Falkenflug - Rainer Gottwald - E-Book

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Rainer Gottwald

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Beschreibung

Alles fängt ganz harmlos an: Kommissar Melchior, der gerade eine Scheidung hinter sich hat und sein Leben neu ordnen will, wird zu einem Verkehrsunfall gerufen. Der Fahrer, ein Deutscher libanesischer Herkunft ist tot. Die Beifahrerin scheinbar schwer verletzt. Am Unfallort taucht Dr. Goldberg auf, ein Privatdetektiv, der behauptet, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um Mord handelt. Tatsächlich ist die junge Frau Mitglied einer Sondereinheit des israelischen Geheimdienstes, deren Aufgabe die Bekämpfung des Terrors ist. Als herauskommt, dass der Tote an einem geheimen Serum geforscht hat, gerät Melchior in ein Netz aus Lügen, Intrigen und der Gier nach Geld.

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Klaus G. Förg, RosenheimLektorat und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

eISBN 978-3-475-54399-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Rainer Gottwald

Falkenflug

Alles fängt ganz harmlos an: Kommissar Melchior, der gerade eine Scheidung hinter sich hat und sein Leben neu ordnen will, wird zu einem Verkehrsunfall gerufen. Der Fahrer, ein Deutscher libanesischer Herkunft, ist tot. Die Beifahrerin scheinbar schwer verletzt. Am Unfallort taucht Dr. Goldberg auf, ein Privatdetektiv, der behauptet, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um Mord handelt. Tatsächlich ist die junge Frau Mitglied einer Sondereinheit des israelischen Geheimdienstes, deren Aufgabe die Bekämpfung des Terrors ist. Als herauskommt, dass der Tote an einem geheimen Serum geforscht hat, gerät Melchior in ein Netz aus Lügen, Intrigen und der Gier nach Geld.

Prolog

Die Tür zu dem mit teuren Teppichen und Gobelins ausgelegten Renaissancezimmer öffnete sich mit leichtem Knarren. Ein Saaldiener im Frack kam herein, in seinem Gefolge ein etwas dicklicher, schwitzender Mann in einem dunkelblauen Zweireiher. Der Saaldiener deutete auf den schweren Holztisch in der Mitte des Zimmers.

»Voici le téléphone, Monsieur le Sécretaire d’état.«

Der andere nickte.

»Merci beaucoup.«

Der Saaldiener verneigte sich würdevoll und ging hinaus. Der Mann im Zweireiher wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, dann nahm er den Hörer ab und drückte einen Knopf.

»Hallo?«

»Herr Staatssekretär? Wieland hier.«

»Wieland? Ich hoffe nur, Sie haben einen triftigen Grund, mich zu stören. Ich bin mitten in der Sitzung.«

»O ja, Herr Staatssekretär. Den habe ich. Unser Mann in Bayern meldet sich nicht mehr.«

Schweigen. Drei, vier Schrecksekunden.

»Herr Staatssekretär?«

»Ja, ich bin da … Wie lange schon?«

»Die Routinemeldung ist drei Stunden überfällig. Wir müssen davon ausgehen, dass er ausgeschaltet wurde.«

»Mein Gott!«

»Nach seinem letzten Bericht …«

»Ich weiß, was in seinem letzten Bericht stand. Offensichtlich hat er recht gehabt. Um Gottes willen, Wieland, die Aktion muss gestoppt werden, mit allen Mitteln und so schnell wie möglich …«

»Ich gebe die entsprechenden Anweisungen.«

»Sofort! Sie wissen, was passieren könnte, wenn irgendein Wahnsinniger … Ich darf gar nicht daran denken! Noch etwas, Wieland: Die Öffentlichkeit darf unter keinen Umständen erfahren, was geschehen ist – und was noch geschehen kann!«

»Ich werde mein möglichstes tun, Herr Staatssekretär. Auf Wiederhören.«

Der Mann im Zweireiher legte das Telefon auf die Konsole, schloss kurz die Augen und ging dann langsam zum Fenster. Er blickte hinab auf den Quai d’Orsay, im Hintergrund glitzerte die Seine. Er empfand es heiß und stickig in dem Raum und das war nicht nur die Folge der großen Hitze.

»Mein Gott!«, sagte er nochmals. »Was haben wir da angerichtet …«

1.

»…und nicht vergessen: Deine Mutter holt dich pünktlich um eins von der Schule ab, Kumpel!«, sagte C.B. Melchior.

»Gebongt, Chef!«, antwortete Moritz Melchior. Seit einiger Zeit nannte er seinen Vater »Chef«, nachdem er mitbekommen hatte, dass sein großes Idol Hans Schweingruber ihn immer so ansprach, was nun wiederum Melchior etwas irritierte. Warum fand er selbst so selten einen Zugang zu den Gedankengängen seines Sohnes, und warum fand ihn Schweingruber so leicht?

»Gut. Dann bis in einer Woche. Ach Moment … Hast du alles? Pausenbrot, Bücher, Hefte?«

»Mann, du nervst! – Servus!«

»Und dir auch einen schönen Tag …«

Melchior schloss die Tür hinter seinem davonstürmenden Sohn. Gut ein halbes Jahr wohnten die beiden jetzt schon in dem legendären Appartement 505, das zuvor der verstorbenen Michaela Griese gehört hatte. Nach den normalen Anpassungsschwierigkeiten – Stichwort: Wer hat denn hier den Fernseher gekauft? – hatten sich die beiden sehr gut eingelebt. Das Verhältnis hätte Melchior als gut bezeichnet. Von den üblichen Macken eines Zwölfjährigen abgesehen, gab es keine echten Probleme zwischen Vater und Sohn. Was aber nichts bedeuten musste. Die Pubertät lauerte schon …

Aber momentan war Melchiors Leben in Ordnung – ein Beweis mehr dafür, dass man sich einer neuen Herausforderung nur zu stellen brauchte. Die Angst, die man vorher davor hatte, pflegte sich in den meisten Fällen als übertrieben zu erweisen. Das Problem mit dem Fernseher wurde dahingehend gelöst, dass Melchior sich das Vorrecht ausbedang, eine Sendung anzusehen – sein Sohn hatte dann die Wahl zwischen schmollen auf seinem Zimmer oder surfen im Internet. Die Wahl fiel ihm selten schwer, auch wenn Melchior ihm öfters mal angelegentlich die Message zukommen ließ, wie traurig er es doch fände, immer nur mit »Nullen und Einsen«, wie er es nannte, zu kommunizieren als mit lebendigen Menschen, also immer nur zu chatten und zu twittern.

Melchior hingegen überließ seinem Sohn den Fernseher, wenn für ihn nichts Passendes lief. Manchmal geschah dies zähneknirschend, wenn er mitbekam, was für Schwachsinn sich die heutige Jugend so ansehen musste – seine besonderen Favoriten: Reality-Soaps. Er sparte dabei auch nicht mit giftigen Zwischenbemerkungen über die Macher, Inhalte und tragenden Personen dieser Programme, widmete sich dann aber hauptsächlich seiner neuen Leidenschaft: Er wollte ein Computerversteher werden – spät, aber nicht zu spät!

Alle anderen Probleme, vor denen Melchior so viel Angst gehabt hatte, waren kleiner, als er befürchtet hatte. Kochen, putzen, die Führung eines Haushaltes hatte er im Nu begriffen – wenn seine Arbeit im Detail auch noch verbesserungsfähig war. Für die extremen Fälle hatte ihm der Hausmeister des Wohnblocks eine Hilfe vermittelt, die, ohne zu heftige Forderungen zu stellen, zwei bis drei Mal im Monat vorbeischaute, um die gröbsten Missstände zu beseitigen.

Die zeitliche Abstimmung mit seinem Sohn war optimal. Was er nie für möglich gehalten hätte: Seiner Bitte nach etwas flexibler gestalteten Arbeitszeiten war anstandslos entsprochen worden. So hatte er öfters unter der Woche ein, zwei Tage oder wenigstens die Nachmittage frei und arbeitete dafür am Wochenende, wenn der Sohn bei seiner Mutter in München war – um korrekt zu sein: in Aying. Zwar arbeitete die Frau Mama in München, aber die dort geforderten Mieten waren ihr doch zu happig gewesen, und so hatte sie sich in Abänderung ihres ursprünglichen Planes entschlossen, lieber eine billigere Wohnung außerhalb der Großstadt und mit S-Bahn-Anschluss zu nehmen.

Dass Melchior diese Zugeständnisse relativ leicht bekam, lag auch an einigen Neuerungen innerhalb der Dienststelle. Zum einen hatte zum ersten Januar eine neue Staatsanwältin ihren Dienst angetreten. Ihr Vorgänger, Staatsanwalt Lesch, war in Pension gegangen, was Melchior nicht in Tränen hatte ausbrechen lassen. Ihr Verhältnis hatte sich in der letzten Zeit zwar merklich gebessert, war aber niemals freundschaftlich geworden. Leschs Nachfolgerin erwies sich als sehr verständnisvoll im Umgang mit allein erziehenden Vätern – und ganz besonders im Umgang mit Melchior! Er war nur zu beschäftigt, um das überhaupt zu bemerken!

Ihr Name war Anneliese Kalteis – womit eine gewisse Affinität zu CBM bereits programmiert war, wovon man bei einer Frau Müller nicht so ausgehen hätte können. Sie hatte zuvor als Referendarin in München gearbeitet, genauer gesagt im Innenministerium, hatte also durchaus Ahnung von der Materie, war irgendwo in den mittleren Dreißigern und momentan nicht liiert. Es war für das gesamte Revier offensichtlich, dass gewisse Türen mindestens einen Spalt weit offen standen. Aber, wie gesagt, Melchior hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, ob er an einem mehr als nur kollegialen Kontakt Interesse hatte oder nicht, weil ihn sein neues Leben viel zu sehr in Beschlag nahm.

