab es, als ihr Sohn Nadia begegnete, schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie die Buchhandlungen, die sie seinerzeit besucht hatten, und die meisten ihrer damaligen Stammrestaurants und -cafés. Nicht, dass sämtliche Kinos und Buchhandlungen, Restaurants und Cafés aus der Stadt verschwunden wären, aber viele derer, die es früher gegeben hatte, existierten eben nicht mehr. Das Kino, das sie in so liebevoller Erinnerung behielten, war durch eine Einkaufspassage mit Geschäften für Computer und elektronische Peripheriegeräte ersetzt worden. Inzwischen hieß das ganze Gebäude so wie das Kino, das es damals beherbergte: Früher hatte beides ein- und demselben Besitzer gehört, und das Kino war so berühmt, dass es zum Synonym für den ganzen Komplex geworden war. Wenn sie an besagter Arkade vorbeikamen und diesen alten Namen auf dem neuen Neonschild sahen, konnte es passieren, dass die Erinnerung an damals Saeeds Mutter oder Saeeds Vater lächeln ließ. Oder er oder sie hielt inne.

Saeeds Eltern hatten zum ersten Mal in ihrer Hochzeitsnacht Sex. Von beiden empfand Saeeds Mutter es zunächst als unangenehmer, doch war sie auch die Kühnere und beharrte darauf, den Akt bis zur Morgendämmerung zwei weitere Male zu wiederholen. Diese Rollenverteilung währte viele Jahre. Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass sie die Unersättlichere von beiden war. Kurzum, er beugte sich ihrem Willen. Vielleicht weil es zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis sie mit Saeed schwanger wurde, und sie daher lange annahm, dass sie keine Kinder bekommen könne, war sie in der Lage, Sex vorbehaltlos zu genießen, das heißt, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen oder von der Kindererziehung abgelenkt zu sein. Währenddessen legte er in den ersten Jahren ihrer Ehe gegenüber ihren unermüdlichen Avancen die Haltung eines angenehm überraschten Mannes an den Tag. Sie fand Schnurrbärte und von hinten genommen zu werden erotisch. Er fand sie sinnlich und stimulierend.

Nach Saeeds Geburt ließ ihre sexuelle Aktivität beträchtlich nach, und das setzte sich kontinuierlich fort. Ein Gebärmuttervorfall tat ein Übriges, ebenso wie die Tatsache, dass es für ihn immer schwerer wurde, eine Erektion zu halten. Während dieser Zeit übernahm Saeeds Vater zusehends die Rolle dessen, der den ersten Schritt machte, oder er fühlte sich dazu bemüßigt. Bisweilen fragte sich Saeeds Mutter, ob er es aus wahrer Begierde tat oder aus Gewohnheit oder ganz einfach, weil er ihre Nähe suchte. Sie wiederum kam ihm so gut sie es vermochte entgegen. Irgendwann, sagte sie sich, würde sein Körper ihn in seine Schranken weisen, so wie es ihr mit ihrem Körper geschah.

In ihrem letzten gemeinsamen Jahr, das bereits ziemlich weit fortgeschritten war, als sich Saeed und Nadia begegneten, hatten sie nur dreimal Sex. In diesem einen Jahr also genauso oft wie in ihrer Hochzeitsnacht. Doch seinen Schnurrbart behielt sein Vater bis zum Schluss, bestand seine Frau doch darauf. Und nie wechselten sie ihr Ehebett: das Kopfteil mit Pfosten wie bei einem Geländer, dazu angetan, sich daran festzuklammern.

Im Wohnzimmer von Saeeds Familie befand sich ein Teleskop, schwarz und von geschmeidiger Form. Saeeds Vater hatte es von seinem Vater bekommen, und Saeeds Vater hatte es an ihn weitergegeben, aber da Saeed noch immer zu Hause wohnte, stand das Teleskop nach wie vor an seinem angestammten Platz, auf einem Stativ in einer Ecke. Darüber segelte in einer Glasflasche auf einer dreieckigen Konsole ein kunstvoll gearbeiteter Klipper übers Meer.

Inzwischen war die Luft in ihrer Stadt zu verschmutzt, als dass man ausgiebig Sterne hätte betrachten können. Nur nach einem regenreichen Tag schaffte Saeeds Vater abends das Teleskop hin und wieder auf den Balkon; bei grünem Tee genossen die drei dann die sanfte Brise und blickten abwechselnd zu den Gestirnen empor, deren Licht nicht selten schon vor der Geburt des ältesten der drei Betrachter ausgestrahlt worden war – Licht aus früheren Jahrhunderten, das erst jetzt die Erde erreichte. Zeitreise, wie Saeeds Vater das Phänomen nannte.

Doch eines Nachts, um genau zu sein, in der Nacht nachdem Saeed sich mit der Vorbereitung des Pitchs für die Seifenfirma abgemüht hatte, schwenkte Saeed das Teleskop geistesabwesend auf einer Kurve unterhalb des Horizonts. Im Sucher tauchten Fenster und Mauern und Dächer auf, mal unbeweglich, wenn er kurz innehielt, dann wieder in flüchtigen, vorbeiflitzenden Bildern.

»Ich glaube, er schaut jungen Frauen nach«, sagte Saeeds Vater zu seiner Frau.

»Benimm dich, Saeed«, sagte seine Mutter.

»Nun, er ist dein Sohn.«

»Ich habe nie ein Fernrohr gebraucht.«

»Stimmt, du hast Beobachtungen aus nächster Nähe vorgezogen.«

Saeed schüttelte den Kopf und schwenkte das Rohr nach oben.

»Ich sehe den Mars«, sagte er. Und tatsächlich. Da war er, der zweitnächste Planet, mit verschwommenen Umrissen und von der Farbe eines Sonnenuntergangs nach einem Sandsturm.

Saeed stand auf und hielt sein gen Himmel gerichtetes Handy hoch, nachdem er zuvor eine App aktiviert hatte, mit der er ihm unbekannte Sternbilder identifizieren konnte. Der Mars auf dem Display war wesentlich detaillierter, wobei es sich natürlich um einen Mars handelte, der zu einem früheren Zeitpunkt am Himmel zu sehen und vom Erfinder der App festgehalten worden war.

Aus der Ferne hörten Saeed und seine Eltern Schüsse aus Automatikwaffen, dumpfe Salven, nicht laut, aber dennoch klar vernehmlich. Eine kleine Weile blieben sie noch sitzen. Bis Saeeds Mutter meinte, sie sollten jetzt besser hineingehen.

Als Saeed und Nadia in der folgenden Woche nach ihrem Abendkurs zusammen auf einen Kaffee in die Cafeteria gingen, sprach Saeed sie auf ihr konservatives schwarzes Gewand an, das den ganzen Körper verhüllte.

»Du hast gesagt, du betest nicht«, sagte er und senkte die Stimme, »warum trägst du es dann?«

Sie saßen an einem Zweiertisch am Fenster mit Blick auf eine Straße, auf der sich der Verkehr staute. Ihre Handys lagen mit dem Display nach unten zwischen ihnen auf dem Tisch, wie die Waffen von zwei Desperados, die ein ernstes Wörtchen miteinander zu reden hatten.

Sie lächelte. Nahm einen Schluck Kaffee. Und sagte, die untere Gesichtshälfte hinter ihrer Tasse verborgen: »Damit Männer mir nicht blöd kommen.«

ALS SCHÜLERIN WAR NADIAS