Der letzte weiße Mann - Mohsin Hamid - E-Book

Der letzte weiße Mann E-Book

Mohsin Hamid

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Beschreibung

Als Anders eines Morgens erwacht, stellt er fest, dass er sich verwandelt hat: Er ist nicht mehr weiß. Vollkommen erschüttert schließt er sich in seiner Wohnung ein, meldet sich krank. Nur Oona erzählt er von seiner Verwandlung, einer guten Freundin und gelegentlichen Geliebten. Irgendwann wagt er sich wieder hinaus in die Welt und zur Arbeit. »Wenn mir das passiert wäre, ich hätte mich umgebracht«, sagt sein Chef. Immer mehr Berichte über ähnliche Verwandlungen tauchen auf: Die weiße Mehrheit im Land scheint zur Minderheit zu werden. Und sie fühlt sich bedroht. Steht ein Umsturz der bestehenden Ordnung bevor? Bald herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände in der Stadt. Oona, mittlerweile selbst verwandelt, steht Anders zur Seite, in den Wirren dieser Zeit werden sie zu einem Liebespaar. Schließlich gibt es kaum mehr weiße Menschen in der Stadt, Anders’ Vater stirbt schwerkrank als Der letzte weiße Mann. Die Unruhen klingen ab – aber gelingt es den Menschen nun, einander wirklich zu sehen?

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Als Anders eines Morgens erwacht, stellt er fest, dass er sich verwandelt hat: Er ist nicht mehr weiß. Vollkommen erschüttert schließt er sich in seiner Wohnung ein, meldet sich krank. Nur Oona erzählt er von seiner Verwandlung, einer guten Freundin und gelegentlichen Geliebten. Irgendwann wagt er sich wieder hinaus in die Welt und zur Arbeit. »Wenn mir das passiert wäre, ich hätte mich umgebracht«, sagt sein Chef.

Immer mehr Berichte über ähnliche Verwandlungen tauchen auf: Die weiße Mehrheit im Land scheint zur Minderheit zu werden. Und sie fühlt sich bedroht. Steht ein Umsturz der bestehenden Ordnung bevor? Bald herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände in der Stadt. Oona, mittlerweile selbst verwandelt, steht Anders zur Seite, in den Wirren dieser Zeit werden sie zu einem Liebespaar. Schließlich gibt es kaum mehr weiße Menschen in der Stadt, Anders’ Vater stirbt schwerkrank als der letzte weiße Mann. Die Unruhen klingen ab – aber gelingt es den Menschen nun, einander wirklich zu sehen?

Was bedeutet es, weiß oder nicht weiß zu sein, und vor allem: Was bedeutet es, von der vermeintlichen Norm abzuweichen? In ›Der letzte weiße Mann‹ stellt der Kosmopolit Mohsin Hamid in seiner unvergleichlich eindringlichen Prosa die großen Fragen zum Thema Rassismus – und zum Thema Menschlichkeit.

»Mohsin Hamid ist einer der wichtigsten Autoren des 21.Jahrhunderts. Dies ist vielleicht sein bisher wichtigstes Buch.«    Ayad Akhtarn

© Jillian Edelstein

Mohsin Hamid, geboren in Lahore, Pakistan, studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton. Heute lebt er mit seiner Familie in Lahore und London. Seine Romane wurden in über 30Sprachen übersetzt. ›Der Fundamentalist, der keiner sein wollte‹ (2007) wurde von Mira Nair verfilmt. Bei DuMont erschienen zuletzt die Romane ›So wirst du stinkreich im boomenden Asien‹ (2013) und ›Exit West‹ (2017) sowie der Essayband ›Es war einmal in einem anderen Leben‹ (2016). Mit ›Der Fundamentalist, der keiner sein wollte‹ und ›Exit West‹ stand Mohsin Hamid auf der Shortlist des Man-Booker-Preises.

Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt aus dem Portugiesischen und Englischen, u.a. Jennifer Clement, Chigozie Obioma und José Saramago. 2018 erhielt er den Hamburger Literaturpreis für Übersetzungen, 2020 den Internationalen Literaturpreis (Haus der Kulturen der Welt).

Mohsin Hamid

DER LETZTEWEISSE MANN

Roman

Aus dem Englischen vonNicolai von Schweder-Schreiner

Von Mohsin Hamid sind bei DuMont außerdem erschienen:

So wirst du stinkreich im boomenden Asien

Nachtschmetterlinge

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Es war einmal in einem anderen Leben

Exit West

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›The Last White Man‹ bei Riverhead, New York.

