Factfulness - Hans Rosling - E-Book + Hörbuch

Factfulness Hörbuch

Hans Rosling

4,8

Beschreibung

Es wird alles immer schlimmer, eine schreckliche Nachricht jagt die andere: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Es gibt immer mehr Kriege, Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen. Viele Menschen tragen solche beängstigenden Bilder im Kopf. Doch sie liegen damit grundfalsch. Unser Gehirn verführt uns zu einer dramatisierenden Weltsicht, die mitnichten der Realität entspricht, wie der geniale Statistiker und Wissenschaftler Hans Rosling erklärt. Wer das Buch gelesen hat, wird • ein sicheres, auf Fakten basierendes Gerüst besitzen, um die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist • die zehn gängigsten Arten von aufgebauschten Geschichten erkennen • bessere Entscheidungen treffen können • wahre Factfulness erreichen – jene offene, neugierige und entspannte Geisteshaltung, in der Sie nur noch Ansichten teilen und Urteile fällen, die auf soliden Fakten basieren

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Zeit:8 Std. 13 min

Sprecher:Uve Teschner

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Das Buch

Hans Rosling hat es so eindringlich gezeigt wie niemand zuvor: Wenn wir Menschen Fragen über den Zustand der Welt beantworten sollen, liegen wir regelmäßig falsch – egal, ob es um das Bevölkerungswachstum, den Anteil der Menschen in extremer Armut oder die allgemeine Schulbildung von Mädchen geht. Selbst Schimpansen, die ihre Aussagen per Zufall treffen, liefern mehr richtige Antworten als Nobelpreisträger, Investmentbanker und andere Entscheidungsträger. Woran liegt das? Roslings Erkenntnis: Unser Gehirn verführt uns zu einer dramatisierenden Weltsicht, die mitnichten der Realität entspricht. Zusammen mit seinen Mitautoren Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling entwirft er ein revolutionäres Programm, mit dem wir endlich zu den Fakten zurückkehren und die Welt so sehen können, wie sie tatsächlich ist – und nicht, wie wir glauben, dass sie ist.

»Dieses Buch ist mein Versuch, Einfluss auf die Welt zu nehmen: die Denkweise der Menschen zu verändern, ihre irrationalen Ängste zu lindern und ihre Energien in konstruktives Handeln umzulenken.« Hans Rosling

Die Autoren

Hans Rosling, geboren 1948 in Uppsala, gestorben im Februar 2017, war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. Er war zudem Gründungsmitglied von Ärzte ohne Grenzen e.V. in Schweden und Mitglied der Internationalen Gruppe der Schwedi- schen Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit seinem Sohn Ola Rosling und seiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund gründete Hans Rosling die Gapminder-Stiftung.

Aus dem Englischen von Hans Freundl, Hans-Peter Remmler und Albrecht Schreiber

Ullstein

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Factfulness

bei Flatiron Books, New York.

Die Illustrationen und Charts basieren auf frei zugänglichem Material der Gapminder Foundation, entworfen von Ola Rosling und Anna Rosling Rönnlund.

ISBN: 978-3-8437-1745-8

11. Auflage 2019

© 2018 für die deutsche Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© 2018 by Factfulness AB

Umschlaggestaltung: semper smile, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Hinweis des Autors
Einleitung
1. Der Instinkt der Kluft
2. Der Instinkt der Negativität
3. Der Instinkt der geraden Linie
4. Der Instinkt der Angst
5. Der Instinkt der Dimension
6. Der Instinkt der Verallgemeinerung
7. Der Instinkt des Schicksals
8. Der Instinkt der einzigen Perspektive
9. Der Instinkt der Schuldzuweisung
10. Der Instinkt der Dringlichkeit
11. Factfulness in der Praxis
Abschliessende Worte
Dank
Anhang
Karte zur Weltgesundheit
Wie hat Ihr Land abgeschnitten?
Anmerkungen
Quellen
Biografische Hinweise
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Der mutigen, barfüßigen Frau, deren Namen ich nicht kenne, aber deren rationale Argumente mich davor bewahrten, von einem Mob wütender, mit Macheten bewaffneter Männer zerstückelt zu werden.

HINWEIS DES AUTORS

Aus Factfulness spricht meine Stimme, so als hätte ich es alleine verfasst, und es erzählt viele Geschichten aus meinem Leben. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Genau wie die TED Talks und die Vorträge, die ich in den letzten zehn Jahren überall auf der Welt gehalten habe, ist dieses Buch das Werk nicht eines Menschen allein, sondern von deren drei.

Ich bin in der Regel der Frontmann. Ich stehe auf der Bühne und halte die Vorträge. Ich bekomme den Applaus. Aber alles, was Sie in meinen Vorträgen hören, und alles, was Sie in diesem Buch lesen, ist das Ergebnis von 18 Jahren intensiver Zusammenarbeit zwischen mir, meinem Sohn Ola Rosling und meiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund.

2005 gründeten wir die Gapminder Foundation mit der Mission, verheerender Unwissenheit eine auf Fakten gestützte Weltsicht entgegenzusetzen. Ich steuerte meine Energie, Neugierde und ein Leben voller Erfahrung als Arzt, Forscher und Vortragsreisender zum Thema Weltgesundheit bei. Ola und Anna waren zuständig für die Datenanalyse, originelle visuelle Erläuterungen, Datenstorys und einfaches Präsentationsdesign. Ola und Anna hatten die Idee, Unwissenheit systematisch zu messen, sie entwarfen und programmierten unsere animierten Blasendiagramme. Dollar Street, eine Form der Nutzung von Fotos als Daten, um damit die Welt zu erklären, war Annas Idee. Während ich mich immer mehr über die Unwissenheit der Menschen aufregte, betrieben Ola und Anna ganz unaufgeregt ihre Datenanalysen und kristallisierten daraus die Demut und Ruhe ausstrahlende Idee der Factfulness. Gemeinsam definierten wir die praktischen Denkwerkzeuge, die wir in diesem Buch vorstellen.

Was Sie hier lesen werden, habe ich mir also nicht dem Stereotyp des »einsamen Genies« entsprechend ausgedacht. Es ist vielmehr das Ergebnis kontinuierlicher Diskussion, Auseinandersetzung und Zusammenarbeit zwischen drei Menschen mit unterschiedlichen Begabungen, Kenntnissen und Perspektiven. Diese unkonventionelle, manchmal wütend machende, aber zutiefst produktive Arbeitsweise hat eine Art der Darstellung unserer Welt und des Denkens über diese Welt hervorgebracht, die ich allein niemals hätte schaffen können.

EINLEITUNG

WARUM ICH DEN ZIRKUS LIEBE

Ich liebe den Zirkus. Ich liebe es, dem Jongleur zuzusehen, wie er aufheulende Kettensägen durch die Luft wirbeln lässt, oder dem Hochseilartisten, der zehn Saltos am Stück schafft. Ich liebe das Spektakel und das Gefühl von Erstaunen und Begeisterung angesichts des scheinbar Unmöglichen.

Als Kind träumte ich davon, Zirkusartist zu werden. Meine Eltern hatten einen ganz anderen Traum: Ich sollte eine gute Ausbildung bekommen, die sie nie hatten. Also studierte ich Medizin.

Eines Nachmittags an der Uni, in einer ansonsten drögen Vorlesung über die Speiseröhre, erklärte der Professor: »Wenn etwas darin stecken bleibt, kann die Passage durch Vorstrecken des Unterkiefers gerade gerichtet werden.« Zur Veranschaulichung zeigte er eine Röntgenaufnahme eines Schwertschluckers in Aktion.

Ich hatte eine augenblickliche Inspiration. Mein Traum war noch nicht vorbei! Einige Wochen zuvor, beim Studium von Reflexen, hatte ich bemerkt, dass ich mir von allen Kursteilnehmern die Finger am tiefsten in den Rachen schieben konnte, ohne zu würgen. Damals war ich darauf nur mäßig stolz: Ich sah darin keine besonders bedeutende Fähigkeit. Plötzlich jedoch verstand ich ihren Wert, und mein Kindheitstraum lebte wieder auf: Ich beschloss, Schwertschlucker zu werden.

Die ersten Versuche waren allerdings nicht sehr ermutigend. Ich besaß kein Schwert, also übte ich mit einer Angelrute vor dem Badezimmerspiegel. Aber sooft ich es auch versuchte, schon nach wenigen Zentimetern ging es nicht mehr weiter. Ich musste meinen Traum wohl ein weiteres Mal aufgeben.

