eXtRaVaGant - Mond oder Sonne - Leona Efuna - E-Book

eXtRaVaGant - Mond oder Sonne E-Book

Leona Efuna

0,0

Beschreibung

Paige ist sechzehn und leidenschaftliche Musikerin. Nach einem mysteriösen Autounfall liegt ihre beste Freundin Robyn im Koma. Als wäre das nicht genug, muss Paige nach New York umziehen, wo neue Begegnungen, der Duft von Zimt und noch mehr Geheimnisse auf sie warten. Ein Wechselbad komplizierter Gefühle und weitere unvorhergesehene Ereignisse verwandeln ihr Leben endgültig in eine Achterbahnfahrt. Briefe, Songtexte und Paiges innere Stimme machen die turbulente Story zum extravaganten Kopfkino. Soundtrack inklusive. Der Roman "eXtRaVaGant Mond oder Sonne" stellt die großen Fragen nach Gut und Böse, wahrer Freundschaft und Selbstbestimmung. Leona Efuna sucht den Menschen hinter der Fassade. Ohne erhobenen Zeigefinger und schonungslos ehrlich thematisiert sie schwierige Themen wie Essstörung, Depression, Verlust und toxische Beziehungen, aber auch Hoffnung, Überraschung, erste Liebe und zweite Chancen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 427

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

© 2021 by 360 Grad Verlag GmbH

Lindenstraße 23, D-69181 Leimen

www.360grad-verlag.de www.facebook.de/360GradVerlag

www.instagram.com/360gradverlag_bestbooks

Idee und Text: Leona Efuna

Coverentwurf: Leona Efuna

Lektorat: Lisa Rühl, Dannenfels

Satz und Herstellung: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

ePub-Konvertierung: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

© Fotos: privat / 360 Grad Verlag, Tobi Dittmer

Gesamtherstellung und Druck: Print Consult, München

ISBN 978-3-96185-917-7

Inhalt

Vorsatz

Titel

Impressum

Inhalt

Triggerwarnung

Definition extravagant

Widmung

–––––––––––––––––––––––––––––––––––

[Ein Brief]

[00] Lieblingsmensch

robyn feat. Paige Courtney – stars are dead

Winter

[01] Krankenhausrosen

[02] New York

[03] eXtRaVaGant

[04] Musikbesessen

[05] Infinity

eXtRaVaGant – Infinity

[06] Telefongespräch

[07] Nachtausflug

[08] Blaubeertörtchen

[09] Geburtstagsparty

eXtRaVaGant – After The Nights Are Gone

[10] Katerstimmung

[11] Highschool

Frühling

[12] Klavier

Paige Courtney – Whataboutism.

[13] Stay Alive

PAC – Stay alive.

[14] Mond

[15] Mut

[16] Schwester

[17] Casting

[18] Träume

Sommer

[19] Chicago

[20] TSoundz

[21] Unerreichbar

[22] Bonnaroo

[23] Babushkas Kommode

[24] Starimage

Paige Courtney – Blue ’n’ purple.

[25] Backstage

[26] Mond und Sonne

[27] Mom

[28] Danach

[29] Zwischen den Welten

[30] Wahrnehmungsverlust

eXtRaVaGant – Lil’ Mermaid

[31] Adanna

[32] Malibu

Adanna Okocha – Rockstar (I was only sixteen)

Herbst

[33] Sonne

PAC feat. robyn – Can’t hear ’em.

[34] Freunde

[35] Carnegie Hall

eXtRaVaGant – Eight Cups Of Coffee

PAC – And tell the world all my deepest thoughts.

[36] Bulimie

robyn – metaphor

[37] Coney Island

[38] Gerichtssaal

[Ein Konzert]

[Mond oder Sonne Playlist]

[Glossar und Nachweise]

[Danksagung]

Soundtrack zum Buch

Über die Autorin

 

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält Szenen, in denen Essstörungen, Bodyshaming, Mob­bing,  Al­ko­hol­miss­brauch, selbst­ver­let­zen­des Verhalten und Gewalt beschrieben sind. Falls du dich mit einem dieser Themen un­wohl fühlst, kann es ratsam sein, die Geschichte nicht oder nur zusammen mit einer Vertrauensperson zu lesen.

 

ex | t | ra | va | gant

Adjektiv

in seiner äußeren Erscheinung,in seinen Gewohnheiten und Ansichtenin außergewöhnlicher, überspannter, übertriebener o. ä. Weise bewusst abweichend und dadurch auffallend

»Ein extravaganter Mensch, Lebenswandel, Geschmack«

 

als kleine kinder

haben wir daran geglaubt,

dass jeder mensch entweder

der sonne oder dem mond gleicht.

falls man dieser theorie

wirklich glauben schenken sollte,

wärst du ein mond

und ich eine sonne.

aber ich wollte nicht,

dass mein ausbrennen

der grund für deine

selbstzerstörung ist.

– robyn

[Ein Brief]

Brooklyn, New York

26. Juni

Robyn,

du musst wissen, dass du mein Lieblingsmensch bist und auch für immer bleiben wirst.

Ich sehe es vor mir. Ohne kitschig klingen zu wollen, würde ich mir wünschen, dass du genau in diesem Moment neben mir sitzt. Auf dem Dach von Dads dunkelgrünem Range Rover, in den Sternen­himmel blickend, leicht betrunken, in Kicher­laune.

Du würdest mich fragen, was mit mir los ist, während du dich verhalten von mir wegdrehen würdest, weil du weißt, dass ich es am zweitmeisten hasse, wenn du rauchst. Am meisten hasse ich es, wenn man mir den Rauch ins Gesicht bläst. Das hast du noch nie getan.

Vielleicht würdest du ein "Baby" hinter deine Frage hängen, vielleicht würdest du mich auf die Wange küssen, vielleicht würden wir die Traurig­keit miteinander davonsingen. Ich würde matt ­lächeln, meinen Haarreif zurechtrücken, meine Daumen in die herunterhängenden Hosen­träger meiner lila Jeans einhängen, dir deine gelbe Herzchensonnenbrille wegnehmen, sie mir selbst aufsetzen, sodass du meine Tränen nur erahnen kannst. Wir würden unsere High Heels von dem Auto herunterbaumeln lassen. Für einen Moment würde ich kurz damit aufhören, um mir die gelbe Brille auf der Nase zurechtzurücken. Ich würde zuerst lügen, weil ich weiß, dass du weißt, dass ich das gerne tue, wenn ich etwas nicht wahrhaben will.

Es wäre kein bösartiges Lügen, eher ein Schön­reden. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich jetzt hier sitze und mir die Seele aus dem Leib schreibe. Wenigstens weine ich nicht.

Okay, das ist gelogen.

Denn mir geht es nicht gut. In diesem Moment würden deine riesigen, babyblauen Augen so groß werden wie Tennisbälle und du würdest wieder einen poetischen Singsang anstimmen, so wie du es immer gemacht hast. Vielleicht hippiemäßig, vielleicht würdest du mit mir weinen, so lange, bis ich deshalb ein schlechtes Gewissen bekommen würde. Du bist gut darin, anderen Leuten - insbesondere mir - ein schlechtes Gewissen zu machen, da du Wert darauf legst, Gefühle auszulösen, auch wenn du damit oft das Schlechte in Menschen hervorbringst.

Aber dieses Mal ist es anders, denn ich bin selbst ins Messer gerannt. Ich kann niemand anderem die Schuld geben, außer mir und meiner Naivität. Ich wusste sogar, worauf ich mich einlasse. Ich wusste von Anfang an, dass ich irgendwann hier sitzen und dir das erzählen würde.

Kurt Cobain hat mal gesagt: "There’s good in all of us and I think I simply love poeple too much, so much that it makes me feel too fucking sad."

Und jetzt scheint es fast, als hätte er diese Worte an mich gerichtet.

