Fairy Tale - Cyn Balog - E-Book

Fairy Tale E-Book

Cyn Balog

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Beschreibung

*** Es wird magisch! *** Morgan hat es richtig gut erwischt: ihr Freund Cam sieht mega gut aus und ist der totale Traumtyp, um den sie jedes Mädchen beneidet. Doch das Blatt wendet sich unerwartet. Morgan findet heraus, dass Cam ihr etwas Grundlegendes verschwiegen hat: Er ist in Wahrheit der zukünftige König des Elfenreichs und muss in ein paar Tagen für immer dorthin zurückkehren. Geschockt setzt Morgan alles daran, um dies zu verhindern. Doch die Elfen kämpfen unerbittlich darum, ihren künftigen Herrscher für ihr Reich zurückzugewinnen und greifen dabei auch zu unfairen Mitteln. Wird Morgan es schaffen, ihre Liebe zu retten? Humorvoll fantastische Liebesgeschichte, die sofort verzaubert! Digitale Originalausgabe des Titels "Fairy Tale. Verliebt in einen Elf", 2012 im Arena Verlag erschienen.

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Seitenzahl: 318

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Cyn Balog

Fairy Tale

Von dir verzaubert

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hans Link

Digitale Originalausgabe

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digi:tales

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017

Covergestaltung: Jacqueline Kauer

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist in deutscher Sprache erstmals 2012 unter dem Titel Fairy Tale. Verliebt in einen Elf beim Arena Verlag erschienen.

E-Book-Herstellung: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN: 978-3-401-84023-8

www.arena-verlag.de

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Für Sara

1

Die meisten finden mich unheimlich.

Vielleicht, weil ich an einem stinknormalen Tag wie diesem Adriana Miles gesagt habe, dass sie in Hollywood verhungern, Erica Fuentes, dass sie in Geschichte durchrasseln, und Wendell Marks, dass er es nie, niemals in die Riege der Topschauspieler schaffen wird, ganz gleich, wie sehr er sich bemüht – und das alles vor elf Uhr morgens.

Inzwischen ist der Schultag rum und ich sitze auf der Tribüne vom Sportplatz, werfe hin und wieder einen Blick auf das unbedeutende Freundschaftsspiel der Hawks unten auf dem Spielfeld und warte darauf, dass mir ein namenloser Neuntklässler meine Pommes frites bringt (Hellseher können nicht mit leerem Magen arbeiten), nachdem ich gerade auch den vierten Kunden des Tages zum Weinen gebracht habe (okay, Wendell hat nicht geweint; er hat nur so getan, als müsse er gähnen, sich eine Hand vor den Mund gehalten und ein jämmerliches Gurgeln ausgestoßen). Aber hey, die Zukunft kann manchmal beängstigend sein.

Sierra Martin weigert sich, mich anzusehen. Stattdessen hat sie ein unnatürliches Interesse an dem Schokoriegelpapier entwickelt, das zwischen den Metallplanken klemmt, auf denen ihre paillettenbesetzten Flipflops stehen. Eine Träne fällt zwischen ihren solariumgebräunten Knien nach unten und landet exakt auf dem pornorot lackierten Nagel ihres großen Zehs.

»Tut mir leid«, sage ich, klopfe ihr tröstend auf die Schulter und biete ihr ein paar Tic Tacs an. »Wirklich.«

Manchmal nervt diese Gabe ganz schön. Es gibt Tage, da habe ich echt nur gute Nachrichten – BMWs als Schulabschlussgeschenke, mit Glanz bestandene Prüfungen, so was halt. Heute dagegen war wirklich nur Mist dabei. Und ja, es muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, dass ich Sierra, deren Eltern sie auf Harvard getrimmt haben, über den Campus des Middlesex Community College zum Physik-Grundkurs habe gehen sehen, aber das ist schließlich nicht meine Schuld. Ich überbringe die Botschaft nur; ich schreibe sie nicht.

»Bist du dir … si-sicher?«, fragt sie schniefend und wischt sich mit dem Handrücken über die Nase.

Ich seufze. Das fragen sie jedes Mal und ich gebe jedes Mal die gleiche Antwort: »Tut mir leid, aber ich habe mich noch nie geirrt.«

Ich weiß, das klingt wahrscheinlich total eingebildet, aber genauso ist es nun mal. Seit meinem ersten Jahr hier habe ich die Zukunft von Dutzenden Schülern der Stevens High korrekt vorausgesagt. Angefangen hat alles jedoch schon lange vorher, auf der Junior-Highschool, als ich bei jeder Reality-Fernsehshow, die es da draußen gab, richtig geraten habe, wer gewinnen würde. Manchmal musste ich mich richtig anstrengen, um die Antwort zu finden, doch dann wieder wachte ich morgens auf und sah das Gesicht des Siegers strahlend hell vor mir. Schon bald begann ich, meine Fähigkeiten an meinen Freunden auszuprobieren und an den Freunden meiner Freunde, und es dauerte nicht lange, bis jeder Zweite in der Schule meine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Im Ernst, hellseherische Kräfte bringen einem mehr Ansehen ein als der Führerschein oder eine komplette Garderobe von Marc Jacobs.

Sierra wirft sich die fusseligen maiskolbenblonden Korkenzieherlocken über die Schultern und richtet sich auf. »Vielleicht hast du ja jemand anderen gesehen. Jemand, der mir ähnlich sieht. Kann das nicht sein?«

Nein, definitiv nicht. Sierra hat einen total abgedrehten Stil, wie Andy Warhol auf Crack. Alltagsgegenstände, die im Haus herumliegen, geben nun mal nicht immer geschmackvolle Accessoires ab. Aber ich zucke nur die Achseln, da ich nicht in Stimmung bin zu erklären, dass die Hölle eher zu einem Skiparadies würde, bevor zwei Menschen auf dieser Erde es okay fänden, sich ihren Pferdeschwanz mit einer Lakritzstange zusammenzubinden, und verrenke mir den Hals in Richtung Imbissstand. Ich bin halb verhungert. Wo bleiben meine Pommes?