Zum anderen hatte es zum neuen Jahr zwei Beförderungen gegeben. Melchior war jetzt endlich Hauptkommissar, wie es seinem Alter längst angemessen war. Wollen wir frohlocken, wie Schweingruber es ausgedrückt hatte! – Ach ja, Schweingruber … Kriminalkommissar Hans Schweingruber, bitte schön! Der Junge hatte jetzt also auch seinen ersten Stern auf der Schulter, was auch Zeit wurde und wahrhaftig hoch verdient war.

Die Logik dahinter war: Wenn ein Kriminalkommissar Dienst hatte, war der Hauptkommissar leichter zu ersetzen. Ergebnis: flexiblere Arbeitszeiten.

Wie heute. Und es war nötig, dass er an diesem Tag frei hatte. Es war noch ein Küchenschrank zusammenzubauen und aufzustellen. Das ist an sich kein großes Problem, außer man macht eines draus. Es handelte sich um den Rest der neuen Küche – man gönnt sich ja sonst nichts, oder? Und für die alte hatte er sogar noch ein paar Euro bekommen! Herd und Spüle, Kühlschrank sowieso, waren längst installiert, nur der eine Hochschrank lag noch in Einzelteilen herum. Problematisch konnte höchstens werden, ihn dann in der Miniaturküche unter Einsatz eines Schuhlöffels an seinen Platz zu bringen, wenn er denn einmal zusammengebaut sein würde. Da hatte Melchior noch keinen Plan, aber der würde ihm schon noch einfallen.

Sein Sohn war – Schulferien! – für die nächste Woche aus dem Haus und daher unfähig, ihm heute im Weg zu stehen.

So gab er sich dem selbstgestellten Anspruch hin, heute die Küche fertigzustellen und morgen im Kommissariat gemütlich zu arbeiten. Die Welt ist schön!

Aber die Realität war ganz, ganz anders! Und die Welt war keineswegs schön, sondern würde nach dem heutigen Tag nie mehr dieselbe sein!

Es begann – wie so oft – ganz harmlos mit dem Klingelton des Handys. Melchior legte den Inbusschlüssel zur Seite und warf einen misstrauischen Blick auf das Display. Er schüttelte entschieden den Kopf, nahm den Anruf aber dennoch entgegen.

»Hans, du störst. Und die Antwort ist nein!«

»Oh, Chef – nix gut, Chef! Groß, viel Problem …«

Immer dasselbe mit dem frisch gebackenen Herrn Kommissar, dachte Melchior. Wenn er etwas Unangenehmes zu sagen hatte, flüchtete er sich in Blödeleien oder Babysprache. Aber diesmal war der Gott der Heimwerker gegen ihn!

»Ich habe zu tun, Hans. Da hilft kein Betteln!«

Aber Schweingruber hatte einen Wurm an der Angel, der sich gewaschen hatte!

»Okay. Dann entgeht dir aber so was von einer Leiche, das wollte ich nur sagen, bevor ich auflege. Pff, schaffe ich doch locker allein! Wer braucht schon einen Hauptkommissar wegen so einer mickrigen Leiche!«

»Leiche?« Das war ja dann doch etwas anderes …

»Ziemlich tote Leiche sogar, Chef«, fuhr Schweingruber begeistert fort.

Aha. So ist das! Und … wenn man jetzt den Schrank am Abend oder auch morgen früh aufbauen würde, wäre das eventuell möglich?

2.

»So, und jetzt in aller Ruhe. Was ist passiert?«

Fünf Minuten später. Schweingruber hatte Melchior, der sich in Windeseile umgezogen hatte, wie immer denselben Anzug, dazu Turnschuhe – pfeif auf das Diktat der Mode! – vor dessen Haustür abgeholt.

Der Kommissar grinste von einem Ohr zum anderen. »Verkehrsunfall. Eine leicht verletzte Fahrerin, ein Toter auf dem Beifahrersitz.«

Melchior schaute ihn entgeistert an.

»Und deshalb die ganze Aufregung, Mann? Stopp sofort! Retour! Du spinnst wohl! Das kannst du doch wirklich alleine machen!«

Schweingruber hob beschwichtigend eine Hand.

»Wart halt erst mal ab, Chef! Es kommt schon noch was.«

»Das möchte ich dir auch raten«, grummelte Melchior.

»Du kennst die Bahnunterführung draußen in Westerndorf? Also, soweit ich weiß, ist Folgendes passiert: Lastwagen stadtauswärts, durch die Unterführung sehr langsam, weil er passt gerade mal so durch ohne Vaseline. Auto von Großkarolinenfeld her in zu schneller Fahrt, nix bremsen, weil Fahrer träumt vom FC Bayern, ungespitzt in die Mauer – bumm hat’s g’macht!«

Melchior hatte es längst aufgegeben, Schweingruber beibringen zu wollen, Berichte in Amtsdeutsch abzugeben. Vielleicht wollte er ihm seinen ureigenen Stil auch gar nicht abgewöhnen.

»Und?«

»Die Fahrerin hatte intensiven Kontakt mit dem Airbag. Außerdem war sie angeschnallt. Dem Beifahrer ward derart Glück nicht zuteil. Weder – noch! Kopf – Windschutzscheibe – bumm – aus die Maus!«

»Und?«, fragte Melchior nochmals ungeduldig.

»Es gibt einen Zeugen, der hinter dem Unglücksauto herfuhr, und der hat uns angerufen. Er behauptet, bei dem Toten sei der Tod vielleicht schon früher eingetreten als beim Urknall. – Und bevor du jetzt ›und‹ sagst, Chef: Erstens ist der Mann privater Ermittler, also vom Fach, und zweitens sind wir laut Dienstanweisung Paragraf soundso verpflichtet, einer solchen Anzeige nachzugehen …«

»Geschenkt, Herr Kommissar! Wie kommt der Zeuge zu seiner Meinung?«

Schweingruber machte eine entschuldigende Geste. »Hat er nicht gesagt. Nur dass er Beweise hat und dass schleunigst ein kompetenter Obrist erscheinen soll – das waren seine Worte – bevor die Burschen von der Streife ihm die Spuren kaputt machen können!«

Ein Obrist! Was für ein seltsamer Ausdruck für einen leitenden Ermittler, dachte sich Melchior. Das Auto der beiden hatte inzwischen das Ortsende von Rosenheim erreicht und fuhr in das direkt angrenzende Westerndorf St. Peter ein. Links abbiegen, dann noch etwa einen Kilometer und sie konnten den Unfallort bereits erkennen. Melchior kannte die besagte Unterführung natürlich – sehr eng, sehr niedrig. Immer wieder unterschätzten Lastwagenfahrer die Höhe ihres Gefährts und hatten zu tun, ohne Schaden durch die Öffnung zu kommen. So weit, so gut.

Die stadtauswärts fahrenden Verkehrsteilnehmer hatten Vorfahrt. Wenn dieser Lastwagen in der Unterführung stand oder langsam fuhr, hätte das ein von außerhalb kommender PKW in jedem Fall rechtzeitig sehen und anhalten müssen. Wieso fuhr in diesem Fall das Auto frontal gegen die Wand? Versagen der Bremsen oder ein anderer Grund? Das Auto musste jedenfalls kriminaltechnisch auf eventuelle Manipulationen untersucht werden, dachte sich Melchior.

»Wissen wir etwas über den Schnüff …, den privaten Ermittler?«

»Keine Zeit«, meinte Schweingruber entschuldigend. »Aber wenn du willst, könnten wir Furtner anrufen …«

Melchior winkte ab. »Lass gut sein. Wir werden den Herrn schon kennenlernen!«

3.

Melchior und Schweingruber trafen um 10:53 Uhr an der Unfallstelle ein. Man könnte sagen, dass Melchior dann doch mit einer gewissen Gereiztheit zu Gange war. Denn ein Beamter der Kripo, der eigentlich dienstfrei hatte, geht nur ungern irgendwelchen vagen Hinweisen nach, die irgendein Privatmann irgendwo entdeckt haben will. Aber es bestand ja immerhin die Möglichkeit – na, Melchior würde es erfahren – viel mehr, als ihm lieb war!

Die Unfallstelle war von den Kollegen bereits gesichert. Der spärliche Verkehr wurde an dem Unfallwagen vorbeigeleitet. Der Wagen selbst bot ein ziemlich trauriges Bild: zusammengefaltet und nur noch den Kilopreis wert. Der Notarzt war vor ein paar Minuten mit der Leichtverletzten abgefahren. Er war Melchior und Schweingruber entgegengekommen. Die Leiche des anderen lag unter einem Tuch neben dem Unfallauto. Doktor Gerstner, der normalerweise immer schon vor Melchior am Fundort war, ließ heute mal auf sich warten. Merkwürdig!

Von dem Lastwagen, der in gewisser Weise der Grund für den Unfall gewesen war, fehlte jede Spur. Sehr merkwürdig!

Schweingruber parkte den Wagen auf der rechten Fahrbahnseite. Hier konnte er kaum stören. Die beiden Männer stiegen aus und grüßten kurz die Kollegen. Direkte Zeugen des Geschehens gäbe es außer dem einen nicht, wie die Kollegen bestätigten. Sie wirkten etwas ungehalten wegen des Aufwandes, der hier betrieben wurde. Zwei Kommissare wegen eines Unfalls.

Melchior zuckte nur mit den Achseln und verwies auf die Dienstanweisung Paragraf soundso. Er warf einen kurzen Blick unter das Tuch: Der Mann war offensichtlich tot. Genauer wollte er gar nicht hinschauen.

