Falschspieler - Franz Dobler - E-Book

Falschspieler E-Book

Franz Dobler

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Beschreibung

Sechs Geschichten mit vollem Unterhaltungswert: Durch bizarre Stimmungslagen, alltägliche Szenen, robuste menschlische Mentalitäten, Schattenbilder brauner Vergangenheit und Liebesromanzen führt Dobler dem Leser im Deutschland der 80er Jahre herum. Er treibt dabei des öfteren ein falsches Spiel mit den Protagonisten, so dass in den Geschichten so manche gezinkte Karte auftaucht. Und immer herrscht eine merkwürdige Spannung, der Leser bewegt sich auf doppeltem Boden. Dobler versteht es, "eine genaue Weltbeschreibung in ein Zwiegespräch zwischen Punkt und Komma" zu packen, heisst es in Theater 87. "Großmäuligen bayerischen Realismus" gesteht ihm Michael Buselmeyer zu. Und der Wiener zählt Dobler zu den neuen "Theaterrebellen" zur "Pop-Generation" auf der Theaterbühne.

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Franz Dobler

Falschspieler

Erzählungen

FUEGO

– Über dieses Buch –

Sechs Geschichten mit vollem Unterhaltungswert: Durch bizarre Stimmungslagen, alltägliche Szenen, robuste menschlische Mentalitäten, Schattenbilder brauner Vergangenheit und Liebesromanzen führt Dobler dem Leser im Deutschland der 80er Jahre herum. Er treibt dabei des öfteren ein falsches Spiel mit den Protagonisten, so dass in den Geschichten so manche gezinkte Karte auftaucht. Und immer herrscht eine merkwürdige Spannung, der Leser bewegt sich auf doppeltem Boden.

Dobler versteht es, »eine genaue Weltbeschreibung in ein Zwiegespräch zwischen Punkt und Komma« zu packen, heisst es in Theater 87. »Großmäuligen bayerischen Realismus« gesteht ihm Michael Buselmeyer zu. Und der Wiener zählt Dobler zu den neuen »Theaterrebellen« zur »Pop-Generation« auf der Theaterbühne.

Jede Wahrheit ist eine

nicht aufgedeckte Lüge.

Sam Peckinpah

Karo, meine Marke

Ich weiß nicht, ob Sie rauchen, was Sie rauchen, und ob Ihnen die Zigarette, die Sie rauchen, etwas bedeutet. Meine Marke ist Karo. Aber ich glaube nicht, dass diese Geschichte für Nichtraucher schwieriger zu verstehen ist.

Jahrelang kannte ich von der DDR nur das, was man vom Hörensagen kennt: Es gibt keine freien Wahlen, ein Korrespondent wird ausgewiesen, eine Tante bekommt keinen Kaffee, ein Flüchtling wird an der Mauer erschossen, die Autos sind schlecht und die Mitglieder des Zentralrats der DDR fahren bessere.

Das Land selbst lernte ich erst kennen, als ein Freund nach Westberlin übersiedelte, um dem westdeutschen Militär nicht dienen zu müssen, und ich einige Male im Jahr die Transitstrecke fuhr, um ihn zu besuchen.

Fast alle Leute, mit denen ich auf dieser Strecke unterwegs war, schimpften über das schlechte Essen in den Raststätten; aber sie mussten dort essen, weil es für Westdeutsche so billig ist. Das Essen ist nicht schlechter als in allen anderen Raststätten, die ich kennengelernt habe. Man schimpfte außerdem über die schlechten Straßen und die strikte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h; beides kümmerte mich nicht, ebenso wenig wie die angeblich besonders langen Wartezeiten an den Grenzübergängen, bei denen ich die Gelegenheit nutzte, die Beamten zu beobachten. Sie verhielten sich nicht anders als die Grenzer anderer Länder, die ich erlebt habe.

Wenn an den Raststätten gehalten wurde, hielt ich Ausschau nach einer Begegnung. Aber ich hatte gehört, dass einen das leicht in Schwierigkeiten bringen kann und traute mich deshalb nie, jemanden anzusprechen. Auch sah ich nie etwas, was das Gerücht bestätigt hätte, an diesen Plätzen würde eine rege Prostitution stattfinden, die für Westdeutsche ähnlich günstig ist, wie der Kauf von Zigaretten.