Wärst du da gewesen, dann hättest du mich gewarnt. Ziemlich sicher hättest du mir den Umgang mit ihnen verboten. Wärst du hier, würde ich die beiden gar nicht kennen. Du und ich wären jetzt wahrscheinlich glücklich in meinem Zimmer bei Mom, mit meinem Keyboard, einer vom Draufherum­hüpfen ramponierten Matratze und Vollmilch­schokolade. Mir würde nicht schlecht werden bei dem Gedanken, dass hundert Gramm ungefähr sechshundert Kalorien beinhalten.

Du würdest mir raten, die beiden Typen, die gerade in dem verrauchten Zimmer ihre Musik jammen, in den Wind zu schießen. Eigentlich nur einen von ihnen. Der andere hat mich sogar noch gewarnt. Vor der tickenden Zeitbombe, in die ich mich mit der Zeit mehr und mehr verliebt habe. Selbst jetzt überkommt mich das Bedürfnis, zu ihnen ins Haus zu gehen. Ich sollte es nicht tun. Denn er hat mich vollkommen in seiner Hand: Will er, dass ich glücklich bin, bin ich es.

Will er, dass ich mich in ihn verliebe, tue ich das, ohne auch nur darüber nachzudenken.

Wenn er will, dass ich traurig bin, bin ich es.

Ich habe mir eingeredet, es sei okay, dass er meine Gefühle, Emotionen und Gedanken kontrolliert. Damit spielt, wie es ihm gefällt.

Aber wenn er will, dass ich kaputt gehe, Robyn, dann gehe ich kaputt. Ganz und gar.

Ich bin manchmal nur eine Marionette, eine dumme, kleine Puppe, sein eigenes Schneewittchen. Trotzdem ändere ich nichts. Noch nicht. Vielleicht hat das alles irgendwann einen Sinn. Vielleicht, ganz vielleicht, ist alles anders als gedacht.

Ich weiß nicht, ob ich das noch lange aushalten kann.

Ich hoffe, in der Welt, in der du jetzt bist, geht es dir gut. Und ich hoffe, du vermisst mich nicht so sehr wie ich dich. Das tut nämlich weh. Sehr weh. Merkst du, wie meine Sätze abbrechen. Und kurz werden? Ich höre an dieser Stelle für heute auf, dir zu schreiben, da meine Tränen die Schreibmaschine volltropfen und ich nicht weiß, ob das schädlich ist. Sie ist doch schon so alt.

Meine Güte, wenn ich jetzt aufhöre, dir zu schreiben, fühle ich mich, als sei ich der einsamste Mensch auf diesem Planeten.

Beste Freundinnen, bis wir im Altersheim sitzen, mit klappernden Gebissen und im Rollstuhl, auf dass uns nie etwas trennt. Weißt du noch, Robyn, weißt du das noch?

Goodbye

Paige

[00] Lieblingsmensch

Alles auf Anfang.

Ich habe keine Lust auf die tausend Raketen am Himmel, wenn das Silvesterfeuerwerk heute Abend über Boston stattfindet. Diese Lichter bringen mich dazu, an sie und den Horror der letzten Tage zu denken.

Mein Leben kann man sich vorstellen wie ein Dominospiel. Eine Reihe düsterer Ereignisse, die unmittelbar hintereinanderstehen. Kommt eines davon in Schwung, bricht alles in sich zusammen. Dominoreaktion.

Alles hat mit diesem Typen angefangen.

Nein, nicht mit meinem Typen. Es war ihr Typ. Sie ist intelligent, ­humorvoll, das schönste Mädchen, das ich kenne, meine beste Freundin und mein Lieblingsmensch. Robyn ist ihr selbst gewählter Vorname.

Robyn.

Die, die nicht den Mund hält, wenn jemand etwas sagt, das ihr nicht passt.

Die, die sich im Matheunterricht die Nägel feilt und aus dem Fenster den Zwölftklässlern auf den Kopf spuckt, wenn sie über die Mädchen lästern, mit denen sie gestern noch hinter der Schule rumgeknutscht haben.

Die, die sich jeden Morgen auf dem Mädchenklo sieben Zigaretten dreht, während wir zusammen russische Rapper imitieren und ganze Memecompilations nachspielen.

Die, die sich im Französischunterricht selber Ohrlöcher sticht, weil ihr gerade danach ist.

Die, die während Klassenarbeiten die ganze Formelsammlung unter ihrem Minirock auf den Oberschenkeln stehen hat.

Die, wegen der jedem Typen die Kinnlade runterklappt, wenn sie ­lächelt.

Die, die souverän und für alle anderen verwirrend ihren Style ändern kann, ohne je in eine Schublade zu passen.

Weil sie Robyn ist.

Die, die auf Partys zwar nie mit den coolen Kids chillt, aber trotzdem immer wieder von ihnen eingeladen wird, damit Jungs aus den höheren Stufen auch kommen.

Mädchen, Jungs – Robyn hätte alle haben können.

Und dann erzählte sie mir blind vor Liebe von ihm. Das war sonst eigentlich gar nicht ihre Art. Das Blind-vor-Liebe-Sein, meine ich. Sonst war sie immer durchschauend, hat die Typen nach ein paar Wochen gekonnt abserviert. Sie servierte jeden ab. Wäre ich ein ehrlicher und kein gefühlsbedachter Mensch, würde ich sagen, Robyn war eine Herzensbrecherin, die zu ihren Gunsten mit den Gefühlen anderer spielte. Aber sie stellte es verdammt gut an. Normalerweise.

Steven. Das war der Name, den sie seit einiger Zeit öfter in den Mund nahm als die Planung unserer nächsten Auftritte. Sie zeigte mir Fotos von ihm und ihr, erzählte, wie sie ihn in der Bahn ansprach und er dann total süß nach ihrer Nummer fragte. Das war am ersten Novem­ber, am zehnten waren sie ein Paar. Sie stellte ihn mir vor, er war wirklich süß, sie passten perfekt zusammen. Robyn ist eher ein extravaganter, flippiger Typ. Ihre von Natur aus hell­blonden Haare haben bestimmt schon alle Farben dieser Welt gesehen.

Im November waren sie zu einem kinnlangen Bob geschnitten und kaugummirosa. Den ganzen Monat lief sie mit einer riesigen glitzernden silbernen Haarspange darin herum.

Im Gegensatz zu Robyn trägt Steven einen Nullachtfünfzehn-Haar­schnitt und Main­stream­klamotten. Wie Robyn hat er blonde Haare und blaue Augen, nur vom Typ etwas dunkler. Er wirkte insgesamt weniger naiv als Robyn.

Nicht, dass sie das war, das sagte nur ihr äußeres Er­schei­nungs­bild über sie aus.

Ich denke heute sogar, das war ihre Masche, um von anderen unterschätzt zu werden.

Er und Robyn waren sofort das Traumpärchen an unserer Highschool. So ziemlich jeder himmelte die beiden an.

Steven war eine Klasse unter uns und im Basketballteam. Ab diesem ersten November schleppte Robyn mich jeden Samstag und Sonntag zu den Spielen und danach zu den Partys mit.

Da meine und Robyns Mutter in der gleichen Ballettkompanie, dem Lincoln Square Ballet in New York City tanzten, bis wir in die neunte Klasse kamen, kennen wir uns schon, seit wir denken können. Wir mussten oft zusammen die Wohnorte wechseln und wenn unsere Mütter auf Tournee waren, habe ich bei meinem Dad gelebt und sie wurde zu Hause von Nannys betreut, weil ihr Vater ein viel beschäftigter Harvard-Professor ist.

Es war schon immer so, dass man Robyn nur lieben oder hassen konnte, etwas dazwischen gab es nicht, da sie unglaublich polarisierte. Man konnte sie schon fast als kleinen Star bezeichnen, wie sie da bei den Highschoolevents auf der Bühne stand, mit ihren bunten Haaren, den strahlend blauen Augen und der zierlichen Figur. Insgeheim habe ich sie immer beneidet, sie war der Inbegriff von Coolness. Deshalb stand ich in ihrem Schatten. Immer. Nichts konnte einen rebellischen Menschen wie Robyn überstahlen.

