Falsches Spiel in Brodersby - Stefanie Ross - E-Book

Falsches Spiel in Brodersby E-Book

Stefanie Ross

4,5

Beschreibung

Privates Glück und tödliche Gefahr – Landarzt Jan Storm am Limit Mit Ende der Urlaubssaison verirren sich nur noch wenige Touristen in die idyllische Landschaft zwischen Ostsee und Schlei. Doch von Ruhe kann für Landarzt Jan Storm keine Rede sein. Beweist der ehemalige Soldat sonst eiserne Nerven, macht ihn die bevorstehende Geburt seines ersten Kindes ungewohnt nervös. Als ein Mädchen in Kontakt mit weißem Phosphor gerät, überschlagen sich in Brodersby die Ereignisse. Denn die Substanz sieht nicht nur Bernstein zum Verwechseln ähnlich, sondern war auch einer der Hauptbestandteile von Brandbomben im Zweiten Weltkrieg. Von diesen militärischen Altlasten liegen noch heute Tausende in der Ostsee – und sind nach wie vor gefährliche Waffen, für die Terroristen gut bezahlen ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 444

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (2 Bewertungen)
1
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Stefanie Ross

Falsches Spiel in Brodersby

Ein Landarzt-Krimi

Mehr von Stefanie Ross und Jan Storm:Das Schweigen von Brodersby. ISBN 978-3-89425-490-2Jagdsaison in Brodersby. ISBN 978-3-89425-584-8Schatten über Brodersby. ISBN 978-3-89425-597-8

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Kossack, Hamburg.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung vonshutterstock/R70 (Gänse), Maksimilian (Gans/See), arvitalyaart (Landschaft)

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Nadine Buranaseda

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-755-2

1. Auflage 2020

Die Autorin

Stefanie Ross wurde in Lübeck geboren und verbrachte einen Teil ihrer Schulzeit in Amerika. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre folgten leitende Positionen bei Banken in Frankfurt und Hamburg. 2012 erschien mit Das Schweigen von Brodersby der erste Roman ihrer Reihe um den charismatischen Landarzt Jan Storm.

www.stefanieross.de

Kapitel 1

Der letzte Patient des Tages hatte das Behandlungszimmer kaum verlassen, da wandte sich Jan Storm bereits wieder seinem Computer zu. Er hatte jede freie Minute zwischen den einzelnen Terminen genutzt, um einen Fachaufsatz über Schwangerschaftsvergiftungen im letzten Trimester genauestens zu studieren.

Kaum hatte er den Absatz, bei dem er unterbrochen worden war, wiedergefunden, da stürmte seine Sprechstundenhilfe Gerda ins Zimmer, natürlich ohne anzuklopfen. Obwohl er sofort mit einem Mausklick das Fenster minimierte, war er nicht schnell genug gewesen, um den Bildschirminhalt vor ihr zu verbergen.

Die Hände in die Taille gestemmt, funkelte sie ihn an. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich habe gemerkt, dass dich etwas die letzte Stunde beschäftigt hat.«

Damit blieb Jan nur die Hoffnung, dass Gerda die englische Überschrift des Artikels nicht verstand. »Sekunde mal, was regst du dich denn so auf? Der Artikel ist sehr ordentlich geschrieben und hat eine interessante statistische …«

»Du übertreibst es und machst dich völlig unnötig verrückt. Also wirklich, Jan. Deine Lena ist kerngesund und das gilt auch für euer Kind! Sie ist doch nicht die erste Frau, die ein Kind bekommt, aber genauso tust du!«

»Ich …«

»Computer aus und dann ab an die frische Luft! Fahr ans Meer.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich einzelne Strähnen ihres locker gebundenen Pferdeschwanzes lösten. »Schwangerschaftsvergiftung. Also wirklich. Das wird bei jedem Vorsorgetermin abgecheckt.«

Auch wenn Gerda gut zwanzig Jahre älter war als Jan, jedoch keineswegs wie eine Mittfünfzigerin wirkte, tolerierte er es eigentlich nicht, dass sie ihn wie einen unmündigen Jungen behandelte. Eigentlich. Denn ab und zu musste er zugeben, dass sie mit ihren Vorwürfen ins Schwarze traf. Dies war eindeutig einer dieser Fälle. Mit etwas Abstand betrachtet, sah er selbst, dass er sich zu viele Sorgen um seine schwangere Lebensgefährtin – er verbesserte sich rasch in Gedanken –, seine Frau machte. Dennoch konnte er nichts dagegen tun. Irgendwie musste er nicht nur die letzten Tage bis zur Geburt überstehen, sondern sich bis dahin in einen abgebrühten Vater verwandeln, der den Säugling nicht jede Sekunde im Arztmodus scannte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, Jan. Doch ich wünsche mir gerade, dass du wieder mit Jörg losziehst, um einen miesen Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Alles ist besser als das.« Gerda klopfte so stark auf den Monitor, dass der Flachbildschirm wackelte. »Ha, wenn man vom Teufel spricht … Jörg steuert gerade aufs Haus zu.« Sie eilte davon.

Da sein Freund in der Lage war, den Weg zu ihm alleine zu finden, ahnte Jan, dass Gerda ihm einiges stecken wollte. Verdammt.

Jörg Hansen grinste buchstäblich von einem Ohr bis zum anderen, als er in das Zimmer trat. »Ich habe den Befehl erhalten, dich hier rauszuschaffen und nach Möglichkeit ein Treffen mit einem Serienkiller zu organisieren.«

Stöhnend fuhr Jan seinen PC runter. An Ruhe war nun nicht mehr zu denken. »Gerda übertreibt!«

»Glaube ich nicht. Na komm, ich habe Ginger im Wagen. Wir holen dieses schwarze Ungeheuer, das du Hund nennst, und fahren an die Steilküste.«

»War das ein Vorschlag?«, hakte Jan bissig nach.

Jörg legte den Kopf schief. »Nein. Ich habe frei und langweile mich, weil Andrea für deine Tante unterwegs ist, damit bist du moralisch verpflichtet, einem Freund zu helfen. Außerdem weiß ich, dass Lena auch nicht zu Hause ist.«

Die abstruse Begründung brachte Jan zum Schmunzeln. »Überzeugt. Wir treffen uns gleich bei mir, da kannst du das angebliche Ungeheuer, das übrigens immer noch Tarzan heißt, und mich abholen. Denn eins ist klar: Meinen Wagen versaue ich mir mit den sandigen Hundepfoten nicht!« Unerwartet ernst sah Jörg ihn plötzlich an. »Was ist?«, erkundigte sich Jan ratlos.

Jörg tippte auf seine Uhr. »Falls es dir entgangen ist, wir haben Januar, die Temperaturen sind im einstelligen Bereich und du fährst morgens mit deiner Ninja in die Praxis? Ich wette, die Straßen waren sogar glatt. Wenn dein Audi kaputt wäre, würde er bei Richie auf dem Hof stehen. Also sagt mir mein messerscharfer Polizistenverstand, dass was bei dir nicht stimmt.«

»Ich habe zu spät bemerkt, dass es glatt war«, wehrte Jan ab.

»Wie du meinst. Wenn du nicht jetzt reden willst, wirst du es gleich am Wasser tun«, kündigte Jörg an und wandte sich einfach ab.

Großartige Aussichten! Mit einem leisen Fluch folgte Jan ihm. Als er an Gerdas Tresen vorbeiging, bedachte er seine Arzthelferin mit einem bösen Blick, den sie unbeeindruckt erwiderte.

»Bis morgen, Boss. Und bitte auf vier Rädern!«, schickte sie ihm hinterher.

Es reichte. Sofern das Wetter es zuließ, würde er schon aus Prinzip mit dem Motorrad kommen!

Wenige Schritte an der Steilküste reichten und Jans schlechte Laune war komplett verflogen. Jörgs weiß-braune Promenadenmischung tobte mit Tarzan einige Meter vor ihnen. Der Anblick, wie die Hunde vergeblich den Möwen hinterherjagten, war zu herrlich. Sogar der schwere schwarze Labradormix sprang einige Male erstaunlich hoch in die Luft. Die Wellen schlugen an den Strand und nur wenige andere Spaziergänger waren unterwegs. Während die Gegend um Brodersby, besonders der Strand in Schönhagen, und die Steilküste ein beliebtes Ziel von Touristen waren, hatten die Einheimischen ihren Ort um diese Jahreszeit beinahe für sich.