Drei Jahre später war ich als Arzt in der Ausbildung auf einer echten Krankenstation. Einer meiner ersten Patienten war ein ­alter Mann mit chronischem Husten, und ich fragte ihn, was er beruflich machte, das könnte ja mit der Krankheit zusammenhängen. Ob Sie es glauben oder nicht: Er war früher Schwertschlucker gewesen. Und als ich ihm dann von meinen Versuchen mit der Angelrute erzählte, meinte er: »Mein lieber junger Herr Doktor, wissen Sie etwa nicht, dass die Speiseröhre nicht rund ist, sondern flach? Da passen nur flache Gegenstände rein. Deshalb nehmen wir doch ein Schwert.«

Nach Feierabend fand ich eine Suppenkelle mit geradem, flachem Stiel und nahm meine Übungen unverzüglich wieder auf. Schon bald konnte ich den Griff komplett in meinem Rachen verschwinden lassen. Ich war ziemlich aufgeregt. Aber mein Traum war es ja nicht, Suppenkellenstielschlucker zu werden. Am nächsten Tag setzte ich eine Anzeige in die Lokalzeitung, und schon bald hatte ich alles, was ich brauchte: ein schwedisches Armeebajonett von anno 1809. Ich ließ es mit Erfolg in meinen Rachen gleiten und war mächtig stolz – zum einen, weil ich es zum ersten Mal wirklich geschafft hatte, ein Schwert zu schlucken, und zum anderen, weil mir eine solch clevere Art des Waffenrecyclings in den Sinn gekommen war.

Das Schwertschlucken zeigt seit jeher, dass das scheinbar Unmögliche möglich ist, und es inspiriert Menschen, über das Offensichtliche hinauszudenken. Gelegentlich demonstriere ich diese antike indische Kunst am Ende meiner Vorträge über globale Entwicklung. Ich steige auf einen Tisch und zerreiße mein kariertes Hemd, unter welchem ein schwarzes, mit einem Blitz aus goldenen Pailletten verziertes Oberteil zum Vorschein kommt. Ich bitte um absolute Ruhe, und mit gehörigem Trommelwirbel schiebe ich mir langsam das antike Armeebajonett in den Rachen. Ich strecke die Arme zur Seite. Die Menge jubelt.

TESTEN SIE SICH SELBST

In diesem Buch geht es um die Welt und darum, sie zu verstehen. Also, warum habe ich mit dem Zirkus angefangen? Und warum beendete ich manchmal Vorlesungen mit einem angeberischen Auftritt in glitzerndem Outfit? Ich werde es gleich erklären. Aber zuerst bitte ich Sie, Ihr Wissen über die Welt zu testen. Bitte nehmen Sie einen Stift und ein Blatt Papier und beantworten Sie die 13 folgenden Fragen.

1. Wie viele Mädchen absolvieren heute eine fünfjährige Grundschulbildung in den Ländern mit niedrigem Einkommen?

☐ A: 20 Prozent ☐ B: 40 Prozent ☐ C: 60 Prozent

2. Wo lebt die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung?

☐ A: In Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen☐ B: In Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen☐ C: In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen

3. In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung …

☐ A: nahezu verdoppelt. ☐ B: nicht oder nur unwesentlich verändert. ☐ C: deutlich mehr als halbiert.

4. Wie hoch ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt heute weltweit?

☐ A: 50 Jahre ☐ B: 60 Jahre ☐ C: 70 Jahre

5. Heute leben 2 Milliarden Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren auf der Welt. Wie viele Kinder werden es laut Angaben der Vereinten Nationen im Jahr 2100 sein?

☐ A: 4 Milliarden ☐ B: 3 Milliarden ☐ C: 2 Milliarden

6. Nach einer Prognose der UN wird die Weltbevölkerung bis 2100 um weitere 4 Milliarden Menschen gewachsen sein. Was ist die Hauptursache dafür?

☐ A: Es wird mehr Kinder geben (jünger als 15 Jahre).☐ B: Es wird mehr Erwachsene geben (zwischen 15 und 74 Jahren).☐ C: Es wird mehr sehr alte Menschen geben (75 Jahre und älter).

7. Wie hat sich die Zahl der Todesfälle pro Jahr durch Naturkatastrophen über die letzten 100 Jahre entwickelt?

☐ A: Sie hat sich mehr als verdoppelt. ☐ B: Sie ist etwa gleich geblieben. ☐ C: Sie hat sich mehr als halbiert.

8. Heute leben circa 7 Milliarden Menschen auf der Erde. Welche Karte zeigt die realistischste geografische Verteilung? (Jede Figur steht für eine Milliarde Menschen.)

9. Wie viele der einjährigen Kinder auf der Welt sind gegen irgendwelche Krankheiten geimpft?

☐ A: 20 Prozent ☐ B: 50 Prozent☐ C: 80 Prozent

10. Weltweit haben 30-jährige Männer durchschnittlich 10 Jahre lang eine Schule besucht. Wie viele Jahre haben gleichaltrige Frauen die Schule besucht?

☐ A: 9 Jahre ☐ B: 6 Jahre ☐ C: 3 Jahre

11. 1996 wurden der Tiger, der Riesenpanda und das Spitzmaulnashorn in die Liste der gefährdeten Tierarten aufgenommen. Wie viele dieser drei Spezies sind heute stärker vom Aussterben bedroht als 1996?

☐ A: Zwei☐ B: Eine☐ C: Keine

12. Wie viele Menschen auf der Welt haben ein gewisses Maß an Zugang zu Elektrizität?

☐ A: 20 Prozent ☐ B: 50 Prozent☐ C: 80 Prozent

13. Weltklimaexperten nehmen an, über die nächsten 100 Jahre wird die durchschnittliche Temperatur …

☐ A: zunehmen.☐ B: gleich bleiben.☐ C: abnehmen.

Hier die richtigen Antworten:

1: C, 2: B, 3: C, 4: C, 5: C, 6: B, 7: C, 8: A, 9: C, 10: A, 11: C, 12: C, 13: A

Geben Sie sich einen Punkt für jede richtige Antwort und notieren Sie Ihr Gesamtergebnis bitte auf einem Blatt Papier.

WISSENSCHAFTLER, SCHIMPANSEN UND SIE

Wie haben Sie abgeschnitten? Viele falsche Antworten? Hatten Sie das Gefühl, bei vielen Fragen einfach nur zu raten? Sollte dem so sein, kann ich Ihnen zum Trost zumindest zwei Dinge mitteilen.

Erstens: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie bei derartigen Tests deutlich besser abschneiden. Nicht, weil ich Sie dazu gebracht hätte, alle möglichen Statistiken auswendig zu lernen – ich bin Professor für Internationale Gesundheit, aber ich bin nicht verrückt. Sie werden besser abschneiden, weil ich Ihnen eine Reihe einfacher Denkhilfen an die Hand gegeben habe. Damit werden Sie in der Lage sein, sich ein realistisches Gesamtbild vom Zustand der Welt zu machen, ohne dass Sie jedes Detail kennen müssen.

Und zweitens: Wenn Sie bei dem Test schlecht abgeschnitten haben, sind Sie in bester Gesellschaft.

In den vergangenen Jahrzehnten habe ich vielen Tausend Menschen in aller Welt Hunderte solcher Fragen über Fakten gestellt, über Armut und Reichtum, Bevölkerungswachstum, Geburten und Todesfälle, Bildung, Gesundheit, Geschlecht, Gewalt, Energie und Umwelt – grundlegende globale Muster und Trends. Die Tests sind unkompliziert, es gibt keine Fangfragen. Ich achte streng darauf, nur sauber dokumentierte, unwiderlegbare Fakten abzufragen. Und dennoch schneiden die allermeisten extrem schlecht dabei ab.

Nehmen wir zum Beispiel Frage 3 über den Trend in Sachen extremer Armut. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung mehr als halbiert. Das ist absolut revolutionär. Ich sehe darin die wichtigste Veränderung, die sich während meines Lebens auf der Welt vollzogen hat. Und es ist ein sehr grundlegender Fakt über die Welt, den man kennen sollte. Aber die Leute wissen es nicht. Nur durchschnittlich sieben Prozent der Teilnehmer nannten die richtige Antwort – nicht einmal jeder Zehnte!

(Ja, ich habe in den schwedischen Medien viel über den Rückgang der weltweiten Armut berichtet.)

In den USA behaupten Demokraten wie Republikaner, ihre jeweiligen Gegenüber würden die Fakten nicht kennen. Würden sie ihr eigenes Wissen ermitteln, anstatt mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, wären alle vielleicht ein wenig bescheidener. Bei dieser Frage wählten in den USA nur fünf Prozent die richtige Antwort. Die große Mehrheit, gleich ob Republikaner oder Demokraten, glaubte, die extreme Armut hätte sich in den letzten 20 Jahren entweder nicht verändert oder, noch schlimmer, sie hätte sich verdoppelt – also exakt das Gegenteil dessen, was tatsächlich geschehen ist.

Ein weiteres Beispiel, Frage 9 zum Thema Impfung: Fast alle Kinder auf der Welt sind heute geimpft. Das ist faszinierend. Es be­deutet, dass fast alle Menschen, die heute leben, zumindest einen gewissen Zugang zu einfacher moderner Gesundheitsvorsorge haben. Aber die meisten Menschen wissen das nicht. Im Durchschnitt lagen hier gerade einmal 13 Prozent der Teilnehmer richtig.