Robyn und ich liebten es mehr als alles andere, Straßenmusik zu machen, egal wo, egal wann. Von dem Geld, das wir von den Passanten bekamen, kauften wir Futter für das Tierheim in der Nachbarschaft und Bücher, die wir den Leuten im Altersheim vorlasen, weil es Robyns tiefster Wunsch war, Leute und Tiere glücklich zu machen, obwohl sie es mit Menschen unseres Alters meistens nur über kurze Zeit aushielt.

Es ging uns mit unserer Musik nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, es zu genießen. Zu lachen, tanzen, singen, ausgelassen sein. Sich befreien, sich retten. Und genau das mit anderen zu teilen.

Das war schon immer das, was Robyn und ich erreichen wollten. Damals in unserem Kindergarten unterhielt Robyn mit ihrem unvergleichlichen Humor die ganze Gruppe und wir träumten vom Popstarleben. Sie nahm Gesangsunterricht, nur vereinzelt, wenn sie gerade gut drauf war. Ich lernte von Dad Klavierspielen und probierte mich eine Zeit lang auch an anderen Instrumenten, von denen meine Mutter mir dringend abriet, da sie zu ihren Yogaübungen nur Klaviertöne und nicht das schrille Quietschen meiner Block­flöte ertragen konnte.

Wenn ich dann mal aus mir raus kam, hörte Robyn mir aufmerksam zu, ihre dünnen Beine mit den kunterbunt geringelten Kniestrümpfen übereinander geschlagen und die Nägel passend zum Lippenstift in Flieder, Apricot oder Ocker, je nachdem, wie sie aufgelegt war.

Überhaupt lief alles in ihrem Leben nach ihrer Laune. Wenn sie traurig war, schloss sie sich oft tagelang einfach nur ein und ließ niemanden an sich ran.

Aber wenn sie glücklich war, dann war die Welt ein bisschen besser, die Sonne schien.

Robyn meinte immer, ich hätte mehr Talent als sie und würde es nicht nutzen. Insgeheim fühlte ich mich gut, wenn sie so etwas sagte, und doch glaubte ich ihr kein Stück. Sie, die immer perfekt gestylt – ob absichtlich oder nicht – im Mittelpunkt stand, konnte doch nicht ernsthaft meinen, ich hätte mehr Talent. Das waren unbeschwerte Zeiten. Das war unser Lifestyle. Damals.

Robyn und Steven unternahmen auch viel zu zweit. Danach kam sie immer zu mir und erzählte mir, was Steven gesagt hatte. Wir kicherten wie Dreizehnjährige.

Sie demonstrierte mir, wie er ihre Hand hielt und welche Witze er mit welchem Gesichtsausdruck zum Besten gab. Ein paar Tage später bekam Robyn ihren heiß ersehnten Führerschein und nahm mich auf die erste Spritztour mit. Wir aßen Eis und lasen zusammen die neuste Ausgabe unserer Lieblingszeitschrift. Die Tage vergingen wie im Flug, oft waren wir zu dritt. Auf der Straße aber wie gewohnt zu zweit, es war eine unausgesprochene Regel, dass die Musik unser Ding war.

Dann waren sie einen Monat lang zusammen. Es war der zehnte Dezember, es schneite an diesem Tag zum ersten Mal. Durch das Fenster konnte ich Robyn sehen, sie drehte sich im Schneetreiben vor unserer Haustür, während ich drinnen die Handschuhe holte. Ich lese gerne meinen Tagebucheintrag von diesem Tag. Am Abend hatten Robyn und Steven ein Date. Er hat ihr danach seine Jacke geliehen, weil ihr kalt war, so richtig romantisch. Mit glühenden Wangen erzählte Robyn es mir am nächsten Morgen in unserem Lieblingscafé. Den Geschmack der heißen Schokolade und die Schneelandschaft, die wir durch das Fenster sehen konnten, werde ich nie wieder ver­gessen.

Am zwölften Dezember gingen Robyn und Steven auf den Weihnachtsmarkt in der Innenstadt. Sie aßen rosa Zuckerwatte und machten Selfies. Selfies, die einen Tag später ausgedruckt an der Innenseite ihrer Spindtür in der Highschool klebten. Auf Instagram hatte Robyn die zehntausend Follower geknackt. Sie war so ein richtiger Social-Media-Mensch, überall war ihr Handy dabei und ihre Fans waren geradezu süchtig nach ihren Beiträgen. Manchmal war ich auch auf den Bildern, fühlte mich aber meist fehl am Platz. Musik brachte ihr die meisten Abonnenten, egal ob die geposteten Songs gecovert oder unsere eigenen waren, Robyn musste nur den Mund aufmachen. Die Videos wurden legendär, selbst die Lehrer in der Schule sprachen uns darauf an und beglückwünschten Robyn. Mich nicht, es wusste ja niemand, dass wir alles zusammen erarbeitet hatten. Und das war auch gut so.

Am siebzehnten Dezember machten Robyn und ich einen Mädchen­abend. So richtig mit Gesichtsmaske und Johnny-Depp-Filmen. Wir stellten unter Kichern die Szenen nach und fraßen Schokolade bis zum Umfallen. Mom war nicht zu Hause, weshalb Robyn in unserem Wohnzimmer rauchte. Mir war es egal, solange meine Mutter nichts davon erfuhr. Sie traf sich nämlich mit ihrem neuen stinkreichen Lover. Richard oder Reinhold oder so. Sie traf sich eigentlich immer nur mit reichen Männern, das hat sie sich wohl nach meinem Dad angewöhnt. Robyn und ich sprangen im Wohnzimmer herum und sangen in voller Lautstärke zu P!nk, Nirvana, Queen und Avril Lavigne.

Dann färbte sie sich die Haare blau, das war am zwanzigsten De­zem­ber. Am Zweiundzwanzigsten gingen wir zusammen Weihnachts­geschenke kaufen. Sie hatte eine Überraschung für Steven geplant, was es genau war, wollte sie mir nicht verraten. Ich bohrte auch nicht weiter nach.

Am Dreiundzwanzigsten hatte Steven Geburtstag, seinen fünfzehnten. Er war ein Jahr jünger als wir, das sah man ihm aber nicht an.

Alle anderen hatten ziemlich viel intus und irgendwann waren Robyn und Steven nicht mehr auf der Party, das bekam ich nur neben­bei mit. Zur Sicherheit hatte ich mir wie immer ein Buch mitgenommen und glücklicherweise nichts getrunken, sodass ich mich, wie so oft auf Partys, mit dem Buch und einer Tasse Kaffee in die Toilette einschloss und begann, den penetranten Bass ausblendend, zu lesen. Bis es dann um fast drei Uhr an der Tür klingelte. Erst ignorierte ich es, war zu sehr von meiner Geschichte gefesselt. Irgendjemand öffnete die Haustür. Die schweren Schritte auf der Treppe nach oben verfolgen mich noch heute. Sekunden später klopfte jemand an die Klotür und ich riss sie auf.

Vor mir standen zwei Gestalten in schwarzer Polizeiuniform. Sie fragten, ob ich Raven Alice Obyn kenne.

Das ist Robyns richtiger Name.

Dann fragten sie nach Steven Bittner. An den Blick der Polizistin kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich sehe mich selbst vor mir, in dem weit ausgeschnittenen hellblauen Fummel von Robyn, den ich in dieser Nacht trug. Ihr war das Kleid zu groß, mir nicht. Blutroter Lippenstift und schmerzende Füße. Der funkelnde Haarreif auf meinem Kopf, das Buch in der Hand.

»Miss Obyn hat unerlaubt einen Fünfzehnjährigen Auto fahren lassen, sie hatten einen Unfall.«

Mein verwirrtes Ich fragte, wo sie jetzt sei.