»Wann erzählst du eigentlich Gerda und Co., dass Lena nicht länger deine Lebensgefährtin, sondern deine Frau ist?«, erkundigte sich Jörg mit kaum verborgenem Spott in der Stimme.

Jan grinste schief. Er und Lena hatten am Sonntag vor Weihnachten nur in Anwesenheit ihrer Trauzeugen standesamtlich geheiratet. In erster Linie war es ihnen darum gegangen, dass das Kind ehelich zur Welt kam. Die kirchliche Hochzeit und eine große Feier waren erst im Sommer geplant, wenn Lena mit mindestens einem Gläschen Sekt anstoßen konnte. »Keine Ahnung. Nie? Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie die Reaktion ausfallen wird.«

Jörg lachte. »Sei froh, dass Andrea und ich als Trauzeugen Bescheid wissen. Ich wäre auch nicht begeistert gewesen, wenn ich das später erfahren hätte. Was meinst du, wie sich Markus freuen wird?«

»Autsch«, erwiderte Jan und hatte plötzlich eine Liste mit Freunden vor Augen, die vermutlich über seine Heimlichtuerei reichlich sauer wären.

Lachend schlug Jörg ihm auf die Schulter. »Mensch, Jan. Das war doch Spaß. Kein Mensch nimmt es euch krumm, dass ihr erst im Sommer feiert, wenn das Baby aus dem Gröbsten raus ist. Weißt du denn jetzt, was dich erwartet?«

»Nein. Wir wissen nur, dass es ein kleiner Dickkopf wird, der sich bei jedem Ultraschall wegdreht. Lena ist aber weiter überzeugt, dass es ein Junge ist.«

»Na, der würde auch besser zu dir passen als so ein Mädchen, das alles in Rosa haben möchte und mit Puppen spielt«, überlegte Jörg laut und blickte bedeutungsvoll zu einem vielleicht vier Jahre alten Mädchen, das direkt am Wasser mit den von der Ostsee angespülten Steinen spielte und einen rosafarbenen gefütterten Regenanzug trug, der mit weißen Einhörnern bedruckt war.

Jan würde zwar sein Kind auf jeden Fall lieben, doch er musste zugeben, dass ihm der Gedanke an einen Jungen etwas besser gefiel. Andererseits gab es auch Mädchen wie Ida, die für seinen Freund wie ein leibliches Kind war. Ida war ein wahrer Wirbelwind, eine talentierte Fußballspielerin und völlig ohne Zickenallüren. Jan wollte gerade Jörg an den Teenager erinnern, als eine Frau auf sie zustürmte.

»Können Sie Ihre Bestien nicht an die Leine nehmen? Das ist unverantwortlich! Wenn die auf meine Silvana losgehen, ist es zu spät.«

Jan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es um Ginger und Tarzan ging, die sich etliche Meter von dem Mädchen entfernt aufhielten und sich nicht im Geringsten für das Kind interessierten.

Ehe er antworten konnte, übernahm das Jörg. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, beide Hunde sind sehr gut erzogen und kein bisschen gefährlich.«

Jan verkniff sich mit Mühe ein Grinsen. Ginger war alles Mögliche, aber bestimmt nicht besonders gut erzogen. Dafür verwöhnte Jörg die Hündin viel zu sehr.

»Das kann ja jeder sagen. Bitte nehmen Sie die Tiere an die Leine!«, forderte die Mutter, die zwar einen praktischen gefütterten Parka trug, allerdings dazu halbhohe Stiefel, die für den Sand nicht geeignet waren.

»Außerhalb der Saison ist am Strand kein Leinenzwang«, erwiderte Jörg bereits etwas weniger freundlich.

»Karl! Komm mal bitte und erkläre den Herren, wie die Rechtslage ist.« Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich behalte mir vor, die Polizei zu alarmieren, wenn Sie weiterhin mein Kind gefährden.«

Jörg griff ebenfalls in die Jackentasche und hielt ihr seinen Dienstausweis hin. »Rufen Sie gerne meine Kollegen an. Aber wie gesagt …«

Der schrille Schrei des Mädchens unterbrach ihn. Es klang so dramatisch, dass nicht nur die Mutter ans Wasser lief, sondern Jan und Jörg ihr folgten.

Erst als er das strahlende Lachen des Kindes registrierte, schaltete Jan seinen Arztmodus wieder aus. Das sollte ein Freudenschrei gewesen sein?

»Mama, guck, das ist ein Wärmstein!«, rief das Mädchen so laut und schrill, dass Jans Ohren klingelten.

Tatsächlich lag auf der Handfläche des Kindes ein großer orangefarbener Brocken.

»Das ist aber verdammt ungewöhnlich«, meinte Jörg und hielt dem Kind die Hand hin. »Kannst du ihn mir ganz kurz geben, ich möchte nur sichergehen, dass …«

»Nun lassen Sie ihr doch den Spaß! Silvana, gib deinen Bernstein nicht her. Da hast du wirklich ein unglaubliches Glück gehabt.«

Jan musterte den Brocken misstrauisch. »Sekunde mal …«

Jetzt hatte sie auch der Vater erreicht. »Was ist denn hier los?«

»Die Männer lassen ihre Köter frei rumlaufen und gönnen unserem Kind den Stein nicht. Es heißt aber Bernstein, Silvana. Bernstein.«

Der Vater sah erst zu den Hunden hinüber, die langsam näher getrottet kamen, und dann zu seiner Tochter. »Den hast du gefunden? Gibst du ihn mir mal? Der sieht ja toll aus!«

Das Mädchen wich zurück und schloss die Faust. »Nein. Das ist meiner!«

»Silvana! Gib ihn kurz her. Sofort!«, forderte der Vater energisch.

Statt zu gehorchen, flüchtete das Mädchen zu seiner Mutter und verbarg sich hinter ihrem Rücken.

»Verdammt noch mal!«, wurde Jörg laut. »Ich kenne die Gegend. So große Brocken Bernstein sind ungewöhnlich. Es könnte sich auch um einen gefährlichen Stoff handeln.«

Jan hatte längst begriffen, in welche Richtung die Überlegungen seines Freundes gingen. Immer wieder kam es vor, dass Phosphorstücke, die Bernstein zum Verwechseln ähnlich sahen, an die Ostseeküste gespült wurden. Er hatte zwar noch nie gehört, dass in der Gegend um Brodersby herum solche Überreste von Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg gestrandet waren, aber auszuschließen war das nicht.

»Schluss mit dem Theater!«, rief er. »Ich bin Arzt und möchte mich nur überzeugen, dass …«

Es war zu spät. Das Mädchen schrie plötzlich gellend auf. Ihre Hand schien in Flammen zu stehen.

Die Mutter reagierte sofort, allerdings völlig falsch. Sie zog ihr Kind ans Wasser. Weißer Phosphor konnte nur durch Sand gelöscht werden – wenn überhaupt.

Jan blieb für Erklärungen keine Zeit. »Halte sie mir vom Leib«, befahl er Jörg und entriss der Mutter das schreiende Kind. Er drückte es zu Boden und bedeckte die Hand mit Sand. »Ruf den Heli. Der soll oben am Parkplatz landen. Das Zeug ist dermaßen giftig, dass die Verbrennung ein Kinderspiel ist.«

Das Schluchzen des Mädchens wurde leiser, doch das gefiel Jan überhaupt nicht. Der Blick der Kleinen war bereits glasig. Durch das Gebrüll hatte sie viel zu hektisch geatmet und dabei vermutlich einiges von dem giftigen Rauch abbekommen. Ein unverkennbarer Geruch nach Knoblauch lag in der Luft, der typisch war für Phosphorvergiftungen.

Jan überzeugte sich, dass der Sand weiterhin die Flammen erstickte, und pfiff Tarzan herbei. »Das war kein Bernstein, sondern ein ganz fürchterlich böser Stein, aber wir werden jetzt dafür sorgen, dass er dir nicht weiter schadet. Pass auf, Tarzan ist ein Zauberhund. Der kann die gefährlichen Strahlen vertreiben. Du musst dafür aber nun ganz gleichmäßig atmen, hörst du?«

Jans ruhige Stimme drang zu der Kleinen durch und sie sah zu Tarzan, der sich ganz dicht neben sie legte. »Merkst du, wie sein warmes Fell alles Schlechte vertreibt? Und gleich wartet ein ganz großes Abenteuer auf dich. Du darfst mit dem Hubschrauber fliegen! Nach Kiel. Dort gibt es am Hafen Seehunde. Deine Eltern werden sie dir ganz bestimmt zeigen.«

Jan redete einfach weiter, obwohl dem Kind bereits die Augen zufielen. Er kontrollierte ohne Unterbrechung Atmung und Puls, erlaubte sich dabei nur eine kurze Pause. »Wenn du ein Messer hast, schneide den Ärmel ab. Da ist das giftige Zeug auch dran. Das muss von ihr weg«, bat er Jörg.

