Fake - Andreas Degkwitz - E-Book

Fake E-Book

Andreas Degkwitz

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund einer Familientragödie erzählt FAKE von den Möglichkeiten des Internets, dessen Auswirkungen sich oft als das erweisen, was der Titel der Story in Aussucht stellt. Dabei handelt es sich um falsche Einschätzungen oder um Irrtümer und über das hinaus um Vereinsamung und Verwahrlosung, wie FAKE zeigt - kein Einzelfall.

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Seitenzahl: 88

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

ZWEI WELTEN

FAKE?

NACHBARSCHAFT

STIEFMUTTER

LILLYS INTERNET

TIGER TALL

TERROR

AUF DEM LAND

FLUCHT

VATER

NO FAKE

ZWEI WELTEN

Mit vielen Risiken und einigen unerwünschten Wirkungen kann sich der Umgang mit dem Internet zu einer Lebensform entwickeln, die zu Abhängigkeiten führt und die Wahrnehmung dessen, was außerhalb dieser Lebensform liegt, stark beeinträchtigt. Zwar meinen alle, die auf den endlosen Informationsfluten segeln, überall auf der Welt zu Hause zu sein. Doch am Ende zeigt sich niemand dieser Herausforderung gewachsen und beschränkt sich auf sich, um nicht verloren zu gehen. Besondere Risiken der Technik, die das Internet trägt, sind ihre Potenziale des Täuschens und Schwindelns, die schon bedrohlich sind, ohne vorsätzlich eingesetzt zu werden: fake ist gefährlich, da fake die Wahrnehmung fehlleitet und irreführt, die das Internet ohnehin schon beschränkt.

Ein Mensch wie Adrian hält vom Internet wenig und lehnt es als Lebensform ab, was er deutlich macht. Für einen Menschen wie seine Schwester Lilly ist es der Mittelpunkt, der sich selbstverständlich auf ihre Lebensform auswirkt, aber auch rasch an Grenzen kommt, wie ihr Schicksal zeigt.

Adrian oder auch Adi, so der Name eines Lovers seiner Mutter, der aber nicht sein Vater war, Adrian oder Adi war zwanzig, von mittelgroßer Gestalt, athletisch, mit einem großen, runden Wuschelkopf. In den 2010er Jahren besuchte er eine Universität weit weg von seiner Heimatstadt und studierte dort Politik und Sport. Einer, der sich den Hintern vor dem Computer breitsitzt, war Adrian nicht, aber auch keine Leseratte, die nichts als Bücher und Lektüre kennt. Adrian wollte in seinem Studium etwas erleben. Politik studierte er, um zu verstehen, was in der Weit geschieht, und um Menschen dafür zu gewinnen, die Welt zu einer besseren zu machen. Da er in Bewegung bleiben wollte und zum Studium der Politik eine Ergänzung brauchte, studierte er Sport, da Politik und Sport aus seiner Sicht gut zusammenpassten. Denn wer in politischen Auseinandersetzungen bestehen wolle, sei gut beraten, mit sportlichem Wettbewerb vertraut zu sein. Umgekehrt enthalte Sport viel Politik, wenn er beispielsweise an Wettbewerbe wie Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften dachte. Erfolge im Sport können auch politische Konsequenzen haben. Wettbewerbe in der Politik gleichen oft sportlichen Wettkämpfen. Adrian war sich mit dieser Einschätzung sicher, dass für ihn nichts anderes in Betracht kam als diese beiden Studienfächer.

Kai, der Vater, etwas kleiner als Adrian, aber ähnlich charmant und sehr zupackend, war bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Mit hoher Geschwindigkeit war er auf einer geraden Straße gegen einen Baum gefahren, als er mit dem Navi seine Fahrtroute überprüfte. Das Auto explodierte und ließ in den Flammen nichts Erkennbares von ihm übrig. Dass es der Wagen des Vaters war, wurde über das Nummernschild des Wagens identifiziert, und, dass er zu dieser Zeit auf der Straße fuhr, auf der der Unfall geschah, und auch am Steuer saß, das wusste Grit, seine Frau und die Mutter von Adrian und Lilly. Sie war groß, schlank und hatte ein schmales, schönes Gesicht. Kais Tod war ein unfassbar schwerer Schlag für die Familie und setzte sie finanziell stark unter Druck. Das Geld, um die Raten für die Haushälfte zu bezahlen, die sie vor ein paar Jahren erst erworben hatten, konnte Grit nicht mehr aufbringen und musste sie verkaufen. Da ging Adrian in die letzte Schulklasse vor dem Abitur, seine Schwester Lilly in die erste Oberstufenklasse des Gymnasiums. Eine neue Wohnung für die drei musste gefunden werden. Grit geriet in die Situation, ihre Tätigkeit als Krankenschwester wieder aufzunehmen. Kai war Niederlassungsleiter einer Baumarktkette gewesen und hatte gut verdient; davon war auch etwas übriggeblieben. Doch für einen weiteren Verbleib in der Haushälfte hätte es nicht gereicht.