»Ich meine, ich habe zweitausenddreihundert Punkte in meinem College-Eignungstest bekommen«, jammert sie weiter, aber das hat sie mir und dem Rest der Schule schon ungefähr eine Milliarde Mal erzählt. Sie hätte es genauso gut auf CNN verkünden lassen können. Nur hat sie leider nicht bedacht, dass es überall im Land Tausende anderer Schüler gibt, die ebenfalls mit dieser Punktzahl abgeschnitten haben und obendrein als Wahlfach einen Leistungskurs in Physik oder Integralrechnung belegt haben statt den Schauspielkurs. Jeder weiß, dass Sierra Martin sich selbst ein Bein gestellt hat, als sie sich entschied, es in diesem Jahr mal ein bisschen lockerer anzugehen.

Seht ihr, ich bin gar nicht so gruselig. In Wahrheit strengen die meisten Leute ihr Gehirn einfach nur nicht genug an, um das Offensichtliche zu erkennen. Zum Teil steckt bloß gute Menschenkenntnis dahinter, wie bei diesen britischen Detektiven im Fernsehen. Elementar, mein lieber Watson. Das Opfer wurde im Billardzimmer von Colonel Mustard mit dem Kerzenleuchter erschlagen – und Sierra taugt nun mal nicht für Harvard.

»Wir müssen die Welle machen«, sagt Eden und packt meinen Arm. Sie sieht mich nicht mal an dabei, denn ihre Aufmerksamkeit ist wie immer vollkommen auf das Spiel konzentriert. »Sie brauchen uns.«

Ich werfe ihr einen schiefen Blick zu. »Es ist ein Freundschaftsspiel.« Sie zieht mit einem Schmatzen einen halb gelutschten Lolli mit Kaugummifüllung aus dem Mund und fragt: »Na und?«

»Okay, bitte, tu, was du nicht lassen kannst«, seufze ich, obwohl ich wünschte, sie würde es nicht tun.

Sie dreht sich zu dem Dutzend Schüler auf der Tribüne um, legt die Hände trichterförmig an den Mund und schreit: »Okay, lasst uns die Welle machen!« Ihr kastanienbraunes Haar weht hinter ihr her wie ein Kometenschweif, während sie so schnell, wie ihre mageren, sommersprossigen Beine sie tragen, zum rechten Rand der Sitzreihen rennt. Sie rudert mit den Armen und sagt zu der Handvoll Leute dort: »Ihr zuerst. Fertig? Eins, zwei, drei: Los!«

Ich spare mir die Mühe, mich umzudrehen. Ich weiß, dass niemand mitmacht. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand – bei einem Freundschaftsspiel La Ola zu machen ist echt bescheuert. Eigentlich ist es sowieso total bescheuert, eine Welle zu machen. Und niemand wird auf die arme Miss Möchtegern-Cheerleader hören.

Sie schaut mich böse an und schreit: »Morgan!«, als sie an mir vorbeistürmt, sodass ich mich genötigt fühle, halb aufzustehen. Ich hebe ein wenig die Hände und mache »Wuh!«. Sierra bemerkt Edens Ausbruch gar nicht, weil sie immer noch von ihren drei Jahren als Herausgeberin des Jahrbuchs faselt, als könnte sie ihre Chancen, auf eine Elite-Uni zu kommen, erhöhen, indem sie mir ihre ganze Lebensgeschichte auftischt.

Ein paar Sekunden später kommt Eden geschlagen zurück und lässt sich neben mir auf die Bank plumpsen. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht sind vollkommen in der tiefen Stirnfalte über ihrer Nase verschwunden. »Diese Schule hat keinen Teamgeist.«

Die Ironie des Schicksals will es, dass meine beste Freundin Eden McCarthy, die wahrscheinlich mehr Schulgeist im kleinen Finger hat als alle anderen Schüler zusammen, es nicht in das Cheerleader-Team geschafft hat. Aber um Cheerleader zu werden, reicht Begeisterung allein eben nicht. Neben Eden würde sogar eine Kuh anmutig wirken. Ich sage: »Hey, du hast es zumindest versucht. Was zählt, ist der gute Wille«, und klopfe ihr auf den Rücken.

»Aber Morgan«, jammert sie, »das da unten ist Cameron. Er steht kurz vor dem nächsten Touchdown.«

Zum ersten Mal seit einer halben Stunde schaue ich aufs Spielfeld. Und tatsächlich, die Hawks sind an der Ten Yard Line. Ich beobachte, wie der Ball bei meinem Freund, Cameron Browne, landet. Er gräbt die Stollen seiner Nikes in den Rasen, holt aus und wirft einen perfekten Pass auf den Wide Receiver, der im nächsten Moment getackled wird. »Oh. Gut.«

»Du könntest ehrlich ein bisschen mehr Begeisterung zeigen«, seufzt Eden.

»Ach komm, du hast doch genug Teamgeist für uns beide«, erwidere ich und umarme sie, obwohl mich ihre Bemerkung irgendwie ärgert. Natürlich unterstütze ich Cam. Sonst hätte ich mir nicht im letzten Oktober jeden Samstagabend den Hintern auf den Zuschauerrängen abgefroren, wässrigen Kakao geschlürft und dabei zugesehen, wie meine sorgfältig manikürten Fingernägel blau und blauer wurden. »Außerdem ist es nur ein Freundschaftsspiel.«

Aber egal. Wer Cam kennt – und das tue ich, weil wir praktisch seit dem Kindergarten unzertrennlich sind –, weiß, dass er kein jubelndes Publikum braucht, um den Gegner plattzumachen. Er ist einfach unglaublich gut, und das ist auch der Grund, weshalb er als einziger Zehntklässler schon in der ersten Auswahl des Football-Teams steht. In der Sonntagsausgabe des Star-Ledger stand mal, ich zitiere: »Es scheint, dass Cam Browne einfach alles kann.«

Und, ähem, er gehört mir.