86 Prozent der Befragten beantworten die abschließende Frage zum Klimawandel korrekt. In allen reichen Ländern, in denen ich das Wissen der Öffentlichkeit in Online-Befragungen getestet habe, wissen die Menschen, dass die Klimaexperten wärmeres Wetter prognostizieren. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte sind wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Forschungslaboren an die Öffentlichkeit gelangt. Das ist eine große Erfolgsstory im Hinblick auf öffentliche Bewusstseinsbildung.

Aber abgesehen vom Klimawandel stellen wir bei allen anderen zwölf Fragen immer wieder diese enorme Unwissenheit fest. (Das hat übrigens nichts mit Dummheit oder Vorsatz zu tun, es fehlt schlicht an Wissen.) 2017 haben wir fast 12000 Menschen in 14 Ländern unsere Fragen vorgelegt. Sie schafften im Schnitt nur zwei von zwölf korrekten Antworten. Niemand holte die volle Punktzahl, und nur ein einziger Teilnehmer (in Schweden) brachte es auf elf von zwölf. Unglaubliche 15 Prozent hatten null Richtige.

Vielleicht denken Sie, Menschen mit höherem Bildungsniveau schneiden besser ab. Oder Menschen, die sich für die jeweiligen Themen einfach mehr interessieren. Das dachte ich zunächst auch, aber ich hatte mich geirrt. Ich habe Leute in aller Welt und aus allen Gesellschaftsschichten befragt: Medizinstudenten, Lehrer, Universitätsprofessoren, bedeutende Wissenschaftler, Investmentbanker, Manager von Weltkonzernen, Journalisten, Aktivisten und sogar führende politische Entscheidungsträger. Alles hochgebildete Personen, die sich dafür interessieren, was in der Welt vor sich geht. Aber die Mehrheit von ihnen – eine wirklich erstaunliche Mehrheit – liegt mit den meisten Antworten falsch. Einige dieser Gruppen schneiden sogar schlechter ab als der Durchschnitt der Bevölkerung, einige der schlechtesten Ergebnisse überhaupt kamen von einer Gruppe von Nobelpreisträgern. Das ist keine Frage der Intelligenz. Alle scheinen ein vollkommen falsches Bild von der Welt zu haben.

Und nicht nur vollkommen falsch, sondern systematisch falsch. Damit meine ich: Diese Testergebnisse sind sogar schlechter als bei einer rein zufälligen Auswahl. Sie sind schlechter als die Resultate, die ich von Menschen bekäme, die über keinerlei Wissen verfügen.

Stellen Sie sich vor, ich entscheide mich, in den Zoo zu gehen und meine Testfragen den Schimpansen dort vorzulegen. Stellen Sie sich vor, ich nehme einen Haufen Bananen mit und schreibe mit dem Filzstift einen Buchstaben auf jede Banane, A, B oder C, und werfe dann die Bananen über den Zaun ins Affengehege. Dann stelle ich mich vor das Gehege und lese laut und deutlich jede einzelne Frage vor, und als »Antwort« nehme ich den Buchstaben der Banane, die sich der »befragte« Schimpanse als Nächstes schnappt.

Das würde ich natürlich niemals wirklich machen. Stellen Sie es sich einfach nur vor. Wenn ich es aber täte, würden diese Affen nach dem Zufallsprinzip dauerhaft bessere Ergebnisse erzielen als die hochgebildeten, aber fehlgeleiteten Menschen, die ich getestet habe. Durch pures Glück würde die Affenbande bei jeder Frage zu 33 Prozent richtigliegen beziehungsweise im Gesamttest vier von zwölf richtige Antworten produzieren. Denken Sie daran, dass die menschlichen Teilnehmer im Schnitt nur zwei Richtige hatten.

Und auch die falschen Antworten der Affen wären gleichmäßig verteilt, während die menschlichen Fehler alle eine bestimmte Tendenz offenbaren. Jede Gruppe, die ich befrage, glaubt, die Welt sei weitaus bedrohlicher, gewalttätiger und hoffnungsloser – in einem Wort: dramatischer –, als sie in Wirklichkeit ist.

WARUM BESIEGEN WIR NICHT EINMAL SCHIMPANSEN?

Wie können so viele Menschen bei so vielen Dingen derart falsch­liegen? Wie kann es sein, dass die meisten Leute schlechter abschneiden als Schimpansen? Schlechter als bei völlig zufälliger Auswahl?

Als ich Mitte der 90er-Jahre erstmals diese massive Unwissenheit feststellte, war ich sehr angetan. Ich hatte gerade mit einem Kurs über Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet in Schweden begonnen und war ein wenig nervös. Diese Studenten waren sehr klug. Vielleicht würden sie ja schon alles wissen, was ich ihnen zu sagen hatte. Welche Erleichterung, als ich feststellte, dass meine Studenten weniger über die Welt wussten als Schimpansen.

Doch je länger ich hinsah, desto mehr Unwissenheit stellte ich fest, nicht nur bei meinen Studenten, sondern überall. Allmählich wurde es frustrierend und besorgniserregend, dass die Menschen so wenig über die Welt wussten. Wenn Sie sich auf das Navi in Ihrem Auto verlassen, kommt es darauf an, dass es die richtigen Informationen verwendet. Sie würden ihm nicht trauen, wenn es Sie anscheinend durch eine ganz andere Stadt lotst, weil Sie wüssten, dass Sie am Ende am falschen Ort landen werden. Wie sollen also Politiker und andere Entscheidungsträger Probleme im globalen Maßstab lösen, wenn ihre Entscheidungen auf falschen Fakten beruhen? Wie sollen Geschäftsleute vernünftige Entscheidungen für ihre Unternehmen treffen, wenn ihre Weltsicht auf dem Kopf steht? Und wie kann jeder Einzelne von uns im alltäglichen Leben wissen, worauf es wirklich ankommt und worüber er sich Sorgen machen muss?

Also beschloss ich, mehr als nur Wissen zu testen und Unwissenheit offenzulegen. Ich wollte das Warum dahinter verstehen. Warum war diese Unwissenheit über die Welt so verbreitet und so hartnäckig? Wir irren uns doch alle ab und zu – auch ich, wie ich gerne zugebe –, aber wie kann es sein, dass so viele Menschen bei so vielen Themen danebenlagen? Warum schnitten so viele Men­schen schlechter ab als ein paar Schimpansen?

Eines Abends saß ich noch spät in meinem Büro an der Universität, und da ging mir ein Licht auf. Es konnte nicht einfach nur am mangelnden Wissen der Menschen liegen. Dann hätten sich die falschen Antworten zufällig verteilt – genau wie bei den Schimpansen. Dann wären es keine systematisch falschen Antworten, also noch schlechtere als zufällig falsche gewesen. Nur aktives ­fehlerhaftes Wissen kam als Grund für ein derart schlechtes Ergebnis infrage.

Aha! Das war die Lösung! Das Ganze – so dachte ich jedenfalls jahrelang – war ein schlichtes Upgrade-Problem: Meine Studenten im Fach Weltgesundheit und alle anderen Probanden wussten sehr wohl etwas, aber ihr Wissen war überholt, häufig mehrere Jahrzehnte alt. Die Menschen hatten eine Weltsicht aus der Zeit, als ihre Lehrer gerade die Schule abgeschlossen hatten.

Um die Unwissenheit auszurotten, musste ich folglich das Wissen der Menschen auf den aktuellen Stand bringen – dachte ich jedenfalls. Und dafür musste ich besseres Lehrmaterial ent­wickeln, das die Daten klarer vermittelte. Nachdem ich bei einem Abendessen mit der Familie von meinen Nöten berichtet hatte, beteiligten sich Anna und Ola und begannen, animierte Diagramme zu entwerfen. Ich reiste mit diesen eleganten Lernhilfen kreuz und quer durch die Welt. Sie führten mich zu den TED Talks in Monterey, Berlin und Cannes, in die Vorstandsetagen von Weltkonzernen wie Coca-Cola und IKEA, zu weltweit operierenden Banken und Hedgefonds, ins US-Außenministerium. Begeistert nutzte ich unsere animierten Grafiken, um allen zu zeigen, wie die Welt sich verändert hatte. Es bereitete mir großes Vergnügen, allen und jedem zu erzählen, dass sie als Kaiser ohne Kleider dastanden und keine Ahnung von der Welt hatten. Ich wollte bei allen unser Upgrade installieren.

