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Ein Praktikum in Australien zum beruflichen Wiedereinstieg, ein halbes Jahr Sommer, Sonne, Sonnenschein - das ist Jule Kuckucks Traum. Doch dann schaltet sich Freundin Bea ein, und statt im australischen Bundesstaat Victoria landen die beiden Frauen in der gleichnamigen Stadt an Kanadas verregneter Westküste. Was folgt, ist ein Roadtrip mit zwei Frauen, drei Kindern und einem Stinktier im Gepäck.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2018
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- Impressum
- Sorry, not Australia
- Ein neuer Plan
- Schwarz-weiße Mitbewohner
- Kein Bier am Canada Day
- Deutsches Brot mit Kruste
- Auf in die Wildnis
- 634-ish Kilometer
- Wüstenblumen
- Three Valley Gap
- Wildlife live
- Splitternackt erwischt
- Wer suchet, …
- …, der findet.
- (K)ein Buschpilot für alle Fälle
- Gestrandet im Land der Abenteuer
- Zurück zum Glück
- Oh, wie schön ist Vancouver
- Das Ende vom Anfang
Copyright 2018
© Sabine Engel
Text: Sabine Engel
Kirchstraße 20, 14532 Stahnsdorf
Umschlaggestaltung: Sabine Engel
Bilder: zfmbek/Fotolia & Sabine Engel
Alle Rechte vorbehalten.
Für meinen Mann,
in Erinnerung an unsere Jahre in Vancouver,
der schönsten Stadt der Welt.
„Nix Kanada! Australia! Wir wollen nicht durch den Zoll, wir reisen weiter nach Australien!“
Ich stehe mit meinen drei Kindern fröstelnd vor einem künstlichen Wasserfall und zwei riesenhaften Holzkriegern in der grün getünchten Ankunftshalle des Vancouver International Airports. Sogar der Teppichboden ist grün. Er schluckt die Schritte und die Gespräche der wartenden Menschen, sodass das melodische Plätschern des Wassers jeden Reisenden freundlich willkommen heißt. Idylle pur, bis auf Beas Stimme, die quer durch die Halle schallt. Meine beste Freundin steht in ihrem alten Parker und zerschlissenen Jeans vor mir am Pult des kanadischen Grenzbeamten und redet mit gebrochenem Englisch, dafür aber umso mehr Temperament auf den armen Mann in seiner ebenfalls grünen Uniform ein. Der Gute scheint unter seiner Jacke zu schwitzen, was angesichts der arktischen Temperaturen, die die Klimaanlage durch den Raum pustet, beachtlich ist. Bea jedoch hat wenig Mitleid. Ihr bunter Schal flattert mit jeder Bewegung ihrer Hände dicht vor seiner Nase auf und ab, und ihre nach dem Überseeflug widerspenstig abstehenden Locken zittern bedrohlich. Sie erinnert mich an eine explosive Mischung aus Pippi Langstrumpf und Orlando Bloom.
„Victoria, Aus-tra-li-a!“, wiederholt sie zum dritten Mal und klopft dazu im Takt auf unsere Flugtickets, die neben den Pässen auf dem Pult liegen.
„Mami, ich bin müde“, quengelt Tim an meiner Hand. Mit seiner anderen drückt er den Plastikhai an seine Brust, den er letzte Woche von Björn zu seinem fünften Geburtstag bekommen hat. Die blaue Schirmmütze, ebenfalls ein Geschenk seines Vaters, hängt ihm ein wenig schief über den Augen.
„Wieso müssen wir unsere Pässe zeigen?“, fragt Stina und versucht vergeblich ein paar Haare, die sich in ihrer Brille verfangen haben, zu entknoten. „Ich dachte, wir steigen nur um.“
„Bea hat es verbockt!“, zischt Jana. Mit ihren dreizehn Jahren spricht sie bereits so viel Englisch, dass ich mir jede alternative Erklärung sparen kann.
„Ich will zu Papa!“ Die Panik in Stinas Stimme ist nicht zu überhören. Vielleicht ist es an der Zeit einzuschreiten.