»Klasse, Mann!«, rufe ich laut, vor allem, um Eden zu beschwichtigen, und pfeife auf zwei Fingern. Nur wenige Mädchen können das, aber ich habe eben viel Übung. Denn Cam Browne »kann einfach alles«. Und dementsprechend oft gibt es Grund, ihn mit einem anerkennenden Pfiff zu würdigen. Er dreht sich um, grinst, hebt dann drei Finger hoch, führt sie an die Lippen und deutet damit auf mich. Eins, zwei, drei. Das ist unser Geheimcode für: »Ich liebe dich.« Weil wir schon zusammen waren, als die anderen Kinder in unserer Klasse sich noch im »Igitt! Küssen ist eklig!«-Stadium befanden, haben wir gelernt, alles geheim zu halten, was irgendwie kitschig und romantisch ist. Damals hing unser Überleben davon ab. Jetzt ist es Gewohnheit.

»Eins und zehn, lasst’s uns sehen!«, brüllt Eden einen weiteren beliebten Hawkettes-Cheer. Sie kennt sie alle auswendig. Glücklicherweise verkneift sie sich die dazugehörigen Armbewegungen, sonst könnte ich mich, glaube ich, nicht mehr mit ihr sehen lassen.

Sierra muss gemerkt haben, dass ich ihr nicht mehr zuhöre. Sie räuspert sich. »Ich weiß, dir ist es egal, aber für mich ist das wahnsinnig wichtig.«

Das ist das Schlimmste daran, wenn man Highschoolkids die Zukunft vorhersagt: Sie sind so unsicher. Man kann nicht einfach der allwissende Prophet sein, der den lieben Tag lang weise Glückskekssprüche ausspuckt – man muss hinterher auch noch einen auf Seelsorge machen. »Es ist mir nicht egal, Sierra. Glaub mir, es tut mir echt leid für dich. Aber du musst nach vorn schauen. Darüberstehen.«

»Du hast leicht reden. Du hast dich vermutlich schon in Yale gesehen«, erwidert sie verbittert.

Ich schüttele den Kopf. »Ich bin nicht sehr gut darin, meine eigene Zukunft vorauszusehen.«

Es ist irgendwie wie bei einem Dschinn; da habe ich diese fantastische Gabe und kann sie nicht bei mir selbst einsetzen. Aber das ist okay für mich. Ich bin erst im zweiten Highschooljahr und auch wenn ich keine Ahnung habe, auf welches College ich gehen soll, scheint ansonsten alles klar. Ich weiß, dass meine Zukunft mit Cam stattfinden wird. Ich weiß, dass er und ich aufs selbe College gehen werden oder zumindest auf Colleges, die nicht weit voneinander entfernt liegen. Schließlich wohnen wir Tür an Tür und wir kennen einander beinahe, seit wir laufen können. Wir werden beide am 15. Oktober sechzehn. Wir kennen einander so gut, dass ich quer über ein ganzes Football-Feld sehe, wenn er einen schlechten Tag hat.

Aber Cam hat selten schlechte Tage. Heute ist er wie gewöhnlich in Topform.

»Auf geht’s, Jungs! Macht sie fertig! V-O-R-W-Ä-R-T-S!«, schreit Eden, während Sara Phillips, eine echte Cheerleaderin, vorbeischlendert und die Augen verdreht.

Eden scheint es nicht zu bemerken. Sie ist in so vielen Dingen völlig ahnungslos, in gewisser Weise also das genaue Gegenteil von mir. Zum Beispiel ist sie seit einer Ewigkeit in Mike Kensington verknallt und scheint es einfach nicht zu kapieren, dass er offensichtlich schwul ist. Sein Modebewusstsein, die Tatsache, dass er viel zu viel Zeit auf seine Frisur verwendet ... aber nichts davon hat sie abgeschreckt und ich denke nicht daran, ihren Traum, eines Tages seine Kinder zur Welt zu bringen, zu zerstören. Sie umklammert meinen Arm und kneift die Augen ganz fest zu, als Cam ruft: »Hoch!«

»Oh, es ist so spannend! Ich kann gar nicht hinsehen!«

Ich kenne und liebe Eden schon fast so lange, wie ich Cam kenne und liebe, aber sie ist nicht nur unbeholfen und naiv, sie ist obendrein so neurotisch, dass ich mich wundere, bei ihr noch keinen Herzinfarkt mit achtzehn vorhergesehen zu haben. Ihr Griff ist fest genug, um Nervenschäden zu verursachen, daher biege ich ihre Finger einen nach dem anderen hoch und sage ganz ruhig: »Es. Ist. Nur. Ein. Freundschafts…«

Und da passiert es.

Cam hat den Ball und sucht nach einem Anspielpartner, aber sie sind alle von Gegnern blockiert. Ein Verteidiger löst sich links und stürmt auf ihn zu. Gerade als er im Begriff ist, Cam an den Schultern zu packen, macht mein Freund drei schnelle Schritte vorwärts und setzt dann zum Sprung an, um nicht auf seinen Mannschaftskameraden zu treten, der vor ihm auf dem Boden liegt. Er hebt ab und segelt wie eine Feder im Wind über den riesigen Haufen aus ineinander verkeilten Spielern und direkt in die Endzone hinein.

Sofort bricht donnernder Applaus auf der Tribüne los, genau von den Leuten, die sich gerade eben noch Edens Bemühungen, eine La Ola auf die Beine zu stellen, verweigert haben. Selbst Sierra springt auf, ihre trostlose Zukunft ist für den Moment vergessen.

Eden öffnet die Augen und kreischt wie eine Besessene. »Oh! Er ist so unglaublich!«

Ich kann mich nicht rühren, kann noch nicht einmal klatschen. Ich glaube, für einen Augenblick setzt sogar meine Atmung aus. Bin ich die Einzige, die bemerkt hat, dass an diesem letzten Spielzug etwas seltsam war?

Spinne ich oder ist mein Freund gerade geflogen?

2

Vielleicht hatte unsere Zeitung recht. Cam Browne kann wirklich alles.

Die Hawks gewinnen das Spiel, was Eden in einen Zustand der Euphorie versetzt, von dem ich immer dachte, dass er nur durch Crystal Meth erreicht werden kann. Dabei war es doch nur ein Freundschaftsspiel. Und – hallo? Der Sieg war keine Überraschung. Schließlich ist ihre beste Freundin Hellseherin.