Copyright © 2022 by Mohsin Hamid

eBook 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Hanka Steidle/plainpicture

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8252-6

www.dumont-buchverlag.de

ERSTER TEIL

1

EINES MORGENS WACHTE ANDERS, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte. Dies dämmerte ihm erst allmählich und dann ganz plötzlich, anfangs, als er nach seinem Handy griff, war es das Gefühl, dass das Morgenlicht seinen Unterarm in eine seltsame Farbe tauchte, dann, zu seinem Schrecken, kurz der Glaube, es läge jemand neben ihm im Bett, männlich, dunkelhäutig, wobei das zwar erschreckend schien, aber natürlich unmöglich war, und als er sah, dass, wenn er sich bewegte, der andere sich auch bewegte, wurde ihm klar, dass es in Wirklichkeit kein Mensch war, jedenfalls kein anderer Mensch, sondern nur er selbst, Anders, was er mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, denn wenn er es sich nur eingebildet hatte, dass da noch jemand war, dann war natürlich der Eindruck, seine Hautfarbe habe sich verändert, genauso ein Trugbild, eine optische Täuschung, eine mentale Verzerrung, dem flüchtigen Zustand zwischen Traum und Wachsein geschuldet, nur dass er jetzt sein Handy in der Hand hielt und die Kamera auf Selfie-Modus gestellt hatte, und das Gesicht, das ihn daraus ansah, definitiv nicht seins war.

Anders krabbelte aus dem Bett und eilte in Richtung Badezimmer, zwang sich dann aber, ruhig zu bleiben, langsamer zu gehen, bedächtiger, ob er das jedoch tat, um Kontrolle über die Situation zu demonstrieren, durch schiere Willenskraft die Normalität wiederherzustellen, oder weil die Rennerei ihn nur noch panischer machen und er sich dadurch erst als Opfer fühlen würde, das wusste er nicht.

Das Badezimmer war etwas abgeranzt, aber wohlig vertraut, die Risse in den Fliesen, der Dreck in den Fugen, und am Waschbecken klebte ein Streifen getrocknete Zahnpasta. Das Medizinschränkchen stand offen, sodass er erst die Tür schließen musste, um sein Spiegelbild zu sehen. Was er sah, war nicht der Anders, den er kannte.

Es war nicht mal so sehr der Schock oder das Entsetzen, das natürlich auch, vor allem aber erfüllte ihn sein neues Gesicht mit Wut, um nicht zu sagen Mordgedanken. Am liebsten hätte er ihn umgebracht, diesen dunkelhäutigen Mann, der ihm hier in seinem eigenen Zuhause gegenüberstand, alles Leben in diesem anderen Körper ausgelöscht, bis nur noch er selbst übrig war, und zwar so wie vorher, also rammte er ihm die Faust ins Gesicht, sodass es einen Riss bekam und die ganze Konstruktion, Schrank, Spiegel und alles, schief hing wie ein Gemälde nach einem Erdbeben.

Anders spürte kaum die Schmerzen in der Hand, so aufgewühlt war er, er zitterte, erst kaum merklich, dann stärker, als stünde er vollkommen ungeschützt draußen in der Winterkälte, und so zog es ihn zurück ins Bett, unter die Decke, wo er lange liegen blieb und sich versteckte, damit dieser Tag, der gerade erst begonnen hatte, bitte, bitte doch nicht begann.

*

Anders wartete darauf, dass der Spuk ein Ende nahm, dass alles wieder war wie vorher, jedoch vergeblich, die Stunden vergingen, und irgendwann wurde ihm klar, dass man ihn bestohlen hatte, dass er Opfer eines Verbrechens geworden war, das ihm immer schrecklicher erschien, weil es ihm alles genommen hatte, sogar ihn selbst, denn wie konnte er jetzt noch behaupten, Anders zu sein, wie konnte er Anders sein, wo ihm dieser andere Mann entgegenstarrte, aus dem Handy und im Spiegel, dabei versuchte er ja schon, nicht ständig nachzusehen, tat es dann aber doch, nur um erneut mit seinem Elend konfrontiert zu werden, und selbst wenn er es nicht tat, entkam er doch dem Anblick seiner dunklen Arme und Hände nicht, was ihn umso mehr erschreckte, als er sie zwar jetzt unter Kontrolle hatte, es aber keine Garantie gab, dass dies so bleiben würde, und er war nicht sicher, ob die Vorstellung, erwürgt zu werden, die ihm wie eine böse Ahnung immer wieder durch den Kopf schoss, ihm Angst machte oder ob es genau das war, was er wollte.