„Stina, nimm deinen Bruder. Es ist bestimmt nur ein Missverständnis.“ Ich schließe Jana kurz in meine Arme und streichle über ihren Kopf. Wie alle meine Kinder, hat sie glänzende honigblonde Haare. Woher, ist mir ein Rätsel. Björn hat dunkle Stoppeln, und meine Haare erinnern eher an Sand, in Farbe und Konsistenz. „Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Heute Abend sitzen wir alle zusammen in Australien am Strand und lachen darüber“, flüstere ich beschwörend, auch um mir selbst Mut zu machen.
Seufzend schiebe ich mich zum Pult des Grenzbeamten vor, dabei würde ich mich am liebsten verkriechen. Ich bin seit über zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen. Die Haut in meinem Gesicht spannt wie sprödes Gummi. Mir ist kalt. Ich bin hundemüde. Und ich will endlich in die Sonne. Trotzdem versuche ich ein verbindliches Lächeln: „Wo ist denn das Problem?“
„Ma’am, your tickets are issued to Victoria.“
Ja, das weiß ich. Unsere Tickets sind bis Victoria ausgestellt. Da wollen wir schließlich hin. Ab in die Wärme. In den südlichsten Süden Australiens. Wir müssen nur noch klären, wie wir den Anschlussflug erreichen. Langsam drängt die Zeit.
„Sir, would you help us, please?“, probiere ich es höflich.
„Der versteht uns nicht! Sagt immer nur ‚sorry‘ und ‚not Australia‘“, flüstert Bea hinter meinem Rücken. „Das weiß ich auch, dass hier Kanada ist. Ich bin ja nicht blöd.“
„Vielleicht würde er uns besser verstehen, wenn wir es mal mit Englisch versuchen“, wispere ich zurück und wende mich wieder an den Mann am Pult.
„Kann ich aber nicht!“ Bea ist offensichtlich verstimmt.
„Yes, sir, I understand. Victoria. Könnten Sie uns nur zeigen, wie wir zum Gate kommen“, bitte ich in meinem allerbesten Englisch.
Der gute Mann atmet tief durch, als würde er einem Kleinkind zum fünften Mal erklären, dass es nie, wirklich niemals die ganze Rolle Toilettenpapier in die Kloschüssel werfen darf. Ich kenne das Gefühl, immerhin habe ich schon meine eigenen Kinder durch dieses Alter manövriert, finde aber, dass er hier maßlos übertreibt. Bea kann ziemlich anstrengend sein. Ihr Englisch ist eine Katastrophe. Aber wahrscheinlich ist sie in ihrer Euphorie nur in die falsche Richtung gestürmt, sodass wir statt am Gate vor der Einwanderungskontrolle gelandet sind. Das kann schließlich jedem passieren.
„Ms …“ Der Mann wirft einen Blick in meinen Pass. „Ku…, Kuku…“
„Kuckuck. Jule Kuckuck.“
„Yes, Ms Kuckuck. Sie müssen zuerst hier, in Vancouver, durch die Immigration, dann mit ihrem Gepäck durch den Zoll und weiter zum Terminal für Inlandsflüge“, erklärt er.
Zumindest glaube ich, dass er das sagt, nur macht es keinen Sinn. Meines Wissens ist Australien, abgesehen von einem gemeinsamen Königshaus, unabhängig von Kanada und dem restlichen Commonwealth, weshalb ich unser Gate bei den internationalen Flügen erwarte. Irgendetwas läuft hier schief. Ich versuche es also noch einmal.
„Aber wir möchten nach Australien.“
„Dann hätten Sie besser auch Tickets nach Australien gebucht.“ Täusche ich mich oder huscht gerade ein Grinsen über sein strenges Gesicht? Dieser Staatsdiener muss einen eigenartigen Humor haben. Sicher kanadisch.
„Das habe ich doch!“
Mein Gegenüber schüttelt langsam den Kopf, tippt auf ein paar Buchstaben auf dem Flugticket und sagt mit einem beunruhigenden Glucksen in der Stimme: „YYJ, sehen Sie das?“
Ich nicke verunsichert.
„Das ist der Buchstabencode für Victoria Airport, ein kanadischer Flughafen. Das erkennt man sofort am Y. Ihre Tickets enden in Kanada.“
„Victoria in Kanada?!“
„Yes, Ma’am, Victoria BC, die Hauptstadt der Provinz British Columbia. Und Sie sollten sich beeilen. Ihr Flug geht in 30 Minuten.“ Er grinst tatsächlich.