»Im Krankenhaus. Raven Obyn liegt im Koma. Sie hatte einige Blätter in ihrer Handtasche, auf denen Ihr Name steht. Ihr Name ist doch Paige Courtney, nicht?«

Ich nickte unmerklich. Die Polizistin blätterte in ihren Unter­lagen und reichte mir dann einen Stapel Blätter, auf denen ich unsere Songtexte, Zeichnungen, Gitarrenakkorde und Klaviernoten erkennen konnte.

»Wissen Sie, was diese Blätter zu bedeuten haben? War der Ausflug der beiden geplant?«

Dieser Satz war wie ein Faustschlag, direkt in die Magengrube. Ich übergab mich auf meine High Heels.

Paige, Robyn liegt im Koma. Sie wird wahrscheinlich nie wieder aufwachen.

Etwas Ähnliches stand am nächsten Tag in der Zeitung. Da stand aber noch etwas, nämlich, dass der Fahrer davongekommen war, mit nichts weiter als ein paar Prellungen. Auf dem Titelbild war ein riesiges Foto von Robyn, ihm und mir. Robyn hatte genau dieses Bild immer wie einen Talisman bei sich getragen, zu der Zeit waren ihre Haare gerade frisch gefärbt und sahen demnach wirklich Bombe aus. Wir trugen denselben Concealer, weil Robyn an diesem Tag, wie so oft, spontan bei mir übernachtet hatte. Der Concealer passte nicht zu ihrem gebräunten Hauttyp, er war viel zu hell, was man in der Front­kamera des Handys aber nicht gut erkennen konnte. Ich sehe glücklich aus auf dem Bild. Robyn und ich schauen in die Kamera, Stevens Blick liegt auf Robyn. Ich seufze, als ich daran denke. Die Überschrift war missbilligend, stellte alles in einem falschen Licht dar, typisch Zeitung eben. Und da wundert man sich, warum die älteren Leute gegenüber uns Teenagern immer so viele Vorurteile haben. Zugegeben, das, was in dieser Nacht passiert war, konnte man nicht schönreden, auch wenn ich das in diesem Moment wohl mehr gebraucht hätte als die angsteinflößenden, schwarzen Lettern.

Partynacht endet für betrunkene Sechzehnjährige im Krankenhaus

Der Tränenschleier, der sich in meinen Augen gebildet hatte, ließ mich nicht klar blicken.

Eines stand aber fest: Ihr Leben war mir genommen worden. Das Leben, welches mir als einziges wichtiger war als mein eigenes.

Koma setzte ich in diesem Moment mit Tod gleich.

Ich habe in meinem Leben bis jetzt nur schlechte Erfahrungen mit Komapatienten gemacht.

Mom hatte mir verboten, Robyn im Krankenhaus zu besuchen, bis ich mich etwas beruhigt hätte. Ich konnte also nichts tun, außer herumzusitzen, zu warten, hoffen, weinen. Heute weiß ich, was Freund­schaft bedeutet, und das nicht nur, weil die Bilder aus Robyns Spind nun eingerahmt auf meinem Nachttisch stehen.

Mom sagte es mir zwar nicht ins Gesicht, aber ich weiß ganz genau, dass sie nicht wollte, dass die depressive Verstimmung der Tochter der »ach so bekannten Künstlerin« an die Öffentlichkeit gelangte. Genau­so sehr aber wusste ich, dass Dad es Mom mehr als übel nehmen würde, falls er mitbekommen sollte, wie schlecht es mir gerade geht. Es ist ein stummes Versprechen, denn ich will das noch weniger als Mom.

Ich schreibe Robyn Briefe, erzähle ihr alles, was ich ihr sonst auch sagen würde.

Denn sie hat es nicht verdient, vergessen zu werden.

Sie ist meine beste Freundin, wenn auch meine einzige. Und vielleicht ist sie das auch, weil sie nicht eines dieser Klischee­mädchen aus ihren Büchern ist. Vielleicht, weil sie mir jeden Tag aufs Neue beweist, dass man auch ohne die traditionellen roségoldenen iPhones, die jedes Mädchen zum zwölften Geburtstag von Daddy spendiert bekommt, oder ohne Extensions und aufgeklebte Wimpern, mit denen heutzutage schon Zehnjährige durch die Straßen unserer Stadt spazieren, existieren kann.

Sie ist keines dieser Mainstreammädchen.

Robyn ist unter diesen knapp acht Milliarden Erdbewohnern mein Lieblingsmensch.

Denn das Geschehene ist nur ein Dominostein, der so viel in mir zum Kippen gebracht hat.

Ich versuche, die Zeit totzuschlagen und mir einzureden, dass sie eine Chance hat zu überleben, wenn auch nur eine unrealistische.

Aber was ist schon realistisch?

Robyn IST stark, DAS ist realistisch.

Niemals würde sie sich kampflos umhauen lassen.

Meine Hand mit dem alten Notenblatt fühlt sich taub an, als ich die Lines darauf in meiner krakeligen Viertklässlerinnenschrift zu entziffern beginne. Erinnerungen aus einem Kinderzimmer ­flackern auf.

robyn feat. Paige Courtney – stars are dead

Erste Strophe

With you, I never feel lonely.

With you, I yell crazy at the stars.

When I’m broken hearted,

you’re always by my side.

And you make my shitty life

a bit better

better

better

Chorus

I just want you to know that

without you, my stars are

dead, all killed

in my head

head

Bridge

Take your time

but don’t think that

I could be alright

Zweite Strophe

With you, hours fly like seconds.

With you, I jump on my bed.

If I talk too much,

you’re never annoyed.

And you make my shitty life

a bit better

better

better

Chorus

I just want you to know that

without you, my stars are

dead, all killed

in my head

head

Bridge

Take your time

but don’t think that

I could be alright

Chorus

I just want you to know that

without you, my stars are

dead, all killed

in my head

head

Vielleicht ist es dir noch nicht bewusst, Paige. Aber du wirst ohne Robyn nie wieder auch nur einen einzigen Ton singen können.

[01] Krankenhausrosen

Das letzte Mal habe ich Robyn vor eineinhalb Wochen gesehen. Eine viel zu lange Zeit.

Kaum etwas mehr als zweihundertundsechzehn Stunden.

Das sind zwölftausendneunhundertundsechzig Minuten.

Und zum ersten Mal gebe ich die Stunden nicht in meinen Taschen­rechner ein, sondern mache Striche. Bei jedem einzelnen seufze ich und starre auf ihn, als wäre er mein eigenes Todesurteil.

Vielleicht ist das auch so.

Ich schlucke meine Tränen runter, schlürfe an meinem Kaffee und starre hinaus in die Dunkelheit.

Wenn du einmal anfängst zu heulen, kannst du nicht mehr damit aufhören.

In diesen Tagen läuftMyChemicalRomancebei mir auf und ab, in nicht enden wollender Dauer­schleife. Es gibt mir den Rest, wenn ich Geralds Stimme durch die Kopfhörer in mich aufnehme.

For every failing sun,

there’s a morning after,

though I’m empty when you go.

Ich vermisse sie so unendlich.

Erster Januar.

Heute ist der Tag, an dem ich Robyn im Krankenhaus besuchen werde.

Ich warte, bis Mom mich ruft. Da ich weiß, dass sie es in den nächsten Minuten tun wird, weil sie will, dass ich zum Essen rüberkomme. Die Uhr an meiner Wand tickt laut im Takt zu meinem stoßenden Atem und dem schnellen Herzschlag.

»Paige? Es gibt Frühstück!«

Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Bett, taumle ein paar Schritte, weil mir schwarz vor Augen wird, und halte mich an der Wand fest.

»Paige, alles okay?«, ruft Mom besorgt.

Nichts ist okay.

»Ja …, ja. Ich komme!« Ich versuche, überzeugend zu klingen, mein Herz klopft schnell, als ich langsam einen Fuß vor den anderen setze und vorsichtig die Wand loslasse.

Du lügst sie an, ohne mit der Wimper zu zucken, Paige.

Ich kneife meine Augen zusammen, als die Stimme in meinem Kopf immer wieder laut meinen Namen sagt.