Etwas abseits vom Geschehen stand ein Mann in Polohemd und Bermudashorts – offensichtlich ein weiterer äußerst modebewusster Mensch – und rauchte eine Zigarette – was Melchior spontan an etwas erinnerte. Er hatte das ganze Jahr noch nicht geraucht! Die Kollegen deuteten bei Melchiors fragendem Blick auf diesen Mann.

Der Kerl hieß also Goldberg. Robert Goldberg.

»Einzigartig. Ohne Variationen«, erklärte er grinsend, um auf Melchiors fragenden Blick hinzuzusetzen: »Die Goldberg-Variationen … Johann Sebastian Bach. Sie verstehen nichts von klassischer Musik, oder?«

Nein, verstand Melchior nicht und den Witz auch nicht.

Goldberg war groß, etwa 1,85, ein wenig älter als Melchior, so um die fünfundvierzig, etwas schwerfällig um die Hüften, aber früher mal muskulös. Die mittellangen blonden Haare zeigten die ersten Spuren von Grau. Aus dem runden, offenen, glatt rasierten und nur wenig gebräunten Gesicht blickten zwei klare, helle, wache Augen, die sich, wenn er zuhörte, immer leicht verengten, als wolle er damit sagen: Na, was erzählst denn du jetzt wieder für einen Quatsch? Prinzipiell war er Melchior auf den ersten Blick nicht unsympathisch, aber eben jemand, der hier, heute und jetzt den Zusammenbau seines Küchenkastens vermutlich für nichts und wieder nichts ruinierte.

Er gab Melchior seine Personalien, seinen Ausweis und seine Zulassung als Privatdetektiv – na ja, jeder muss schließlich wissen, wovon er lebt – und begann ohne Umschweife zu erzählen – in einer seltsamen Mischung aus geschliffener Ausdrucksweise, fast Amtsdeutsch, und ausgiebig schnoddrigen Einfügungen.

»Ich fuhr etwa gegen 10 Uhr von Großkarolinenfeld Richtung Westerndorf. Die Straße war frei. Plötzlich schoss vor mir aus einer Einfahrt – einem Waldweg – ein silberner Opel Omega heraus … äh, dabei handelt es sich natürlich um das Stück Wellblech da … Ich übertreibe nicht. Der Wagen, obwohl er aus einem ungeteerten Weg kam, war so schnell, dass er sogar kurz quer stand, was allerdings auch an dem Kies liegen konnte, der auf der Straßenbegrenzung lag. Geschätzte Geschwindigkeit beim Austritt: 60, vielleicht sogar 70 Stundenkilometer. Gefahr für mich bestand nicht, da ich noch genügend Abstand hatte und meine Geschwindigkeit relativ gering war. Ich musste jedoch abbremsen, um nicht aufzufahren, bis der Omega sein Tempo erhöht hatte. Ich tat das, was ein deutscher Autofahrer in so einer Situation nun mal macht: Nachdem klar war, dass ich mich nicht in unmittelbarer Gefahr befand, drückte ich Hupe und Lichthupe gemeinsam und drohte dem anderen – der anderen, wie ich an den langen schwarzen Haaren erkennen konnte – mit der Faust. Es war ein sinnloses Gebaren, aber es tut nun mal gut! Reaktion der gegnerischen Partei gleich null. Natürlich!

Ich folgte also dem Omega, bis wir zu der Eisenbahnunterführung kamen. Ich reduzierte meine Geschwindigkeit und registrierte die Tatsache, dass erstens ein Lastwagen in Gegenrichtung durch die Unterführung fahren wollte und zweitens an dem Omega keinerlei Bremslichter zu sehen waren. Eine eiligst durchgeführte Hochrechnung ergab eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Crash. Der Omega bremste auch weiterhin nicht, wich aber nach rechts aus. Damit entfiel die Möglichkeit eines Frontalaufpralls auf den Lastwagen, der mittlerweile langsam durch die Unterführung kroch. Der Omega peilte ungebremst, geschätzte Geschwindigkeit annähernd 70, die steinerne Brückenumrandung an. Alternativen gibt es ja sonst keine. Um es kurz zu machen: Der Aufprall war heftig. Ich habe noch nie live und vom Logenplatz aus mit angesehen, wie sehr sich ein Auto in seinem Aussehen innerhalb weniger Zehntelsekunden verformen kann. Ich bremste und hielt an. Mein Mitgefühl für die Fahrerin des Omega hielt sich in Grenzen …«

Melchior unterbrach ihn an dieser Stelle. Er hatte dem anderen bis dahin immer interessierter zugehört, aber jetzt hielt er es doch für nötig, auch mal eine Zwischenfrage zu stellen.

»Keine Bremslichter, sagten Sie? Sicher?«

»Total sicher. – Ich stieg aus. Der LKW hatte ebenfalls gehalten, stand aber noch halb in der Unterführung, die damit blockiert war. Ich sah zum Fahrersitz hinauf. Der Fahrer hatte sein Handy in der Hand und telefonierte. Mit der Polizei, wie ich vermutete. Ich begab mich zu dem Wellblech. Der Fahrerin konnte normal nicht viel passiert sein. Ich hatte den Airbag in der Sekunde des Aufpralls gesehen. Ich bin kein Verkehrsexperte, aber Gurt und Airbag, das müsste eigentlich reichen, um heil aus der Sache raus zu kommen.

Etwas Benzin lief aus. Ich verzichtete daher auf das Anzünden einer Zigarette. Explosionsgefahr bestand ja sowieso nicht, alles nur ein Märchen der Filmproduzenten!

Wie gesagt, ich rechnete nicht mit Blut, heraushängenden Gedärmen oder offenen Knochenbrüchen, als ich mich zur Fahrertüre hinabbeugte. Und der Lenkerin des Omega war auch nichts davon passiert.

Dummerweise gab es da noch den Beifahrer. Ich hatte bis zu diesem Moment – seltsam, wie ich sofort fand – nichts von ihm gesehen oder geahnt. Und dieser Beifahrer hatte weder Gurt noch Airbag gehabt, warum auch immer – das müssten Ihre Techniker klären! Mein erster Eindruck war, dass ihm keiner mehr helfen konnte, es war auch kein sonderlich schöner Anblick, also kümmerte ich mich nach Überwindung einer Schrecksekunde zunächst um die Frau, die – sorry, das ist jetzt unpassend, aber der Vollständigkeit halber – bemerkenswert gut aussah: lange, schwarze Haare, nicht westeuropäisch, eher slawisches Gesicht. Trägerloses Kleid oder Shirt. Ich sah nur die Schultern unter dem Airbag. Sie atmete. Das Fenster war unten. Ich sagte irgendetwas wie: ›Hallo‹ und ›Können Sie mich hören?‹ oder so ähnlich. Sie antwortete nicht. Ich griff hinein und gab ihr einen leichten Klaps auf die Backe. Keine Reaktion. Komplett weggetreten. Aber sie atmete. War wohl besser, auf den Notarzt zu warten, dachte ich mir.

Ich ging um das Wrack herum. Kein schöner Anblick, das Auto wie auch der Beifahrer, eindeutig ein Araber, jedenfalls ein ehemaliger Araber! Der war hinüber, kein Zweifel. Er klebte mit dem Kopf voraus an der Windschutzscheibe. Das Genick war vermutlich gebrochen, so wie der Kopf nach hinten gebogen war. Er hatte eine tiefe Wunde an der Stirn, vermutlich vom Aufprall … oder auch nicht! Und jetzt wird es interessant: Ich verwette meine Zulassung als privater Ermittler, dass da etwas nicht stimmt. Sehen Sie …«

Goldberg deutete auf die Windschutzscheibe.

»Praktisch kein Blut an der Windschutzscheibe. Im Gesicht des Toten genug, mehr als genug übrigens, außerdem reichlich getrocknet! Aber wenn so viel Blut in seinem Gesicht ist, wieso ist dann nichts davon an der Scheibe? Leuchtet ein, nicht wahr? Ich wollte gerade versuchen, die Tür zu öffnen, da sah ich an ihrer Unterkante – außen wohlgemerkt – einen deutlichen Blutfleck. Schauen Sie sich das an – hier. Ich wischte mit dem Finger darüber. Sie können meine Spur sehen. Etwas angetrocknet, relativ frisch, ließ sich noch verschmieren. Wie, zum Henker, kommt bei geschlossener Tür – und auch das Fenster war vor dem Aufprall dicht – Blut an die Außenseite des Wagens? Das frage ich Sie!«

Melchior musste zugeben, dass er sich die Blutflecken an der Tür des Unfallautos auch nicht erklären konnte, ebenso wenig den Umstand – Goldberg zeigte ihm Bilder, die er sofort, noch vor Eintreffen der Polizeistreife, mit seiner Digitalkamera gemacht hatte –, dass der Tote zwar reichlich Blut verloren hatte, davon aber so gut wie nichts auf der Windschutzscheibe zu sehen war. Er warf Schweingruber einen fragenden Blick zu, doch der zuckte auch nur zögernd die Schultern. Melchior kratzte sich am Kopf und begann, sich damit anzufreunden, dass Goldberg vielleicht recht hatte.

»Wo ist eigentlich der Lastwagen abgeblieben?«, fragte er.

Goldberg hob die Hände. »Und noch so eine komische Sache! Mag ja sein, dass er unter Termindruck steht, geb ich gerne zu – aber einfach so von hinnen zu düsen, ist nicht die feine Truckerart. Er rief mir nur vom Fenster aus zu, dass er die Polizei verständigt hätte und keine Zeit habe. Und fort war er. Das Kennzeichen habe ich den Kollegen gegeben. Machen Sie mit ihm, was Sie für nötig halten.«

Melchior kam die ganze Sache immer merkwürdiger vor, aber das gewohnte Kribbeln im Bauch, das ihn immer überkam, wenn er einem interessanten Fall gegenüberstand, wollte sich nicht einstellen. Der frischgebackene Kommissar Schweingruber stand die ganze Zeit über seltsam still in der Landschaft und betrachtete eher dieselbe als den Unfallort. Auch das steigerte nicht Melchiors Ehrgeiz.