Verwirrt drehe ich mich zu Bea um, die plötzlich merkwürdig unbeteiligt ihre Hände betrachtet.
„Ich glaube, ich habe mir eben einen Nagel eingerissen“, murmelt sie.
„Mami, was sagt der Mann?“, piepst Tim.
„Das ist jetzt nicht wahr, oder? Mam! Ich habe allen erzählt, dass ich nach Australien ziehe“, kreischt Jana.
„Geht es dir nicht gut, Mami?“, höre ich Stinas Stimme durch das Geschrei ihrer großen Schwester.
„Doch, doch, mein Schatz“, antworte ich tapfer und zwinge meine plötzlich butterweichen Knie zur Ordnung. „Jana, mach dir keine Sorgen. Alles wird gut!“
Der Grenzbeamte ist nun offensichtlich in bester Stimmung. „Mit deutschen Pässen dürfen Sie sich ein halbes Jahr im Land aufhalten“, verkündet er gut gelaunt. Das Grinsen auf seinem Gesicht erreicht fast seine Ohrläppchen. Sogar sein Bauch zuckt verdächtig. „Welcome to Canada, Ma’am!“ Er schnalzt laut, knallt seinen Stempel auf die Papiere und schiebt uns unsere Pässe zurück. Dann winkt er die Nächsten heran.
Ein betagtes amerikanisches Pärchen, beide mit weißen Stirnkappen und Turnschuhen, walzt sich eine Entschuldigung murmelnd an mir und den Kindern vorbei.
„Du, Jule, lass uns mal einen Schritt weitergehen. Ich glaube, wir stehen hier im Weg“, flötet Bea und winkt den Kindern, ihr zu folgen. „Ich muss auch mal dringend wohin.“
Entgeistert trotte ich hinter meiner Freundin her, die bereits voran zum Gepäckband rauscht.
„Wie schön, da sind schon meine Koffer!“, ruft sie begeistert. „Wie schnell die hier sind in Kanada. Da kann man nicht meckern. Jana, kannst du ein Auge auf mein Gepäck werfen? Ich bin gleich wieder da.“ Damit düst sie davon.
Doch mittlerweile habe auch ich mich wieder gefangen. „Jana, Stina, Tim, ihr wartet hier“, rufe ich knapp und stürme Bea hinterher.
Kurz vor den Kabinen der natürlich grün gekachelten Damentoilette hole ich sie ein.
„Ach, Jule, musst du auch?“ Bea schaut mir aus großen blauen Augen entgegen.
„Kanada?“, schreie ich so laut, dass mir sofort die Kehle brennt. Vielleicht liegt das aber auch an der schrecklichen Klimaanlage. „Das ist wohl ein Scherz!“
Eine zierliche Frau in einem blauen Sari lugt erschrocken aus einer der Türen und stürzt dann, ohne sich die Hände zu waschen, ins Freie.
„Was meinst du?“ Bea versucht tatsächlich, ihre Unschuldsnummer durchzuziehen.
„Wieso hast du unsere Flüge umgebucht?“
„Aber das weißt du doch! Damit wir alle zusammen reisen konnten.“
„Nur wollten wir, die Kinder und ich, nach Australien!“
„Du, ich hatte mich auch schon gewundert, warum die Tickets plötzlich nur noch halb so teuer waren. Aber ich habe gedacht, es liegt an der Verbindung.“
„Tut es auch! Weil die Verbindung nach Victoria, Kanada, nämlich nur halb so weit ist wie die nach Victoria, Australien.“
„Ja, das könnte der Grund sein.“ Bea sieht sich im Waschraum um. Offensichtlich sucht sie nach einer guten Rückzugsstrategie. „Dann hast du ja die Antwort. Warum regst du dich also auf? Das macht ganz fürchterliche Falten.“
„Ich rege mich auf, weil ich Pläne habe. Ich will ein Praktikum machen, ich will endlich wieder in meinen Beruf einsteigen.“
„Der hat dir doch schon vor den Kindern nicht gefallen.“
„Darum geht es nicht.“
„Ach“, Bea strahlt mich an. „Dann machst du das Praktikum einfach hier, in Kanada.“
„Pharmatec sitzt aber in Australien.“
„Weißt du, das ist wirklich dein Problem. Du bist unglaublich unflexibel.“
„Ich? Unflexibel?“
Bea schweigt und schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln.