Am Rande bekam Jan mit, dass der Vater seine weinende Frau davon abhielt, ihn zu stören.

Erst nachdem Jörg einen Teil des Regenanzugs entfernt hatte, sah Jan den Vater fest an. »Hat sie Vorerkrankungen? Irgendwas, das die Kollegen wissen müssen?«

Stumm schüttelte der Mann den Kopf. »Wie …?« Er brachte die Frage nicht über die Lippen.

Jan verstand ihn auch so. »Ernst, aber nicht lebensgefährlich. Im Moment. Das Giftzeug hat sich nicht übermäßig tief eingebrannt. Jetzt geht es darum, den Kreislauf zu stabilisieren, damit ihr Körper mit dem Rest von dem Mist fertig wird. Sie hat es leider eingeatmet …«

Unruhig bewegte sich die Kleine, lag aber sofort wieder still, als Tarzan sich dichter an sie schmiegte. Gut, sonst hätte er ein Elternteil gebeten, dem bewusstlosen Mädchen etwas Nähe und Geborgenheit zu vermitteln.

Während er weiter den Puls und die Atmung überwachte, blickte er übers Meer und wünschte sich, der Hubschrauber wäre bereits hier. Wenn sich der Zustand doch noch verschlimmerte, konnte er so gut wie nichts tun. Er stutzte, als er ein Boot bemerkte, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Bei den Temperaturen waren kaum Schiffe auf der Ostsee unterwegs. Selbst die Touristendampfer lagen irgendwo an einer Mole. Er konnte es nicht benennen, doch irgendetwas störte ihn an dem Anblick.

Als er Jörg bemerkte, der neben ihm stand, deutete er mit dem Kopf in die Richtung. »Mach mal ein Foto von dem Kahn.«

Ohne Fragen zu stellen, nutzte sein Freund sein Handy als Kamera. »Erledigt. Die Jungs landen jeden Moment. Sie kommen aus Eckernförde und fliegen mit der Kleinen weiter in die Kieler Uniklinik. Sie wissen Bescheid, dass es um eine Phosphorvergiftung geht.«

»Sehr gut. Danke.«

Endlich hörte er das Geräusch der Rotoren und wenig später lag das Kind auf der Trage.

»Es kann einer mit«, sagte der Notarzt.

»Flieg du mit. Aber behalte die Nerven! Du hilfst niemandem, wenn du hysterisch wirst. Ich nehme den Wagen und bin auch bald da«, entschied der Vater.

Stumm nickte die Mutter und achtete sogar darauf, dass sie die Sanitäter und den Arzt nicht behinderte, während sie die Nähe ihres Kindes suchte.

Über den Strand kamen nun auch zwei Polizisten in Uniform auf sie zu.

Jan wartete, bis der Hubschrauber gestartet war. Dann kraulte er Tarzan ausgiebig. »Das hast du gut gemacht, Großer.«

Tarzan gähnte nur, Ginger bellte.

Da Jörg und Jan die Polizisten kannten, gingen die Erklärungen schnell und formlos.

»Phosphor? Hier? Wat’n Schiet. Darauf könnte ich einen Korn vertragen«, sagte der ältere Beamte mehr zu sich selbst.

Der Jüngere nickte. »Das gibt einen Wirbel. Hauptsache, die Lütte ist schnell wieder auf den Beinen, wir müssen Warntafeln aufstellen und …« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was noch. Da müssen sich die schlauen Köpfe in Kiel was überlegen.«

Jan sah unwillkürlich wieder über die Wasseroberfläche zu dem Boot hinüber, das ein paar Meter näher gekommen war. Vielleicht hatten der Hubschrauber und die Blaulichter die Besatzung neugierig gemacht. Jörg brauchte keine Aufforderung, sondern schoss bereits weitere Fotos.

Nachdenklich rieb sich der jüngere Beamte übers Kinn. »Ich verstehe das nicht. In der Kieler Förde liegt ja genug von dem Scheiß, aber hier doch nicht. Und viel Wind hatten wir auch nicht.«

Jan hatte den Vater des Mädchens fast vergessen. Nun drängte er sich zwischen ihn und die Polizisten. »Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte mich nur rasch bedanken. Ich laufe dann jetzt nach Schönhagen und hole meinen Wagen. Vielen, vielen Dank. Sie und …« Er deutete auf Tarzan. »Danke. Und das, obwohl meine Frau … Sie ist mal gebissen worden und …« Er drückte Jan eine Visitenkarte in die Hand. »Ich melde mich später. Danke.«

»Ganz langsam«, mischte sich der ältere Polizist ein. »Wir bringen Sie mit dem Streifenwagen zu Ihrem Fahrzeug. Nun kommen Sie mal mit.«

Als Jan und Jörg mit den Hunden wieder alleine am Strand waren, atmete Jan auf. »Mann, was für ein Drama.«

Jörg sah aufs Meer hinaus. »Irgendetwas sagt mir, dass Gerdas Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Lass uns mal ein wenig weitergehen. Vielleicht finden wir noch mehr von dem Mist.« Er hielt bereits einen Hundekotbeutel in der Hand. »Da drin kann nichts passieren, oder?«

Jan überlegte, was er aus seiner Bundeswehrzeit über das Zeug wusste. »Es entzündet sich ab zwanzig Grad, also zum Beispiel, wenn du es in der geschlossenen Hand hältst oder in eine Jackentasche steckst, ansonsten eigentlich nicht.«

»Hätte ich ihr den Mist bloß aus der Hand geschlagen«, murmelte Jörg.

Jan legte ihm einen Arm um die Schultern. »Das habe ich auch schon gedacht, aber ganz ehrlich, damit rechnest du doch nicht. Hätte ich das ernster genommen, hätte ich der Mutter einen Tritt versetzt, dass sie in die Ostsee gesegelt wäre und …«

Das Lachen kehrte in Jörgs Augen zurück. »Himmel, hat die sich erst aufgeführt.« Er wurde wieder ernst. »Ich will ihr ja keine Schuld geben, aber ohne ihre Einmischung wäre das Kind jetzt nicht auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Tja …« Jan rieb sich übers Kinn. »Na komm, lass uns noch ein paar Meter gehen und nach dem Zeug Ausschau halten. Danach spendiere ich dir bei mir zu Hause einen ordentlichen Grog.«

»Klingt gut.« Jörg blickte wieder zu dem Boot. »Ich denke, das da könnte unser nächster Fall sein.«

Jan sah ebenfalls zu dem Boot und schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch kurz gedacht, aber besonders logisch ist das nicht.«

»Stimmt. Mein Gefühl sagt mir aber was anderes.«

Kapitel 2

Jörg hatte seinen Passat kaum vor Jans Haus gestoppt, da näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Jo Karge, ein guter Freund von Jan, kam hinter ihnen zum Stehen. Der ehemalige Kampfschwimmer war über siebzig, wirkte durch seinen muskulösen Körperbau und seine aufrechte Haltung jedoch wesentlich jünger.

Jo und seine Frau Helga waren für Jörg zu Ersatzeltern geworden, nachdem sie ihn als Teenager aufgenommen hatten. Beide bedauerten es ein wenig, dass Jörg mittlerweile mit Andrea und Ida zusammenlebte und seine Wohnung in ihrem Haus seitdem leer stand.

Hundertprozentig glücklich waren weder Jörg noch seine Ersatzeltern mit der gegenwärtigen Situation. Leider sprachen sie nicht offen über das Thema. Jan hatte deswegen schon einige Male gedanklich mit den Augen gerollt. Die Lösung lag doch auf der Hand! Der Resthof von Jo war so groß, dass eine weitere Familie dort wohnen konnte, ohne dass man sich gegenseitig auf die Nerven ging.