»Hören Sie«, sagte Goldberg eindringlich, weil er den Zweifel der beiden Ermittler spüren konnte. »Ein bisschen was verstehe ich von meinem Job. Hier ist etwas oberfaul. Das rieche ich. Der Kerl ist nicht in dem Auto gestorben …« Melchior sah sich inzwischen die von den Kollegen sichergestellten Papiere genauer an. Der Ausweis der Lenkerin des Unfallautos lautete auf den Namen Sarah Onyschenko. Komischer Name, aber na gut! Der Tote war ein gewisser Doktor Ahmed Chalir, 53 Jahre alt. In welchem Fachbereich er promoviert hatte, war daraus nicht zu ersehen. Ausgestellt waren beide Papiere in München. Der Fahrzeugschein hingegen war bisher nicht aufgetaucht. Im Auto befand er sich jedenfalls nicht. Das war immerhin verdächtig.

Nun, wie dem auch sei: Handeln musste Melchior so oder so. Herumstehen und auf besseres Wetter warten bringt nichts. Die Dienstanweisung …

»Hans, walte deines Amtes. Überprüfung der Personalien der beiden Insassen sowie Überprüfung des Wagens unter besonderer Berücksichtigung von vermissten oder als gestohlen gemeldeten Autos. Wie lange braucht dein Computer dafür?«

Schweingruber zeigte sich nicht begeistert, winkte aber nur kurz ab, was soviel hieß wie: »Fast schon erledigt.« Er schaltete sein Notebook ein und machte sich an die Arbeit.

In der Zwischenzeit hörte sich Melchior weiter den Bericht Goldbergs an. Er wurde aus dem Mann nicht recht schlau. Er bewegte sich nahe am Zynismus, was seiner Vergangenheit geschuldet sein mochte, was immer da geschehen war, aber er war mit Sicherheit kein reiner Dampfplauderer. Der Mann wusste durchaus, wovon er sprach. Sein Beruf … Viele Private waren zuvor selbst einmal Polizisten oder bei Security-Firmen.

Schweingruber beendete gerade seine Arbeit am PC. Er blödelte nicht. Er grinste nicht. Er lieferte seinen Bericht sachlich ab – ein ganz böses Omen!

»Der Tote ist registriert. Wohnhaft in München. Adresse bekannt. Deutscher Staatsbürger. Die Frau ist dem Computer unbekannt. Die Ausweisnummer ist jedenfalls nicht registriert.«

»Gefälscht?«

Er machte eine vage Handbewegung. »Kann ich nicht beurteilen. Müsste man dem Labor geben. Aber der Verdacht liegt nahe.«

»Und das Auto?«

»Seit heute früh in Rosenheim als gestohlen gemeldet.«

Das sagte er so dahin, als wäre es nichts, ohne zu blödeln, ohne Begeisterung, ganz sachlich. Eine Frau mit nicht registriertem Ausweis, ein gestohlenes Auto und ein toter Araber mit gültigem deutschen Pass. Na herrlich! Goldberg verengte seine Augen noch ein bisschen mehr und ließ auf anatomisch interessante Weise die Augenbrauen über die Stirn wandern. Dann breitete er die Arme aus, als wollte er sagen: Na also!

Melchior sah Schweingruber kopfschüttelnd an, verwundert über dessen eigenartiges Verhalten, entschied sich dann aber für Dienst nach Vorschrift. Wie du mir, so ich dir!

»Hans, wir machen das jetzt so: Die Kollegen sichern weiter die Unfallstelle. Du hilfst ihnen. Hol bitte die Spurensicherung. Sie sollen sich den Unfallwagen genauer ansehen. Ab in die Garage damit. Außerdem verständigst du das Krankenhaus, in das die Frau gebracht wurde und ordnest Sicherheitsverwahrung an. Wache vor die Tür. Grund … Verdunkelungsgefahr. Das kommt immer gut. Ach ja, und Doktor Gerstner, wenn er denn endlich geruht zu erscheinen … Obduktion bei dem Toten.«

Schweingruber nickte bei allen Punkten, zwar weniger skeptisch, aber dennoch ohne Begeisterung. Melchior wandte sich wieder Goldberg zu, der inzwischen bis zu den Ohren grinste. Melchior konnte es ihm nicht verdenken und lenkte ein.

»Vorschlag zur Güte, Sie Schlaumeier … Warum setzen Sie sich nicht in unser Auto und wir fahren zu dem Waldweg, aus dem der Omega – wie sagten Sie noch – herausgeschossen kam? Was meinen Sie?«

Goldberg nickte anerkennend und zeigte mit dem Finger auf Melchior.

»Gute Idee. Könnte fast von mir sein.«

4.

Wer Melchior kannte – Stichwort: Eigenbrötler – konnte sich vorstellen, dass ihm der Gedanke, von einer Sekunde auf die andere mit einem wildfremden Mann zusammenarbeiten zu müssen, zuwider war, selbst wenn ihm der andere durchaus sympathisch war. Aber es ging ja wohl nicht anders, jedenfalls im Moment.

Goldberg setzte sich gemütlich in Melchiors Dienstwagen zurecht und gab dann seine Theorie zum Besten:

»Also, ich sehe das so: der Mann ist in dem Waldstück getötet worden. Irgendwo dort! So, wie die Wunde aussah, hat man ihm mit einem stumpfen Gegenstand vor den Kopf geschlagen – einem Baseballschläger, einem Holzprügel, jedenfalls nicht mit einem Wagenheber oder einem Brecheisen. Die Obduktion wird es zeigen. Partikel der Tatwaffe müssten sich leicht finden lassen. Vielleicht hat er sie zu vergewaltigen versucht, und sie hat ihm den erstbesten Knüppel, den sie in die Finger kriegen konnte, über die Rübe gezogen. Und als sie merkte, dass er hinüber war, hat sie ihn in den Wagen verfrachtet und die Show mit dem Bremsversagen abgezogen.«

Das freilich ging Melchior entschieden zu weit. Außerdem war er für die Theorien zuständig und nicht irgendein Privatdetektiv.

»Na, na! Seien wir ehrlich. Ein Verteidiger würde sagen: Das ist ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Warum der ganze Aufwand? Wenn sie ihn in Notwehr getötet hat – und ich betone: wenn – und wenn sie diese Tat verschleiern will, kann sie ihn doch einfach am Tatort liegen lassen. Bis den einer findet, das kann dauern! Wozu das Theater?«

Goldberg wusste darauf keine Antwort. Er musste wohl selbst einsehen, dass die ganze Sache keinen Sinn ergab. Er schwieg, bis er Melchior nach etwa einem Kilometer durch einen Fingerzeig die Einfahrt in den Waldweg ankündigte.

»Dort drüben. Bremsen Sie ab!«

Melchior bog nach links in den holprigen Waldweg ein. Er war ungeteert, mit Gras in der Mitte, das am Unterboden schleifte. Sie fuhren vielleicht 150 Meter weit in den Wald hinein und kamen an einer Lichtung an. Ende des Holzweges! Von hier aus kam man nur zu Fuß weiter. Melchior hielt an. Entweder hier oder nirgends.

Sie mussten nicht lange suchen. Alles war offenkundig: das niedergetrampelte Gras, die Blutflecken – keine Blutlachen, nur Blutflecken, mehrere und an verschiedenen Orten. Interessant! Die Reifenspuren im morastigen Boden konnten von einem PKW stammen, vielleicht sogar von dem Omega. Aber das würde sich ja ohne weiteres feststellen lassen. Auf den ersten Blick hätte Melchior allerdings schwören mögen, hier wären zwei Autos zu Gange gewesen. Zu unterschiedlich waren die verschiedenen Reifenspuren. Aber die konnten natürlich auch älteren Datums sein. In dieser Hinsicht aber setzte er alle Hoffnung auf die Spurensicherung.

»Wenn Sie meine Sicht der Dinge hören wollen: Der Araber ist hier erschlagen worden. Sehen Sie das auch so, Herr Hauptkommissar?«

Melchior war trotz aller Vorbehalte inzwischen überzeugt. »Lassen Sie den Kommissar weg … Nur einfach Melchior, für gute Freunde. Und ja, ich sehe das eigentlich auch so. Aber es bleibt natürlich die Frage, was für eine absurde Show da abgezogen worden ist. Ich wiederhole: ob Mord oder Totschlag, ob Notwehr oder Berechnung. In jedem Fall lasse ich die Leiche doch hier liegen und packe sie nicht mühselig ins Auto.«

Goldberg schüttelte den Kopf. »Nein, nicht unbedingt. Wenn ich nicht zufällig an der Unfallstelle gewesen wäre und über ein paar Dinge stutzig geworden wäre, wäre das glatt durchgegangen. Ich bin sicher, sie hat das Auto mit voller Absicht gegen die Wand gefahren. Somit war es ein perfekter Mord. Gut, die Dame wäre dran gewesen, wegen des Unfalls mit Todesfolge, aber das ist mit Sicherheit das kleinere Übel …« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Quatsch! Ich rede Quatsch! Das Auto war ja gestohlen! Das wäre mit Sicherheit aufgeflogen …«

Melchior nickte. »Genau meine Rede! Das ist der Punkt! Dazu noch der gefälschte Ausweis. Damit wäre sie niemals durchgekommen – nicht wenn es ein so genannter perfekter Mord hätte werden sollen. Aber den gibt es sowieso nicht, jedenfalls solange ich ermittle. Man verzeihe meine Selbstironie! Also?«

»Also? Was dann? Totschlag? Noch dazu in Notwehr? Dazu braucht’s den Aufwand nicht.« Goldberg kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Verrücktes Teil!«

»Wir drehen uns im Kreis. Aber ich weiß, wer uns das alles fein säuberlich erklären wird.«

Goldberg deutete mit dem Zeigefinger auf Melchior. »Die schwarze Lady!«

»Genau! Sobald sie wieder aus ihrem Schönheitsschlaf erwacht ist. Und deswegen fahren wir jetzt gleich mal zum Krankenhaus.«

»Wir? Sie nehmen mich mit? Das ist aber nett von Ihnen!«

Melchior schmunzelte. »Ich kann Sie ja nicht in Unwissenheit sterben lassen. Schließlich haben Sie ja den Stein ins Rollen gebracht …«

Dass Goldberg dabei grinste wie der berühmte Maikäfer, ignorierte Melchior geflissentlich.