„Natürlich bin ich unflexibel. Ich muss mich auch um alles kümmern. Deswegen brauche ich eine Auszeit, ein bisschen Sonne und eine gute Chance. Du glaubst immer, es wäre alles so einfach. Lebst von diesem oder jenem Job, tingelst von einem Mann zum nächsten, wann immer dir seine Nase nicht passt oder die Zeitung, die er liest.“
„Du, Jule, jetzt wirst du aber gemein! Ich wollte auch nach Australien und mir einen schnuckeligen Surfer angeln. Aber meckere ich so rum? Nein, ich sehe es positiv und denke jetzt einfach mal über einen kanadischen Holzfäller nach. Im Übrigen ging es bei Jo nicht um die Zeitung, sondern um den Wirtschaftsteil.“ Bea sieht tatsächlich ein bisschen gekränkt aus.
„Was macht das für einen Unterschied?“
„Einen großen. Mir ist egal, was für eine Zeitung ein Mann liest, Hauptsache er interessiert sich für mehr als nur für den Wirtschaftsteil.“ Bea schiebt sich energisch eine dunkle Locke aus dem Gesicht. „Niemand, der ein einigermaßen netter Mensch ist, liest ausschließlich den Wirtschaftsteil.“
„Björn liest nur die Politikseiten.“
„Okay, mit Björn hast du auch das große Los gezogen. Wie der es mit dir aushält, ist mir echt ein Rätsel.“
Das ist wieder so typisch Bea, dass mir die Luft wegbleibt. Es geht hier doch nicht um mich.
„Du solltest mal wieder atmen, Jule. Sonst erstickst du noch. Und was sage ich dann den Kindern?“
Innerlich zähle ich bis drei, dann sicherheitshalber noch weiter bis fünf und sage schließlich betont ruhig: „Richtig, und mein großes Los steht in zwei Monaten am Flughafen von Melbourne und sucht seine Familie.“
„Dann sag ihm doch, dass wir jetzt hier sind“, schlägt Bea in versöhnlichem Ton vor.
„Du verstehst es einfach nicht!“
„Sieh es mal als Chance. Kanada! Das klingt doch aufregend, so nach Abenteuern und Wildnis. Und wenn es dir nicht gefällt, können wir immer noch nach Australien fliegen.“
„Wir? Falsch! WIR fliegen nirgendwohin. Die Kinder und ich reisen gleich weiter nach Australien. Aber du, du bleibst hier! Seit fünfunddreißig Jahren, seitdem ich dich kenne …“ Ich will gerade loslegen, als ich hinter mir eine zarte Stimme höre.
„Mama, die Koffer sind da, und Tim muss mal, und Jana schreit ihn an und …“ Stina lässt sich schluchzend in meine Arme fallen. Auch das noch!
„Ist schon gut, meine Kleine, ich komme sofort“, flüstere ich.
Dann drehe ich mich wieder zu Bea um, die sich voller Verständnis zu Stina hinabbeugt. „Mach dir keine Sorgen. Deine Mami ist ein bisschen gestresst. Das ist ganz natürlich. Geht ihr beide ruhig schon vor. Ich komme auch alleine zurecht.“
Angeblich soll Grün ja beruhigend wirken. Doch jetzt, in diesem Moment, mitten in der grün gekachelten kanadischen Damentoilette, unweit der bewaffneten Grenzbeamten in ihren grünen Uniformen, brodeln sehr beunruhigende Gefühle in mir auf. Am liebsten würde ich Bea erwürgen. Stattdessen nehme ich Stinas Hand, streichle sie sanft und gehe mit ihr zurück zu Tim und Jana. Bea folgt in sicherem Abstand.
„Mam, ich glaube, unser Anschlussflug ist weg“, schluchzt Jana. Ihre dreizehn Jahre sind von ihr abgefallen, und vor mir steht nur noch ein verzweifeltes kleines Mädchen neben ihrem Bruder und einem Berg Koffer.