Jan lächelte Jo zur Begrüßung an. »Dein Timing ist perfekt, wir brauchen jemanden, der uns Nachhilfe in Phosphor gibt.«

Jo blinzelte. »Aha. Aber erst einmal schaffen wir die Wiege rein.«

Jörg hatte bereits in den Kofferraum gespäht und hob die Schultern, als würde er frieren. »Das Ding ist massiv und garantiert so schwer, wie es aussieht.«

Für die Schlussfolgerung erntete er einen Klaps auf den Rücken, der ihn ins Wanken brachte.

»Richtig, mein Sohn. Deshalb habe ich mir auch überlegt, wie wir das Teil die Treppe hochbekommen: Ihr beide schleppt und ich sage euch, wie ihr rangieren müsst.«

Tolle Arbeitsteilung. Da Jan wusste, wie sehr sich Lena darüber freute, dass sie das alte Familienerbstück ausleihen durften, seufzte er nur. »Waren wir verabredet und ich habe das vergessen?«

»Nö. Helgas Stricktanten sind bei uns eingefallen. Du glaubst gar nicht, was die schnattern. Da meine Frau immer leicht stinkig reagiert, wenn ich mich grundlos zurückziehe, habe ich mal die Auslieferung der Wiege vorgeschoben.«

»Na, da hast du ja Glück, dass wir da sind«, kommentierte Jan die Erklärung.

»Tja, gute Taten werden eben vom Karma entsprechend belohnt. Was hat es denn mit dem Phosphor auf sich?«

»Erzählen wir dir drinnen. Also, nachdem wir das gute Stück die Stufen hochgewuchtet haben. Wäre das Teil nicht ein Grund, das Kinderzimmer im Erdgeschoss einzurichten?«, schlug Jörg vor.

Jan grinste nur.

Das alte Bauernhaus war für ein Paar perfekt gewesen, stieß mit dem Kinderzimmer und dem Wunsch von Lena nach einem Atelier jedoch an seine Grenzen, sodass für das Frühjahr bereits ein Anbau geplant war.

Die Stufen, die in den ersten Stock führten, waren nicht übermäßig breit und dazu recht steil. Es dauerte eine Zeit, bis Jan und Jörg die Wiege am Bestimmungsort hatten. Jo war vorausschauend gewesen und hatte drei Flaschen Bier mit nach oben genommen. Die Männer stießen an.

Jörg sah sich um und nickte. »Sieht toll aus. Gefällt mir. Das hat Lena gut hinbekommen.«

Jan folgte seinem Blick und prostete ihm zu. Lena illustrierte Bücher, hatte sich aber auch mit ihren Bildern mittlerweile einen Namen gemacht. Tagelang hatte sie eine hellgraue Wand mit Fantasiefiguren bemalt, die dem Kinderzimmer eine individuelle Note verpassten. Unzählige Kartons und Tüten standen in einer Ecke und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Jan hatte keine Ahnung, wofür der ganze Kram sein sollte, doch das würde er schon noch herausfinden.

»Lasst uns nach unten gehen«, schlug er vor.

Kaum hatten sie es sich in der Esszimmerecke bequem gemacht, fasste Jörg die Ereignisse am Steilufer für Jo zusammen.

Der ehemalige Kampfschwimmer pfiff leise durch die Zähne. »Das wäre für den Tourismus überhaupt nicht gut, wenn das Zeug nun auch hier angeschwemmt wird.«

»Kann das denn überhaupt sein?«, hakte Jan sofort nach. Als Jörg ihn mit erhobener Augenbraue ansah, präzisierte er seine Frage. »Logisch, der Brocken war ja da. Ich meine, ob das eine totale Ausnahme war oder ob ab sofort öfter mit dem Mist zu rechnen ist. Ich dachte, Phosphor findet man in anderen Küstenbereichen.«

Jo blickte an Jan vorbei durch das Küchenfenster hinaus auf die Ostsee. »Gute Frage, ich mache mich mal schlau.« Er musterte die beiden Männer streng. »Ihr wisst hoffentlich, dass der Dreck aus dem Zweiten Weltkrieg stammt, und das war weit vor meiner aktiven Zeit!«

Jan und Jörg grinsten sich an.

»Alles gut, Jo. Niemand hält dich für einen Weltkriegsveteranen«, beschwichtigte Jörg ihn.

»Genau, wir wissen, dass du ein ›Kalter Krieger‹ warst«, fügte Jan hinzu und spielte auf die Zeit des Ost-West-Konflikts an, in der Jo an geheimen Missionen der Bundeswehr teilgenommen hatte.

»Macht nur so weiter und ihr …«

Jörg schob ihm sein Smartphone zu. »Reg dich nicht auf. Uns ist dieses Boot aufgefallen. Mehr als ein schlechtes Gefühl haben wir aber leider nicht anzubieten. Sagt dir der Kahn was?«

Jo kratzte sich am grauen Vollbart, während er sekundenlang das Bild studierte. »Schon so’n büschen merkwürdig, dass der Mist nicht nach einem Sturm angespült worden ist. Das Boot ist für eine Tauchfahrt ausgerüstet, aber das habt ihr Landratten wohl selbst bemerkt.«

Jan nickte. »Aber wer taucht denn bei dem Wetter? Das ist doch selbst mit Topanzügen total kalt und unangenehm.«

Jo murmelte etwas, das wie »Weichei« klang, und blickte Jan spöttisch an. »Es gibt Taucher, die lieben diese Temperaturen.«

»Und was sind das für Idioten?«, fragte Jörg.

»Minentaucher«, übernahm Jan die Antwort. Erst jetzt fiel ihm ein, dass die niedrigen Temperaturen bei der Bergung von Munition und Kampfmitteln geschätzt wurden.

»Ganz genau«, bestätigte Jo. »Wenn du mich fragst, ist das sogar die einzige Erklärung, warum der Phosphor angespült worden ist.«

»Eine schlampige Bergung?«, überlegte Jörg laut. »Wer sollte denn so einen Mist freiwillig hochholen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Jo, »aber etwas sagt mir, dass wir bald Experten für dieses Thema sind. Ich schicke mal eine WhatsApp an Felix. Er ist bestimmt froh, wenn er was zu tun bekommt. So’n paar Recherchen sind genau das, was er braucht.«

»Kennst du denn das Boot?«, hakte Jan nach.

»Nö. Nie gesehen und das verrät uns ja auch was. Aus Kappeln oder Olpenitz stammt der Kahn nicht, dann würde ich den kennen.«

»Die meisten Boote liegen im Winterquartier. Welche Häfen haben denn überhaupt auf?«, erkundigte sich Jörg.

Jo zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es kann ja jemand einen Steg an der Schlei oder der Ostsee haben. Oder er lässt das Boot vom Hänger aus ins Wasser. Übermäßig groß sieht es nicht aus. Ein großer SUV könnte das Teil schleppen. Seid ihr sicher, dass das Boot und der Phosphorfund etwas miteinander zu tun haben?«

Jan verzog den Mund. »Wir haben nicht mehr als ein dummes Gefühl. Und vielleicht noch die vage Theorie von der schlampigen Bergung. Viel ist das wirklich nicht. Es reicht gerade mal, um sich ein paar Informationen zu beschaffen.«

Jo schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Habt ihr Jungs so viel Zeit, dass ihr unbedingt die nächsten Ermittlungen benötigt?«

Jan und Jörg wechselten einen schuldbewussten Blick, insbesondere Jan fühlte sich unangenehm durchschaut.

Er deutete nach draußen. »Wenn schon Frühjahr wäre, könnte ich mich um den Anbau kümmern, so bin ich mit der Praxis tatsächlich nicht ganz ausgelastet.«

»Fährst du deshalb bei dem Wetter und den Straßenverhältnissen mit der Ninja?«, fragte Jo sichtlich besorgt.

Da hatte der Dorfklatsch ja mal wieder ganze Arbeit geleistet. Jan unterdrückte mit Mühe eine genervte Antwort, die Jo nicht verdient hatte. »Das war eine Ausnahme. Ich bin doch nicht bescheuert und gehe unvertretbare Risiken ein.«

Jo blitzte ihn an. »Von wegen. Wenn sich erst mal herumspricht, dass unser Herr Doktor heimlich geheiratet hat, wirst du dir wünschen, ganz weit weg zu sein.«

»Erinnere mich nicht daran. Dabei holen wir die Feier im Sommer nach.«

»Tja, sogar Helga hat mindestens eine Stunde lang missmutig vor sich hin gebrummt, weil nur der Bengel und seine Holde dabei gewesen sind.«

Jörg zog den Kopf ein. »War nicht meine Idee«, verteidigte er sich. »Der ist schuld«, fügte er hinzu und deutete mit der Bierflasche in Jans Richtung. »Etwas Abwechslung wäre tatsächlich nicht schlecht. Ich habe noch jede Menge Resturlaub, Andrea leider keinen einzigen Tag. Und für Jans Anbau ist es ebenso zu kalt wie für den Steg, den wir bei uns ein bisschen ausbessern sollten.«

Jo brummte zustimmend. »Wo wir gerade unter uns sind: Meinst du, das Verhältnis zwischen Helga und Andrea lässt so langsam mal eine gewisse Frage zu?«

Jan hielt unwillkürlich die Luft an. Ging es jetzt darum, dass es reichlich schwachsinnig war, dass Jörg und Andrea Miete zahlten, wenn sie eine größere Wohnung direkt am Wasser auch umsonst haben konnten?