Nach jedem Sieg gehen wir ins Parsonage Diner und die Jungs essen. Eine Menge. Ich bekomme zur Feier des Sieges immer einen Schoko-Milchshake. Ich hätte nie geglaubt, dass man von Schokolade genug bekommen kann, aber im letzten Jahr habe ich so viele Milchshakes getrunken, dass mir inzwischen schon übel wird, wenn ich einen auch nur ansehen muss.

In diesem Jahr werden die J. P. Stevens Hawks wahrscheinlich wieder Tabellenführer der Schulliga von New Jersey, auch wenn ich das nicht direkt vorausgesehen habe. Meine Gabe ist manchmal ein wenig schwer zu kontrollieren, weil ich nie genau weiß, an welchen Punkt in der Zukunft sie mich führt. Außerdem will Cam gar nichts hören. »Es kommt, wie es kommt«, sagt er dann immer.

Ich komme von der Toilette, wo ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden habe, und sehe Cam an einem der Tische sitzen. Mir stockt der Atem. Wenn er so frisch geduscht ist, seine breite Brust fast das T-Shirt sprengt und ihm die schwarzen Stirnfransen nachlässig in die tief liegenden braunen Augen fallen, bringt er mein Herz immer noch zum Rasen. Ich würde gern behaupten, dass ich in puncto Aussehen genauso umwerfend bin, aber abgesehen von meinen hellseherischen Fähigkeiten ist nichts Bemerkenswertes an mir. Und obwohl wir schon so lange zusammen sind, geht mir die Frage »Gehört er wirklich zu mir?« immer noch ständig durch den Kopf. Als wäre eine CD hängen geblieben oder so. Er unterhält sich in irgendeiner Footballsprache, die größtenteils aus einer Abfolge von Grunzund Knurrlauten besteht, mit Scab und den anderen Verrückten aus der Mannschaft. Todesmutig stürze ich mich in dieses Meer von Testosteron, zwänge mich elegant auf den Platz neben ihn und gebe ihm einen Kuss. »Genau wie ich es vorhergesehen habe«, necke ich ihn.

Er nimmt einen zerknitterten Umschlag mit dem heutigen Datum darauf aus der Gesäßtasche seiner Jeans, reißt ihn mit den Zähnen auf und zieht einen Zettel heraus, um ihn der Runde am Tisch vorzulesen: »Vierundzwanzig zu sieben für die Hawks. Morgan gewinnt schon wieder.«

Ich grinse stolz, als der Rest der Jungs mir zu einer weiteren korrekten Voraussage gratuliert. Diesmal klingt es jedoch noch halbherziger als am vergangenen Wochenende. Seufz. In meinem ersten Jahr auf der Schule haben meine Kräfte sie wahnsinnig beeindruckt, aber die Wirkung scheint so langsam nachzulassen. Als ich mich letzte Woche bei Cam darüber beklagt habe, dass niemand meine Gabe mehr so richtig zu schätzen wisse, meinte er, dass sie es vielleicht weiter tun würden, wenn ich meine Prophezeiungen in Unterwäsche abgäbe.

Eden starrt meinen Freund träumerisch an. Dann sagt sie:

»Dieser Touchdown im zweiten Viertel war umwerfend.«

Sie meint den, bei dem er einen auf Superman gemacht hat.

Was ich an Cam am meisten liebe: Er ist bescheiden und zurückhaltend geblieben, obwohl ihm der gesamte verrückte Mikrokosmos der Stevens High zu Füßen liegt. Er wird rot und antwortet: »Oh, danke.«

»Ja«, füge ich hinzu, »du bist ja regelrecht geflogen.«

Cam dreht sich für eine Sekunde zu mir um, einen benommenen Ausdruck auf dem Gesicht, dann stößt er Scab an. »Scab hat dieses Spiel gemacht.«

Scab ist Cams bester Freund und ein Footballspieler wie aus dem Bilderbuch. Als wir noch jünger waren, hat er immer all seine Moskitostiche aufgekratzt, bis er nur noch eine einzige wandelnde blutende Wunde war. Jetzt hat er ein rundes rötliches Gesicht, ist größer als einer der riesigen Trucks von Mack und ein wenig ungeschliffen. Sein Spitzname Scab, also

»Schorf«, hat ihm seltsamerweise immer gefallen. Er verputzt gerade ein Frühstück mit allen Schikanen, mit Würstchen, Schinken, Eiern und einem doppelten Stapel Pfannkuchen, boxt Cam gegen die Schulter und lacht wie ein Kettenraucher, so ein dröhnendes »Hohoho«. Um den Mund hat er einen roten Ring aus Ketchup, wie verschmierter Lippenstift. Würg.

In diesem Moment kommt Sara Phillips in ihrem Cheerleader-Outfit vorbeigetänzelt. Eden ruft: »Ihr wart klasse, Sara!«, weil sie immer noch hofft, dass die Truppe sie im nächsten Jahr aufnimmt. Scab schenkt Sara ein ketchupdurchweichtes Grinsen, worauf sie winkt und honigsüß flötet: »Hey, Marcus!« Er ist seit einer Ewigkeit verknallt in sie. Inzwischen ist es schon ein Witz.

Scab dreht sich zu Cam und raunt: »Sie steht total auf mich.« Cam und ich sehen uns an und brechen in Lachen aus.

»Was? Sie ist bloß schüchtern.«

»Reden wir über die gleiche Person?«, gibt Cam zurück.

Scab wendet sich Hilfe suchend an mich. »Hey, Morg. Zeigt denn keine von deinen Visionen uns zusammen? Du hast doch gesehen, wie sie mich angeguckt hat.«

Ich reiche ihm eine Serviette. »Vielleicht war sie neidisch auf deinen Lippenstift.«

Niedergeschlagen wischt er sich den Mund ab und schüttelt den Kopf.

»Außerdem«, fahre ich fort, »hab ich dir doch schon gesagt, dass ich dich als Abwehrspieler an irgendeinem College mit Palmen sehe.«

Das muntert ihn sofort auf. »Miami, Baby!«

Daraufhin fangen sie alle wieder an, zu knurren und sich gegenseitig abzuklatschen. Würg.