Dann ist der Flug eben weg. Das ist jetzt auch egal. Seufzend hocke ich mich hin und nehme meine drei Kinder fest in den Arm.
„So, wir werden jetzt unsere Koffer auf einen Wagen packen, zum Schalter der Airline gehen und den Kuckucks“, dabei sehe ich bewusst an Bea vorbei, „neue Flugtickets nach Australien besorgen.“
„Und was macht Bea?“, fragt Stina.
„Bea ist eine erwachsene Frau. Sie kann mit der nächsten Maschine nach Victoria weiterreisen oder tun und lassen, was sie mag. Es ist mir egal.“
Der letzte Satz ist mir nur herausgerutscht. Eigentlich will ich vor den Kindern nicht so bissig klingen. Es tut mir auch prompt leid, nicht wegen Bea, sondern wegen Tim, in dessen Augen sofort eine dicke Träne glänzt. Streit kann er nicht vertragen, besonders nicht, wenn es um Bea geht, die er aus irgendeinem Grund in sein kleines Herz geschlossen hat.
„Aber …“, schnieft er.
Bea ist natürlich gleich zur Stelle. „Nein, ich bleibe selbstverständlich bei euch, mein Herzchen. In so einer Situation würde ich meine beste Freundin und ihre Kinder nie allein lassen.“
Ich schnaube, muss aber widerwillig feststellen, dass meine Wut bereits nachlässt. So ist es immer mit Bea. Sie bringt mich in die unmöglichsten Situationen, und nachher bin ich diejenige, die sich schlecht fühlt.
Ohne ein weiteres Wort hole ich einen Gepäckwagen, lade die Koffer auf und schiebe sie gefolgt von den Kindern und Bea an einer Gruppe gelangweilt gähnender Zöllner vorbei, hinaus in die Halle.
Vor dem Service-Schalter der Air Canada wartet bereits eine ganze Reisegruppe darauf, die Wut über ihr verlorengegangenes Gepäck an irgendeinen Mitarbeiter loszuwerden. Daher dauert es eine Weile, bis ich dem Mann am Schalter endlich unser eigenes Problem erklären kann.
Mit unbewegtem Lächeln wartet er geduldig, bis ich ihm die ganze Situation erklärt habe.
„We need to get there“, schließe ich. „Mein Praktikum beginnt zwar erst im September, aber wir wollen vorher noch Urlaub machen. Und das Apartment ist bereits bezahlt. Sogar das Auto steht schon in der Garage.“
Das Lächeln muss in seinem Gesicht festgefrorenen sein, vermutlich liegt es an der kanadischen Kälte. Trotz meiner dramatischen Geschichte hat es sich nicht einmal um einen halben Millimeter bewegt.
„The next flight to Melbourne leaves“, er tippt etwas in seinen Computer, „heute Abend um elf Uhr fünfundfünfzig.“
„Wunderbar, den nehmen wir.“
„Good, who is traveling?“
Wer nach Australien reisen möchte? Ich lasse meinen Blick über meine drei Kinder schweifen und bleibe an Bea hängen, die Tim und Stina gerade mit irgendeiner abstrusen Geschichte über eine Maus, die jahrelang unter dem Küchenschrank ihrer Mutter gehaust hat, unterhält. Wie schafft sie es nur, sogar meinen kleinen Zappelmax zur Ruhe zu bringen?
Ich seufze. „Wir alle. Meine drei Kinder, meine Freundin und ich.“
Das Gesicht des Air Canada Mitarbeiters klart für einen winzigen Moment auf. „Sind das Ihre gemeinsamen Kinder?“
„Was?“ Vielleicht hängt meine Leitung nach dem langen Flug ein wenig durch. Habe ich den Mann richtig verstanden? Hält er uns, also Bea und mich, für ein Paar?
„Good heavens, no!“, rufe ich erschrocken. „Mein Mann, also der Vater der Kinder, ist noch in Deutschland.“ Eine lesbische Beziehung ist das eine. Aber Bea als Partnerin würde mich in den Wahnsinn treiben. Trotzdem hätte ich mich vielleicht lieber, zumindest für fünf Minuten, dem trauten Glück mit Bea hingegeben. Doch dafür ist es jetzt zu spät.