Eines Tages schlenderte ich durch einen Intershop, und zum ersten Mal fiel mir das reichhaltige Angebot an Ost-Zigaretten auf; aus Neugier, und weil ich nicht das Geld für eine Stange West-Zigaretten hatte, verlangte ich einige Schachteln aus dem einheimischen Angebot. Vom äußeren Eindruck der Schachteln ausgehend, nahm ich die ovale und filterlose Orient Exquisit von der zehn Stück in verschnörkelt gestalteter, gelber Verpackung mit herausziehbarer Einlage 2.40 kosten; Inka, hinter deren klingendem Namen sich die übliche, parfümiert duftende Filterzigarette mittlerer Stärke für 3.50 in aufdringlich rot-weiß-glänzender Verpackung verbirgt; und dann entdeckte ich noch eine schmucklose, schwarzweiße Packung, deren rote Schrift ich auf die Entfernung über die Ladentheke nicht lesen konnte und auf deren Namen am Regal auch nicht hingewiesen wurde.

»Karo?«, fragte die Verkäuferin, als sie nach mehreren Fehlgriffen das erwischte, worauf mein Finger deutete.

Der Name gefiel mir.

Ich klemmte die Tüte aus Packpapier unter den Arm und ging zum Wagen zurück. Auf dem Beifahrersitz legte ich mir alle Schachteln in den Schoß, um sie genauer zu betrachten.

Der junge Mann, mit dem ich nach Westberlin fuhr, wenn ich mich recht erinnere, ein Angestellter der dortigen Elektrizitätswerke, grinste, als er sah, was ich gekauft hatte.

»Das sind die Schlimmsten«, sagte er, als ich die Karo in die Hand nahm. Er selbst rauchte nicht.

Von Karo kosten 20 Stück 1.60, eine billige Sorte, wenn man bedenkt, dass die in der DDR gängige Inka mehr als das doppelte, und Orient Exquisit das dreifache kostet. Mir schien das ein Hinweis, dass der Fahrer mit seinem Urteil, das er von Bekannten übernommen hatte, recht haben könnte.

»Anzünden und wegwerfen!«, lachte er und erzählte eine Zigarettengeschichte von jemandem, der in Russland gewesen war; die russischen wären die allerschlimmsten.

Er gefiel mir nicht. Ich behielt die Schachtel weiter in der Hand.

Die Karoschachtel hat das Format der filterlosen Gauloises. Dieses eher robuste als elegante Aussehen wird bei Karo durch die fehlende Zellophanhülle noch verstärkt. Die Schachtel selbst ist aus grober Pappe, und es ist deutlich zu erkennen, dass an zwei Streifen geklebt wird, um aus der bedruckten Pappe eine Schachtel zu machen.

Das Grundmuster von Karo ist an allen Seiten, außer der unteren, wo nur steht, dass sie in den VEB Vereinigte Zigarettenwerke Dresden hergestellt wird, ein schwarzweißes Schachbrett, in das auf den Schmalseiten in einem weißen Rechteck mit der Ziffer 20 zu beiden Seiten das Wort Karo integriert ist, auf der Vorder- und Rückseite außerdem ein Wappen, das wie ein umgedrehter Helm aussieht, aus dem über einem schmalen Rand mit zwei fünfzackigen Sternen drei Tabaksblätter hervorblühen. Dieser Helm wird von zwei Panthern in die Mitte genommen, die jeweils eine Pfote auf das Gefäß gelegt haben und mit davon weggedrehten Köpfen und aufgerichteten Schwänzen die Flanken sichern. Name und Wappen der Zigarette sind rot.

Das alles erkannte ich in wenigen Sekunden, und obwohl nichts daran den westlichen Maßstäben von gelungener Gestaltung entspricht gefiel mir die Verpackung.

Aus Trotz und Verärgerung über die dumme Bemerkung des Fahrers öffnete ich die Karo also zuerst und als ich Minuten später den Stummel ausdrückte, hatte ich eine gute Zigarette geraucht. Noch ehe wir in Westberlin entfuhren, wusste ich, dass Karo unter den DDR-Zigaretten nicht nur die billigste, sondern auch die beste ist.

Obwohl in Westberlin die Dinge nicht so verliefen, wie ich es mir vorgestellt hatte, vergaß ich nicht mir auf dem Rückweg die erlaubte Menge meiner neuen Marke zu besorgen.

Als ich am Tresen des Raststättencafés danach fragte, sah man mich erstaunt an und schüttelte den Kopf. Erst auf eine weitere Frage erfuhr ich, dass ich es bei einem Kiosk auf einem zweiten Parkplatz auf der anderen Seite der Raststätte versuchen könnte.

Dort reihte ich mich in die kleine Schlange ein, die vor dem Schaufenster der Holzbude wartete. Auf diesem kleineren Parkplatz standen nur wenige westdeutsche Wagen, und auch drei der vier Personen, die vor mir an der Reihe waren, sprachen ostdeutschen Dialekt. Ich musterte sie unauffällig und versuchte, besondere Kennzeichen an ihnen zu entdecken. Sie waren alle in mittlerem Alter und sahen aus wie die meisten Leute mittleren Alters in Mitteleuropa aussehen.