Aber nach und nach mussten wir erkennen, dass Ignoranz nicht bloß eine Frage der Aktualisierung ist. Sie ließ sich nicht einfach mit klareren Animationen von Daten oder besseren Lernwerkzeugen beheben. Denn ich musste betrübt feststellen, dass selbst die Leute, denen meine Vorträge gefielen, gar nicht richtig zuhörten. Vielleicht waren sie für den Moment inspiriert, aber nach dem Vortrag waren sie noch immer tief in ihrer alten, negativen Weltsicht gefangen. Die neuen Ideen schlugen einfach nicht an. Selbst unmittelbar nach meinen Präsentationen hörte ich, wie Leute Ansichten über Armut und Bevölkerungswachstum äußerten, die ich soeben mit Fakten widerlegt hatte. Ich war kurz davor, alles hinzuschmeißen.

Warum hielt sich diese dramatische Sicht der Welt so hartnäckig? Waren die Medien schuld? Natürlich dachte ich auch daran. Aber das war nicht die Antwort. Gewiss spielen die Medien eine Rolle, und darauf komme ich später noch ausführlich zu sprechen, aber für den Moment sei festgehalten, dass sie nicht als Oberschurke taugen. Alles auf die bösen Medien zu schieben wird nicht funktionieren.

Ein Schlüsselerlebnis hatte ich im Januar 2015 beim Weltwirtschaftsforum im schicken Schweizer Städtchen Davos. Eintausend der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, Vorstände, Unternehmer, Forscher, Aktivisten, Journalisten, sogar einige hochrangige UN-Vertreter hatten vor dem Eingang Schlange gestanden, um bei der Haupt­sitzung des Forums über sozioökonomische und nachhaltige Entwicklung einen Sitzplatz zu ergattern. Auftreten sollten dort: ich, Bill und Melinda Gates. Als ich die Bühne betrat und den Blick übers Publikum schweifen ließ, sah ich diverse Staatenlenker und einen ehemaligen UN-Generalsekretär. Ich sah Leiter von UN-Organisationen, Führungspersönlichkeiten wichtiger multinationaler Unternehmen und Journalisten, die ich vom Fernsehen kannte.

Ich wollte dem Publikum drei Fragen stellen – über Armut, Bevölkerungswachstum und Impfraten – und war ziemlich nervös. Wenn meine Zuhörer die Antworten auf die Fragen wussten, würde der Rest meiner Folien, die mit feierlichem Tusch offenbaren sollten, wie falsch sie lagen und was sie hätten antworten sollen, ins Leere gehen.

Meine Sorge war unbegründet. Dieses erlesene internationale Publikum, das die nächsten Tage damit verbringen würde, einander gegenseitig die Welt zu erklären, wusste zwar tatsächlich mehr über Armut als der Durchschnitt der Bevölkerung. Beachtliche 61 Prozent beantworteten diese Frage richtig. Aber bei den beiden anderen Fragen, über das künftige Bevölkerungswachstum und die Verfügbarkeit primärer Gesundheitsvorsorge, lagen auch sie weiter daneben als die Schimpansen. Hier saßen Menschen, die Zugang zu sämtlichen aktuellen Daten hatten und zu Beratern, die sie kontinuierlich auf dem neuesten Stand halten konnten. Hier kam eine veraltete Weltsicht als Grund für die Unwissenheit nicht infrage. Und doch wussten sie nichts über grundlegende Fakten in der Welt.

Nach Davos wurde vieles klarer.

DRAMATISCHE INSTINKTE UND DIE ÜBERDRAMATISIERTE WELTSICHT

Nun also dieses Buch. Es beruht auf all meiner Erfahrung beim Versuch, eine faktengestützte Weltsicht zu vermitteln, und auf der Wahrnehmung, wie Menschen Fakten fehlinterpretieren, selbst wenn sie direkt vor ihnen auf dem Tisch liegen. Das Buch verschreibt sich dem Ziel, Ihnen meine Schlussfolgerungen mitzuteilen: Wie konnten so viele Menschen, von ganz normalen Leuten bis hin zu gebildeten und hochintelligenten Experten, bei Fragen zu den wichtigsten Fakten über die Welt schlechter als Schimpansen abschneiden? (Und ich werde Ihnen auch verraten, was Sie dagegen tun können.) In aller Kürze:

Denken Sie über die Welt nach. Kriege, Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen, menschengemachte Katastrophen, Korruption. Schreckliche Dinge passieren, und es fühlt sich an, als ob alles immer nur noch schlimmer wird, richtig? Die Reichen werden reicher, und die Armen werden ärmer. Und die Zahl der Armen nimmt immer weiter zu. Und bald werden uns die Ressourcen ausgehen, es sei denn, wir unternehmen etwas dagegen, und zwar sofort. Das ist zumindest das Bild, das die meisten Menschen im Westen in den Medien sehen und in ihren Köpfen mit sich herumtragen. Ich nenne das die überdramatisierte Weltsicht. Sie ist belastend und irreführend.

In Wirklichkeit lebt die große Mehrheit der Weltbevölkerung irgendwo in der Mitte der Einkommensskala. Vielleicht ist es nicht ganz das, was wir uns unter Mittelschicht vorstellen, aber in extremer Armut leben sie nicht. Die Mädchen gehen zur Schule, die Kinder werden geimpft, sie leben in Familien mit zwei Kindern, und sie wollen als Touristen in die Ferne reisen und nicht als Flüchtlinge. Schritt für Schritt, Jahr um Jahr wird die Welt besser. Nicht nach jedem einzelnen Maßstab in jedem einzelnen Jahr, aber in der Regel trifft es zu. Auch wenn wir vor riesigen Herausforderungen stehen: Wir haben enorme Fortschritte gemacht. Das ist die faktengestützte Weltsicht.

Es ist die überdramatisierte Weltsicht, die die Menschen zu den dramatischsten und negativen Antworten auf meine Faktenfragen verleitet. Die Menschen greifen konstant und intuitiv auf ihre Weltsicht zurück, wenn sie über die Welt nachdenken, Fakten der Welt zu erraten versuchen oder neu lernen. Wenn also Ihre Weltsicht falsch ist, werden Sie systematisch falsch raten. Aber diese überdramatisierte Weltsicht ist nicht einfach nur auf einen überholten Wissensstand zurückzuführen, wie ich einst glaubte. Auch Menschen mit Zugang zu den neuesten Informationen ­sehen die Welt falsch. Und ich bin überzeugt, es liegt nicht an den böswilligen Medien, an Propaganda, an Fake News, noch nicht einmal an falschen oder »alternativen« Fakten.

Meine jahrzehntelange Erfahrung aus Vorlesungen und Tests und die Wahrnehmung, wie Menschen Fakten fehlinterpretieren, selbst wenn sie direkt vor ihnen auf dem Tisch liegen, brachten mich zu der Erkenntnis, dass die überdramatisierte Weltsicht so schwer zu überwinden ist, weil sie unmittelbar mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammenhängt.

Optische Illusionen und globale Illusionen

Betrachten Sie die zwei horizontalen Linien. Welche ist länger?

Das haben Sie vielleicht schon mal gesehen. Die Linie unten scheint länger zu sein als die Linie oben. Sie wissen, dass dem nicht so ist, aber obwohl Sie es bereits wissen, selbst wenn Sie mit dem Lineal nachmessen, sehen Sie immer noch unterschiedliche Längen.

Meine Brille besitzt individuell geschliffene Gläser, die meinen persönlichen Sehfehler korrigieren. Aber wenn ich mir diese optische Illusion ansehe, interpretiere ich dennoch falsch, was ich sehe, so wie jeder andere auch. Der Grund: Illusionen entstehen nicht im Auge, sie entstehen im Gehirn. Es sind systematische Fehlinterpretationen, die mit individuellen Sehfehlern nichts zu tun haben. Im Wissen, dass die meisten Menschen derart fehlgeleitet werden, brauchen Sie nicht peinlich berührt zu sein. Seien Sie lieber neugierig: Wie funktioniert diese Illusion?

Entsprechend können Sie sich auch die Ergebnisse der öffentlichen Befragungen ansehen, ohne dass es Ihnen peinlich sein muss. Seien Sie neugierig. Wie funktioniert diese »globale Illusion«? Wie kommt es, dass die Gehirne so vieler Menschen den Zustand der Welt systematisch falsch interpretieren?

Das menschliche Gehirn ist das Produkt von Millionen Jahren Evolution, und wir sind mit Instinkten fest verdrahtet, die unseren Vorfahren halfen, in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler zu überleben. Unsere Hirne kommen sehr oft zu raschen Entschlüssen, ohne großes Nachdenken. Einstmals half das, um unmittelbaren Gefahren aus dem Weg zu gehen. Wir interessieren uns für Klatsch und dramatische Geschichten, die einst die einzige Quelle von Nachrichten und nützlichen Informationen waren. Unser Körper verlangt nach Zucker und Fett, denn das waren einst lebenswichtige Quellen von Energie, als Nahrung generell knapp war. Wir Menschen haben viele Instinkte, die einstmals, vor ein paar Tausend Jahren, sehr hilfreich waren. Aber wir leben heute in einer völlig anderen Welt.