Das warme Lächeln meines Gegenübers ist bereits wieder auf unter Null abgekühlt. „In diesem Fall brauche ich alle Pässe, Geburtsurkunden für die drei Kinder, auf denen jeweils die vollständigen Namen des Vaters und der Mutter angegeben sind, sowie eine Einverständniserklärung des Vaters mit Beglaubigung von einem Amt oder Notar.“
„Wie bitte?“
„Einen Vordruck für den letter of consent können Sie auf der Webseite der Regierung unter travel.gc.ca herunterladen.“
Etwas verwirrt reibe ich mir den Nacken, drehe mich auf der Suche nach Hilfe zu Bea um, erkenne, dass sie noch nicht aus ihrer Maus-Geschichte aufgetaucht ist, und wende mich wieder an den Service-Mitarbeiter.
„Äh, aber …“
Abgesehen von seinem tiefgekühlten Lächeln verschwendet er keine weitere Mühe an mich.
„Aber wieso?“, stammle ich. „Ich meine, natürlich ist mein Mann einverstanden. Wir sind ja auf dem Weg nach Australien. Dass wir hier gelandet sind, ist nur ein Missverständnis.“
„Natürlich. Dann wird es ja kein Problem sein, die Dokumente zu bekommen.“
„Kein Problem? Natürlich ist es ein Problem. Die Geburtsurkunden der Kinder sind in Deutschland. Mein Mann ebenfalls. Dort ist es jetzt …“ Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Doch die zeigt bereits die kanadische Zeit. „Keine Ahnung. Nachts jedenfalls.“
„Wenn Sie Tickets haben möchten, brauche ich die Dokumente.“
Wenn ich nicht eben einen Anfall von Sympathie in seinen Zügen entdeckt hätte, wäre ich spätestens jetzt davon überzeugt, mit einem menschen-ähnlichen Roboter zu sprechen, der mittels moderner Technik seine Lippen zu einer Computerstimme formt.
„Kann mein Mann die Unterlagen e-mailen?“
Der Roboter schüttelt den Kopf.
„Faxen?“
„Sorry. Wir brauchen die Originale.“
„Und wie sollen wir bis heute Abend die Dokumente beschaffen?“
„Das ist Ihre Sache, Ma’am. Ohne die Dokumente kann ich Ihnen keine Tickets verkaufen.“
„Aber …“
„Am besten klären Sie das in Ruhe. Air Canada bietet jeden Tag einen Flug nach Melbourne an. Sobald Sie die nötigen Dokumente beisammen haben, können Sie die Tickets ganz bequem über unsere Hotline buchen.“
Im Gegensatz zum Grenzbeamten winkt der Air Canada Mitarbeiter nicht sofort die nächsten Kunden heran, sondern wartet mit der Geduld einer Maschine, bis ich meinen Verstand zumindest soweit unter Kontrolle gebracht habe, dass ich meine Zettel einsammeln und mich selbstständig von seinem Schalter abwenden kann.
„Was ist los, Mam?“, erkundigt sich Jana. „Wann geht der Flug?“
„Heute Abend.“
„Aber?“, erkundigt sich Bea.
„Aber er geht ohne uns“, quetsche ich mühsam hervor, weil ich mich gleichzeitig bemühe, vor den Kindern möglichst zuversichtlich zu erscheinen. Sie sollen sich keine Sorgen machen. Mami hat alles im Griff.
„Oh.“ Bea überlegt kurz, dann strahlt sie. „Super. So haben wir noch ein bisschen Zeit, uns in Vancouver umzusehen und den kanadischen Sommer zu genießen.“
Genießen? Das kann auch nur von Bea stammen. Schweigend dränge ich mich an ihr vorbei, übernehme den Gepäckwagen und schiebe ihn, gefolgt von meinen Kindern, zum Ausgang.
„Also, wer kommt gleich mit zum Strand?“, höre ich Bea von hinten rufen, als sich vor mir die Türen öffnen und den ersten Blick auf das sommerliche Vancouver freigeben.
Viel sehen kann ich allerdings nicht. Denn draußen regnet es in Strömen.