Eden beginnt eine Unterhaltung mit John Vaughn, der für sie ungefährlich ist. Er ist wirklich süß und nett und ich finde, sie würden ein großartiges Paar abgeben, was bedeutet, dass sie niemals zusammenkommen werden. Unglücklicherweise habe ich Eden im Alter von dreißig gesehen, wie sie in einem beengten Apartment lebt, mit niemandem zum Reden als vierzehn Katzen und einer Sammlung von Precious-Moments-Püppchen. Was zwar traurig ist, aber nicht sonderlich überraschend, da sie in diesem Jahrhundert wohl nicht mehr dahinterkommen wird, dass ihr großer Schwarm vom anderen Ufer ist. John, der so offenkundig auf Eden steht, dass er es auch auf sein T-Shirt drucken könnte, sagt zu ihr: »Es ist so cool, dass du zu all unseren Spielen und Trainings kommst.«

Eden entgegnet: »Teamgeist ist wichtig. Das Meisterschaftsspiel im letzten Jahr war echt der tollste Abend meines Lebens. Es hat solchen Spaß gemacht.«

Ich stoße ihr den Ellbogen in die Rippen. »Ähem. Ich hoffe sehr, dass sich das nächsten Freitag ändern wird.«

Sie überlegt eine Sekunde und zuckt dann die Achseln. »Ach so, klar. Ich kann’s kaum erwarten.«

»Meine Sweet-Sixteen-Party«, erkläre ich John. »Nächsten Freitag, am 15. Oktober. Das wird der Hammer.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. Aus irgendeinem Grund kapieren Jungs diese ganze Sweet-Sixteen-Sache nicht. Aber mein Geburtstag wird nicht irgendeine Party werden, er wird die Party schlechthin werden.

Nicht wie eine von diesen Super-Sweet-Sixteens auf MTV (meine Eltern besitzen kein Rap-Label oder so was), aber doch ziemlich cool, weil mein Vater sich auf dem College mit dem heutigen Manager des Green Toad, eines sehr exklusiven Restaurants in der Stadt, ein Wohnheimzimmer geteilt hat. Ich plane die Party seit April und Eden und ich reden die ganze Zeit darüber.

John lässt sich von unserer Begeisterung nicht anstecken.

»Klingt cool.«

»Die Party findet im Toad statt!«, ruft Eden.

»Du bist eingeladen«, füge ich hinzu. »Hast du die Einladung nicht bekommen?«

Er wirkt verwirrt. »Äh, keine Ahnung.«

Pff. Jungs. Egal, es wird trotzdem toll. »Genau genommen feiern Cam und ich zusammen, da wir beide sechzehn werden«, erkläre ich ihm und stoße Cam an, der damit beschäftigt ist, die Songliste der Mini-Jukebox auf unserem Tisch durchzublättern. »Stimmt’s?«

Cam sieht mich an. »Hä?«

»Ich habe gerade von unserem Geburtstag gesprochen«, erkläre ich.

»Was ist damit?«

Hallo? Erde an Cam. »Unsere Sweet-Sixteen-Party?«

Er zieht eine Schnute, zögert und sagt dann: »Oh, ja klar.« Dann blättert er weiter in der Liste.

Pff. Nicht gerade die Antwort, die ich erwartet hatte. Als ich das letztes Jahr vorgeschlagen habe, war er voll dafür. Er könne es gar nicht erwarten, einen schicken Anzug anzuziehen und einen richtig protzigen Abend zu erleben, sagte er, genau wie auf einem Schulball. Vielleicht liegt’s ja an seinen Kumpels. Ich meine, welcher Footballspieler gibt schon gerne zu, dass er sich auf eine Sweet-Sixteen-Party freut?

»Was ist los?«, frage ich und schüttele ihn am Ellbogen. Ich lege den Arm um ihn und sehe ihn an. Er riecht sauber, nach Seife und seinem Aftershave vom Friseur. »Alles okay?«

Er zuckt die Achseln und entspannt sich. »Für dich mag es eine Sweet Sixteen sein, aber für mich ist es ganz klar eine Hot Sixteen.« Das sagt er mit einer tiefen, sexy Stimme und – keine Ahnung, wie er das schafft – ohne eine Miene zu verziehen. Dann grinst er.

Die anderen Jungs lachen und ich verdrehe die Augen. »Ach so, Entschuldigung.«

Schlagartig verschwindet sein Lächeln und er rutscht auf seinem Platz hin und her. »Hey, lass mich mal raus.«

»Was ist …«, beginne ich, aber er ist schon vom Tisch aufgestanden und schlendert an der Dessert-Vitrine vorbei, bevor ich eine Chance habe, zum »… los?« zu kommen. Okay, vielleicht muss er einfach dringend pinkeln oder so.

Scab und die anderen Jungs fangen an, über ihre Pläne für das nächste Spiel zu reden. Zumindest glaube ich das, denn was ich höre, ist nur: »Blubber, biblubb, blablabla.« Es ist so langweilig, dass ich mir jeder verstreichenden Sekunde, die Cam weg ist, superbewusst bin. Und wir reden über viele, viele Sekunden. Nach ungefähr fünfzehnhundert davon beginne ich, mich zu fragen, ob das Herrenklo vielleicht von Terroristen besetzt worden ist und alle anwesenden Benutzer als Geiseln festgehalten werden.

Als die Jungs anfangen, auf den Servietten Spielzüge zu skizzieren, habe ich genug. Ich nippe noch einmal an meinem Milchshake, stehe auf und manövriere mich um die Dessertvitrine herum in Richtung der Toiletten. Ich bin schon halb dort, an der Kasse in der Nähe des Eingangs, als ich in den Vorraum schaue und Cam dort sehe. Er steht zwischen den Bonbonautomaten und den Ständern mit Gratiszeitungen. Die Hände in den Taschen, betrachtet er ein schwarzes Brett voller Suchanzeigen. Konzentriert starrt er auf eine Anzeige mit dem Text FÜNFUNDZWANZIG-FUSS-SCHONER ZU VERKAUFEN.

Was ist denn jetzt los? Will er plötzlich Kapitän werden?