Die beiden Männer fuhren zurück zur Unfallstelle, die sich inzwischen mit allerlei Bekannten sowie der Feuerwehr gefüllt hatte: Doktor Gerstner, mit dem Melchior ausnahmsweise nur ein paar Worte in Sachen Dringlichkeit wechselte – er wusste ja schließlich selbst am Besten, worauf es ankam – sowie die altbekannten Kollegen Furtner und Grzyb von der Spurensicherung.

Furtner schielte inzwischen mit mehr als einem Auge auf die Pensionierung. Seiner Nachfolgerin, der Jüngsten im Team, Michaela Grzyb, wurde in der Dienststelle fälschlicherweise eine flüchtige Affäre mit Schweingruber nachgesagt, aber Melchior wusste es besser. Denn Schweingruber hatte ihm erzählt, dass er bei der jungen Kollegin bereits beim ersten Date hoffnungslos abgeblitzt war, als diese eines seiner humorig gemeinten Wortspiele in den falschen Hals bekommen hatte. Der kollegialen Beziehung hatte dies zum Glück keinen Abbruch getan.

Melchior instruierte die Kollegen, worauf es ihm in erster Linie ankam. Blutspuren des Toten im Auto, wo und wie viel, alles fein säuberlich dokumentieren, aber das war ja selbstverständlich. Das Auto durfte erst nach dieser Untersuchung abtransportiert werden, um dann sein Innenleben auf Manipulationen zu untersuchen. Noch immer war ja die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass ein Bremsversagen vorgelegen hatte. Außerdem musste geklärt werden, warum am Beifahrersitz der Airbag versagt hatte oder ob er gar deaktiviert worden war.

Schließlich beschrieb Melchior den Kollegen exakt den Weg zum vermutlichen Tatort und bereitete sie darauf vor, was sie dort erwartete. Besonderes Augenmerk sollten sie auf die Blut- bzw. Reifenspuren legen. Wenn sie dann noch im Unterholz die Tatwaffe finden könnten, wäre für ihn der Tag gelaufen, meinte er noch.

Hier aber irrte er gewaltig.

Blieb noch das Problem Schweingruber. Denn ein solches gab es offensichtlich. Aber Melchior verfiel einmal mehr in seinen alten Fehler: Er konnte sich in fast jeden Mörder hineinversetzen und denken, wie dieser dachte. Aber seinen besten Freund verstand er nicht!

Als Melchior ihm nämlich verkündete, dass er zusammen mit Goldberg ins Krankenhaus fahren würde und er, Schweingruber, in die Dienststelle düsen und einige Ermittlungen anstellen sollte, machte der ein Gesicht, als hätte er einen Hieb in die Magengrube bekommen. Jeder andere hätte verstanden, was los war – nur nicht Melchior …

5.

Das Rosenheimer Klinikum lag ziemlich nahe an Melchiors Dienststelle, praktisch um die Ecke. Die beiden Männer waren mit Goldbergs Auto gefahren. Sie betraten das Klinikum kurz nach halb eins. Sarah oder wie immer sie in Wirklichkeit hieß, war nicht in die Intensivstation verlegt worden, sondern lediglich in ein Einzelzimmer. Vierter Stock. Sie nahmen den Aufzug. Goldberg sagte verkniffen, er hasse Krankenhäuser, weil er den Tod hasse, der in Krankenhäusern lauere, auch wenn er den Tod selbst nicht fürchte. Melchior verstand ihn. So ein ähnliches Gefühl hatte er auch immer gehabt.

Vierter Stock. Nicht viel los um diese Zeit. Es war keine Standardbesuchszeit, und das Essen war auch schon ausgegeben. Ein paar Pfleger und Schwestern eilten durch die Gänge. Ein Arzt debattierte heftig mit der Stationsleitung, wobei er vermutlich unterlag. Ansonsten waren keine Zivilisten auf dem Gang. Melchior schüttelte ärgerlich den Kopf, als sie vor Sarahs Zimmertür standen und er feststellen musste, dass dort kein Kollege Wache stand.

»Irgendjemand bekommt heute noch einen Anpfiff«, knurrte er und öffnete die Tür.

Die Frau sah nicht schlecht aus – nicht medizinisch betrachtet und ansonsten sowieso nicht. Im linken Arm steckte eine Infusionsnadel, den Hals umschloss eine Halskrause, ein Krankenhausnachthemd bedeckte den Körper. Sie war zugedeckt bis zur Brust, die Arme lagen auf der Decke. Eine Herz-Kreislaufmaschine, oder wie immer das Zeug hieß, war mit Sensoren an ihrem Arm und mit einer Art Fingerhut an ihrem Zeigefinger befestigt und piepste vor sich hin. Melchior verstand nichts davon, aber die Zahlen auf dem Monitor besagten, dass sie einen Puls von 60 und einen Blutdruck von 90 zu 60 hatte. Er hielt das für halbwegs normal.

Goldberg nahm das Krankenblatt, das am Fußende des Bettes hing, in die Hand und sah es sich durch.

»Verstehen Sie, was da steht?«, fragte er und reichte Melchior das Blatt.

Ausgerechnet Melchior! »Keine Ahnung, was das hier heißen soll«, knurrte er nur. »Verdacht auf Gehirnerschütterung, das würde ich verstehen. Steht da aber nicht.«

Die Augen der Frau waren geschlossen. Goldberg sagte »Hallo«, aber sie reagierte nicht. Er sah Melchior an und zuckte mit den Schultern.

»Wir werden wohl oder übel warten müssen, bis sie aufwacht«, meinte Melchior. »Hoffentlich behauptet dann kein Arzt, dass sie nicht vernehmungsfähig ist. Dann wird’s richtig fad. Ich hab das schon mal mitgemacht. Mein Lieber, da kannst du warten, bis du schwarz wirst …«

Er holte sich einen Stuhl heran und setzte sich. Kein zweiter Stuhl im Saale. Auch gut!

»Soll ich einen Kaffee organisieren?«, fragte Goldberg.

»Gute Idee. Für mich schwarz, ein Stück Zucker. Was zu essen wäre auch nicht schlecht. Warten Sie, ich gebe Ihnen Geld …«

»Geht auf meine Rechnung. Sie können sich ja mal revanchieren, wenn’s beliebt.«

Melchior hob eine Hand. »Dann sag ich Danke!«

»Keine Ursache …«

Goldberg ging um das Krankenbett herum und warf noch einen letzten Blick auf Dornröschen. Gerade als er im Begriff war, weiterzugehen, zuckte er zusammen. Er fuhr herum und starrte auf ihren rechten Unterarm.

»Was ist denn?«, fragte Melchior.

Goldberg winkte ihm zu und legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. Dann betrachtete er das Tattoo genauer. Er griff in seine Hosentasche, holte einen kleinen Notizblock heraus und begann, das Tattoo abzuzeichnen. Melchior stand auf und sah sich an, was ihn so in Erstaunen versetzt hatte. Das nur etwa vier Zentimeter kleine, aber sehr kunstvolle Tattoo stellte einen Wanderfalken dar, im Schnabel einen Zweig. Am Ende des Zweiges hing etwas, das eine verteufelte Ähnlichkeit mit einer Handgranate hatte.

Inzwischen hatte Goldberg seine Aufzeichnungen beendet, steckte den Notizblock wieder an seinen angestammten Platz und deutete Melchior, mit ihm vor die Tür zu kommen. Der folgte bereitwillig, mit einer Mischung aus Neugier und leisem Groll, weil sich hier offensichtlich Dinge abspielten, die jenseits seines Horizontes lagen. Er begriff zum ersten Mal in Ansätzen, dass er in dieser Geschichte die zweite Geige spielte – und schlagartig erkannte er auch, was mit Schweingruber los war …

»Also, was ist los?«, drängte er, kaum, dass sich die Tür geschlossen hatte.

»Sie haben das Tattoo gesehen?«

»Sicher! Komisches Motiv.«

»Komisch weniger. Eher ein eindeutiges Motiv. Ich kann es jetzt nicht mit letzter Gewissheit …«

Er unterbrach, weil in diesem Moment ein Pfleger um die Ecke kam und er nicht wollte, dass dieser die Unterhaltung mithörte. Er nahm Melchior am Arm und zog ihn ein paar Meter von der Tür weg. Der Pfleger grüßte kurz im Vorbeigehen und öffnete die Tür von Sarahs Krankenzimmer. Goldberg atmete tief ein, bevor er weitersprach.