»Drei Stangen Karo«, sagte ich; die beiden Stangen, die über das erlaubte Ausfuhrlimit hinausgingen, gehörten offiziell zu den beiden Nichtrauchern, mit denen ich unterwegs war.

»Ich weiß nicht, ob ich noch so viele auf Vorrat habe«, sagte die Verkäuferin.

Sie sah mir einen Moment forsch in die Augen und begann dann in einem Regal zu kramen.

»Wenn Sie möchten, können Sie sich eine Minute in den Garten setzen und einen Kaffee trinken!«, rief sie.

»Gute Idee«, sagte ich.

Im Innern des Kiosk stand ein junges Mädchen vom Tisch auf, wo sie im Halbdunkel in einer Zeitschrift geblättert hatte, kam ans Fenster und schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Ist gleich soweit«, sagte sie.

Ich nickte und ging zu dem eingezäunten Stück Wiese, auf dem Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgebaut waren. Ich zog meine längst geleerte Schachtel Karo, in die ich zum Spaß andere Zigaretten getan hatte, aus der Tasche.

Wie immer, wenn ich mich auf DDR-Gebiet aufhielt, war ich angespannt und wartete darauf, dass etwas passieren oder mich jemand ansprechen würde. Ich freute mich, einen Platz gefunden zu haben, wo keine Westleute waren und es deshalb leichter möglich wäre, etwas Typisches mitzuerleben.

»Sie sucht noch nach einer Stange«, sagte das Mädchen, als sie die Tasse vor mich auf den Tisch stellte.

»Die Marke wird hier selten verlangt. Unsere Leute rauchen das kaum.«

»Ich finde Karo prima, und außerdem ist sie die billigste.«

Sie zuckte mit den Schultern und streckte sich.

Ich war der einzige Gast.

»Was rauchen Sie denn?«, fragte ich.

»Dieselben, aber nicht, weil sie mir fremd sind«, sagte sie und lächelte mich spöttisch an.

»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich aus dem Westen komme?«

»Man kennt sie, wenn man mit ihnen zu tun hat. Ich war früher in der Raststätte.«

»Sie mögen keine Westdeutschen?«

Sie überlegte, und ich sah ihr an, dass sie mich nicht verletzen wollte. Aber ehe sie irgendwas sagen konnte, rief die Frau aus dem Kiosk nach ihr.

Sie hieß Anna.

»Die Zigaretten«, sagte sie und ging hinüber.

»Kann ich noch einen Kaffee bekommen!«, rief ich ihr nach.

Sie ging sehr langsam; und ich bildete mir ein, sie wäre schneller gegangen, wenn sie nicht gewusst hätte, wie die Sonne durch ihren Kittel schien. Sie ging, als würde sie über einen Strand zum Meer gehen, im Gehen ihr Kleid öffnen und fallen lassen und ohne den Gang zu verändern ins Meer gehen.

In meiner Einbildung wurde ich bestärkt, als sie mir zuerst die Tüte mit den 55 Schachteln Karo brachte und dann noch einmal mit diesem Gang zum Kiosk ging, um mir den Kaffee zu bringen. Als sie mir die zweite Tasse servierte, fragte ich, ob ich sie einladen dürfte, und sie ging wieder und ich musste daran denken, dass Andy Warhol vor 20 Jahren sicher einen abendfüllenden Film über ihren Gang gedreht hätte.

»Geht’s noch weiter oder kann ich mich setzen«, sagte sie dann.

»Mal sehen«, sagte ich.

Sie ließ das ganze Päckchen Zucker in ihren Kaffee rieseln.

»Ich bin froh, wenn ich viel bedienen muss und aus dem muffigen Loch rauskomme. Die blöde Kuh mag es nur nicht, wenn ich mich von fremden Gästen einladen lasse. Aber heute kann sie nicht viel sagen, es gibt nichts zu tun.«

»Ihre Mutter?«

Sie kicherte und beugte sich über die Tasse, dass sich die blonden Haare wie ein Vorhang über ihr Gesicht schoben.

»Sie würde Ihnen das Gesicht zerkratzen. Sie behauptet sogar, dass sie nicht mal meine Mutter sein könnte. Aber sie ist wirklich eine dumme Kuh. Sie denkt, sie kann hier die Chefin spielen.«

Ich sah zum Kiosk hinüber. Sie tat, als würde sie uns nicht beobachten.