»Ich hab Obstsalat gemacht. Das liegt nicht so schwer im Magen und hat auch nicht so viele Kalor-«, fängt sie an, aber ich unterbreche sie.

»Mom. Hör auf. Ich mache das nicht mit Absicht.«

Ich schiebe meinen Haarreif wieder an Ort und Stelle, massiere mir die Schläfen und lasse mich geräuschvoll auf einen der Stühle plumpsen.

»Du vermisst sie sehr, oder?«

Du versuchst zwar schon seit Tagen, mich in die hintersten Ecken deines Gehirns zu verbannen, aber ich bin immer noch hier und werde dich nicht wie alle Menschen um dich herum mit Lügen einlullen.

Alle Gefühle befreien sich und wirbeln in mir herum. In meinem Kopf herrscht kreischendes Chaos.

Ich verschlucke mich an meinem Löffel. Wie aus dem Nichts laufen mir Tränen über die Wangen und ich komme mir vor wie ein unfähiges Kleinkind, als ich mich schließlich hustend zum Mülleimer be­gebe und alles hinauskotze.

Du würdest lügen, würdest du behaupten, es ginge dir danach nicht besser.

»Hör auf, so zu übertreiben, Paige!« Mom steht auf und stemmt die Arme in die Seiten.

Ich sehe sie entgeistert an.

»Du sagst, ich soll nicht übertreiben? Robyn liegt im Koma! Sie wird wahrscheinlich nie wieder aufwachen, hör auf mit deinen Fragen. Was willst du denn hören? Denkst du, ich vermisse sie nicht, denkst du, es geht mir am Arsch vorbei, dass sie nicht hier ist? Denkst du, dass ich jetzt so tun werde, als ginge es mir gut, nur weil du meinst, ich übertreibe?«

Mittlerweile stehe ich tränenüberströmt an der Küchentür und schreie, vor Wut, vor Trauer. Mom starrt mich nur mit weit aufgerisse­nem Mund an und dann rollt ihr eine Träne über die gepuderte Wange.

Was Emotionen betrifft, ist sie noch nie sonderlich einfühlsam gewesen.

Wenn Mom merkt, dass ich traurig bin, macht sie mir für gewöhnlich umgehend klar, dass ich sie zu sehr mit meinen Launen belaste und sie meine Teenageremotionen nicht ertragen kann.

Ich bewundere Mom.

Anders als all die anderen Leute aus meiner Klasse und deren Eltern haben wir immer eher etwas wie Zickenkrieg oder Schwestern-Hass­liebe.

Zwischen uns gab es nie dieses typische, liebevolle Mutter-Tochter-Gefühl.

Für Mom ist es zu unlogisch, mich zu behandeln, als wäre ich ein weniger vollständiger Mensch, weil ich jünger bin. Ich wusste schon immer, wie es um uns steht. Es geht in unseren Gesprächen um das Geld auf dem Konto oder um Moms nächste Tournee, um meine Noten oder meine Klamotten.

Rationales eben.

»Hingehen?« Ich weiß, dass sie damit das Krankenhaus und uns beide meint.

Eigentlich wäre es mir lieber, das alleine zu machen, aber ich weiß, dass Mom recht hat.

In diesem Moment brauche ich sie, auch wenn ich mir das nicht eingestehen will. Ich gehe hoch in mein Zimmer und versuche, etwas mit meinen Haaren anzustellen. Dabei sehe ich fast so verbissen aus wie Robyn, wenn ihre Haare nicht so wollen wie sie.

Du denkst zu oft an sie.

Wir sitzen im Auto, die Motorgeräusche beruhigen mich, auf eine komische Art und Weise.

Ich schlürfe an meinem Coffee-to-go und setze meine Sonnen­brille auf, als wir aussteigen.

Wir betreten das Krankenhausgebäude und laufen über einen sonnengelben Linoleumboden, der wahrscheinlich eine aufmunternde Wirkung besitzen soll, meine Stimmung aber nicht gerade verbessert. An der Rezeption sitzt eine rothaarige Frau mit spitzer Nase und eckiger Brille.

›Mrs. Smith‹, lese ich vom Schild ab.

»Wir wollen zu Raven Obyn«, fällt Mom sofort mit der Tür ins Haus. Die Rothaarige nickt eilig und klickt sich dann durch das System.

»Ihr Name?« Sie redet näselnd und blickt mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf den Bildschirm.

»Anastasia Stanislavovna Smirnova, Ravens Patentante, und Paige Alyaska Courtney«, meint Mom und Mrs. Smith nickt, bevor sie uns Robyns Zimmernummer gibt und schwach lächelt.

Wir laufen durch die Gänge und meine Gedanken driften ab. Robyn versteht sich mit meiner Mom super, aber aus ihrer Mutter werde ich nicht richtig schlau. Ihr Name ist Audrey und sie ist Tänzerin, genau wie Mom spezialisiert auf Ballett. Sie lernten sich damals kennen, weil Mom und sie beide in die Kompanie des Lincoln Square Ballets aufgenommen wurden.

Von außen betrachtet ist sie hübsch und sie tanzt wirklich perfekt, aber ihr Herz muss ein merkwürdiger Ort voll von unergründlichen Gefühlen sein.

Eigentlich sollte man solche Menschen nicht schön finden.

Ihr schrilles »Raven Alice« hat sich wie ein Brandzeichen in meinen Kopf geprägt. Sie ist der einzige Mensch, der Robyn bei beiden Vornamen ruft.

Ich zittere, als ich vor Robyns Tür stehe, die Klinke runterdrücke und einen letzten Blick auf Mom werfe, die barfuß, mit den pink lackierten Zehen wackelnd, auf einem Stuhl neben dem Zimmer sitzt und Candy Crush spielt, daneben fein säuberlich ihre silbernen High Heels. Die zieht sie grundsätzlich aus, sobald sie sich hinsetzt. Ich schließe meine Augen für einen winzigen Moment und atme tief durch.

Mom haucht ein: »Yeah!« und grinst wie eine Irre den leuchtenden Bildschirm an.

Als ich den ersten Schritt in Robyns Krankenhauszimmer setzen möchte, stolpere ich fast über ein Mädchen, das gerade dabei ist, mit ihrem Rollstuhl den Raum zu verlassen.

Zuerst fallen mir die kupferroten Haare auf, die ihr in Wellen über die Schultern fallen bis zur Taille. Dann sehe ich die Sommersprossen, die über ihr ganzes Gesicht verteilt sind, sie hat eine kleine Stupsnase, große Augen und ihre langen dunklen Wimpern werfen lange Schat­ten auf ihre Wangen.

Auch wenn sie gerade aussieht, als wäre sie tief in Gedanken versunken, weiß ich, dass sich beim Lächeln Grübchen in ihren Wangen bilden werden. Sie sieht mich für einen kurzen Moment an und dann schaue ich ihr nach, wie sie mit ihrem Rollstuhl durch den Gang davonrollt, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.

Ich husche ins Zimmer und schließe die Tür hinter mir.

Der Raum ist weiß, ganz das Krankenhauszimmer eben. Ich lasse mich geräuschlos neben Robyn aufs Bett sinken und nehme ihre Hand in meine, betrachte unsere nebeneinanderliegenden Freund­schaftsarmbändchen. Robyns blau, meins lila.

Die blauen Haare sind wie ein Fächer um ihren Kopf verteilt, ihre Haut ist nur ein wenig blasser als sonst und die Lippen leuchten rosa.

Es fühlt sich falsch an, hier zu sitzen und nichts tun zu können. Ihre Zehennägel blitzen unter der Bettdecke hervor, sie sind weiß lackiert.

Auf dem Nachtkästchen steht ein Strauß mit roten, penetrant riechen­den Rosen. Ich niese.

Fast höre ich Robyn »Gesundheit!« sagen.

Erwartungsvoll sehe ich sie an, ihre sperrige Atemmaske ist beschlagen. Auf ihrer Wange, mit den fein gezeichneten Wangenknochen, bilden sich lilafarbene Flecken und Blutergüsse ab. Übelkeit steigt in mir auf, ich niese wieder.