„Soweit zur kanadischen Sonne“, denke ich laut und sehe mich nach dem Taxistand um, während der einmal ins Rollen geratene Gepäckwagen mich hinter sich her die Straße hinab zieht.
„Hier drüben“, ruft Bea. Als ich es endlich schaffe, den Wagen zu stoppen, und mich umdrehe, entdecke ich sie etwa fünfzig Meter zur anderen Richtung vom Ausgang entfernt. Sie hat die Tür eines dunklen Mini-Busses aufgerissen und Tim samt seinem Hai bereits auf einen der hinteren Plätze verfrachtet.
Der Fahrer des Großraumtaxis, ein Inder mit orangefarbenem Turban, steht etwas hilflos neben seinem Wagen, während ein junger Mann mit offenbar asiatischen Wurzeln und einer obligatorisch grünen Uniform an einer Schlange wartender Menschen und Koffer vorbei auf Bea zu eilt.
Oh, nein! Leider bin ich mit dem schweren Gepäckwagen nicht ganz so wendig wie meine Freundin. Bevor ich den Wagen auch nur gewendet und durch die nächste Pfütze gewuchtet habe, hat der Taxi-Stand-Beauftragte Bea erreicht.
„I need you to wait for your turn“, ruft er laut.
Bea starrt ihn kurz und verständnislos an und wendet sich dann ab, um auch Stina in den Wagen zu helfen.
„Ich glaube, wir müssen uns hinten anstellen.“ Janas Blick irrt verunsichert zwischen Bea, dem Mann in Uniform und mir hin und her.
„Es tut mir leid, wir kommen aus Deutschland“, versuche ich eine Entschuldigung, als ich meine Familie endlich erreiche. Damit überlasse ich Bea den Gepäckwagen und mache mich daran, meine Kinder wieder aus dem Taxi zu befreien.
„Ah“, sagt der Mann und sein Gesicht leuchtet auf. „Germany. Autobahn.“ Er nickt wissend und mimt mit den Händen ein Lenkrad.
„Genau, Autobahn.“ Bea strahlt.
„Fahrvergnügen. German Fahrvergnügen auf Autobahn. 250 kilometers per hour.“
„Nee, nicht mit Jule.“ Sie deutet auf mich. „Sie ist immer ein bisschen vorsichtiger. 130 maximal.“
„Ja, und dafür komme ich an. Und zwar dort, wo ich hin will“, fauche ich.
„So ist es“, stimmt Bea bestens gelaunt zu und begibt sich artig auf den letzten Platz der Warteschlange, die unter einem langen Baldachin verläuft. Gegen Regen und Wind geschützt beobachtet sie geduldig, wie ich erst Stina, dann Tim aus dem Wagen hebe, mich mit dem Hals im Sicherheitsgurt verfange und fluche, weil ich bei dem Versuch mich zu befreien mit dem rechten Fuß ins Rinnsal neben dem Bordstein trete. Völlig überflüssig, wie sich herausstellt. Denn zehn Minuten später sitzen wir genau in demselben Großraumtaxi, aus dem ich Stina und Tim gerade herausgezogen habe, und folgen dem Verkehr vom Flughafen in Richtung Innenstadt.
„Tja, das hätten wir einfacher haben können“, kommentiert Bea und verzieht das Gesicht. „Und jetzt?“
Ich habe keine Ahnung. „Wir brauchen eine Unterkunft bis Björn die Unterlagen geschickt hat. Kennen Sie ein kleines Hotel, vielleicht am Strand?“, frage ich den Fahrer auf Englisch.
Der Mann wiegt seinen Turban.
„Nur nicht zu teuer.“ Da ich das Apartment in Melbourne bereits für die vollen sechs Monate vorab bezahlen musste, gleicht mein Bankkonto einer Wüste.
„Ich tue natürlich was dazu“, ruft Bea von der mittleren Bank. Sie kann sich kaum regen. Tim ist, in Beas Schal gehüllt, mit dem Kopf in ihrem Schoß eingeschlafen. An ihrer rechten Schulter lehnt Stina. Sie schnarcht leise, und ihre Brille droht, von der Nase zu rutschen. Bea zieht sie vorsichtig ab und bettet Stinas Kopf neben dem ihres Bruders in ihren Schoß.