Ich mache den Mund auf und will etwas sagen, aber bevor ich dazu komme, dreht er sich um, greift nach meiner Hand und mustert mich eindringlich. »Du hast es gesehen, oder? Meinen Touchdown?«

»Ja.« Sein Blick lässt die feinen Härchen in meinem Nacken zu Berge stehen. »Es war großartig. Und?«

»Das sagen alle, Buh«, seufzt er und benutzt seinen ultrapeinlichen Spitznamen für mich. In der ersten Klasse habe ich nicht viel gesprochen. Genau genommen nur ein einziges Wort. Ich hatte entdeckt, dass man damit nicht nur Leute erschrecken konnte, sondern dass man es auch extrem effektiv als Fragewort, als Feststellung oder als frustrierten Ausruf benutzen konnte. Ja, ich war ein merkwürdiges Kind. Und natürlich muss Cam bis heute bei jeder Gelegenheit darauf herumreiten.

»Weil es stimmt. Akzeptier das doch einfach. Willst du, dass ich dir jetzt auch noch Honig um den Bart schmiere?«

Er funkelt mich an.

»Sorry. Was ist dein Problem? Du solltest stolz auf dich sein.«

Er atmet langsam aus. »Das wäre ich ja auch. Wenn ich mich daran erinnern könnte.«

3

Meine Eltern halten sich ja für so schlau. Jedes Mal, wenn ich mit Cam ausgehe, schieben sich die Verandamöbel auf wundersame Weise einen Meter weit von der Hauswand nach vorn, sodass ich beim Heimkommen beinahe darüber stolpere. Wie die meisten besorgten Eltern es gerne tun, lassen sie das Licht brennen, aber sie arrangieren auch die Hollywoodschaukel und den Beistelltisch so, dass man sie vom Garagenfenster aus gut sehen kann. Mein Dad hat an diesem Fenster schon so oft Wache gehalten, dass er ebenso gut einen Fernsehsessel und einen Minikühlschrank dort aufstellen könnte. Er denkt, Cam und ich wüssten nichts davon, obwohl die Gardine vor dem Fenster seine füllige Silhouette nicht verbergen kann und er jedes Mal vollkommen atemlos ist, wenn er Gute Nacht sagt – weil er sich mit seinen gesamten zweihundert Kilo schnell die Treppe hinaufwuchtet, bevor ich ins Haus komme. Einmal, ganz zu Anfang, bin ich um elf Uhr abends in die Garage gegangen, wo er zufällig gerade »den Rasenmäher repariert« hat. Cam hatte vor ein paar Jahren die kluge Idee, die Situation zu unserem Vorteil zu nutzen, statt meinen Vater auffliegen zu lassen, was ohnehin ziemlich peinlich geworden wäre.

Das hätte bestimmt auch großartig funktioniert, wenn Cam nicht der schlechteste Lügner der Welt wäre.

»Wow, du bist fünfzehn Minuten später zu Hause als vereinbart, Morg«, sagt Cam mit seiner lauten Stimme, während wir uns auf die Schaukel setzen. »Wenn diese arme alte Dame nicht dazwischengekommen wäre, die du mit einem Erste-Hilfe-Griff davor bewahrt hast, an ihrer Fleischpastete zu ersticken, dann wären wir rechtzeitig von unserer ehrenamtlichen Arbeit in der Suppenküche zurück gewesen.«

»Ja!«, rufe ich, dann sehe ich ihn kopfschüttelnd an und flüstere: »Ich liebe dich, aber du bist echt der mieseste Schauspieler der Welt.« Mein Dad kann unmöglich glauben, dass ich sowohl in der Suppenküche arbeite als auch beim Tierschutzverein, beim Wählerinnenverband und bei Greenpeace.

Cam packt mich leidenschaftlich, als wolle er sich in die heißeste Knutscherei seit Wie ein einziger Tag stürzen, doch dann, als mein Gesicht nur zwei, drei Zentimeter von seinem entfernt ist, gibt er mir ein keusches, großmütterliches Küsschen auf die Wange. »Entschuldige.«

In solchen Momenten spielt die »Gehört-er-wirklich-zu mir?«-CD am lautesten in meinem Kopf. Er hat ein unglaubliches Gesicht mit einem dunklen Teint, den schwarzen, wachen Augen eines Raubtiers und seit letztem Jahr auch einen ständigen Stoppelbart am Kinn, was ihn irgendwie verrucht aussehen lässt, aber auch wahnsinnig sexy. Allein das macht ihn zum weitaus heißesten Typen an der Schule, aber er hat auch einen umwerfenden Sinn für Humor. Und zu allem Überfluss ist er ein totaler Schatz. Ich dagegen bin bloß Durchschnitt: langes, manchmal wirres kastanienbraunes Haar, mattbraune Augen mit Lidern, die immer ein wenig herunterzuhängen scheinen, blasse Haut, ausgeprägtes Profil mit einer Nase, die mein Vater als markant bezeichnet, die ich aber lächerlich groß nenne, und ein Körper, der einigermaßen schlank ist, aber mit weichen Rundungen. Ich habe das Aussehen meiner sizilianischen Mutter geerbt. Aber Cam und ich haben uns in einem Alter kennengelernt, in dem man noch leicht Freundschaften schließt und das Äußere nicht zählt. Ich bezweifele, dass er mich eines zweiten Blickes gewürdigt hätte, wenn wir nicht Sandkastenfreunde wären.

»Also«, flüstere ich, lege die Füße hoch und lehne den Kopf an seine gewaltige Schulter, »du erinnerst dich wirklich nicht? Wie bei einer Amnesie?«

Er zuckt die Achseln und legt den Arm um mich. »Ich erinnere mich an das Gedränge. Als Nächstes weiß ich nur, dass ich flach auf dem Rücken lag und der Schiedsrichter die anderen von mir runterklaubte.«

»Du musst ziemlich hart getroffen worden sein«, sage ich und lege meine Handfläche gegen seine. Seine Hände sind doppelt so groß wie meine und ich kann die Schwielen unter den Fingern spüren, die von dem täglichen Hanteltraining herrühren. »Du kommst schon wieder in Ordnung.«

»Aber ich hatte noch nie einen solchen Blackout.«

Jungs können solche Babys sein. Ich lehne mich an ihn und drücke, so fest ich kann. Er ist praktisch doppelt so schwer wie ich, also ist es in etwa so, als würde ich versuchen, den Mount Everest zu verschieben. »Gibt es irgendeine Stelle außer deinem Hintern, die ich küssen soll, damit es wieder besser wird?«

Er lächelt und tätschelt seine Kehrseite. »Den hier kann man gar nicht mehr verbessern.«

Ich will ihm eine langen, aber er packt mein Handgelenk und beugt sich über mich, um mich zu küssen. Statt meines Mundes erwischt er den unteren Teil meiner Wange, fast die Kinnspitze. Hmm. Es ist total untypisch für Cam, sein Ziel zu verfehlen.