Höchst wahrscheinlich bin ich gegen die Blumen allergisch.

Mir kommt es vor, als würde sie schlafen, nicht als läge sie im Koma. Ich drücke Robyns Hand, hoffe, sie öffnet ihre Augen und lacht mich aus, dass ich ihr das alles abgekauft habe.

Sie bleiben zu.

Egal wie sehr ich ihre Hand drücke, das blaue Freundschafts­arm­band anschaue und wie oft ich ihr mit dem Kamm durch die Haare fahre und wie laut die Autos draußen hupen, als ich das Fenster öffne und die Scheißrosen hinauswerfe.

Ihre Augen bleiben, verdammt noch mal, trotzdem zu.

Es vergeht eine Stunde, bis Mom an die Tür klopft und mir sagt, ihr Akku sei leer. Ich seufze und verabschiede mich von Robyn, fast bin ich erleichtert, als ich das unrhythmische Piepen des Monitors neben ihrem Bett nicht mehr ertragen muss. Es fühlte sich ganz und gar nicht so an wie die normalen Treffen mit Robyn, irgendwie, als hätte ich dieses Mal einen anderen Part eingenommen.

Beim Hinauslaufen rollen mir unaufhörlich Tränen über das Gesicht.

Die ganze Rückfahrt schweigen Mom und ich uns an.

Zu Hause angekommen, kocht sie mir eine heiße Milch mit Honig und bedeutet mir, mich an den Küchentisch zu setzen.

Irgendetwas stimmt an dieser Situation nicht.

Und damit meine ich nicht nur ihre gefälschten Swarovski-Ohrringe.

»Paige, Devushka. Ich muss mit dir reden.«

Wusste ich es doch. Ich spiele nervös mit meinen Händen herum. Es liegt etwas in der Luft und ich kann nicht deuten, was es ist.

»Ich halte dein Herumhängen und Desozialisieren langsam nicht mehr aus.«

Darauf antworte ich nichts, sehe Mom einfach nur stumm an.

»Wenn du nichts dazu sagen willst, auch gut. Also, es gibt zwei Optionen: entweder, du kommst in eine psychiatrische Klinik oder zu deinem Vater nach Brooklyn, so lange, bis Robyn wieder aufwacht oder es dir besser geht.«

Sie weiß selbst, dass Robyn mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nicht auf­wachen wird.

Gegen meinen Willen bringe ich keinen Satz heraus. Bleibe einfach nur stumm und versuche, den Kloß in meinem Hals loszuwerden.

»Dad«, krächze ich schließlich in die Stille.

»Okay, pack deine Sachen, wir werden früh losfahren. Die Highschool in Brooklyn, auf die du bei deinem Vater gehen wirst, fängt zum Glück erst am achten Januar wieder an.«

Es heißt wohl Abschied nehmen, obwohl ich in diesem Moment gerne laut schreien würde, so laut, dass die Gläser im Schrank zerspringen, so laut, dass unser Haus explodiert, in tausend splitternde Einzelteile.

Ich tue es nicht. Warum auch, es würde seinen Zweck vollkommen verfehlen.

Und plötzlich ist mir alles egal. Mein Leben wird sich auch bei Dad nicht ändern, so viel ist sicher.

Ich stürme in mein Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu, die laut ins Schloss kracht, und setze mich schnell atmend an meine Schreib­maschine.

Boston, Massachusetts

01. Januar

Robyn,

im Karton mit deinen Sachen, die du vor einem Jahr in meinem Zimmer unter der kleinen Luke verstaut hast, weil deine Mom unseren Musikkram noch nie befürwortet hat, sind immer noch alle Songtexte und Ideen, die wir jemals zu Papier gebracht haben. Sie sind Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und Orte. Wir haben überall geschrieben.

Unzählige Backstageräume.

Unzählige Kinderzimmer.

Unzählige Ballettsaalecken.

Unzählige Gedanken.

Ich will sie nicht ansehen.

In dem Karton ist alles, was mir jemals etwas bedeutet hat. Unsere sechs Jahre alten Briefe aus der Zeit, in der ich bei Dad wohnte und du den Nannyhorror hattest. Unsere DVDs und die vielen Fotos, die sich mit der Zeit angesammelt haben, alle Zeichnungen aus dem Kunstunterricht in Alabama, Kalifornien oder Arizona. So viele Erinnerungen an dich.

Du wogst immer fünf Kilo weniger als ich, obwohl wir genau gleich groß sind. Ich wiege jetzt genau so viel wie du, auch wenn ich weiß, dass du nie gewollt hättest, dass es mir schlecht geht.

Ohne dich ist die Erde ein beschissener Ort.

Erinnerst du dich an deine Blumenkind-Songs? Es waren keine richtigen Songs, du machtest nur Reime aus Wörtern, die dir in den Sinn kamen, und ich liebte es, Robyn.

"Always be happy, you’re a frickin’ flower child. Never be sad, shine bright, heal the world with your light."

Ich war zwar nie ein Blumenkind, meine Definition für Hippie, aber ich liebte deinen Singsang genau so sehr wie unsere Gesangseinlagen mitten im Unterricht, bis selbst die Lehrer schmunzelten.

Ich weiß nicht, ob es dir bewusst war, aber du brachtest Leute oft zum Schmunzeln. Alleine hätte ich mich Dinge, wie im Unterricht zu singen, niemals getraut.

Ich bewege genau in diesem Moment meine Lippen und forme die Wörter in meinem Kopf.

Wie kann man einen Menschen so sehr vermissen wie ich dich? Weißt du noch, wie du immer sagtest: "Baby, als deine dich liebende beste Freundin sage ich dir jetzt, dass ich eine wunderbare Überraschung für dich habe"?

Ich hasste deine wunderbaren Überraschungen, weil ich in diesen Überraschungen immer mehr im Mittelpunkt sein musste, als mir lieb war, und weil sie meistens darauf hinausliefen, dass ich mit dir auf der Bühne stand und irgendetwas "klimpern" sollte, wie du es nanntest.

In solchen Momenten nanntest du mich "Baby", ich lachte darüber und wir flochten uns witzige Frisuren zu

dröhnend

lauter

Musik.

Goodbye

Paige

[02] New York

Mom gibt mir knapp vierundzwanzig Stunden Zeit, mich zu verabschieden, mehr von meiner Umgebung als von den Menschen. Sie gibt mir auch Dads Adresse.

Dad heißt Julien, trägt den gleichen Nachnamen wie ich, und neben seinem Musikschullehrerberuf spielt er Klavier und Gitarre in einer Hardrockband. Von ihm habe ich wohl die Musikliebe geerbt. Wenigstens eine Sache, die wir gemeinsam haben.

Auf Google Maps scheinen mir das himmelblaue Haus und sein winziger Garten mit dem weißen Zäunchen im Stadtteil Gerritsen Beach im Süden von Brooklyn und der nahe gelegene Marine Park bekannt.

Wie etwas aus meinen Träumen.

Oder eine ferne, alte Erinnerung.

Nachdem Boston meine allererste richtige Heimat wurde, soll ich jetzt also nach New York City ziehen.

Eine Stadt, die vier Autostunden entfernt liegt.

Bei dem ersten Versuch, meine Sachen zu packen, ende ich mit einem meiner Lieblingsbücher in einer Zimmerecke. Als ich das realisiere, klappe ich das Buch zu.

Alles, was ich mache, ist nur ein Ablenkungsmanöver, programmiert von meinem Kopf, der um einiges klüger ist als mein Herz.

Ich bin froh, dass gerade Weihnachtsferien sind, sonst hätte sich die Nachricht von Robyns Unfall wie ein Waldbrand verbreitet und nicht so unscheinbar wie eine vor sich hin flackernde Kerze.