Jörg nickte langsam. »Du weißt, dass ich begeistert wäre, wieder bei dir und Helga zu wohnen. Ida würde sofort zustimmen, nur mit Andrea ist das ein wenig schwieriger. Ich arbeite dran.«

»Gut. Vielleicht hilft es dir ja, dass wir vorhaben, dir den Hof zu überschreiben. Es wäre doch bescheuert, damit zu warten, bis wir unter der Erde sind und dann die Erbschaftssteuer und so’n Kram anfallen. Ich habe Liz gebeten, mal einen passenden Vertrag aufzusetzen.«

Jörg starrte Jo an, als hätte der sich vor seinen Augen in einen Alien verwandelt.

»Ich lasse euch mal kurz alleine«, bot Jan an.

»Quatsch, du gehörst praktisch zur Familie«, wehrte Jörg ab und räusperte sich. »Also nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber was sagen deine Kinder dazu?«

Ratlos blickte Jo ihn an. »Na, was schon? Dass das längst fällig ist! Du hast mir die ganzen letzten Jahre mit dem Hof geholfen. Meine Söhne lieben die Gegend leider nicht so wie wir. Sie werden ja nicht leer ausgehen, aber der Hof gehört dir.«

»Aber der ist ein Vermögen wert und …«

»Willst du dich jetzt mit mir anlegen?«

»Na, das dann doch nicht.«

Es war Zeit, die ernste Stimmung aufzulockern. »Ein Jammer, dass ihr noch fahren müsst. Da muss ich wohl auf den zukünftigen Großgrundbesitzer ganz alleine mit einem ordentlichen Whisky anstoßen«, stellte Jan fest und erntete prompt beleidigte Blicke.

Sein Handy vibrierte und erstickte Jörgs Erwiderung im Ansatz.

Die Nummer gehörte einem guten Freund von Jan, Heiner Zeiske, einem ehemaligen Polizisten.

»Komm mal schnell zum Gerätehaus der Feuerwehr in Schönhagen«, befahl Heiner. »Hier liegt einer, mehr tot als lebendig.«

Jan wurde in solchen Fällen regelmäßig angerufen, weil er häufig schneller als der Notarzt vor Ort sein konnte. Er sprintete los und griff nach seinem Rucksack mit der Notfallausrüstung, der immer im Flur bereitlag. Jörg war dicht hinter ihm.

»Ich fahre dich«, bot er an.

»Und ich passe aufs Haus auf«, schickte ihnen Jo hinterher.

Da Jörg sämtliche Verkehrsregeln ignorierte, erreichten sie den Ort in wenigen Minuten.

Jan sprang aus dem Wagen und lief zu Heiner, der vor der Feuerwehr neben einem Mann hockte.

»Ich weiß echt nicht weiter«, rief er Jan zu.

Heiners Frau Irene stand mit einem Mobiltelefon in der Hand wenige Meter entfernt. »Die haben noch einen anderen Einsatz, es dauert, bis der Notarzt kommt.«

Der Mann sah aus wie Anfang zwanzig und hatte hellblondes Haar. Die weiß gräuliche Gesichtsfarbe war ebenso besorgniserregend wie die kaum spürbare Atmung und der schwache Puls. Jan beugte sich über den Mann und runzelte die Stirn. Zum zweiten Mal an diesem Tag roch er Knoblauch. Vergiftungen durch weißen Phosphor hatten häufig diese Begleiterscheinung, das ergab allerdings keinen Sinn.

Der Mann murmelte etwas in einer fremden Sprache. Jan verstand nur das Wort »Nadescha«. Vielleicht der Name seiner Frau.

Vorsichtig öffnete Jan den Kiefer des Unbekannten. »Leuchte mal«, bat er niemand Bestimmten, aber Heiner kam der Aufforderung sofort nach, indem er die Taschenlampenfunktion seines Handys nutzte. Mundhöhle und Hals wiesen Wunden auf, wie sie für Verätzungen typisch waren.

Jan war kein Experte für solche Fälle, tippte jedoch darauf, dass der Mann Phosphorgas eingeatmet hatte. Er hatte die Grenzwerte nicht im Kopf, wusste nur, dass schon geringe Mengen tödliche Folgen hatten und die Schäden so gut wie unumkehrbar waren.

Langsam schüttelte er den Kopf. »Er gehört auf eine Intensivstation.«

Nie würde er sich an die Hilflosigkeit gewöhnen, die manchmal Teil seines Jobs war.

Unerwartet flatterten die Lider des Mannes und sein Blick fokussierte sich. Jan tastete nach seiner Hand und drückte sie fest. »Hilfe ist unterwegs. Bleiben Sie ganz ruhig.«

»Das Geld soll Nadescha bekommen«, flüsterte der Unbekannte kaum verständlich und hustete schwach.

Jan wollte ihn stützen, doch plötzlich floss ein dünnes Rinnsal Blut aus dem Mundwinkel des Mannes. Ein letzter keuchender Atemzug und die hellblauen Augen starrten in den Himmel.

»Verdammt«, flüsterte Jan und spürte im nächsten Moment die Hand von Jörg auf seiner Schulter.

»Wenn du nichts tun konntest, ist es so«, sagte sein Freund.

Schwerfällig stand Jan auf. »Ich vermute, er ist an inneren Blutungen im Lungenbereich gestorben. Genaueres wird die Obduktion zeigen.«

Es dauerte weitere zehn Minuten, bis sie das Geräusch von Martinshörnern hörten. Irene hatte sich in die Umarmung ihres Mannes geflüchtet und vermied jeden Blick auf die Leiche. Jörg hatte eine Rettungsdecke aus dem Wagen geholt und den Mann zugedeckt. Die goldene Folie knisterte im leichten Wind.

»Hast du eine Idee, was ihn umgebracht hat?«, erkundigte sich Jörg leise.

»Auch wenn es verrückt klingt, ich tippe auf eine Vergiftung durch Phosphorgas. Dazu würden die Symptome und der Geruch nach Knoblauch passen.«

»Wenn ich an das Mädchen denke, ist das vielleicht gar nicht so abwegig«, erwiderte Jörg und eilte zu dem Streifenwagen, der in diesem Moment dicht vor ihnen hielt. Jan notierte sich innerlich, dass es eigentlich nicht sein konnte, dass der Notarzt immer noch nicht eingetroffen war.

Er rieb sich über die Stirn und war froh, dass sein Freund die nötigen Erklärungen übernahm. Nachdem er Heiners fragende Miene bemerkt hatte, ging er zu dem Ehepaar.

»Danke, dass du angerufen hast. Leider konnte ich nichts mehr für ihn tun.«

Der ehemalige Polizist schielte über die Schulter seiner Frau zu der Leiche. »Der war höchstens zwanzig. Was für ein Jammer. Hast du eine Idee, was ihn umgebracht hat?«

»Ich bin nicht sicher. Mein Tipp wäre eine Vergiftung durch Phosphor.«

Irene fuhr so schnell herum, dass ihr Mann zurückstolperte. »Das Zeug, das schon das Mädchen verbrannt hat? Das gibt’s doch gar nicht!«

Jan nickte langsam. »Die Kleine hatte üble Verbrennungen an der Hand und etwas von dem Gift eingeatmet. Das hier sah nach intensiverem Kontakt aus. Mundbereich und vor allem der Hals des Mannes waren böse verätzt und letztlich ist wohl die Lunge kollabiert. Aber frag mich nicht, wie das zusammenhängt …«

Irene zielte mit ihrem Zeigefinger auf Jan. »Wenn sich die Polizei nicht darum kümmert, dann übernehmt ihr das! So etwas darf es in Brodersby nicht geben. Wie gut, dass keine Saison ist, sonst bleiben uns noch die Touristen weg. Heiner hat sich sowieso schon gelangweilt, also seht zu, dass ihr das klärt!«

Jan öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass er etwas gesagt hatte. Anscheinend galt er im Dorf nicht nur als Arzt, sondern auch als Sherlock-Holmes-Ersatz.