»Hey. Es ist doch nichts. Nimm’s dir nicht so zu Herzen«, brumme ich.

»Mach ich ja gar nicht. Ich bin nur müde«, sagt er.

»Okay, wie du meinst.« Habe ich schon erwähnt, dass Cam ein miserabler Lügner ist?

Er küsst mich auf die Stirn, schiebt sich hinter mir hervor und steht auf. Dann fügt er laut hinzu: »Ich hoffe, wir sehen uns morgen zu unserer UNICEF-Versammlung.«

»Meinetwegen«, murmele ich, als er zwischen den zwei perfekt gestutzten Büschen links und rechts von unserer Veranda verschwindet. Die Abkürzung über unseren Rasen ist der schnellste Weg zu seinem Haus. Im Gras dort ist ein kleiner Pfad ausgetreten; wir haben ihn unabsichtlich durch jahrelange gegenseitige Besuche angelegt und würden ihn inzwischen im Schlaf finden.

Ich höre meinen Vater, der sich im Haus die Treppe hinaufschleppt. Also beschließe ich, dem alten Herrn eine Minute Vorsprung zu geben, lehne mich zurück und beobachte eine Motte, die im Verandalicht tanzt. Ich warte auf das Knarren der Fliegentür der Brownes, aber es bleibt aus.

Ich stehe auf und trete an den Rand der Veranda. Es wird kühl, daher lege ich mir meine Jacke um die Schultern, bevor ich den Ast eines japanischen Ahorns beiseiteschiebe, der auf dem Geländer ruht. Da sehe ich Cam ganz allein dastehen, wie er in den Himmel hinaufstarrt.

Ich wusste es. Er nimmt es sich zu Herzen.

4

Nachdem ich mich gründlich mit Neutrogena geschrubbt und mir wie jeden Tag meine Whitestrips aufgelegt habe (Zähne können nie zu gerade oder zu weiß sein), schalte ich meine Nachttischlampe aus und schlüpfe unter die Decke. Mondlicht fällt durch mein Fenster und die offene Jalousie und zeichnet ein Tic-Tac-Toe-Gitter an die Wand. Cams Schlafzimmer liegt meinem gegenüber, und obwohl seine schweren Vorhänge zugezogen sind, ist ein Rand aus gelbem Licht zu sehen. Er ist immer noch wach. Dabei ist er früher sogar schon beim Abendessen eingeschlafen.

Ich greife schnell nach dem Telefon und wähle seine Nummer. Bevor er irgendetwas sagen kann, befehle ich: »Geh schlafen.«

Er lacht. Zwei Sekunden später wird der Vorhang zurückgezogen und er erscheint am Fenster. Sein Gesicht liegt im Dunkeln, aber ich kann erkennen, dass er kein Hemd anhat. Mmmh. »Hör auf, mir nachzuspionieren.«

»Ich wollte bloß einen kurzen Blick auf dein hammermäßiges Sixpack werfen«, sage ich. »Ooh, Baby.«

Er fängt an, wie ein Bodybuilder seine Muskeln spielen zu lassen. Meine eigene kleine Privatvorführung. Gott sei Dank schlafen meine Eltern auf der anderen Seite des Hauses. Dann sehe ich, wie er sich neben seinem Laptop aufs Bett fallen lässt.

»Mir geht’s gut. Ich bin nur noch ein bisschen aufgedreht vom Spiel. Schätze, ich werde jetzt durch ein paar Pornoseiten surfen und mir vielleicht eine Katalogbraut bestellen.«

»Na dann viel Spaß.« Ich klemme das Telefon zwischen Ohr und Schulter und binde meine dunklen Haare zurück. Das ist das Blöde an Cams Humor; er versteckt seine Sorgen immer hinter einem coolen Spruch. »Oder nein, geh doch lieber ins Bett. Du kannst ein echtes Monster sein, wenn du nicht genug Schlaf kriegst.«

Er knurrt ins Telefon und ich muss lachen. »Okay, Buh. Eine Sekunde noch. Eins, zwei, drei.«

»Eins, zwei, drei«, antworte ich, ziehe die Bettdecke bis zum Kinn hoch und klappe das Handy zu.

Er springt auf und zieht die Vorhänge wieder zu, aber danach geht das Licht nicht aus. Nachdem ich noch eine Minute auf der Seite gelegen und eine stumme Botschaft ins Nachbarhaus gesandt habe, dass es in Cams Zimmer dunkel werden möge, werfe ich die Decke zurück und stütze mich auf die Ellbogen. Das schreit nach verzweifelten Maßnahmen. Cam will vielleicht nichts über seine Zukunft wissen, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht einen heimlichen kleinen Blick auf sie werfen könnte. Nur weil er einmal einen Blackout hatte, muss er schließlich nicht zum Patienten in der nächsten Folge von Dr.House werden. Vielleicht kann ich etwas finden, das ihn beruhigt.

Okay, und mich auch.

Ich stolpere über die Jeans, die ich zerknüllt auf dem Flickenteppich liegen gelassen habe, schnappe mir meinen iPod und klicke etwas von Enya an. Dann setze ich mich im Schneidersitz aufs Bett und beginne mit dem Ritual, das mir hilft, ruhig zu werden und meine Visionen heraufzubeschwören.