Ich stehe vor dem Haus, in dem ich meine ganze bisherige Teenagerzeit verbracht habe. Mom hievt nacheinander meine drei Koffer ins Auto und schlägt die Kofferraumtür dann schwungvoll zu. Sie ist immer noch um einiges stärker als ich. Sie meint, das komme vom Ballett. Ich sehe mit zusammengekniffenen Augen ein letztes Mal zurück und versuche, alles genau so, wie es jetzt ist, in Erinnerung zu behalten.

Old Lady Jenkins, die unter uns wohnt, öffnet die Haustür, und Fox, ihr Bulldogenmännchen, läuft ihr gehetzt hinterher, als sie auf den Gehweg tritt. Wie immer schaut ihr ausgeleiertes, altrosa Nachthemd unter ihrem Mantel hervor und ihr Gesichtsausdruck ist grimmig. Als sie uns entdeckt, wendet sie ihren Blick ab und tut so, als hätte sie uns nicht gesehen.

»Du hast alles?« Ich nicke und öffne dann die Autotür.

Ich lockere die Schnürsenkel meiner Schuhe, streife sie mir von den Füßen und kuschle mich in den Sitz.

»Paige, wir sind bald da.«

Schlaftrunken schlage ich die Augen auf, bringe meine zerzausten, quer im Gesicht verteilten Haare in Ordnung und schiebe meinen Haarreif zurecht. Unzählige Wolkenkratzer rauschen an uns vorbei. Manhattan. Vor uns liegt die Brooklyn Bridge.

Eine halbe Stunde später schlüpfe ich wieder in meine Schuhe und steige aus dem Auto, ohne sie zu binden.

Dads Haus und der Garten haben sich gut gehalten, sie sehen sogar aus, als wurde ihnen erst kürzlich wieder neues Leben eingehaucht. Sicher hat Dad einen Gärtner engagiert, ich denke nicht, dass er selbst die Blumen so schön pflanzen kann.

Ich schnappe mir einen der Koffer und klingle. Auf dem Klingel­schild steht jetzt außer ›Courtney‹ noch ›Winter‹.

Ach du Scheiße.

Dad hat es wahr gemacht und irgendeinen Studenten bei sich einziehen lassen.

Er steht in der Tür, lächelt, und nimmt mir eilig einen Koffer ab.

»Hi«, meine ich nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

Ich laufe durch den Flur.

Im Hintergrund höre ich Mom und Dad gereizt diskutieren.

Dann komme ich im Wohnzimmer an und erschrecke.

Dort sitzt ein skurril aussehender Typ, der anscheinend die Play­station wieder zum Laufen gebracht hat. Irritiert durch mein erschrockenes Fiepen dreht er sich zu mir um, steht hektisch auf und kommt auf mich zu.

Das kann doch nicht Dads Ernst sein.

»Hey Kleine, ich bin Damian. Und du siehst aus, als hättest du das dringende Bedürfnis, mir deine schmutzigsten Geheimnisse zu verraten.« Der Junge mit den langen Haaren und dem sehr ausgeprägten deutschen Akzent hält mir seine Hand hin. Ich schüttle sie, skeptisch, was das hier werden soll.

»Hey, ich bin Paige«, sage ich mit brüchiger Stimme und es ist mir unangenehm, dass er nichts darauf antwortet.

Damian, der eine Baggy und ein Shirt trägt, das ihm einige Num­mern zu groß ist, geht einen Schritt nach hinten und schaut mich abwartend an.

»Ähm.«

Wehe, du sagst es so, dass es idiotisch klingt.

»Tut mir leid, aber bist du nicht zu jung, um zu studieren?«

Damian sieht mich einen Moment lang an, bis er in schallendes Gelächter ausbricht.

Und ich komme mir wirklich vor wie eine Idiotin.

»Äh, ja.«

Super, Paige, jetzt denkt er, du wärst vollkommen bescheuert.

Als ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt, drehe ich mich zur Treppe und versuche, meinen Koffer nach oben zu schleppen. Erfolglos. Damian geht pfeifend die Treppe neben mir nach oben.

»Möchtest du mir helfen?«, frage ich ihn, als er sich zu mir umdreht und amüsiert meine Koffer mustert, sich dann an mich wendet und gespielt nachdenklich über seine Lippen leckt.

»Was kriege ich dafür?«

»Hör auf, meine Tochter anzubaggern, Damian«, ertönt Dads Stimme von weit weg. Damian rollt mit den Augen, lässt es sich aber nicht nehmen, mir noch einmal ein Grinsen zu schenken, bevor er zwei Koffer nimmt.

»Nimm lieber erst mal einen, ich hab ziemlich gestopft.« Ich beiße auf meiner Unterlippe herum, um nicht zu schmunzeln.

»Ich geh pumpen, Kleine. Deine Köfferchen trag ich mit links.« Damian nimmt selbstsicher meine beiden Koffer und hebt sie hoch.

»Trägst du bitte noch mein drittes, leichtes Köfferchen?«, frage ich ihn lachend, als er kurz vor dem Ende der Treppe eine Pause macht.

Mein Zimmer sieht schlimmer aus, als ich es in Erinnerung habe: Gruselige Puppen sitzen auf den Regalen und die Wände sind voll mit Ponypostern. Der Schreibtisch ist zum Glück aufgeräumt, sodass ich meine alten »Kunstwerke« nicht betrachten muss. Überhaupt ist das ganze Zimmer sehr ordentlich und es sind keine Spinnenweben oder Staubkörner zu erkennen. Ich ziehe meine lila Chucks aus und stelle sie in die unterste Schublade des leeren Kleiderschranks.

Es ist schon so lange her, seit du das letzte Mal hier warst.

Mom kommt ins Zimmer. Sie sieht leicht gereizt aus, lächelt mich aber dennoch so an, wie sie es immer tut.

»Komm her, Kleines.« Mom breitet ihre Arme aus. Ihr Körper steckt in einem dunklen Blusenkleid und zum Genickbrechen hohen High Heels.

Ich umarme sie und murmle: »Mom, ohne deine Schuhe sind wir gleich groß.«

Ihr Porzellangesicht ringt sich ein leichtes Schmunzeln ab.

»Wir telefonieren.« Mom mochte dramatische Abschiede noch nie, weshalb sie sich für gewöhnlich nur auf ein paar wenige Worte beschränkt.

Ich setze ein unsicheres Lächeln auf, als ich realisiere, dass sie mich jetzt wirklich hier lassen wird. Alleine mit einem skurrilen Typen und dem Vater, den ich in Boston nie so richtig hatte.

Sie geht nach unten, ich folge ihr, da ich mich in diesem Haus wie ein ausgesetzter Welpe fühle. Unten an der Tür steht Dad, die beiden würdigen sich keines Blickes.

Ich seufze noch einmal laut, um vielleicht wenigstens ein paar Schuld­gefühle in ihr hervorzurufen, doch sie tätschelt nur einmal geistes­abwesend meine Schulter.

Als Mom im Auto sitzt, drehe ich mich zu Dad und frage neugierig: »Wer ist das?« Dad lacht, ich bin mir nicht sicher, ob er das tut, weil er die Frage amüsant findet, oder ob er mich allgemein nicht ernst nimmt.

»Damian ist der Sohn von meiner Freundin Marie.«

Dad schließt die Tür und wir gehen hinein.

»Dann erzähl, was hast du die ganze Zeit über ohne mich angestellt? Irgendwelche Jungs, über die ich Bescheid wissen sollte?«, überfällt Dad mich direkt.

Nur ungern erinnere ich mich an meine Erfahrungen mit Jungs. In der Neunten hat mich mal ein Typ verarscht. Er hieß Domenico Martini und wie Robyn sind ihm die guten Noten scheinbar mühelos zugeflogen. Das hat mich damals irgendwie ziemlich fasziniert. Domenico war im Handballteam unserer Schule, hatte eine große Klappe und sah mit seinen haselnussbraunen Haaren und Augen, den rosa Wangen und den leichten Sommersprossen ziemlich gut aus.

Dieses typische Klischee eben.

Ich dachte, er sei in mich verknallt, es war für ihn aber nur eine Art Test, um herauszufinden, mit wie vielen Mädchen er gleichzeitig rummachen konnte, ohne dass sie voneinander wussten.