Heiner grinste schief. »Streite lieber gar nicht erst ab, dass dich der Fall reizt, Jan.«

»Mache ich nicht. Ich habe nur überhaupt keine Idee, was hier eigentlich los ist oder wo wir ansetzen sollen.«

»Das kommt noch«, verkündete Irene und nickte jemandem hinter Jans Rücken zu. »Die Herren warten offensichtlich auf dich.«

Jan drehte sich um und entdeckte die beiden Streifenbeamten, die in seine Richtung blickten.

Er wiederholte seine Einschätzung und erntete ein zweistimmiges Brummen.

Der jüngere Beamte hielt einen Ausweis in der Hand. »Das Opfer ist Russe. Also einen Sinn erkenne ich gerade so gar nicht und würde sagen, wir überlassen das alles den Kollegen von der Kripo.«

Sein älterer Kollege neigte den Kopf zur Seite. »Nee. Rechne mal mit dem LKA. Bei Kampfmitteln sind die zuständig. Aber warten wir erst mal ab, ob die Rechtsmediziner die Einschätzung unseres Docs bestätigen. Danke für deinen Einsatz, Jan. Komm morgen mal bitte in Kappeln vorbei, damit du ein Protokoll unterschreiben kannst. Ich bereite das vor, damit du nur noch deinen Namen drunterkritzeln musst.«

»Mach ich. Danke.« Jan sah Jörg auffordernd an. »Lass uns nach Hause fahren, ich brauche nun wirklich was Starkes. Wat’n Schiet.«

Kapitel 3

Elisabeth Schönfeld, die von allen »Liz« genannt wurde, überflog die E-Mail ein zweites Mal und hatte nach wie vor keine Idee, wie sie mit der Bitte von Jo umgehen sollte. Manchmal könnte sie alle Männer erschießen. Und mit Jan und Jo würde sie beginnen. Erst glaubte der Bengel, sie würde nicht bemerken, dass er heimlich seine Lena geheiratet hatte, und nun zog Jo sie noch in seinen ureigenen Familienkonflikt rein. Hatte der Dösbaddel denn vergessen, dass Andrea für sie arbeitete? Er hätte es verdient, dass sie die Mail einfach an Andrea weiterleitete und auf das drohende Gewitter wartete!

Als hätte sie Andrea herbeigerufen, stürmte ihre einzige Mitarbeiterin in Liz’ Büro und hielt triumphierend einen Vertrag hoch. »Unterschrieben! Ohne zu handeln!«

Liz vergaß für einen Moment Jos Anfrage und starrte Andrea an. Der Resthof direkt an der Ostsee war in jeder Hinsicht renovierungsbedürftig und dennoch hatte der Hamburger Besitzer einen siebenstelligen Betrag gefordert – und anscheinend bekommen. Damit hatte sie nicht gerechnet und deswegen Andrea den Besichtigungstermin überlassen.

»Nicht im Ernst! Was hast du mit dem Kerl gemacht? Der ist doch nicht normal …«

»Finde ich auch, aber wollen wir uns deswegen wirklich beschweren? Unsere Courtage kann sich ja sehen lassen.« Andrea runzelte die Stirn und hockte sich auf die Schreibtischkante. »Andererseits gebe ich dir recht. Mir war der Typ total unsympathisch und ich verstehe nicht, dass er nicht versucht hat, den Preis zu drücken. Es war so, als wäre der Hof sein größter Herzenswunsch überhaupt. Aber mal ehrlich, da musst du mindestens eine halbe Million reinstecken und selbst dann …« Sie hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Das Grundstück ist zwar absolut abgelegen, aber durch die umliegenden Felder wird es richtig laut, wenn Ernte oder Düngezeit ist.«

Liz klappte ihr Notebook zu. »Egal, warum er den Hof gekauft hat. Wir gehen das jetzt feiern!« Sie tippte auf ihren Computer. »Außerdem kann ich dir da erklären, was gerade für ein Auftrag reingeschneit ist. Spätestens dann wirst du einen Drink brauchen …«

Sie liefen durch die Fußgängerzone zu der schmalen Gasse hinter der Kirche.

»Und hier ist Jan runtergefahren?«, überlegte Liz laut und betrachtete die ausgetretenen Treppenstufen, die zum Hafen führten.

»Hör bloß auf«, erwiderte Andrea. »Aber da fällt mir noch was zu unserem Verkauf ein …«

Eine ältere Dame kam ihnen entgegen und verhinderte, dass Andrea weitersprach. Sie grüßten freundlich und unterhielten sich kurz über das wechselhafte Wetter, ehe sie weitergingen.

Außerhalb der Saison waren nur wenige Restaurants und Kneipen am Hafen geöffnet. Liz und Andrea hatten jedoch herausgefunden, dass eine gutbürgerliche Kneipe auch hervorragende Cocktails anbot. An die rustikale Einrichtung, die überwiegend aus maritimer Deko bestand, hatten sie sich inzwischen gewöhnt. Jan und Jörg waren ebenfalls öfter hier, weil sie die riesigen Schnitzel schätzten, die kaum auf den Teller passten.

Andrea sah nachdenklich auf die Uhr.

Liz erriet ihre Überlegung und winkte ab. »Bis wir nach Hause fahren, ist die Wirkung des Alkohols verflogen und wir müssen das unbedingt ordentlich feiern.«

»Stimmt. Also das Übliche. Sonst soll Jörg uns eben abholen.«

Liz zeigte ihr das Daumen-hoch-Zeichen. »Sehr gute Idee. Ich habe ganz vergessen, dass er seinen alten Urlaub nimmt.«

Andrea bestellte zwei Aperol Spritz bei dem Kellner, der sie kannte. »Schalte bitte mal den Chefinmodus aus.«

Liz nickte bereitwillig. »Erledigt.«

»Gut. Denn du weißt, wie gerne ich mit dir und für dich arbeite. Es ist wirklich keine Beschwerde, aber trotzdem ein ziemlicher Albtraum, wenn der Mann Urlaub hat und die Frau nicht. Er langweilt sich …« Andrea seufzte übertrieben.

Liz lachte und dachte an ihren eigenen Lebensgefährten. Felix hatte Leberkrebs, allerdings die Prognose seiner Ärzte schon um Jahre übertroffen. Dennoch war seine Gesundheit ein ständiges Wechselbad. Mal war er fit wie ein gesunder Mann, dann wieder müde und depressiv. »Ich verstehe dich so gut. Es gibt Tage, da schmollt Felix regelrecht, wenn ich ins Büro fahre. Dabei nimmst du mir ja nun wirklich viel ab und ich komme mir vor, als würde ich Teilzeit arbeiten. Genau deswegen will ich auch …« Sie verstummte, da ihre Getränke serviert wurden. Erst nachdem sie sich zugeprostet hatten, nahm Liz das Thema wieder auf. »So, dann arbeiten wir mal die Punkte ab, wegen der wir hier sitzen. Du machst weit mehr als eine reine Assistenz, der heutige Verkauf ist der beste Beweis dafür und deswegen hast du dir einen Bonus verdient. Die Courtage von dem Resthof bekommst du.« Sie hob warnend eine Hand, als Andrea nach Luft schnappte. »Diskutier gar nicht erst mit mir. Wann immer es Felix schlecht geht, springst du klaglos ein und schmeißt den Laden alleine.«

»Das ist doch selbstverständlich. Außerdem sind wir …« Andrea schwieg sichtlich verlegen und traute sich offenbar nicht weiterzusprechen.

Impulsiv griff Liz nach ihrer Hand. »Ganz genau. Wir sind nicht nur Kollegen, sondern ich betrachte dich auch als Freundin.«

Andrea strahlte förmlich und Liz rief sich innerlich zur Ordnung. Sie sollte das wirklich öfter betonen, denn schließlich wusste sie, wie unsicher und verletzlich Andrea hinter ihrer toughen Fassade war. Ihr Mann Michael, der beste Freund von Jan, war in Afghanistan getötet worden. Als alleinerziehende Mutter eines Teenagers hatte sie es nicht leicht gehabt, sich unwissentlich auf unsaubere Geschäfte eingelassen und erst seit einigen Monaten in Brodersby ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Dass sie mit Jörg sogar einen neuen Mann gefunden hatte, der sie und ihre Tochter glücklich machte, war sozusagen das Sahnehäubchen.