Unser Verlangen nach Zucker und Fett macht heute die Fettleibigkeit zu einem der größten gesundheitlichen Probleme weltweit. Wir müssen unseren Kindern und uns selbst beibringen, die Finger von Süßigkeiten und Chips zu lassen. In gleicher Weise bewirken unsere schnell arbeitenden Gehirne und unser Verlangen nach Drama – unsere dramatischen Instinkte – falsche Vorstellungen und eine überdramatisierte Weltsicht.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wir brauchen diese dramatischen Instinkte nach wie vor, um unserer Welt Bedeutung zu verleihen und uns über den Tag zu bringen. Würden wir jeden Input erst einmal filtern und jede Entscheidung rational analysieren, wäre ein normales Leben schlicht nicht möglich. Wir sollten nicht komplett auf Zucker und Fett verzichten, und wir sollten keinen Chirurgen bitten, uns die Gehirnhälfte herauszuoperieren, die für emotionale Prozesse zuständig ist. Aber wir müssen lernen, unseren Dramenkonsum in den Griff zu kriegen. Ohne derartige Kontrolle geht unser Appetit fürs Dramatische zu weit und hindert uns, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und führt uns damit fürchterlich in die Irre.

FACTFULNESS UND DIE FAKTENGESTÜTZTE WELTSICHT

Dieses Buch ist die definitiv letzte Schlacht in meiner lebenslangen Mission, die verheerende Unwissenheit in der Welt zu bekämpfen. Es ist mein letzter Versuch, Einfluss auf die Welt zu nehmen: die Denkweise der Menschen zu verändern, ihre irratio­nalen Ängste zu lindern und ihre Energien in konstruktives Handeln umzulenken. In meinen früheren Schlachten bewaffnete ich mich stets mit Bergen von Daten, eindrucksvoller Software, einem energischen Vortragsstil und einem schwedischen Bajonett. Das hat nicht genügt. Möge dieses Buch genügen.

Hier finden Sie Daten, wie Sie sie bisher nicht kannten: Es sind Daten als Therapie. Es ist das Verstehen als Quelle inneren Friedens. Denn die Welt ist gar nicht so dramatisch, wie es scheint.

Factfulness kann und sollte, ebenso wie gesunde Ernährung und regelmäßige sportliche Betätigung, Teil Ihres alltäglichen Lebens werden. Lassen Sie sich darauf ein, und Sie werden in der Lage sein, Ihre überdramatisierte Weltsicht durch eine faktengestützte Weltsicht zu ersetzen. Sie werden in der Lage sein, die Welt richtig zu erfassen, ohne Einzelheiten auswendig lernen zu müssen. Sie werden bessere Entscheidungen treffen, aufmerksam für reale Gefahren und Chancen bleiben und vermeiden, ständig wegen der falschen Dinge unter Stress zu stehen.

Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie überdramatisierte Geschichten erkennen können, und ich werde Ihnen einige Denkhilfen an die Hand geben, damit Sie Ihre dramatischen Instinkte besser unter Kontrolle bekommen. Dann werden Sie in der Lage sein, Ihre Trugschlüsse loszuwerden, eine faktengestützte Weltsicht zu entwickeln und die Schimpansen locker hinter sich zu lassen.

ZURÜCK IN DEN ZIRKUS

Gelegentlich betätige ich mich am Ende meiner Vorträge als Schwertschlucker, um ganz praktisch zu zeigen, dass das scheinbar Unmögliche möglich ist. Vor dieser Zirkusnummer habe ich regelmäßig das Faktenwissen meines Publikums über die Welt getestet. Ich werde den Leuten gezeigt haben, dass die Welt ganz anders ist, als sie geglaubt hatten. Ich werde ihnen bewiesen haben, dass viele der Veränderungen, von denen sie glaubten, dass sie nie geschehen würden, längst geschehen sind. Ich werde mich bemüht haben, ihre Neugier auf das zu wecken, was möglich ist, was etwas ganz anderes ist als das, was sie für möglich halten und was sie Tag für Tag in den Nachrichten sehen.

Ich schlucke das Schwert, weil ich möchte, dass die Leute erkennen, wie falsch ihre Intuition sein kann. Ich möchte, dass die Leute erkennen, dass das, was ich ihnen gezeigt habe – das Schwertschlucken ebenso wie das seriöse Material über die Welt, das ich davor präsentiert habe –, wahr ist, sosehr es ihren vorgefassten Ansichten widersprechen, so unmöglich es ihnen erscheinen mag.

Ich möchte nicht, dass die Menschen, wenn sie erkennen, dass sie mit ihrer Sicht der Welt falschlagen, beschämt sind. Ich möchte, dass sie dieses kindliche Gefühl von Verwunderung, Inspiration und Neugier verspüren, das ich aus der Erinnerung an den Zirkus kenne und das mich immer noch jedes Mal erfasst, wenn ich erkenne, dass ich mich mit meiner Sicht der Welt geirrt habe: »Wow, wie kann das denn sein?«

Dies ist ein Buch über die Welt, wie sie wirklich ist. Es ist auch ein Buch über Sie und darüber, warum Sie (und fast alle Menschen, denen ich jemals begegnet bin) die Welt nicht so sehen, wie sie ist. Und darüber, was Sie dagegen tun können und wie Sie sich dadurch positiver, weniger gestresst und hoffnungsvoller fühlen werden, wenn Sie aus dem Zirkuszelt wieder in die reale Welt zurückkehren.

Wenn Sie also mehr Interesse daran haben richtigzuliegen, als weiter in Ihrer irrealen Luftblase zu leben, wenn Sie willens sind, Ihre Weltsicht zu ändern, wenn Sie bereit sind, instinktive Reaktionen durch kritisches Denken zu ersetzen, und wenn Sie die Demut, die Neugierde und die Bereitschaft zu staunen empfinden, dann bitte ich Sie herzlich, weiterzulesen.

1

DER INSTINKT DER KLUFT

Wie ich eine Bestie im Klassenzimmer einfing, und zwar nur mithilfe eines Blatts Papier.

WO ALLES ANFING

Es war im Oktober 1995, und ich wusste noch nicht, dass ich am Abend nach meiner Seminarveranstaltung mit meinem Kampf gegen die globalen Trugschlüsse beginnen würde.

»Wie hoch ist die Rate der Kindersterblichkeit in Saudi-Ara­bien? Sie brauchen nicht die Hand zu heben, rufen Sie es mir einfach zu.« Ich hatte zuvor Kopien der Tabellen 1 und 5 aus dem UNICEF-Jahrbuch verteilt. Die Blätter wirkten etwas langweilig, dennoch war ich gespannt.

Die Studenten riefen einmütig: »35.«

»Ja, 35, das ist richtig. Das heißt, dass 35 von 1000 lebend geborenen Kindern nicht das fünfte Lebensjahr erreichen. Kennen Sie auch die Zahl für Malaysia?«

»14«, lautete die einstimmige Antwort.

Während mir die Zahlen zugerufen wurden, schrieb ich sie mit einem grünen Stift auf die Kunststofffolie im Overhead-Pro­jektor.

»14«, wiederholte ich. »Weniger als in Saudi-Arabien.«

Meine Schreibschwäche spielte mir einen kleinen Streich, und ich schrieb »Malaisya«. Die Studenten lachten.

»Und Brasilien?«

»55.«

»Tansania?«

»171.«

Ich legte den Stift weg und sagte: »Wissen Sie, warum ich die Zahlen zur Kindersterblichkeit für so wichtig halte? Es hat nicht nur damit zu tun, dass mir Kinder allgemein am Herzen liegen. Diese Kennziffer misst sozusagen die Temperatur einer Gesellschaft. Wie ein riesiges Thermometer. Denn Kinder sind sehr verletzlich. Es gibt so vieles, was sie umbringen kann. Wenn in Malaysia nur 14 von 1000 Kindern sterben, bedeutet das, dass die übrigen 986 überleben. Ihren Eltern und der Gesellschaft gelingt es, sie vor all den Gefahren zu schützen, die ihnen den Tod bringen könnten: Keime, Hunger, Gewalt und so weiter. Diese Zahl 14 sagt uns also, dass die meisten Familien in Malaysia genug zu essen haben, dass keine Abwässer in ihr Trinkwasser gelangen, dass sie einen guten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben und dass die Mütter lesen und schreiben können. Sie sagt uns nicht nur etwas über die Gesundheit der Kinder. Sie misst die Qualität der Gesamtgesellschaft.

Nicht die nackten Zahlen sind das Interessante. Sondern was sie uns über das Leben hinter diesen Zahlen sagen«, fuhr ich fort. »Schauen Sie sich an, wie unterschiedlich diese Zahlen sind: 14, 35, 55 und 171. Das Leben in diesen Ländern muss sehr unterschiedlich sein.«

Ich griff wieder zum Stift. »Wie war das Leben in Saudi-Arabien vor 35 Jahren? Wie viele Kinder starben 1960? Werfen Sie einen Blick in die zweite Spalte!«

»242.«

Die Lautstärke sank, als meine Studenten die beeindruckende Zahl nannten: 242.