Damian kommt uns im Flur entgegen und streift sich eine schwarze Bomberjacke über, während er einen Autoschlüssel in die Hosentasche seiner Baggy schiebt. »Kühlschrank ist leer. Ich hol mir was auf Coney Island, kommst du mit?«, fragt Damian mich und zieht sich seine Sneakers an. Ich nicke, während ich mir überlege, ob der Strand immer noch so aussieht, wie ich ihn in Erinnerung habe, und greife nach meiner Jacke.

Wir steigen ins Auto und je länger wir schweigen, desto unwohler fühle ich mich. »Falls du jetzt denkst, dass Julien so viel über dich geredet hat, dass ich mehr über dich weiß, als du über mich: Ja, hat er.« Damian lacht.

Und obwohl ich etwas Angst habe, dass Dad ihm irgendwelche peinlichen Geschichten über mich erzählt hat, zucken meine Mund­winkel, weil ich seinen deutschen Akzent mag.

Wir steigen aus und laufen den Broadwalk entlang bis zu einem Strandrestaurant. Damian winkt mich ins Innere. Während ich meinen Blick über die vielen dunklen Holztische schweifen lasse, bemerke ich das riesige Fenster mit Blick auf den Strand und das Meer. Die Sonne geht gerade unter und es sieht atemberaubend schön aus.

Ich laufe neben Damian durch die Tischreihen. Neben dem letzten Tisch, an dem ein junger Mann mit schwarzen Haaren sitzt, bleibt er stehen.

Als er uns bemerkt, sieht er hoch und steht im nächsten Moment breit grinsend auf.

Der Geruch von Zimt weht mir entgegen.

»Das ist Curtis.« Damian deutet auf den Typen und setzt sich gegenüber von Curtis auf die Bank.

»Ich bin Paige«, murmle ich kaum hörbar, als ich checke, dass Damian ihm nicht sagen wird, wer ich bin. Curtis reicht mir seine Hand, die silbernen Ringe an seinen Fingern fühlen sich kalt an. Vielleicht sagt er nichts, weil er weiß, dass Damian mich mit seiner Begrüßung schon genug verstört hat.

»Ich weiß«, sagt Curtis und sieht mich durch seine hellbraunen Augen an.

»Was?« Das Wort verlässt meinen Mund, bevor ich nur eine Se­kunde darüber nachdenken konnte.

»Wer du bist.«

Für einen Moment hört die Welt auf, sich zu drehen, und Curtis sieht mir so intensiv in die Augen, als würde er mehr in ihnen sehen als das Braun und das Gold und das Schwarz. Ein Mann tritt an unseren Tisch und Curtis dreht sein Gesicht von mir weg.

Kann ein Herz so stark klopfen, dass es aus der Brust springt?

Ich schätze, der Mann mit der Schürze vor unserem Tisch möchte wissen, was wir bestellen, da Curtis’ Mund sich öffnet und seine Lippen sich bewegen.

Ich verstehe nicht, was er sagt.

Aber das ist auch nicht wichtig, weil ich ihn einfach nur anschauen möchte.

Irgendwann liegen drei Augenpaare auf mir und ich räuspere mich: »Ich nehme einmal Pommes mit Ketchup, bitte.«

Ich warte auf die Stimme in meinem Kopf, aber sie bleibt aus. Der Mann mit der Schürze notiert sich unsere Essenswünsche und verlässt den Tisch.

Während Curtis und Damian sich halblaut auf Deutsch unterhalten, kaue ich jede einzelne Fritte, als wäre sie ein Stück Gummi, nur um nicht so teilnahmslos auszusehen.

Ich halte für einen Moment inne. Wo bleibt das zuckersüß-fiese: Ich weiß, dass du es hasst, vor anderen Menschen zu essen, meiner inneren Stimme, die sich sonst alles andere als ruhig verhält, wenn es um Essen oder irgendwelche jungen Männer geht, die mich ein bisschen zu intensiv ansehen?

Nicht, dass das oft passieren würde.

Aber da ist kein samtweiches Flüstern oder Einhauchen böser Gedanken. Nur eine friedliche Ruhe, die mich an längst vergangene Sommer in Brooklyn erinnert.

Aus dem Radio tönt Nirvana. Ich versuche krampfhaft, nicht an Robyn zu denken.

Damians Handy klingelt. Er bedeutet mir aufzustehen, damit er durch kann.

»Du zahlst«, sagt Damian zu Curtis, während er durch den Gang nach draußen verschwindet. Ich starre noch für ein paar Sekunden auf die geschlossene Tür, bis ich begriffen habe, dass er mich alleine mit Curtis zurückgelassen hat. Nervosität breitet sich von meinem Bauch bis in die Fingerspitzen aus.

Curtis kramt ein paar Scheine aus seiner Jeanstasche und legt sie auf den Tisch, bevor er aufsteht und in einer fließenden Bewegung seinen Mantel anzieht. Ich bin nicht gut darin, die Größe anderer Menschen zu schätzen, aber Curtis ist einen Kopf größer als ich, also sicher fast zwei Meter groß.

Als ich mit wackeligen Beinen aufstehe, merke ich, dass mein Unter­bewusstsein sich noch immer ungewohnt schweigsam verhält. Meine innere Stimme hört normalerweise auf, meine Aktionen stumm zu beobachten, wenn ich beginne, klar introvertiert zu handeln. Für eine lange Zeit keine Worte mit anderen Menschen zu wechseln, sieht sie als Aufforderung, mich zuzutexten. In mir ist es nie still. Entweder höre ich sie oder die Menschen.

Ich laufe neben Curtis aus dem Restaurant. Er kramt in seiner Jacken­tasche nach Zigaretten und zündet sich eine an. Ich beobachte ihn stumm und wir laufen wie selbstverständlich nebeneinander nach unten zum Strand. Unser Atem hinterlässt Wolken in der eiskalten Winterluft um uns herum.

»Warst du schon mal auf Coney Island, Paige?«, fragt er mich und zieht an seiner Zigarette. Wenn Menschen beginnen, Fragen zu stellen, ist es meistens nicht, weil sie möchten, dass ich etwas sage, sondern weil sie bemerken, dass es in einer Konversation nicht darum geht, möglichst viel Zeit damit zu verbringen, Monologe zu führen, während das Gegenüber nur nickt und schweigt.

Aber bei Curtis ist mir das egal.

Er sieht aus wie jemand, der eigentlich viel zu erzählen hat, es aber nie wirklich macht.

Erinnerungen flackern vor meinem inneren Auge auf, mein Herz klopft ungesund schnell, als ich meinen Mund öffne, um zu antworten: »Als ich zehn war, hat mein Dad hier den ganzen Sommer über jeden Tag mit mir schwimmen geübt.«

Curtis deutet ein Lächeln an und atmet den Rauch aus. Eine schwar­ze Haarsträhne löst sich aus seiner Sonnenbrille und fällt ihm in die Stirn.

»Du bist also Juliens Tochter.« Wieder sagt er es mehr so, als würde er seine Gedanken aussprechen, und nicht so, als würde er eine Antwort von mir verlangen, also nicke ich nur unmerklich und mustere ihn verstohlen von der Seite.

»Du redest nicht so gerne, kann das sein?« Curtis’ Mundwinkel zucken, als er seinen Kopf in meine Richtung dreht und mich anschaut. Das Hellbraun seiner Augen wirkt wie flüssiges Gold.

Ich räuspere mich, öffne meinen Mund und schließe ihn wieder, nur um danach nervös auf meiner Unterlippe herumzukauen. »Meistens ist es in meinem Kopf laut genug.«

In diesem Moment höre ich das Meer rauschen und die Seevögel schreien, aber in mir ist es still. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so alleine in meinen Gedanken umherwandern konnte, ohne darauf bedacht sein zu müssen, beobachtet zu werden. Dieses neue Gefühl ist wie viel zu schnelles Autofahren auf freien Landstraßen.