Ohne jeden Appetit versuchte er, ein Sandwich zu essen und möglichst ruhig und gelassen zu bleiben, bestimmt würde alles gut werden, sagte er sich, allerdings nicht sehr überzeugt. Er hätte gern geglaubt, sich irgendwie zurückverwandeln oder geheilt werden zu können, bezweifelte es aber jetzt schon, und als er sich fragte, ob er sich das alles vielleicht nur einbildete, und es testete, indem er ein Foto von sich machte und in ein digitales Album packte, konnte der Algorithmus, der bisher immer so sicher und zuverlässig seinen Namen vorgeschlagen hatte, ihn nicht identifizieren.

Normalerweise machte es Anders nichts aus, allein zu sein, aber in seinem Zustand kam es ihm vor, als wäre er nicht allein, sondern in feindseliger Gesellschaft, zu Hause eingesperrt, er traute sich nicht rauszugehen, also lief er vom Computer zum Kühlschrank zum Bett und zum Sofa, quer durch die kleine Wohnung, weil er es einfach nicht aushielt, auch nur eine Minute an einer Stelle zu bleiben, aber sich selbst, Anders, konnte Anders nicht entkommen. Das ungute Gefühl folgte ihm auf Schritt und Tritt.

Und so fing er irgendwann an, sich selbst zu untersuchen, die Struktur der Haare auf der Kopfhaut, die Stoppeln im Gesicht, das Muster der Linien an den trockenen Händen, die kaum noch sichtbaren Adern, die Farbe der Zehennägel, die Muskeln an den Waden und, nachdem er sich hektisch die Hose runtergezogen hatte, seinen Penis, der ihm in Größe und Gewicht unauffällig vorkam, außer eben dass es nicht seiner war, was natürlich grotesk war und vollkommen unakzeptabel, wie ein Meerestier, das es nicht hätte geben dürfen.

*

Am ersten Tag meldete Anders sich krank. Am zweiten Tag schrieb er, er sei kränker als angenommen und fiele wahrscheinlich die ganze Woche aus, woraufhin sein Chef anrief, und als Anders nicht ranging, schickte er ihm eine Nachricht, er hoffe für ihn, dass er im Sterben liege, danach ließ er ihn dann in Ruhe, schrieb allerdings eine Stunde später noch: Wer nicht arbeitet, kriegt auch kein Geld.

Seit seiner Verwandlung hatte Anders niemanden gesehen und war auch nicht scharf darauf, leider waren jedoch Milch, Hähnchenbrust und Thunfisch alle, und ein vernünftiger Mensch konnte eben nur eine bestimmte Menge an Proteinpulver zu sich nehmen, was bedeutete, dass er die Wohnung verlassen und sich der Welt stellen musste oder zumindest dem Verkäufer im Supermarkt. Er setzte sich eine Cap auf und zog sie tief in die Stirn.

Sein Auto, das früher mal seiner Mutter gehört hatte, war ungefähr halb so alt wie er, die Arbeiter, die es montiert hatten, längst im Ruhestand, entlassen oder durch Roboter ersetzt, und wenn man beschleunigte, schaukelte es ein bisschen, und noch mehr, wenn man die Fahrtrichtung änderte, wie ein Tänzer mit biegsamer Taille oder ein Betrunkener, aber der Austauschmotor reagierte erfreulich schnell, er schien einen guten Eindruck machen zu wollen, außerdem hatte Anders’ Mutter gern klassische Musik gehört, also hatte sein Vater dafür gesorgt, dass die Anlage gut klang, klare Höhen, saubere Mitten und, wie es Anders vorkam, ein für heutige Verhältnisse dezenter, bewusster Mangel an Wumms in den Bässen.

Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt merkte er, wie ihn jemand ansah und dann wegsah, dasselbe passierte ihm im Gang mit den Milchprodukten. Er wusste nicht, was die Leute dachten, ob sie überhaupt irgendetwas dachten, und wahrscheinlich bildete er sich die Feindseligkeit und Ablehnung in ihren Blicken nur ein. Er erkannte den Kassierer, der seine Einkäufe abscannte, der Kassierer ihn allerdings nicht, und als Anders ihm seine Kreditkarte reichte, bekam er kurz Panik, aber der Mann warf nicht mal einen Blick darauf, weder auf den Namen noch auf die Unterschrift, und reagierte auch nicht auf sein gemurmeltes Danke und Wiedersehen, er zuckte nicht mal mit der Wimper, als hätte Anders gar nichts gesagt.