Liz atmete tief durch. Wenn nicht jetzt, wann dann? »Gerade als Freundin möchte ich dir etwas sagen oder eher raten. Oder was auch immer. Eigentlich ist es eine Einmischung in dein Leben, aber ich finde, als Freundin darf ich das.«

Sichtlich irritiert blinzelte Andrea und pustete sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Na, da bin ich ja mal gespannt …«

Liz wurde einen Moment abgelenkt, weil Scheinwerfer am Fenster vorbeihuschten. Sie würde sich nie daran gewöhnen, wie früh es in den Wintermonaten dunkel wurde. Der Wagen, der ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, rangierte nun rückwärts. Für einen Moment erkannte Liz einen Mann, der an dem Restaurant vorbeiging, stehen blieb und sie durch das Fenster hindurch direkt anblickte.

»Das glaube ich nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst und stand auf. Sie wäre auch ohne Jacke nach draußen gegangen, um ihn zu begrüßen, doch da ging der Mann einfach auf den Wagen zu, als hätte er sie nicht bemerkt, was definitiv nicht der Fall war.

»Das wird ja immer verrückter.« Sie zwängte sich am Tisch vorbei, um aus dem Fenster zu sehen. Für einen Augenblick erhaschte sie noch einen Blick auf den Mann, der in den Wagen einstieg. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung erkannte sie nun auch den Fahrer. Das war Paul Winkler, der merkwürdige Kerl, der den viel zu teuren Resthof gekauft hatte.

Fassungslos starrte sie noch in die Dunkelheit, als der Wagen längst weg war.

»Ich brauche was Stärkeres«, murmelte sie.

Ihrem Stammkellner Bernie war ihre Erschütterung nicht verborgen geblieben. »Du bist ja ganz blass um die Nase. Ich bringe euch mal einen ordentlichen Schnaps aus unserem Geheimvorrat. Der geht aufs Haus.«

»Danke«, japste Liz, kehrte zurück zu ihrem Platz und ließ sich schwer auf ihren Stuhl fallen. »Das glaubst du mir alles nicht«, wiederholte sie.

»Lass mich das beurteilen, wenn ich weiß, worum es geht«, erwiderte Andrea besorgt.

»Da draußen stand Walter, der Vater von Jan. Und der ist in den Wagen von deinem Kunden gestiegen. Paul Winkler.«

Ausgerechnet in diesem Moment stand Bernie bereits wieder an ihrem Tisch und hatte Liz’ Erklärung mit angehört. »Der Fastgast im Trenchcoat ist der Vater von unserem Landarzt? Na, das ist ja mal ein Ding. Jemand namens Winkler hatte übrigens einen ruhigen Tisch für zwei Personen reserviert. Das hat sich wohl erledigt.«

Liz wunderte sich eine Sekunde, dass Bernie von »unserem« Landarzt sprach, dann fiel ihr ein, dass er in Brodersby wohnte.

Bernie stellte die beiden beschlagenen Gläser neben die Cocktails. »Das ist ein ganz feiner Obstbrand von Hinnark, den gibt’s nur für besondere Gäste.« Unaufgefordert setzte er sich an den Tisch. »Und nun erzähl mal. Was ist denn das mit Jan und seinem Vater?«

Liz würde ganz bestimmt nicht Jans Lebensgeschichte ausbreiten, aber da auch Andrea sie neugierig ansah, kam sie um eine gewisse Erklärung nicht herum. »Sie haben seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht einmal, ob Walter überhaupt weiß, dass sein Sohn in der Nähe praktiziert.«

Andrea hob ihr Glas. »Danke, Bernie. Auf die beste Kneipe in Kappeln. Und was diese vertrackte Vater-Sohn-Sache angeht, werden wir ja in den nächsten Tagen sehen, was da läuft. Ich dachte bis eben, dass Jans Eltern beide tot wären. Er hat nie über seinen alten Herrn gesprochen.«

Und das aus gutem Grund, doch das behielt Liz lieber für sich. Sie hob ihr Glas ebenfalls und stürzte den Obstbrand herunter. Leider half ihr auch der köstliche Alkohol nicht, eine logische Verbindung zwischen Paul Winkler und Walter Storm herzustellen. Und diese Unwissenheit war nichts gegen das schlechte Gefühl, das sie plötzlich befiel.

Da sie es nicht bei einem Cocktail belassen hatten, schlenderten Liz und Andrea gut eine Stunde später Richtung Klappbrücke, um sich dort von Jörg aufsammeln zu lassen.

»Wolltest du nicht noch was wegen eines neuen Auftrags mit mir besprechen?«, erkundigte sich Andrea plötzlich.

Liz musste erst überlegen, dann erinnerte sie sich an die E-Mail von Jo. »Stimmt. Das habe ich bei dem Durcheinander ganz vergessen.« Sie blieb stehen und sah auf die dunkle Wasseroberfläche der Schlei hinaus. Außer einem direkten Vorgehen fiel ihr nichts ein. »Du weißt ja, dass ich mich eigentlich nicht in dein Privatleben einmischen würde.« Das leise Schnauben von Andrea überhörte sie geflissentlich. »Also jedenfalls nicht mehr, als eine gute Freundin es eben tun muss. Warum zahlt ihr Miete für eine Wohnung, wenn ihr bei Jo und Helga viel mehr Platz für viel weniger Geld haben könntet?«

Andrea atmete tief durch. »Na, das nenne ich mal ein Thema.«

Sie schwieg einige Sekunden, und Liz befürchtete schon, dass sie zu weit gegangen war.

»Ich mag Jo und Helga«, fuhr Andrea schließlich fort. »Und das Gebäude ist groß genug, um sich nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Und es wäre schöner für Jörg, wenn er immer sofort vor Ort ist, wenn die beiden Hilfe gebrauchen könnten. Gerade weil Jörg ja ab und zu in Kiel schläft und seine Wohnung dort wegen seines Jobs nicht aufgeben kann. Dafür ist die Entfernung mit gut fünfzig Minuten Fahrtzeit einfach zu groß.«

»Er hatte sich doch ein kleineres Apartment gesucht, oder?«, hakte Liz nach.

»Ja, er meinte, dass drei Zimmer Schwachsinn seien, wenn er ja sonst mit mir und Ida zusammenlebt. Ihm reicht ein Zimmer, weil das für ihn eine reine Übernachtungsmöglichkeit und ein Aufbewahrungsplatz ist.«

»Dann verstehe ich umso weniger, dass ihr nicht die Miete für die Wohnung in Brodersby spart.«

»Es geht mir nicht um jetzt, sondern um später. Was ist, wenn wir uns dort richtig gut einleben und Jo und Helga passiert was? Wir haben einfach nicht genug Geld, um die Erben auszubezahlen und …«

Liz konnte nicht anders, als laut loszulachen. Im Licht einer Laterne erkannte sie Andreas beleidigte Miene und beeilte sich, ihr den Heiterkeitsausbruch zu erklären. »Entschuldige bitte. Aber hast du mit Jörg mal darüber gesprochen?«

»Na sicher. Also nicht direkt. Eher so indirekt.« Sie hob die Schultern. »Eigentlich nicht. Er geht auch davon aus, dass Jos leibliche Kinder den Hof erben. Deswegen habe ich den Punkt nicht weiterverfolgt. Nur so witzig finde ich das nicht!«

»Ich schon!« Liz hielt Andrea ihr Smartphone hin, nachdem sie die E-Mail von Jo aufgerufen hatte. »Hier lies mal, was für einen Vertrag du morgen früh aufsetzen sollst.«

Andrea reichten wenige Sekunden. »Na, das ist ja ein Ding!«

»Jo«, bestätigte Liz auf typisch norddeutsche Art und brachte Andrea damit zum Lachen.

»So ein Mist, dass wir schon Jörg angerufen haben, jetzt würde ich dir gerne noch einen Prosecco ausgeben! Ida wird vor Freude an die Decke hüpfen …« Andrea lächelte flüchtig. »Hoffe ich jedenfalls, denn damit wird der Weg zu ihrem geliebten Jonas einen Tick weiter. Teenager sind mit ihren Prioritäten ja manchmal unberechenbar.«

»Den Prosecco holen wir morgen in der Mittagspause nach. Da vorne kommt dein Jörg schon.«

Liz hatte sich geirrt. Nicht Jörgs Passat stoppte neben ihnen, sondern Jans Audi.