»Hören Sie, Melchior«, sagte er eindringlich, »ich kann Ihnen jetzt nicht allzu viel dazu sagen. Sie müssen mir einfach vertrauen, dass ich weiß, wovon ich rede, ja? Ich glaube zu wissen, was hier los ist. Das Tattoo … wenn ich mich nicht komplett täusche, dann gehört das zu einer Sondereinheit des Mossad. Also …« Melchior wollte etwas einwenden, aber der Andere schnitt ihm das Wort ab. »Warten Sie! Solche Tattoos, glaube ich, hatten die spirit of hawks. Die spirit of hawks sind oder waren, das weiß ich nicht genau, seit den Achtzigern eine Sondereinheit, die zur Terrorismusbekämpfung gegründet wurde. Mossad, israelischer Geheimdienst, verstehen Sie? Und bekämpft wurden natürlich vornehmlich palästinensische und sonstige arabische Terroristen. Die Mittel, die die spirit of hawks einsetzten, waren ebenso wenig zimperlich wie die der Terroristen. Feuer bekämpft man mit Feuer. Auge um Auge. Wenn die da drinnen eine von denen ist oder früher mal war, dann …« Er blies die Backen auf.

Melchior schaute Goldberg tief in die Augen. Angeber? Verrückter? Beides? Oder was?

»Ich weiß, was Sie denken. Aber Sie müssen mir jetzt vertrauen. Hier wird eine ganz üble Suppe gekocht, und wir beide sind mitten drin.«

Melchior nickte unmerklich. »Also gut, ich vertraue Ihnen – zunächst! Aber Sie werden mir, verdammt noch eins, erklären müssen, woher Sie dieses Wissen haben – ansonsten nehme ich Sie wegen Verarschung eines Staatsorgans fest …«

Goldberg musste lachen. Die Tür öffnete sich, der Pfleger kam wieder heraus, verabschiedete sich höflich und verschwand um die Ecke.

»Passen Sie auf, Melchior! Das Mädchen simuliert. Die ist so putzmunter wie Sie und ich. Wir gehen jetzt da rein, und ich knöpfe sie mir vor. Aber auf meine Art. Nein! Keine Angst. Nicht, was Sie denken. Ich werde ihr kein Haar krümmen. Ich sage es Ihnen jetzt schon mal, was ich ihr sagen werde: ›Shalom Mosche Dayan‹. Das ist deren Erkennungsgruß – hoffe ich wenigstens … Ich denke, sie wird reden, wenn sie ihn hört.«

Wie war das noch mal mit dem Horizont, über den das alles ging? Melchior entschied sich, mitzuspielen.

»In Ordnung. Ich gebe Ihnen für den Moment freie Hand – unter Vorbehalt, ist das klar?«

»Völlig klar. Danke.«

Melchior drehte sich zur Seite, damit Goldberg zur Tür gehen konnte. Er war auf mancherlei gefasst, als dieser öffnete, aber ganz sicher nicht auf den Anblick, der sich da bot.

»Mein Gott!«, stieß Goldberg hervor. Melchior fehlten einige Sekunden die Worte.

Sarah oder wie immer sie hieß, lag immer noch auf ihrem Krankenbett. Allerdings war die Infusion herausgezogen, die Dioden der Maschine abgetrennt und in ihrem hübschen, jungen Gesicht, mitten auf ihrer hübschen, jungen Stirn klaffte eine hässliche Wunde. Jeder Polizeinovize hätte das sofort erkannt: ein Einschussloch. Keine lange Debatte über ihren Zustand: Sie war tot!

»Der Pfleger!«, rief Goldberg.

Sie rannten beide wie auf Stichwort los, Richtung Treppe. Goldberg deutete auf die offene Lifttür.

»Ich nehme den Aufzug. Sie sind sowieso schneller.«

Melchior lachte im Laufen. »Das glaube ich zwar nicht, aber von mir aus …«

Immerhin hatte er recht. Sie mussten sich teilen. Es gibt schnelle Lifte, es gibt langsame Lifte und es gibt Krankenhauslifte. Melchior gab sein Bestes und sprintete die Treppe hinunter. Man traf sich gleichzeitig in der Eingangshalle. Weiter zum Ausgang. Goldberg hatte noch mehr Luft und holte ein paar Meter Vorsprung heraus. Durch das Portal, links herum auf den abschüssigen Weg, den für gewöhnlich die Krankenwagen nehmen. Nichts zu sehen von dem Pfleger. Melchior blieb außer Atem stehen und sah sich um.

Goldberg lief etwas langsamer, ständig nach allen Seiten schauend, hinunter Richtung Parkplatz. Mehrere Passanten, Patienten oder Besucher blieben stehen und beäugten die Männer argwöhnisch. Plötzlich, nur vielleicht zwanzig Meter von Goldberg entfernt, schoss ein dunkelblauer, ziemlich teuer wirkender Wagen, aus der Parkplatzeinfahrt, brach innerhalb von fünf Sekunden ein halbes Dutzend Verkehrsregeln inklusive Überfahren einer roten Ampel und verschwand um die nächste Kurve auf Nimmerwiedersehen.

Goldberg sah sich ärgerlich zu Melchior um. »Sie hatten doch freies Schussfeld, warum haben Sie nicht auf die Reifen geschossen?«

»Weil wir hier nicht im Wilden Westen sind, und weil ich keine Waffe bei mir habe«, antwortete er relativ ruhig.

»Keine Waffe?«, schnaufte Goldberg. Er griff sich mit einem leichten Aufstöhnen an seine Hüfte: »Mein Gott, ich muss weniger rauchen …«

»Keine Waffe!«, bestätigte Melchior. »Und wenn Sie Zigaretten haben, rauche ich eine mit, darauf kommt es jetzt auch schon nicht mehr an …«

Goldberg lachte keuchend und holte eine Packung aus der Tasche. Er zündete zwei Zigaretten an und gab Melchior eine davon.

»Klasse! Große Klasse!«, sagte er dann. »Haben Sie wenigstens die Nummer erkannt?«

Melchior konnte nur den Kopf schütteln. »Nur das RO für Rosenheim, aber die zwei Buchstaben auf dem Länderschild waren groß genug …«

»Ja. Die habe ich auch gesehen. CD. Corps diplomatique. Selbst wenn wir ihn verfolgen könnten, selbst wenn wir ihn kriegen würden: Wir müssten ihn laufen lassen.«

Melchior lachte. »Das glauben Sie doch wohl nicht wirklich? Den Kerl würde ich in Einzelhaft stecken, bis er verschmort ist …«

»Ach, Hauptkommissar, sind Sie naiv! Einen Diplomaten sperrt man nicht ein. Haben Sie es denn wirklich noch nie mit so einem Typen zu tun gehabt? Nein? Dann lassen Sie sich mal was sagen: Sie sperren ihn ein, mag sein. Zehn Minuten später tritt Ihnen entweder der Polizeipräsident oder vielleicht sogar der Innenminister persönlich so in den Arsch, dass Sie das nie wieder tun werden, das können Sie mir glauben!«

Melchior winkte ab. »Seien Sie still! Ich glaube Ihnen ja … langsam glaube ich Ihnen alles. Möchte bloß wissen, wie ein Rosenheimer Auto zu einem Diplomatenschild kommt …«

Einige Züge herrschte Funkstille.

»Wir sollten mal nach dem Mädchen sehen«, sagte Melchior dann.

»Sollten wir, ja …«, antwortete Goldberg lustlos und trat seine Zigarette aus.

Ja, das Leben birgt so manche Überraschung und so manches Windei für die Unwissenden. Und manchmal wird man ausgetrickst, dass man glaubt, man ist ein Schulbub!

Melchiors offener Mund wollte sich nicht mehr schließen, und Goldberg schüttelte pausenlos den Kopf. Schließlich lachten sie beide gleichzeitig wie auf Kommando.

Sie war weg! Sarah war weg. Einfach weg, in Luft aufgelöst, verschwunden! Als ob sie nie existiert hätte. Luft. Eine Fata Morgana.

Eine Schwester kam herein, verwundert, hier das Lachen von Männern zu hören. Melchior fragte sie schließlich, ob man die Patientin weggebracht hätte, obwohl er die Antwort sehr wohl kannte. Natürlich nicht! Da hätte eine Patientin sein müssen, richtig. Aber wo die wäre? Keine Ahnung. Ja, eine schwarzhaarige Frau habe sie gesehen, vor ein, zwei Minuten. Auf dem Gang. Besucherin, hatte sie geglaubt. Vollständig bekleidet, natürlich, was denn sonst! Hatte sich zur Treppe begeben. Melchior entließ sie schließlich, immer noch grinsend …

Sie hatte sich die Schusswunde einfach in bester Schauspielermanier aufgeklebt. Die war so echt gewesen wie ihr Ausweis. Und während Goldberg und Melchior den vermeintlichen Mörder verfolgt hatten, war sie kalt lächelnd aufgestanden, hatte sich angezogen und verdrückt. Schmierentheater hoch drei!

»Mossad, sagten Sie?«

Goldberg nickte.

»Treiben die immer so einen Aufwand?«

»Ja«, antwortete er. »Je komplizierter, desto besser. Ist wie ein Sport bei denen. Wer den kompliziertesten Plan ausheckt, hat gewonnen.«

Melchior blickte ihn erstaunt an. »Wirklich?«

Goldberg lachte kurz. »Nein, Sie Naivling! Jetzt habe ich Sie wirklich auf den Arm genommen.«

Melchior, der inzwischen wieder etwas Spaß verstand, war nicht beleidigt.