So war Adrian vollkommen unvorhergesehen in bescheidene Lebensumstände geraten. Doch er hatte genug Mutterliebe und Optimismus, um den Beginn dieser nun vaterlosen Zeit zu ertragen. Lilly hingegen tat sich schwer und zog sich in sich selbst zurück. Zusätzlich zum Tod des Vaters belasteten sie die Herausforderungen der gymnasialen Oberstufe, die sich mit viel Lernaufwand für das Abitur verbanden.

Doch Adi hatte Zweifel, ob sie sich tatsächlich damit auseinandersetzte. Denn jedes Mal, wenn er ihr meistens dunkel verschattetes Zimmer betrat, sah er, wie sie im Internet surfte, auch wenn sie die Seiten, die sie gerade geladen hatte, hektisch wegklickte, um den falschen Eindruck zu erwecken, sich mit ihren schulischen Aufgaben zu beschäftigen. Adrian entging das nicht; er wusste, dass sich Lilly mit Surfabenteuern, Postings in sozialen Netzwerken und schrillen Videostreams befasste, um den Tod Kais und dessen Folgen zu vergessen und sich davon abzulenken. Sie ergab sich einer Flut wirklichkeitsfremder Anregungen, Hinweise, Fantasien und Versuchungen und ging darin unter. Stets war sie allein vor dem Bildschirm, obwohl sie sich ständig mit immer wieder anderen, neuen Internetnutzern in Verbindung setzte.

Trotz ungezählter Follower und Tausenden von Likes: Lilly war einsam, verwahrloste und tat nichts anderes, als sich Tag für Tag aufzugeben. Nicht dass sie zuvor eine Schönheit gewesen wäre, aber sie war ansprechend, gut gekleidet und wirkte sympathisch. Jetzt mit bleichem Teint, roten, müden Augen, langen, zerfransten Haaren und abgemagert, bot sie das erschreckende Bild einer Nachtgestalt, das viele Fragen zu den schrägen Auswirkungen des Internets aufwarf. Dessen unaufhörliches, digitales Spektakel entließ seine Konsumenten nicht mehr aus ihrer saturierten, süßen Abhängigkeit, machte sie zu einsamen, verlorenen Nerds. Das Internet präsentierte sich dabei als eine Art Allmende, die alle daran Teilnehmenden mit dem Schwindel einer besseren Welt und einem Überfluss an kommunikativem Impact beglückte, solange es seine user diskret im Dunkel zugezogener Vorhänge oder heruntergelassener Jalousien hielt. Als die Mutter merkte, welcher Entwicklung sich Lilly aussetzte, bemühte sie sich, sie davon abzubringen, und bot ihr gemeinsame Unternehmungen als Alternativen an wie Ausflüge, Film- und Konzertbesuche oder auch Reisen. Leider blieben ihre Versuche erfolglos. Lilly wollte nichts davon wissen und ließ sich nicht darauf ein.

Adrian konnte damit nichts anfangen. Nicht dass er vom Internet keinen Gebrauch machte, doch das tat er nicht wie Lilly aus Verzweiflung über die entstandene Lebenslage, noch, um sich von Risiken abzulenken, die das bisher bestehende Lebensglück zu zerbrechen drohten. Denn da halfen Offenbarungen, die das Internet bot, oder likes der social networks nicht, mit denen ihr Schicksal im Sinne virtueller awareness economy kontinuierlich vermarktet wurde. Adi bevorzugte einen Handschlag auf die Schulter nach einem Treffer beim Basketballspiel oder Umarmungen nach einem Tor beim Fußball. Das war spontan und voller Gefühl – doch er hielt nichts von allem Vorgekauten und Anklickbaren, das den Raum des Internets abstrakt und unverbindlich füllte. Als er Schulsprecher war, forderte er die an Meetings teilnehmenden Schülerinnen und Schüler auf, ihre Handys abzuschalten und sich auf die Treffen zu konzentrieren. Denn ein soziales Netzwerk war für Adrian eine Gemeinschaft unmittelbaren Austauschs und Zuhörens derer, die ihr angehörten und die deshalb lebte, und keine digitale Plapperstube, in der man lautstark auf sich aufmerksam machte und sich gegenseitig anschrie – das gab es bei Besprechungen unter seiner Leitung nicht. So wollte er auch in seinem Studium viel erleben allerdings nicht per Zoom oder im Streamingmodus. Dazu kam es, aber in ganz anderer Weise, als er sich das vorgestellt hatte.