»Kann Ihnen das nicht Ärger einbringen, wenn Sie sich mit mir unterhalten?«, fragte ich.

Sie machte eine verächtliche Handbewegung.

»Wenn wir uns über die falschen Dinge unterhalten und die richtige Person zuhört; ist das bei euch vielleicht anders?«

»Vielleicht gibt es bei uns weniger falsche Dinge.«

»Vielleicht«, sagte sie und starrte dann auf die Tischplatte und ich fürchtete schon, sie gekränkt zu haben.

Mit einem Ruck hob sie den Kopf und schleuderte die Haare nach hinten.

»Wie ist es denn im Westen, kann man sich wirklich die ganze Welt kaufen?«

Sie sah mich dabei so direkt an, dass ich unsicher wurde. Sollte ich aus dem Satz etwas heraushören, was über die Frage hinausging?

»Natürlich«, sagte ich und streckte ihr meinen Arm mit der Armbanduhr hin.

»Wie bei uns.« Sie zeigte mir ihre.

Wir legten die Arme aneinander, um die Uhren zu vergleichen.

»Wasserdicht?«

»Was denkst du denn?« grinste sie.

»Sie bilden sich ein, sie hätten etwas, wenn sie ein gutes Auto haben oder all das andere Zeug.«

»Und hier denken sie das, wenn sie überhaupt eines haben. Es ist dasselbe. Mich kümmert das auch einen Dreck.«

Ich wunderte mich.

Ein Wagen der Volkspolizei fuhr im Schritttempo auf den Parkplatz und brachte mich auf andere Gedanken. »Soll ich besser verschwinden?«

»Wozu denn«, sagte sie ärgerlich, »wir tun doch nichts Verbotenes. Außerdem kenne ich die beiden.«

Sie winkte ihnen zu und die Beamten grüßten freundlich zurück. Dann gab der Fahrer Gas und steuerte auf den großen Parkplatz.

»Sie sitzen oft hier und bestellen etwas, verstehst du?« Sie tat, als würde sie mit dem Po wackeln und deutete mit dem Kinn zum Kiosk.

»Es ist immer das Gerede von solchen Leuten, das einen ins Gerede bringt. Aber sie ist damit schon einmal auf die Schnauze gefallen, weil man mir nichts beweisen konnte. Kann dir das nicht passieren? Ich kann dir gern einen Monat lang unser Neues Deutschland schicken, was meinst du, möchtest du darauf wetten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber ich kann ausreisen«, sagte ich.

»Kann ich auch, nur in die andere Richtung.«

»In die Richtung kann ich auch.«

»Und hast du auch das Geld dazu?«

»Selten.«

Ich glaube, wir redeten beide von Dingen, über die wir uns überhaupt nicht unterhalten wollten.

Dann sagten wir nichts mehr und dann wurde sie zum Kiosk gerufen. Ich hätte längst wieder beim Wagen sein müssen.

»Sie ist einfach ein unglaublich dummes Weib«, sagte Anna, als sie wiederkam.

»Ich will nicht, dass du wegen mir Ärger bekommst, Anna.«

»Wenn das alles ist«

»Ist nicht alles; ich würde jetzt gern hier bleiben.« »Für eine Nacht oder länger?«

Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort und wir lachten darüber.

»Ich bin leider mit irgendwelchen Leuten hier, die sicher schon vor Wut platzen.«

»Wenn sie zu lange auf dem Rastplatz herumstehen, ist es wirklich nicht so gut« Sie legte ihre Hand auf meine. »Schade, in einer Stunde bin ich hier fertig.« Durch die Luft gab sie mir einen Kuss, und zum Zeichen, dass ein richtiger Kuss doch zu viel wäre, verzog sie stöhnend die Augenbrauen und sah zum Kiosk. »Die würde gleich wieder was denken.«

Ich wollte sie gerade fragen, ob sie mich nicht zum Parkplatz begleiten könnte, als das Pärchen, an dessen Golf ich durch die Mitfahrzentrale geraten war, auf uns zu marschiert kam. Sie waren wütender als erwartet und keiften mich an, dass es eine Riesenunverschämtheit wäre, sie auf dieser blöden Raststätte so lange warten zu lassen und sie keine Lust hätten, nachts durch die DDR zu fahren und es schließlich ihr Auto wäre.

»Seid froh, wenn er überhaupt wieder mit rausfährt«, kicherte Anna.

Sie verstanden nicht, was daran so komisch war, und es dauerte eine Weile, bis ihnen dämmerte, dass sie ohne mich natürlich nicht die Grenze passieren könnten.

»Fünf Minuten«, sagte ich.