»Nein, im Ernst. Kompliziert ist nicht das richtige Wort. Perfekt trifft es besser. Der Mossad arbeitet perfekt. Wenn die einen Gegner ausschalten, bleibt nichts zurück, keine Spur, keine Anhaltspunkte, nichts. Schreiben Sie in Ihren Bericht: Aufklärung nicht möglich, weil Mord vom Mossad begangen …«

»Die bringen auf deutschem Boden einen deutschen Staatsbürger einfach so um, und Sie scheinen die Bande tatsächlich noch zu bewundern!«

Goldberg schüttelte unwillig den Kopf. »Eher zu fürchten. Natürlich – die militärische Genauigkeit, Erfolgsquoten, die man sich nicht vorstellen kann, die Effizienz … meinen Respekt haben sie, aber bewundern – nein. Mit meiner Sympathie ist das was Anderes. Die gehört in der ganzen Auseinandersetzung zu hundert Prozent den Israelis, was für elende Fehler sie in diesem ewigen Konflikt auch gemacht haben mögen. Aber vielleicht könnten wir später darüber reden. Ich fürchte hier ist dazu nicht ganz der richtige Platz …«

»Falls es noch ein später für uns gibt.«

Goldberg zog verwundert die Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das?«

»Na ja«, erklärte Melchior, »die Angelegenheit ist ja damit praktisch erledigt. Die Täterin ist flüchtig und wird zur Fahndung ausgeschrieben. Sie und ihre Helfer werden wir nicht erwischen, sagten Sie selbst. Ich muss ins Revier und meinen Bericht abliefern. Und danach sehe ich keine Notwendigkeit, mit Ihnen weiter zusammenzuarbeiten, Herr Goldberg.«

»Ach ja? Dann muss ich Sie vielleicht auf einen kleinen Umstand aufmerksam machen, mein lieber Freund, dann wird …«

»Nennen Sie mich nicht lieber Freund!«

»Einverstanden, Herr Hauptkommissar. Ich gebe Ihnen die zwei Minuten oder so, bis wir in Ihr dämliches Revier gefahren sind. Denken Sie in der Zwischenzeit darüber nach, warum Sie weder auf meine Anwesenheit noch auf meine weitere Mitarbeit verzichten können … Nur eines als Anstoß: Der Mossad hat diesen Chalir getötet. Ergo: Chalir war ein Terrorist. Der Mossad irrt nicht! Punkt!«

6.

Melchior war unzufrieden. Nein, dieser Begriff traf es nicht. Er war wütend, geschockt, frustriert. Schließlich war er schon verdammt lange ein Cop und ein guter Cop – lang und gut genug, um der Illusion zu erliegen, man hätte schon alles erlebt, wäre mit allen Wassern gewaschen und könne mit allen Problemen schon irgendwie fertig werden. Und dann kommt so ein Tag, so ein Debakel, und man wird mit der eigenen Unzulänglichkeit derart niederschmetternd konfrontiert, dass man am liebsten zum Friedhofsgärtner mutieren möchte.

Von dem Moment an, als sie das Krankenzimmer verließen, bis zum Parkplatz und in sein wenig komfortables Auto hüllte sich Goldberg in Schweigen. Auch Melchior schwieg, aber aus Wut – über sich selbst, über die Kollegen, über die zweite Geige … Irgendwann fing er aber dann endlich an, den Ärger hinunterzuschlucken und zu denken. Soll ja manchmal helfen.

Also, wie war das noch? Von vorne: Chalir, Doktor Chalir, deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund, wird auf deutschem Boden vom israelischen Geheimdienst getötet, nein: hingerichtet! Ohne Gnade, ohne Pardon. Von einer schönen, jungen Frau, die bestimmt noch nicht auf der Welt war, als dieser verfluchte Krieg begonnen hatte. Moment! Fehler Nummer eins: Wer sagt denn, dass sie es überhaupt war? Sie muss es ja gar nicht gewesen sein. Vermutlich waren mehrere dieser Agenten in dem Waldstück. Nicht vermutlich – sicher. Man beachte die Spuren, die auf wahrscheinlich zwei Autos hindeuten, dazu die Sache mit dem Pfleger. Also gab es mindestens zwei Agenten. Sie wurde lediglich mit der Durchführung dieses elendigen Schmierentheaters betraut … Oder war sie der Kopf der Gruppe?

Melchior hatte über den Nahostkonflikt nur das Wissen eines aufmerksamen Zeitungslesers, aber man hört ja genug. Hier fliegt ein Bus mit Kindern in die Luft, weil sich ein komplett ausgerasteter Selbstmordattentäter in die Luft sprengt. Dort liquidiert man im Gegenzug gezielt, chirurgisch, mit möglichst wenig Kollateralschaden, einen Anführer oder seinen Unteranführer, wenn man ihn als Drahtzieher für das Attentat ausfindig gemacht zu haben glaubt. Egal: Immer muss jemand sterben. Auge um Auge … Und die Palästinenser, die Hamas, der Djihad – Melchior wusste überhaupt nicht, was das für Leute sind, was sie wollen, wofür sie kämpfen, wem sie Rache schwören. Und plötzlich wurde dieser Konflikt in Rosenheim ausgetragen. In dieser kleinen Stadt mitten in der bayerischen Provinz! Wenn es ein Zentrum für diesen Konflikt gab, dann war Rosenheim wohl der davon am weitesten entfernte Punkt auf der Welt! Nie im Leben hätte man annehmen können, dass in Rosenheim der Mossad und irgendein arabischer Terrorist aufeinandertreffen könnten. Andererseits – war das Sauerland nicht genauso weit weg von internationalen Konflikten, und dennoch …

Zurück zum Thema. Sarah steuert ihren Omega gegen eine Mauer. Um den Tod Chalirs zu verschleiern? Nein, verdammt noch mal! Das ganze war doch unnötig wie ein Kropf! Wozu überhaupt das Theater? Sie wird abtransportiert und kommt ins Krankenhaus. Sie hat dabei ja wirklich ihre Gesundheit riskiert! Darf man ja nicht vergessen. Wenn der Airbag versagt hätte, was dann?

Und dann liegt sie da in ihrem Krankenbett. Goldberg sagt, sie wäre topfit, spiele das alles nur. Wieso haut sie dann nicht gleich ab, bevor wir kommen? Nein, da wird der Komödie zweiter Teil abgezogen. Direkt unter unseren Augen! Da wird mit meinem Selbstwertgefühl als Cop gespielt wie … wie … mir fehlen die Worte dafür. Und wozu? Nur um mich zu demütigen, um mir zu zeigen, wie machtlos ich als deutscher Polizist gegenüber einer solchen Organisation bin? Dass ich nur ein zahnloser Löwe bin?

An dieser Stelle seiner Selbstbemitleidung begann Melchiors Großhirn plötzlich wieder zu arbeiten, und er fragte sich, warum er das eigentlich persönlich nahm? Der Mossad kannte ihn doch gar nicht. Wieso sollte dieser Organisation daran gelegen sein, ihn persönlich zu demütigen. Aus welchem irrwitzigen Grund sollte man einen bayerischen Hauptkommissar zum Narren halten? Was hatte Goldberg da noch gesagt? Man könne auf ihn nicht verzichten … und in diesem Moment fiel der Groschen, direkt vor dem Kommissariat. Melchior schnippte mit den Fingern und sah zu Goldberg hinüber.

»Die haben das ganze … das ganze Theater nur wegen Ihnen veranstaltet?«

Goldberg hielt den Wagen an und zuckte beinahe teilnahmslos mit den Schultern. »Schaut fast so aus. Aber fragen Sie mich ja nicht, warum.«

»Dann müssen die über jeden Ihrer Schritte informiert gewesen sein … wo Sie waren, wann und mit wem …«

»Ja. Überrascht mich aber nicht. Das ist das Mindeste, was die können. Nein, es ist offensichtlich, dass sie mich ködern wollen. Ich bin routiniert genug, dass mir an der Unfallstelle ein paar Ungereimtheiten auffallen. Ihre Landeier hätten sie vielleicht übersehen, aber ich nicht. Man wollte, dass es auffällt, und dass es mir auffällt. Und man wollte, dass ich Sarah genau ansehe – das Tattoo sehe, weil ich wahrscheinlich der einzige Mensch in … nein, nicht der einzige, aber einer von ganz wenigen Menschen in Deutschland bin, der um die Bedeutung der spirit of hawks weiß.«

Melchior staunte noch immer wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum. »Ja, kennen die Sie denn?«

Goldberg verzog selbstgefällig das Gesicht. »Tja, ich fühle mich geschmeichelt … offensichtlich erinnert man sich noch an mich.«

»Woher?«

»Später«, winkte er ab. »Nachdem Sie Ihren Bericht abgeliefert haben. Ich schätze, ich werde Ihnen einiges erzählen müssen, was ich Ihnen eigentlich gar nicht erzählen dürfte. Aber so wie die Dinge liegen, brauche ich die Unterstützung der deutschen Behörden – ansonsten würde ich nämlich die Kooperation mit Ihnen nicht mehr benötigen, Herr Hauptkommissar!«

»So, so! Sie brauchen meine Unterstützung. Sollte das nicht eigentlich anders herum laufen, oder?«

»Ja, kann sein. Im Normalfall … aber nicht, wenn es um den Mossad geht. Sie, mein Herr, sind austauschbar bei dieser Aktion. Ich offensichtlich nicht!«

»Und Sie sind natürlich auch nicht eingebildet oder arrogant, nicht wahr …«

»Das glaube ich nicht. Der Mossad hätte sich nicht diese Mühe gemacht, wenn ich nicht wichtig für ihn wäre. Aber ich muss noch herausfinden, warum. Wo kann ich parken?«

»Fahren Sie da rechts am Hauptgebäude in die Einfahrt. Hinten im Hof sind genügend Parkplätze. Was kann ich für Euer Hochwohlgeboren sonst noch tun?«

Goldberg zeigte sich unbeeindruckt. »Der Chefzyniker hier bin ich, merken Sie sich das! Wir brauchen Antwort auf die Frage, die ich vorhin schon aufgeworfen habe: Warum wurde Chalir ausgeschaltet? Der Mann muss äußerst gefährlich gewesen sein. Wegen einer Kleinigkeit würde der Mossad niemals einen Deutschen auf deutschem Boden liquidieren. Die spirit of hawks machen nur Terroristen unschädlich, und sie irren sich nie. Der Mossad hat gehandelt, weil die deutschen Behörden nicht gehandelt haben. Sie wussten mehr als die Deutschen. Das ist kein Vorwurf an Sie oder Ihre Kollegen! Chalir war bestimmt gut getarnt, nicht gut genug für den Mossad, aber gut genug für die Deutschen. Unsere Aufgabe für heute, jetzt, sofort: Wir müssen alles über den Mann in Erfahrung bringen, alles andere ist einstweilen nebensächlich. Steigen wir aus, oder wollen Sie Wurzeln schlagen?«

Melchior hätte um ein Haar wie ein Schuljunge gehorcht. Aber dann besann er sich doch noch darauf, dass er hier der Chef war.