FAKE?

Es war elf Uhr nachts, als Lillys SMS an Adrian ging:

„Papa ist gar nicht tot. Weißt Du das? Ich sitze neben ihm und trinke mit ihm einen doppelten Whiskey. Willst Du vorbeikommen? Hier sind die Koordinaten. Bis bald! Lilly“

Was das sei, fragte sich Adi und versuchte trotz später Stunde seine Mutter auf ihrem Handy zu erreichen, doch ihre Nummer war gesperrt wie auch die des Festnetzes – das war ungewöhnlich. Was passierte da? Hatte jemand Grit überfallen und ihre Telefone manipuliert? Und überhaupt, dass sein Vater Kai nicht tot sei, sondern mit Lilly Whiskey trinke? Die Koordinaten, die Lillys SMS enthielt, befanden sich in der Nähe seiner Heimatstadt. Wie sollte er da jetzt vorbeikommen? Doch Lilly ließ offenbar von sich hören, was Adrian überraschte.

Ein halbes Jahr vor ihrem Abitur war sie immer wieder auf Achse und für ihre Familie nicht zu erreichen. Was sie machte und wo sie sich aufhielt, fragte sich Grit in großer Sorge um sie. Grit, aber auch Adrian, der im dritten Semester studierte, waren äußerst beunruhigt, zumal Lilly nichts über ihre Touren verlauten ließ und wiederholter Nachfragen zum Trotz kein Wort darüber verlor. Entfernte sie sich auf eigene Faust? War sie abhängig von einer Gruppe oder jemandem hörig? Und jetzt kam diese unglaubliche Mitteilung. Die SMS, die Adi an seine Mutter schrieb, um sie zu bitten, mit ihm Kontakt aufzunehmen, konnte nicht zugestellt werden. Er war komplett verwirrt und entschied, den Ort, dessen Koordinaten ihm Lilly gesimst hatte, umgehend aufzusuchen. Er wählte die Nummer der SMS, die Lilly ihm geschickt hatte, um ihr das mitzuteilen, doch sie nahm nicht ab. Statt bis zum nächsten Morgen zu warten, setzte sich Adi in Grits Auto, das sie ihm geliehen hatte, und machte sich gegen Mitternacht auf den Weg. Es war regnerisch und windig; nach fünf Stunden erreichte Adrian das Ziel, das Lilly ihm mit den Koordinaten mitgeteilt hatte und fand sich auf einem Parkplatz am Rand eines dichten Laub- und Tannenwalds ein, der ihm die Märchenwelt seiner Kindheit unmittelbar in Erinnerung rief. So gewaltig erstreckte sich der Wald über die Anhöhe, die sich vom Parkplatz aus erhob. Würden jetzt in der Morgendämmerung aus dem mit Regentropfen benetzten Laub Räuber, Hexen und Trolle treten, um ihn, Adrian, zu ergreifen und zu entführen? Kreischende Rabenvögel flogen aufgescheucht von den Bäumen. Wer das verursachte, fragte sich Adrian, wer erwartete ihn zwischen den Bäumen, in einer Höhle oder in einer versteckten Hütte? War das Lilly, die hier eine vom Fluch des Internets verzauberte Fee abgab? Er stieg aus dem Auto; da platzte das Klingeln seines Handys in den beginnenden Tag und weckte die allem Anschein nach schlafenden Bäumen. Adrian nahm das Gespräch an.

„Jetzt bist du tatsächlich da“, sagte eine Stimme, die der Stimme Lillys glich, „aber du bist zu spät, du Schuft, du hast deinen Vater warten lassen und ihn deshalb verpasst. Schande, Adrian, Schande über dich, du Schuft …“

„… was wirfst du mir vor, Lilly?“, rief Adrian dazwischen, „schneller hätte es gar nicht gehen können …“

„Du hast mir nicht geglaubt, dass Papa lebt, viel zu lang hast du gezögert, um dich auf den Weg zu machen. Nun war es umsonst.“

„Wo bist du denn? Ich möchte dich sehen und wissen, wo du bist.“

„Ging es dir nicht um Papa? Ging es dir etwa um mich? Wolltest du mir beweisen, dass ich dich belüge, wenn ich dir sage, dass Papa lebt? Du bist ein Schuft, Adrian! Aber komm hoch zu mir.“

„Wo bist du jetzt? Wie komme ich zu dir?“