Jörg ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter. »Mögt ihr noch ein Glas trinken? Wir müssen noch rasch was im Polizeirevier erledigen.«

Liz und Andrea prusteten gleichzeitig los.

Jan und Jörg wechselten einen irritierten Blick. Beunruhigt durch Jans ernste Miene wurde Liz schnell wieder ernst. »Klar warten wir auf euch. Was ist denn passiert?«

»Ein Todesfall in Schönhagen. Wir müssen nur schnell das Protokoll unterschreiben, weil wir vor Notarzt und Polizei bei dem Mann gewesen sind. Eigentlich hätte das Zeit bis morgen gehabt, aber weil ich euch ja abholen sollte, wollten wir das gleich mit erledigen.«

Wieso musste Liz ausgerechnet jetzt an Paul Winkler und Jans Vater denken? Sie schüttelte den Kopf und nickte schnell, als Jan sie fragend ansah. »Fahrt ruhig los. Wir gehen zurück und trinken den Prosecco, den wir morgen trinken wollten.«

»Gibt’s denn was zu feiern?«, erkundigte sich Jörg.

Andrea strahlte ihn an. »Und ob. Einen überaus großzügigen Bonus und unseren bevorstehenden Umzug!«

Liz merkte Jörg an, dass er kein Wort verstand, doch das konnten sie später klären. Im Moment musste sie erst einmal verhindern, dass Andrea aus Versehen das Auftauchen von Walter Storm ansprach. Ehe sie sich nicht sicher war, dass er den Kontakt zu Jan suchen würde, wollte sie nicht, dass ihr Patenkind von der Anwesenheit erfuhr. Er hatte in der Vergangenheit genug unter dem kalten Verhalten seines Vaters gelitten.

***

Auf der Rückfahrt nach Brodersby schaffte Jan es, das Gespräch zwischen Andrea und Jörg auszublenden. Er freute sich mit den beiden, dass sie auf den Resthof ziehen und ihn irgendwann später übernehmen würden, doch da das geklärt war, beschäftigte ihn ein anderer Punkt viel mehr.

Der Polizist in Kappeln hatte bereits eine Rückmeldung aus der Rechtsmedizin erhalten. Der Mann, ein vierundzwanzigjähriger Russe, war tatsächlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer Phosphorvergiftung gestorben. Wie konnte das sein? Und wer hatte ihn zum Sterben vor dem Feuerwehrhaus abgelegt? Es wäre logisch, wenn es eine Verbindung zu dem verletzten Mädchen gab, das Bernstein und Phosphor verwechselt hatte. Aber wie sollte die aussehen? Wenigstens lenkten ihn die offenen Fragen ein wenig von seiner Sorge um Lena ab.

Erst nachdem er Jörg und Andrea bei Jo rausgelassen hatte, fiel ihm auf, dass seine Tante auffallend schweigsam war. So kannte er sie nicht – schon gar nicht, wenn sie mit einer Freundin den einen oder anderen Drink genommen hatte.

»Geht’s dir nicht gut? Oder ist was mit Felix?«, erkundigte er sich besorgt, während er zu dem Haus fuhr, in dem sie mit ihrem Lebensgefährten wohnte.

»Nee. Ich muss da nur über ein paar Dinge nachdenken, die nicht zusammenpassen. Dieser Resthof zwischen Brodersby und Damp hätte niemals für so viel Geld weggehen dürfen. Ich verstehe das nicht und glaube das erst, wenn der Notar den Vertrag mit seinem Siegel verziert hat.«

»Aber ihr habt trotzdem schon gefeiert?«

»Na klar, die Courtage ist fällig, da der Typ den Vorvertrag unterschrieben hat. Steht so eindeutig im Kleingedruckten.«

»Wie wäre es, wenn du dich einfach freust, dass du jemanden gefunden hast, der dumm genug ist, so viel Geld auszugeben?«

»Guter Vorschlag, der könnte fast von mir sein.«

Jan stoppte vor dem Gebäude und schaltete den Motor aus. »Ich komme kurz mit rein. Ich will noch mit Felix reden.«

»Über seine Chemo?«

Die Sorge war seiner Tante anzumerken. Nachdem Felix zunächst als austherapiert gegolten hatte, würden seine aktuellen Werte eine erneute Behandlung rechtfertigen. Felix hatte sich bisher nicht überwinden können, eine entsprechende Therapie zu beginnen, und auch Jan war sich nicht sicher, ob dies ein sinnvoller Weg für seinen Freund war.

»Nein. Da warte ich, bis er sich entschieden hat, und mische mich nicht ein. Jo hatte ihn gebeten, sich etwas anzusehen. Du weißt doch, wie viel Spaß ihm die Recherchen machen, wenn wir einer Sache auf der Spur sind.«

Über das Wagendach hinweg sah seine Tante ihn an. »Und das seid ihr?«

»Nicht so richtig, nur ein bisschen«, wiegelte er ab.

»Und ich dachte, du wirst etwas ruhiger, wo du bald Vater wirst.«

Obwohl sie nicht direkt vorwurfsvoll geklungen hatte, fühlte er sich angegriffen.

»Wir machen doch überhaupt nichts. Jedenfalls nicht mehr, als jeder interessierte Bewohner von Brodersby unternehmen würde. Ich möchte es eben wissen, wenn plötzlich das Risiko besteht, dass regelmäßig Phosphor am Strand zu finden ist. Falls du dich erinnerst, unser Haus liegt direkt an der Ostsee. Möchtest du, dass unser Kind am Strand damit in Berührung kommt?«

Jan fluchte innerlich, das hatte entschieden zu aggressiv geklungen. Wie hieß es noch? Wer sich verteidigte, klagte sich an … Verdammt. Jedes weitere Wort würde ihn nur tiefer reinreiten, sodass er sich einfach abwandte und zur Haustür ging.

Felix öffnete ihm und Rambo, die kleine Promenadenmischung seines Freundes, sprang kläffend an ihm hoch. Erst nach einigen Krauleinheiten beruhigte sich der Hund.

Felix sah ratlos zwischen Liz und Jan hin und her. »Habt ihr Stress?«

»Ja«, sagte Liz, während Jan »Nein« antwortete.

Über Felix’ verdutzte Miene musste Jan lachen und sein Ärger verflog. »Liz hat mich angemacht, weil wir angeblich schon wieder ermitteln – und das, obwohl Nachwuchs unterwegs ist.«

Mit Felix hatte Jan offen darüber geredet, dass er sich fragte, ob er ein guter Vater wäre, sodass sein Freund sofort verstand, warum er so empfindlich reagierte.

Felix winkte ab. »Das würde ja voraussetzen, dass es schon einen Anhaltspunkt für Ermittlungen geben würde, und der ist noch weit und breit nicht in Sicht. Nun setzt euch mal ins Wohnzimmer, dann halte ich euch einen kleinen Vortrag über Phosphor in der Ostsee.«

Liz hob den Kopf höher. »Das interessiert mich nicht. Ich drehe eine Runde mit den Hunden, während ihr euch wieder in Dinge einmischt, die euch nichts angehen.«

Dass Liz ihren weißen Pudelmischling Leila vom Kissen förmlich hochzerrte, verriet ihre Stimmung. Jan zog es vor abzuwarten, bis seine Tante und die Hunde verschwunden waren. Erst als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, ließ er sich im Wohnzimmer in einen der gemütlichen Sessel sinken.

»Wenn ich nicht noch fahren müsste, wäre ich reif für einen Whisky«, sagte er und stöhnte übertrieben laut.

»Ach was, einer geht schon.«

»Na gut, ein kleiner«, gab Jan nach.

Felix schenkte ihm einen ordentlichen Schluck Talisker ein und blieb selbst bei seinem Kräutertee.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Jan vorsichtig, da sein Freund diese Nachfragen nicht besonders schätzte.

»Ganz gut, wieder etwas müde. Ansonsten gibt’s keine Verbesserung, aber auch keine Verschlechterung.«

Die sich anbietende Frage nach der Chemotherapie verkniff sich Jan und erntete ein dankbares Lächeln.

»Danke, dass du nicht wegen der Chemo fragst. Die Antwort habe ich nämlich immer noch nicht.«

»Ich kann mich da nur wiederholen: Höre auf dein Bauchgefühl!«