Als Anders ins Auto stieg, kam ihm der Gedanke, dass die Leute, die er gesehen hatte, alle weiß waren und er vielleicht paranoid war und in manchen Gesten eine Bedeutung las, die sie gar nicht hatten, und an der nächsten Ampel schaute er in den Rückspiegel und suchte in seinem Blick nach etwas Weißem, irgendwo musste es doch sein, vielleicht in seinem Gesichtsausdruck, aber da war nichts, und je länger er hinsah, desto weniger weiß kam er sich vor, als wäre das Suchen danach das genaue Gegenteil von Weißsein, als rückte es dadurch nur noch weiter weg, es ließ ihn verzweifelt wirken, unsicher, so als gehörte er nicht hierher, wo er doch hier geboren war, verdammt, dann hörte er hinter sich ein lautes, anhaltendes Hupen und fuhr über die Ampel, die schon eine Weile grün war, und die Frau im Wagen hinter ihm scherte aus, um ihn zu überholen, ließ wütend das Fenster runter, fluchte wie eine Irre und schoss davon, und er tat nichts, gar nichts, brüllte nicht zurück, lächelte nicht entwaffnend, nichts, als wäre er geistig zurückgeblieben, dabei war sie hübsch, ziemlich hübsch sogar, jedenfalls bevor sie ihn anbrüllte, und als er nach Hause kam, fragte er sich, wie er wohl reagiert hätte, wie er hätte reagieren können, wenn sie gewusst hätte, dass er weiß war, oder wenn er selbst es gewusst hätte, denn plötzlich, und das war wirklich eine schwerwiegende Erkenntnis, war er sich nicht mehr sicher.

Anders nahm einen Zug von seinem Joint und inhalierte tief und lange, aber vielleicht war das ein Fehler, denn als das Mittagessen fertig war, hatte er keinen Hunger mehr, stattdessen packte ihn eine nervöse Unruhe, die er, wie er aus Erfahrung wusste, am besten durch Weiterrauchen bekämpfte, also rauchte er weiter, starrte auf sein Handy und surfte durchs Internet, und am Ende gab es das Mittagessen zum Abendessen.

Anders hätte gern mit seiner Mutter gesprochen, gäbe es einen Menschen, mit dem er jetzt hätte reden können, dann sie, aber sie war vor ein paar Jahren gestorben, vom Wasser, wie sie wussten, das nicht gut roch und nicht gut schmeckte, was sich aber irgendwann besserte, und als dann der Krebs kam, der sie von innen zerfraß, wie so viele andere Menschen auch, war schwer zu beweisen, dass es da einen Zusammenhang gab, vor Gericht jedenfalls, ja, und in den letzten Monaten konnte sie kaum noch sprechen, es kam nur noch ein heiseres Krächzen, und irgendwann wollte sie, dass es vorbei war, das Ende war also ein Segen.

Aber bevor sie krank wurde, hatte sie ihm immer zugehört, sie hatte uneingeschränktes Vertrauen in ihren Sohn, sie führte lange Gespräche mit ihm, wenn es eigentlich zu spät zum Reden war, las ihm im Bett vor, wenn es zu spät zum Lesen war, und als er mit sieben in ihre Klasse kam, war es das Schönste für ihn, weswegen er sich im Jahr darauf weigerte, versetzt zu werden, und noch zwei Wochen bei ihr blieb, bevor er sich, widerwillig, doch noch überreden ließ, und sie war es auch, die ihn zum Lesen brachte und dazu, sich ordentlich auf seine Prüfungen vorzubereiten, und die wollte, dass er aufs College ging, auch wenn sie dann gestorben war, und letztendlich, wie das Leben so spielte, war er dann doch nicht gegangen, obwohl er, für sie, aber auch für sich selbst, immer noch hoffte, es eines Tages zu tun, oder eines Abends, zumal ihm Abendkurse eher praktizierbar erschienen.

In der Highschool hieß es immer, das Schönste an ihm sei sein Lächeln, es hätte so was Entspanntes, Positives, irgendwie Großzügiges und Einladendes, das hatte er von seiner Mutter geerbt, es kam quasi aus ihrem Gesicht in seines, und jetzt vermisste er es, das Gefühl, das diesem Lächeln zugrunde lag, und Anders wusste nicht, ob es je zurückkommen würde.

2

ALS OONA ANS HANDY GING, war sie gerade mit Meditieren fertig und in einem, wenn auch nur vorübergehend, ausgeglichenen Zustand, dieses Gefühl, dass man kurz ganz oben auf der Welle der eigenen Gedanken geschwommen ist und gern dort bleiben würde, aber allein der Wunsch danach, das Wünschen überhaupt, einem den Auftrieb nimmt und man von der nächsten Welle nach unten gerissen wird.