Ich schließe die Augen und stelle mir Wasser vor. Klare, aquamarinblaue Wellen, die sich in einem Swimmingpool kräuseln. Vermutlich könnte ich jedes andere Bild als Hintergrund benutzen, solange es irgendwie eine entspannende Wirkung hat, aber ich nehme immer einen Swimmingpool. Dann sage ich mehrmals hintereinander »Quasselschwaller«, bis die Silben durcheinanderpurzeln. Jedes andere längere Wort würde wahrscheinlich genauso seinen Zweck erfüllen; ich mach das bloß, um meinen Kopf klar zu bekommen. In dem Moment, als »Quasselschwaller« zu »Schwasselqualler« wird, rufe ich den Namen der Person auf, deren Zukunft ich sehen will. Nach zwei oder drei Minuten werden die Wellen körnig und Bilder treiben an die Oberfläche. Zuerst verschwommen, werden sie allmählich klarer, bis ich die betreffende Person so deutlich erkennen kann, als wäre sie im Fernsehen. Ich habe schon viel vorhergesagt und weiß aus Erfahrung, dass diese Methode bei mir am besten funktioniert. Allerdings habe ich noch immer nicht für alle Probleme eine Lösung. Zum Beispiel gibt es in meinen Visionen keinen Ton. Ich kann nicht hören, was die Leute sagen. Schlimmer noch ist, dass ich keine Kontrolle darüber habe, an welchen Zeitpunkt in der Zukunft meine Gabe mich führt. Es kann morgen sein oder auch ein Tag in fünfzig Jahren. Manchmal gelingt es mir, die Umgebung abzusuchen, um einen Hinweis oder sonst was im Hintergrund zu entdecken, aber nicht immer.

»Schwasselquallerschwaller …«, sage ich, massiere mir die Schläfen und starre auf das kühle, einladende Wasser. »Zeige mir Cam Browne.«

Cams Gesicht erscheint. Er sitzt vornübergebeugt auf der Kante eines Hockers, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Vollkommen normal – das heißt, bis ich den Ausdruck auf seinem Gesicht sehe. Als hätte er Ammoniak geschluckt. In den ganzen fünfzehn Jahren ist mir nie aufgefallen, dass Cams sexy Gesichtsmuskeln so beweglich sind und sich zu einer so grauenhaften Grimasse verziehen können. Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken. Was könnte so entsetzlich schlimm sein?

Mein Blickfeld weitet sich und ich bemerke, dass er von Gemälden umgeben ist. Von den scheußlichsten Gemälden, die ich je gesehen habe. Wo ist er – in der Akademie der Schönen Künste für Blinde? Außerdem ist sein T-Shirt bis zu den Achselhöhlen hochgeschoben. Dann sehe ich mich selbst, wie ich hinter ihm stehe. Was tue ich da? Ihn massieren? Als würde ich so etwas je machen.

Da bemerke ich meinen eigenen Gesichtsausdruck. Als hätte ich gerade meinen Großvater nackt gesehen. Ich starre Cams Rücken an und bin offenkundig angeekelt. Und – sind das Tränen in meinen Augen? Zugegeben, ich bin ein wenig nah am Wasser gebaut, doch der Anblick von Cams muskulösem Rücken, der v-förmig in seine schmale Taille übergeht, lässt mich im Allgemeinen eher sabbern wie ein Hund vor einem saftigen T-Bone-Steak. Was an diesem perfekten Rücken könnte mich also zum Heulen gebracht haben? Ein Furunkel?

Ich ziehe die Nase kraus und reiße unwillkürlich den Kopf herum, um eine andere Perspektive zu kriegen, damit ich erkennen kann, was los ist. Das ist noch so ein Nachteil meiner Gabe: Ich habe nicht den geringsten Einfluss darauf, was ich sehen kann und was nicht. Jemand anders hält die Kamera, die mir manchmal gerade genug zeigt, um mich neugierig zu machen, aber nicht die vollständige Geschichte. Ich fand es recht ärgerlich, als meine Vision mir offenbarte, wie Emily Andersen bei den Ergebnissen ihrer Stipendienbewerbung fürs College einen hysterischen Anfall bekam, ohne mir die tatsächliche Punktzahl zu verraten, aber das hier ist unerträglich.

Meine Vision verpufft, also ziehe ich meine Ohrhörer heraus und mache die Augen auf. Ich werfe den iPod beiseite, drücke mein Kissen mit beiden Armen an mich und drehe mich zum Fenster um. Bei Cam brennt immer noch Licht. Ich stelle mir vor, wie ich ihn morgen tröste: »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Ich habe zwar nicht herausgefunden, warum du bei dem Spiel gestern einen Aussetzer hattest, dafür habe ich entdeckt, dass du schon bald der stolze Besitzer eines ekligen, fetten Pickels auf dem Rücken sein wirst. Jetzt fühlst du dich doch bestimmt gleich besser, oder?«

Ich bin fast eingeschlafen, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt. Ich fahre hoch und mir wird am ganzen Körper kalt.

5

Ich knipse die Lichter an und wähle Edens Nummer. »Cam wird sterben!«, rufe ich, bevor sie auch nur Hallo gesagt hat.

»Wa …?«, kommt eine nicht ganz menschliche Stimme durch die Leitung.

»Wach auf. Hast du gehört?«

»Ja, aber …« Ein lang gezogenes Stöhnen. »Es ist zwei Uhr morgens!«

Ich kann nicht atmen, weil mir das Herz bis zum Hals schlägt und meine Sauerstoffzufuhr unterbricht. »Hast du mich gehört? Er könnte sterben. Sterben.«

»Wofür?«

»Eden! Ich meine wirklich tot sein! Totenschädel und gekreuzte Knochen. Sensenmann. Er ist schwer krank.«

Dabei fange ich an zu weinen. Dicke, nasse Tränen, die mir übers Kinn laufen und meine Neutrogena-Maske verschmieren.

»Wie meinst du das, schwer krank?«

»Cam hatte während des Spiels einen Blackout«, erkläre ich.

»Es ist ein Tumor.«

»Was? Oh Gott. Aber vor ein paar Stunden ging es ihm doch noch gut. Er hat diesen unglaublichen Spielzug gemacht.« Sie klingt, als würde sie auch gleich in Tränen ausbrechen. Endlich die Reaktion, auf die ich gewartet habe.