»Ja, richtig. Die saudi-arabische Gesellschaft hat große Fortschritte erzielt, nicht wahr? Die Kindersterblichkeit ist in nur 35 Jahren von 242 auf 35 pro 1000 Neugeborene gefallen. Wesentlich schneller als in Schweden. Wir haben 77 Jahre gebraucht, um diese Verbesserung zu erreichen.

Und wie sieht es in Malaysia aus? Heute sind es 14. Wie viele waren es 1960?«

»93«, lautete die gemurmelte Antwort. Die Studenten hatten ihre Tabellen zu durchforsten begonnen, verblüfft und erstaunt. Ein Jahr vorher hatte ich meinen Studenten dieselben Beispiele vorgelegt, allerdings ohne Datentabellen, in denen sie nachschauen konnten, und sie hatten schlicht nicht glauben wollen, was ich ihnen über die Verbesserungen erzählt hatte, die überall auf der Welt erzielt worden waren. Die diesjährigen Studenten, die die Daten schwarz auf weiß vor sich hatten, ließen ihre Augen über die Spalten wandern, um herauszufinden, ob ich vielleicht besonders auffällige Länder herausgesucht hatte, um sie zu verwirren. Sie wollten dem Bild nicht glauben, das sie in den Daten zu sehen bekamen. Es sah ganz anders aus als das Bild der Welt, das sie im Kopf hatten.

»Nur damit Sie es wissen«, erklärte ich, »Sie werden kein Land finden, in dem die Kindersterblichkeit gestiegen ist. Denn generell verbessern sich die Verhältnisse auf der Welt. Machen wir jetzt eine kurze Kaffeepause.«

DER MEGATRUGSCHLUSS, DASS DIE WELT »IN ZWEI HÄLFTEN GETEILT« IST

In diesem Kapitel geht es um den ersten unserer dramatischen Instinkte, den Instinkt der Kluft. Damit meine ich die unwiderstehliche Versuchung, Dinge aller Art in zwei unterschiedliche und häufig in Konflikt miteinander stehende Gruppen zu teilen und uns dabei eine Kluft vorzustellen – einen riesigen Abgrund der Ungerechtigkeit –, die sich zwischen ihnen auftut. Es geht darum, wie der Instinkt der Kluft in den Köpfen der Menschen das Bild einer Welt entstehen lässt, die aufgeteilt ist in zwei Arten von Ländern oder zwei Arten von Menschen: die reichen und die armen.

Es ist nicht leicht, einen Trugschluss aufzuspüren. An jenem Oktoberabend im Jahr 1995 habe ich dieses Ungeheuer zum ersten Mal richtig zu Gesicht bekommen. Es geschah nach der Kaffeepause, und dieses Erlebnis war so aufregend, dass ich seitdem nicht mehr aufgehört habe, nach Megatrugschlüssen zu forschen.

Ich spreche von Megatrugschlüssen, weil sie maßgeblich dazu beitragen, dass die Menschen die Welt falsch wahrnehmen. Dieser erste Trugschluss ist der schlimmste. Indem er die Welt in zwei irreführende Schubladen einordnet – Arm und Reich –, verzerrt er alle globalen Proportionen im Denken der Menschen.

DEN ERSTEN MEGATRUGSCHLUSS AUFSPÜREN

Als die Lehrveranstaltung weiterging, erläuterte ich, dass die Kindersterblichkeit in den Stammesgesellschaften im Regenwald und unter den Bauern in entlegenen ländlichen Regionen in allen Teilen der Welt immer schon am höchsten war. »Bei jenen Menschen, die man in exotischen Fernsehdokumentationen sieht. Diese Eltern müssen härter als alle anderen darum ringen, ihre Familien am Leben zu erhalten, und dennoch verlieren sie fast die Hälfte ihrer Kinder. Zum Glück müssen immer weniger Menschen unter solch fürchterlichen Bedingungen leben.«

Ein Student in der ersten Reihe hob die Hand. Er neigte den Kopf und sagte: »Die werden nie wie wir leben können.« Viele andere Studenten nickten zustimmend.

Der junge Mann dachte vielleicht, ich würde überrascht reagieren. Das tat ich nicht. Das war genau jene Aussage über eine »Kluft«, die ich schon so oft gehört hatte. Ich war keineswegs überrascht. Vielmehr hatte ich darauf gehofft. Unser Dialog entwickelte sich dann etwa folgendermaßen:

Ich: Entschuldigen Sie, was meinen Sie mit »die«?

Er: Die Menschen in anderen Ländern.

Ich: In allen anderen Ländern außer Schweden?

Er: Nein, ich meine … die Menschen in den nicht westlichen Ländern. Sie können nicht leben wie wir. Das wird nicht gehen.

Ich: Aha! (Als wenn ich es jetzt verstehen würde.) Sie meinen Länder wie Japan?

Er: Nein, nicht Japan. Dieses Land hat eine westliche Lebensart.

Ich: Und was ist mit Malaysia? Dieses Land hat keine »westliche Lebensart«, richtig?

Er: Nein, Malaysia ist kein westliches Land. Alle Länder, die noch nicht die westliche Lebensart übernommen haben. Die Menschen dort sollten nicht so leben. Sie wissen, was ich meine.

Ich: Nein, ich weiß nicht, was Sie meinen. Erklären Sie es mir bitte. Sie reden vom »Westen« und vom »Rest der Welt«. Ist das richtig?

Er: Ja, genau.

Ich: Gehört Mexiko … zum »Westen«?

Er schaute mich nur an.

Ich wollte ihn nicht in die Enge treiben, aber ich machte weiter, denn ich war gespannt, wohin das führen würde. Gehörte Mexiko zum »Westen«, und konnten die Mexikaner so leben wie wir? Oder würden sie leben müssen wie der »Rest der Welt«?

»Ich bin verwirrt«, sagte ich. »Sie haben mit ›die und wir‹ angefangen und sind dann auf ›den Westen und den Rest der Welt‹ gekommen. Ich möchte gern verstehen, was Sie meinen. Ich habe diese Bezeichnungen schon sehr oft gehört, aber ich habe sie nie verstanden.«

Jetzt kam ihm eine junge Frau in der dritten Reihe zu Hilfe. Sie nahm meine Herausforderung an, jedoch auf eine Weise, die mich völlig verblüffte. Sie deutete auf das große Stück Papier, das vor ihr lag, und sagte: »Vielleicht könnten wir es folgendermaßen definieren: ›Wir im Westen‹ haben weniger Kinder, und nur wenige dieser Kinder sterben. Während ›die Menschen im Rest der Welt‹ viele Kinder haben, von denen auch viele sterben.« Sie wollte den Konflikt zwischen der Denkweise ihres Kommilitonen und meinem Datensatz auflösen – auf eine sehr kreative Weise, das muss man sagen –, indem sie eine Definition vorschlug, wie man die Welt unterteilen könnte. Das freute mich. Weil sie vollkommen falschlag – wie sie bald selbst erkennen sollte –, und zwar irrte sie sich auf eine konkrete Weise, an der ich ansetzen konnte.

»Sehr schön, gut.« Ich griff zu meinem Stift und legte los. »Schauen wir mal, ob wir die Länder in zwei Gruppen einteilen können, bezogen auf die Zahl der Kinder, die dort geboren werden, und die Zahl der Kinder, die sterben.«

Die Skepsis auf den Gesichtern wich nun der Neugier, denn die Studenten wollten herausfinden, was mich so fröhlich gestimmt hatte.

Mir gefiel die Definition der Studentin, weil sie so eindeutig war. Wir konnten sie anhand der Daten überprüfen. Wenn man Menschen überzeugen möchte, dass sie einem Trugschluss erliegen, ist es sehr hilfreich, wenn man ihre Ansichten unter Bezug auf konkrete Daten überprüfen kann. Das tat ich jetzt.

Und damit habe ich mich während der restlichen Zeit meines Arbeitslebens beschäftigt. Das große graue Kopiergerät, mit dem ich die Original-Datentabellen fotokopierte, war mein erster Verbündeter beim Kampf gegen diese Trugschlüsse. 1998 dann hatte ich einen neuen Partner – einen Farbdrucker, der es mir ermöglichte, meinen Studenten farbige Blasendiagramme der Länder­daten vorzulegen. Dann heuerte ich meine ersten menschlichen Partner an, und die Dinge beschleunigten sich. Anna und Ola waren so fasziniert von diesen Grafiken und Diagrammen und von meiner Idee, Trugschlüsse aufzudecken, dass sie meine Sache zu der ihren machten und durch Zufall eine neue, revolutionäre Methode entwickelten, die es ermöglicht, Hunderte von Datentrends als animierte Blasendiagramme darzustellen. Das Blasendiagramm wurde zu unserer bevorzugten Waffe in unserem Kampf darum, den Trugschluss zu widerlegen, dass »die Welt in zwei Hälften geteilt« sei.