»Ich steige aus. Sie rauchen eine Zigarette oder schauen sich die Wolken an. In fünf Minuten können Sie nachkommen!«, sagte er bestimmt und würdigte Goldberg keines Blickes mehr.

7.

Wenigstens sein Büro war dasselbe wie immer. Manchmal freuen einen ja schon die Kleinigkeiten! Und Schweingruber war da – zwar nicht als kompletter Strahlemann, aber doch mit deutlich verbesserter Laune – was vielleicht auch daran lag, dass Melchior allein zur Tür hereinkam. Ganz sicher sogar …

»Hans, pass auf! Wir haben nicht viel Zeit. Ich erzähl dir später alles. Da ist ein furchtbar dickes Ding am Kochen – vielleicht sogar zu dick für uns beide. Aber Kneifen gilt nicht! – Was gibt es Neues? Hast du was über Goldberg?«

Während Schweingruber zu berichten begann, ging Melchior ruhig an seinen Schreibtisch und kramte in seinen Schubläden. In der dritten wurde er fündig und holte seine Dienstwaffe heraus.

»Nichts, Chef. Robert Goldberg, Privatdetektiv, Privatadresse in Großkarolinenfeld, Büro in Rosenheim.«

»Richtig, Isar zwölf! Und was gibt’s über den Wissenswertes?«

»Ich sag ja, nichts!«

»Was heißt nichts?« Melchior schob das Magazin in die Pistole, lud durch und prüfte, dass sie gesichert war.

»Irgendwie muss da was verloren gegangen sein … Es ist, als ob es ihn vorher nicht gegeben hätte, verstehst du? Er wohnt hier seit neun Jahren, aber es steht nicht da, wo er zuvor war.«

Seltsam. Melchior warf einen kurzen Blick auf den erkennungstechnischen Bogen, den Schweingruber ausgedruckt hatte. Aber er konnte auch nichts anderes erkennen. Als ob es Goldberg vorher nicht gegeben hätte …

»Doktor Gerstner lässt fragen, ob die Obduktion Chalirs noch Zeit hätte. Das wäre ja nicht so wichtig. – O Chef, ich sehe Groll in deiner Miene. Ich rufe ihn sofort an, okay? – Adresse von Chalir haben wir, das sagte ich ja schon vorhin. In München. Willst du …«

»Das sparen wir uns. Verständige die Kollegen vor Ort. Die sollen sich die Wohnung anschauen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie dort etwas Brauchbares finden werden, so wie die Dinge stehen.«

»Wie stehen denn die Dinge. Mach es nicht so spannend! Und seit wann steckst du dir auf einmal deine Knarre in die Tasche?«

Melchior winkte ab. »Später, Hans. Was gibt es noch über Chalir?«

»Chalir soll früher an der Universität Dresden gearbeitet haben. Dies geht aus seinen Unterlagen beim Finanzamt hervor. Nach seinem Lebenslauf, der sich beim Arbeitsamt fand, ist er im Libanon geboren worden, im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen und hat in Münster Molekularbiologie studiert. Das Einwohnermeldeamt München verzeichnet Ahmed Chalir als vor einem halben Jahr zugezogen. Vorheriger Wohnort wie gesagt Dresden. Es ist schließlich kein Verbrechen, in Dresden zu leben und zu arbeiten. Im Gegenteil, mit Migrationshintergrund wird er es dort nicht immer leicht gehabt haben! Keine Vorstrafen, nichts Auffälliges.«

»Molekularbiologe«, sinnierte Melchior. »Was macht ein Molekularbiologe?«

»Er molekularbiologiert vermutlich den ganzen Tag.« Es war ein schwacher Versuch, zum Normalblödeln zurückzukehren, und Melchior ging nicht darauf ein. Auch ein schlechtes Zeichen. »Spurensicherung?«

Okay, Dienst nach Vorschrift. »Hat in dem Omega lediglich weitere Blutspuren gefunden, aber bis jetzt nicht den geringsten Hinweis, der uns weiter gebracht hätte. Die Dreckspritzer an der Karosserie stimmen wahrscheinlich mit dem Dreck im Waldstück überein. Genaueres bis morgen! Das Blut, das wir dort gefunden hatten, stammte nach einer ersten Analyse in der Tat von Chalir. Endgültige Bestätigung kommt erst im Laufe des Nachmittags, weil da noch ein paar Ungereimtheiten sind. – Der Pass dieser Sarah ist falsch. Das war für die Kollegen im Labor eine Sache von zwei Minuten. Sarah ist erst seit drei Tagen auf deutschem Boden: FJS München, El-Al aus Israel kommend. Ich habe eine Passagierliste für den betreffenden Flug geordert. Routinekontrolle der übrigen Passagiere, sobald sie da ist. Das kann aber noch dauern. Ach ja – und das Kennzeichen des LKW gibt es nicht. Entweder war das Nummernschild gefälscht oder Goldberg hat sich getäuscht.«

Warum konnte sich Melchior nicht darüber wundern?

»Das gestohlene Auto?«

»Gehört einem Versicherungsvertreter aus Rosenheim. Es ist seit gestern Abend verschwunden und wurde heute früh als gestohlen gemeldet. Stand vor seinem Haus.«

»Ist das glaubwürdig?«

Schweingruber sah Melchior verwundert an. »Ja, wieso denn nicht?«

»Weil … Ach, vergiss es! Schick ein paar Kollegen vorbei – und das meine ich ernst: Überprüfung der Nachbarn des Vertreters nach Vorgangsweise konspirative Wohnung.«

Schweingruber schüttelte den Kopf. »Drehst du jetzt ganz durch oder hab ich nur keinen Durchblick?«

»Letzteres, mein Lieber, letzteres. Wenn du wüsstest …«

Das Klopfen an der Tür ignorierte Melchior. Schweingruber öffnete und machte ein wenig erbautes Gesicht, als er Goldberg erkannte.

Mit einem geradezu impertinenten Grinsen deutete dieser auf den Computer.

»Übrigens wird Ihr Klapperkasten über mich nicht allzu viel ausspucken, wenn Sie Erkundigungen über mich einziehen wollen. Ich bitte das zu entschuldigen. Das nur, falls Sie glauben, das Ding wäre kaputt oder so …«

Melchior quittierte es mit einem Achselzucken.

»Hans, sorgst du bitte für Kaffee? Möglichst ein bisschen mehr als sonst, dazu irgendwas zu Essen, mir egal, wer es holt, aber ich falle um vor Hunger. Danach Lagebesprechung, damit jeder endlich weiß, was Sache ist. Die Staatsanwältin bräuchten wir auch.«

Goldberg verzog das Gesicht. »Also, die passt mir jetzt nicht in den Kram, ganz ehrlich gesagt …«

»Und ganz ehrlich gesagt: Das ist mir so egal wie ein umgefallenes Fahrrad in China, Herr Goldberg, ist das angekommen?«

Goldberg hob entschuldigend beide Hände.

8.

Eine dreiviertel Stunde später. Die Welt war wieder in Ordnung für C.B. Melchior. Es saß in seinem Büro, der knurrende Magen war einem wohligen Sättigungsgefühl gewichen, die Sonne schien herein. Er war bereit, sich einigen unbequemen Dingen zu stellen.

Plötzlich stand Goldberg in der Tür. Er war wohl aus der Raucherecke gekommen.

»Wir müssen reden«, sagte er knapp.

In der Verbindungstür zum anderen Büro erschien sofort Schweingruber und sah interessiert zu. Er hatte, während Melchior gegessen hatte, ein weiteres Dutzend Telefonate geführt und alles erledigt, was ihm aufgetragen worden war – immerhin hatte ihm Melchior kauend eine Kurzversion der Ereignisse im Krankenhaus abgeliefert. Insofern wusste er, dass sich hinter der Sache offenbar etwas Größeres verbarg.

Melchior hob nur kurz den Kopf. »Zehn Minuten dauert es noch. Dann ist die Staatsanwältin da. Solange kann das noch warten …«

Goldberg setzte zu einer heftigen Entgegnung an, aber da mischte sich schon Schweingruber ein.

»Halten zu Gnaden, Euer Ehren, aber Frau Kalteis lässt eiskalt ausrichten, dass es vor Gericht noch länger dauern wird. Sie kommt frühestens in einer Stunde.«

Anneliese Kalteis war die Staatsanwältin: Melchiorfreundlich, menschlich, kompetent.

Goldberg lenkte ein. »Okay. Melchior, ich schlage Ihnen einen Deal vor: Sie wollen Antworten. Stellen Sie Ihre Fragen! Jetzt! Danach sage ich, was ich zu sagen habe, und dann wird gehandelt. Ihre Staatsanwältin können Sie dann immer noch informieren.«

»Was meinst du, Hans?«

»Wenn ich auch eine Rolle in dem Theaterstück bekomme, bin ich einverstanden«, sagte der lapidar.