Sie hörte die Panik in Anders’ Stimme, ließ ihn reden, und als er gar nicht mehr aufhörte, versuchte sie, ihn zu beschwichtigen, ihm gut zuzureden, war aber mit dem Herzen nicht richtig dabei, stattdessen stellte sich eine gewisse Distanziertheit ein, denn während er ihr das alles erzählte, dachte sie, in erster Linie und zunehmend, an sich selbst.

Oona war zurück in die Stadt gezogen, um ihrer Mutter zu helfen, mit dem Tod ihres Sohnes, Oonas Zwillingsbruder, fertigzuwerden, der sich schon lange angekündigt hatte, vielleicht seit der ersten Pille damals mit vierzehn, und auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass er seine Schwester an seinem Sterbebett bei sich wollte, dass er überhaupt irgendetwas in der Art wollte, dass das Bedürfnis nach anderen Menschen noch stark genug war, um das nach chemischen Substanzen zu verdrängen, wobei man mit einer solchen Hoffnung ziemlich allein dastand, wenn Tausende, ja vielleicht Millionen dagegenarbeiteten, und so war ihr Bruder wie zu erwarten allein gestorben, nur wenige Kilometer von seiner Familie entfernt.

Oona tadelte sich also nicht dafür, nur an sich zu denken, während Anders ihr seine tragische Situation schilderte. Sie mochte ihn gern, aber es war nur ein kürzlich aufgefrischter Highschool-Flirt, in ihren Augen etwas Vorübergehendes, ein Zeitvertreib, eine Ablenkung, und Oona ging nicht davon aus, in dieser neuen Situation besonders viel beitragen zu können, ihre emotionalen Reserven waren mehr als erschöpft, sie musste sich erst mal auf sich selbst, ihr eigenes Überleben konzentrieren, es war ihr gutes Recht, Anders abzuwürgen, zu sagen, sie müsse los, und seine Anrufe eine Weile lang zu ignorieren, bis sie irgendwann nachließen, und genau das war auch ihr Plan, als sie erklärte, sie müsse jetzt zum Unterricht, dann allerdings fügte sie zu ihrer eigenen Überraschung hinzu, sie würde abends, nach der Arbeit, bei ihm vorbeischauen.

Und zu ihrer noch größeren Überraschung tat sie genau das.

*

Die Fahrt mit dem Fahrrad von der Arbeit dauerte weniger als eine Viertelstunde, die Strecke führte vom wohlhabenderen Teil der Stadt in den ärmeren, es war noch nicht dunkel, aber es hatten nur noch die Tankstellen, die Bars, Restaurants und Kioske auf, jeweils zwischen zwei und einer Handvoll, nicht mehr. Der Anteil an leeren Schaufenstern nahm im Laufe des Weges zu, und die Menschen, die diese verfallenen Räumlichkeiten wahrscheinlich schon vor längerer Zeit ausgespuckt hatten, sah man an den Ecken an Straßenschildern lehnen und auf Pappkartons in Baulücken liegen.

Anders nannte sein Zuhause seine Hütte, es war tatsächlich klein, ein einziger Raum, wie ein Erdgeschoss, das noch irgendwohin hochführte, was es aber nicht tat. Oona hämmerte gegen die dünne Tür und ging direkt hinein, ohne eine Reaktion abzuwarten. Es war selten abgeschlossen. Sie wollte diejenige sein, die ihn entdeckte, sie fand die Vorstellung angenehmer, ihn bei etwas zu überraschen, als darauf zu warten, dass er ihr sein neues Ich präsentierte und dann zusah, wie sie reagierte, aber wie es der Zufall wollte, war er auf der Toilette, also musste sie trotzdem warten.

Die Wohnung wirkte sauber und aufgeräumt, alles war an seinem Platz, nicht dass Anders besonders viele Sachen gehabt hätte, außer Büchern, davon allerdings Unmengen, jedenfalls mehr als die meisten jungen Männer, sie stapelten sich an der Wand auf Holzbrettern und Betonziegeln, der einfachsten Form von Bücherregalen, und erinnerten Oona daran, wie bücherbesessen er als Teenager gewesen war, was man ihm allerdings nicht ansah.

Als er dann rauskam, konnte sie es kaum fassen, nicht bloß, weil seine Haut viel dunkler war, sondern weil er auch sonst vollkommen anders aussah, mal abgesehen von der ungefähren Größe und Breite. Sogar der Ausdruck in den Augen war ein anderer, vielleicht war es aber auch die Angst, seine, nicht ihre, jedenfalls merkte sie, obwohl sie ja schon Bescheid wusste, nur an seiner Stimme, dass er es tatsächlich war.

»Siehst du?«, sagte er.

»Verdammt«, erwiderte sie.