WAS STIMMT NICHT MIT DIESEM BILD?

Meine Studenten sprachen von »sie« und »wir«. Andere reden von den »Entwicklungsländern« und den »entwickelten Ländern«. Wahrscheinlich verwenden auch Sie diese Bezeichnungen. Was stimmt damit nicht? Journalisten, Politiker, politische Aktivisten, Lehrer und Forscher benutzen sie ständig.

Wenn von »Entwicklungsländern« und »entwickelten Ländern« die Rede ist, sind damit meistens »arme Länder« und »reiche Länder« gemeint. Ich höre oft auch die Gegensätze »der Westen und der Rest der Welt«, »Nord und Süd«, »Länder mit niedrigem Einkommen und Länder mit hohem Einkommen«. Wie auch immer, es spielt eigentlich keine Rolle, welche Begriffe die Menschen zur Beschreibung der Welt verwenden, solange die Worte relevante, sachbezogene Bilder in ihren Köpfen entstehen lassen und etwas bezeichnen, das eine Grundlage in der Wirklichkeit besitzt. Doch welche Bilder befinden sich tatsächlich in ihren Köpfen, wenn sie diese einfachen Begriffe benutzen? Und wie verhalten sich diese Bilder zur Wirklichkeit?

Überprüfen wir sie anhand der Daten. Die nachfolgende Grafik zeigt für alle Länder der Welt die Anzahl der Kinder pro Frau und die Überlebensraten der Kinder.

Jede Blase im Diagramm repräsentiert ein Land, wobei die Größe der Blase die Größe der Bevölkerung dieses Landes darstellt. Die größten Blasen sind Indien und China. Auf der linken Seite des Diagramms finden sich jene Länder, in denen die Frauen viele Kinder bekommen, rechts sind jene, in denen die Frauen wenige Kinder haben. Je weiter oben ein Land in der Grafik angesiedelt ist, umso höher ist die Überlebensrate der Kinder in diesem Land. Dieses Diagramm setzt genau den Vorschlag der Studentin aus der dritten Reihe um, die anregte, die Länder nach zwei Gruppen zu unterteilen: »Wir und sie« oder »der Westen und der Rest der Welt«. Hier habe ich die beiden Gruppen als »entwickelte Länder« und »Entwicklungsländer« bezeichnet.

Man beachte, wie schön sich die Länder der Welt in den beiden Kästen verteilen: der entwickelten und der sich entwickelnden Welt. Zwischen den beiden Kästen gibt es eine deutliche Kluft, die 15 kleinere Länder enthält (dazu gehören auch Kuba, Irland und Singapur), in denen zusammengenommen nur zwei Prozent der Weltbevölkerung leben. Im Kasten »Entwicklungsländer« befinden sich 125 Blasen, darunter auch China und Indien. In all diesen Ländern bekommen die Frauen durchschnittlich fünf oder mehr Kinder, und die Kindersterblichkeit ist hoch: Weniger als 95 Prozent der Kinder überleben, was heißt, dass mehr als fünf Prozent der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag sterben. Die andere Box, die »entwickelten Länder«, umfasst 44 Blasen, wozu auch die USA und die meisten europäischen Länder gehören. In all diesen Ländern bringen die Frauen durchschnittlich weniger als 3,5 Kinder zur Welt, und die Überlebensrate der Kinder liegt über 90 Prozent.

Die Welt teilt sich in diese beiden Kästen auf. Das sind exakt jene zwei Kästen, die sich die besagte Studentin vorstellte. Das Bild zeigt klar, dass die Welt in zwei Gruppen aufgeteilt ist und sich zwischen diesen beiden Gruppen eine Kluft auftut. Wie schön. Was für eine leicht zu verstehende Welt! Wo liegt also das Problem? Warum ist es falsch, Länder als »entwickelt« oder »sich in der Entwicklung befindlich« einzustufen? Warum habe ich es meinen Studenten, die von »wir« und »sie« sprachen, so schwer gemacht?

Weil dieses Bild die Welt des Jahres 1965 zeigt! Als ich ein junger Mann war. Das ist das Problem! Würden Sie eine Straßenkarte von 1965 verwenden, wenn Sie durchs Land fahren? Würden Sie sich wohlfühlen, wenn sich Ihr Doktor bei Ihrer Untersuchung und Behandlung auf die neuesten medizinischen Erkenntnisse von 1965 stützen würde? Die oben stehende Grafik zeigt, wie die Welt heute aussieht.

Die Welt hat sich völlig geändert. Heute sind kleine Familien vorherrschend, und in den allermeisten Ländern, auch in den größten, in Indien und China, ist die Kindersterblichkeit nur noch gering. Werfen Sie einen Blick auf die linke untere Ecke. Hier ist der Kasten praktisch leer. Alle Länder streben in die kleine Box, wo nur wenige Kinder geboren werden und viele überleben. Und die meisten Länder sind auch bereits dort angekommen. Rund 85 Prozent der Menschheit befinden sich in dieser Box, die mit der Bezeichnung »entwickelte Länder« überschrieben ist. Die restlichen 15 Prozent bewegen sich überwiegend im Bereich zwischen den beiden Boxen. Nur 13 Länder, die sechs Prozent der Weltbevöl­kerung repräsentieren, befinden sich noch in der Box »Entwicklungsländer«. Die Welt hat sich verändert, die Sicht auf die Welt dagegen nicht, zumindest nicht in den Köpfen der »westlichen« Menschen. Die meisten von uns haben noch eine völlig überholte Vorstellung vom Rest der Welt.

Die grundlegende Veränderung der Welt, die ich hier dargestellt habe, beschränkt sich nicht auf die Familiengröße und die Kindersterblichkeit. Auch in Bezug auf nahezu alle übrigen Aspekte des menschlichen Lebens haben sich ähnliche Veränderungen vollzogen. Diagramme, die das Einkommensniveau, den Tourismus, den Zugang zu Bildung oder Elektrizität darstellen, würden alle die gleiche Geschichte erzählen: dass die Welt früher in zwei Teile geschieden war, was aber heute nicht mehr der Fall ist. Heute befinden sich die meisten Menschen irgendwo im mittleren Bereich. Es gibt keine Kluft mehr zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern, zwischen Reich und Arm. Wir sollten daher auf­hören, diese schlichten Kategorienpaare zu verwenden, die einen derartigen Gegensatz suggerieren.

Meine Studenten waren engagierte, aufgeschlossene junge Menschen, die die Welt verbessern wollen. Ich war entsetzt dar­über, dass sie so wenig wussten von den grundlegenden Fakten über die Welt. Ich war schockiert, dass sie noch immer von zwei Gruppen ausgingen, von »wir« und »sie«, dass sie davon sprachen, »sie« könnten nicht so leben wie »wir«. Wie war es möglich, dass sie eine 30 Jahre alte Weltsicht mit sich herumtrugen?

Als ich an diesem Abend im Oktober 1995 mit dem Fahrrad durch den Nieselregen nach Hause fuhr, mit klammen Fingern, da hatte ich Feuer gefangen. Mein Plan hatte geklappt. Indem ich die Daten in den Seminarraum geholt hatte, hatte ich meinen Studenten beweisen können, dass die Welt nicht in zwei Hälften gespalten ist. Mir war es gelungen, ihre Trugschlüsse aufzudecken. Nun verspürte ich den Wunsch, den Kampf weiterzuführen und auszuweiten. Mir wurde klar, dass ich die Daten noch klarer fassen und noch deutlicher präsentieren musste. Das würde es mir ermöglichen, noch mehr Menschen auf noch überzeugendere Weise aufzuzeigen, dass ihre Ansichten und Meinungen nichts anderes waren als unbegründete Gefühle. Das würde mir helfen, ihre Illusionen zu erschüttern, dass sie über Dinge Bescheid wüssten, von denen sie in Wirklichkeit nur eine vage Ahnung hatten.

Zwei Jahrzehnte später sitze ich in einem modernen Fernsehstudio in Kopenhagen. Die »geteilte« Weltsicht ist 20 Jahre älter, 20 Jahre überholter. Wir sind live auf Sendung, der Journalist neigt seinen Kopf und sagt zu mir: »Wir sehen noch immer einen enormen Gegensatz zwischen dem kleinen reichen Teil der Welt, hauptsächlich dem Westen, und dann dem großen Teil der Welt.«

»Das ist völlig falsch«, erwidere ich.

Abermals erläutere ich, dass es die »armen Entwicklungsländer« als klar abgegrenzte Gruppe nicht mehr gibt. Dass es keine Kluft gibt. Heute leben 75 Prozent der Menschen in Ländern mit mittlerem Einkommen. Sie sind nicht arm, nicht reich, sondern irgendwo in der Mitte und fangen an, ein vernünftiges Leben zu führen. Am einen Ende der Skala gibt es noch immer einige Länder, in denen der Großteil der Bevölkerung in extremer und unakzeptabler Armut lebt; am anderen Ende liegen die reichen Länder Nordamerikas und Europas sowie einige weitere Länder wie Japan, Südkorea und Singapur. Doch die große Mehrheit befindet sich in der Mitte.

»Und worauf stützen Sie dieses Wissen?«, fragte der Journalist, offenkundig bemüht, mich zu provozieren. Und damit hatte er auch Erfolg. Ich ärgerte mich, und meine Erregung war in meiner Stimme und meinen Worten spürbar: »Ich verwende gewöhnliche Statistiken, die von der Weltbank und den Vereinten Nationen erstellt werden. Die sind unumstritten. Diese Tatsachen stehen nicht zur Diskussion. Ich habe recht, und Sie haben unrecht.«

DIE BESTIE EINFANGEN

Nachdem ich nun seit zwei Jahrzehnten gegen den Trugschluss einer geteilten Welt kämpfe, überrascht es mich nicht mehr, wenn ich darauf stoße. Meine Studenten waren keine Ausnahme. Der besagte dänische Fernsehjournalist war auch keine Ausnahme. Die große Mehrheit der Menschen, denen ich begegne, denkt ebenso. Wenn auch Sie skeptisch sind bezüglich meiner Behauptung, dass viele Menschen eine falsche Vorstellung haben, dann ist das gut. Man sollte für derartige Behauptungen immer Beweise verlangen. Hier kommen diese Beweise, und zwar in Form einer zweiteiligen Trugschlussfalle.

Zuerst fanden wir heraus, wie die Leute sich das Leben in den Entwicklungsländern vorstellten, indem wir ihnen Fragen wie die folgende aus dem Test am Beginn des Buchs stellten.

FAKTENFRAGE 1

Wie viele Mädchen absolvieren heute die Grundschule in den Ländern mit niedrigem Einkommen?

☐ A: 20 Prozent☐ B: 40 Prozent☐ C: 60 Prozent

Im Durchschnitt kreuzten nur sieben Prozent der Befragten die richtige Antwort an. Es ist C: In den Ländern mit niedrigem Einkommen schließen 60 Prozent der Mädchen die Grundschule ab. (Erinnern Sie sich, 33 Prozent der Schimpansen im Zoo hätten die Frage richtig beantwortet.) Die Mehrzahl der Probanden »schätzte«, dass es 20 Prozent seien. Es gibt nur sehr wenige Länder auf der Welt, etwa Afghanistan oder Südsudan, wo weniger als 20 Prozent der Mädchen die Grundschule absolvieren, und höchstens zwei Prozent aller Mädchen weltweit leben in solchen Ländern.

Als wir ähnliche Fragen bezüglich der Lebenserwartung, der Unterernährung, der Wasserqualität und der Impfquoten stellten – im Grunde also danach fragten, wie hoch in den Ländern mit niedrigem Einkommen der Anteil der Menschen ist, die Zugang zu den Grundelementen eines modernen Lebens haben –, erhielten wir ähnliche Ergebnisse. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Ländern mit niedrigem Einkommen beträgt 62 Jahre. Die meisten Menschen haben genügend zu essen, die meisten Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser, die meisten Kinder sind geimpft, und die meisten Mädchen schließen die Grundschule ab. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Befragten – wesentlich weniger als die 33 Prozent bei den Schimpansen – gab die richtigen Antworten, der weit überwiegende Teil entschied sich für die schlimmste Antwortmöglichkeit, die wir nannten, auch wenn diese Zahlen auf ein Niveau von Elend und Not hinwiesen, das nur nach verheerenden Katastrophen in den rückständigsten Gebieten der Erde verzeichnet wurde.

Lassen wir nun die Falle zuschnappen und machen wir den Trugschluss dingfest. Wir wissen, dass die Menschen glauben, dass das Leben in den Ländern mit niedrigem Einkommen wesentlich schlimmer sei, als es tatsächlich der Fall ist. Wie viele Menschen aber müssen nach Ansicht der Befragten ein solches Leben führen? Wir fragten Leute in Schweden und den USA:

Wie groß ist der Anteil der Weltbevölkerung, der in Ländern mit niedrigem Einkommen lebt?

Die Mehrheit der Befragten meinte, es seien 50 Prozent oder mehr. Durchschnittlich schätzten sie 59 Prozent.

Der tatsächliche Anteil beträgt neun Prozent. Nur neun Prozent der Menschen leben in Ländern mit niedrigem Einkommen. Wie Sie sich erinnern, haben wir eben dargestellt, dass die Lebensbedingungen in diesen Ländern bei Weitem nicht so schlimm sind, wie die meisten Leute meinen. Sie sind in vielfacher Hinsicht durchaus schlimm, aber sie liegen nicht auf oder unter dem Niveau von Afghanistan, Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik, jenen Ländern auf der Erde mit den schlechtesten Lebensbedingungen.

Zusammenfassend kann man sagen: Länder mit niedrigem Einkommen sind wesentlich weiter entwickelt, als gemeinhin angenommen wird. Auch die Zahl der Menschen, die in solchen Ländern leben, ist wesentlich geringer, als viele vermuten. Die Vorstellung einer geteilten Welt, in der die Mehrheit in Not und Elend lebt, ist eine Illusion. Ein kompletter Trugschluss. Schlicht falsch.

HILFE, WO IST DIE MEHRHEIT?

Wenn die meisten Menschen nicht in Ländern mit niedrigem Einkommen leben, wo leben sie dann? Sicher doch nicht in Ländern mit hohem Einkommen?

Wie haben Sie gern Ihr Badewasser? Eiskalt oder kochend heiß? Natürlich sind das nicht die einzigen Alternativen. Das Wasser kann auch eisig, lauwarm oder siedend sein oder irgendwie dazwischen. Es gibt viele Möglichkeiten, viele Abstufungen.

FAKTENFRAGE 2

Wo lebt die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung?

☐ A: In Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen☐ B: In Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen☐ C: In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen

Die Mehrheit der Menschen lebt weder in Ländern mit niedrigem noch in Ländern mit hohem Einkommen, sondern in Ländern mit mittlerem Einkommen. Diese Kategorie gibt es nicht in der Vorstellung einer geteilten Welt, in der Wirklichkeit existiert sie aber sehr wohl. In diesen Ländern leben 75 Prozent der Weltbevölkerung, also gerade da, wo eigentlich die Kluft sein soll. Oder anders gesagt, es gibt keine Kluft.

Nimmt man die Länder mit mittlerem und hohem Einkommen zusammen, kommt man auf 91 Prozent der Menschheit, von denen sich die meisten in den Weltmarkt eingegliedert und große Fortschritte erzielt haben auf dem Weg zu einem auskömmlichen Leben. Dies ist eine erfreuliche Erkenntnis für Menschenfreunde und ein entscheidender Faktor für die global tätigen Unternehmen. Es gibt fünf Milliarden potenzielle Verbraucher auf der Welt, die ihren Lebensstandard im mittleren gesellschaftlichen Segment verbessern und ebenfalls Shampoo, Motorräder, Damen­binden und Smartphones besitzen oder konsumieren wollen. Diese Menschen kann man leicht übersehen, wenn man ständig nur auf der Suche nach den »Armen« ist.

WELCHE BEZEICHNUNG SOLLEN »WIR« DANN FÜR »SIE« VERWENDEN? DIE VIER STUFEN

Ich werde oft etwas ungehalten, wenn in meinen Vorträgen der Begriff »Entwicklungsländer« fällt. Anschließend fragen mich die Menschen: »Wie sollen wir diese Länder stattdessen nennen?« Aber dieser Frage liegt der gleiche Trugschluss zugrunde: wir und sie. Welche Bezeichnung sollten »wir« also stattdessen für »sie« verwenden?

Wir sollten aufhören, die Länder der Welt in zwei Gruppen zu unterteilen. Das ist heute nicht mehr sinnvoll. Es hilft uns nicht dabei, die Welt praktisch zu verstehen. Es hilft Unternehmen nicht, Geschäftsmöglichkeiten aufzuspüren, und es trägt nicht dazu bei, dass Entwicklungshilfegelder den Weg zu den Ärmsten finden.

Dennoch müssen wir gewisse Unterscheidungen treffen, um die Welt zu begreifen. Wir können unsere alten Etikettierungen nicht einfach ersatzlos aufgeben und sie ersetzen durch … nichts. Was sollen wir also tun?

Die alten Etikettierungen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie so einfach sind. Aber sie sind falsch! Um sie zu ersetzen, möchte ich nachfolgend eine ebenso einfache, aber wesentlich relevantere und sinnvollere Möglichkeit zur Untergliederung der Welt skizzieren. Anstatt die Welt in zwei Gruppen zu unterteilen, werde ich sie nach vier Einkommensniveaus gliedern, die in der folgenden Grafik dargestellt werden.

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