„Schon gut“, seufze ich. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich richte meinen Blick an Bea vorbei.
Jana hockt auf der zweiten Rückbank. Ihre Augen sind auf Beas Hinterkopf gerichtet. Doch ihr Blick ist der Welt entglitten. Allein die Tatsache, dass sie weder ihr Handy bearbeitet, noch sich nach freiem WLAN umsieht, kann nur bedeuten, dass sie mindestens genauso erschöpft ist wie ich.
Ich lehne mich an die kühle Scheibe der Beifahrertür und lasse die Straßen an mir vorüberziehen. Durch den grauen Regenschleier erkenne ich Holzhäuser mit bunten Vorgärten, hohe Bäume, grüne Grasstreifen und die Rücklichter der Autos.
„Wreck Beach“, erklärt der Fahrer nicht ganz akzentfrei und deutet irgendwo nach links.
Einen Strand sehe ich nicht. Nur Regen und Pfützen und Bäume.
„Sie dürfen da nicht hingehen, Ma’am“, warnt er. Um seine Stimme windet sich Abscheu, aber auch etwas, das sich verdächtig nach Sensationslust anhört. „Nackte! Und Drogen. Die Polizei führt jeden Sommer Razzien durch.“
„Razzien? Wo soll ein Nackedei denn Drogen verstecken?“, überlegt Bea von hinten, während ich mich frage, warum sie ausgerechnet diesen Teil der Unterhaltung auf Englisch verstanden hat.
„Here is better“, erklärt der Fahrer und biegt in eine Einfahrt ein. „Jericho Beach, gute Gegend, sehr sicher. Auch für Kinder.“
Vor uns liegt ein dreistöckiges weißes Haus mit mehreren Flügeln, dessen helle Fenster uns durch den Regen einladend entgegen leuchten. Das Hostel steht mitten in einem kleinen Park. Der Strand kann nicht weit weg sein, denn über uns kreisen zwei Möwen. Wenn es hier auch noch warme Duschen und weiche Betten zu einem einigermaßen annehmbaren Preis gibt, werde ich mich für den Rest des Tages meinem Schicksal fügen.
„Können Sie kurz warten, während ich frage, ob es noch ein freies Zimmer gibt?“
Doch unser Fahrer ist bereits ausgestiegen und hievt Beas riesigen Armeesack aus dem Kofferraum. „Gibt es“, lacht er.
Schnell folge ich ihm um den Wagen herum. „Woher wollen Sie das wissen?“
„Das Hostel gehört meinem Schwager. Er hat noch drei Zimmer frei.“ Er strahlt mich zufrieden an und zeigt eine Reihe weißer Zähne.
Das Auto, die Bäume und das weiß verputzte Hostel beginnen sich um mich herum zu drehen. Meine Finger krallen sich am Kofferraumdeckel fest. Ich versuche mich zu sammeln. Das ist alles zu viel. Vor meinen Augen verschwimmen die Buchstaben und Zahlen des Nummernschilds und tauchen schließlich wieder auf. ‚Beautiful British Columbia‘ lese ich auf dem Kennzeichen. Ja, hübsch ist es hier. Hübsch dreist.
„Haben Sie uns deswegen hierher gefahren? Weil das Hostel Ihrem Schwager gehört?“
Zwei große braune Augen blitzen mir unter einem orangefarbenen Turban entgegen. „Ich habe Sie hierher gefahren, weil Sie nach einer preiswerten Unterkunft am Strand gefragt haben, Ma’am. Wenn Sie ein schickes Hotel in English Bay gewollt hätten, hätte ich Sie zu meinem Bruder gebracht. Ich kenne auch ein gutes Bed and Breakfast in der Nähe der Cambie Street, es gehört einem Onkel, und ein …“
„Schon gut.“ Vielleicht ist es die Müdigkeit oder ein Anfall von Sarkasmus. Jedenfalls muss ich plötzlich lachen. Ich lache und wische mir die Augen, in denen sich Tränen und Regen mischen.
„Geht es dir gut, Jule?“, fragt Bea und reibt mir den Rücken.
Stina steckt ihren Kopf aus der Taxitür. „Guck mal, ein Eichhörnchen!“, ruft sie begeistert und zeigt auf einen Baum, um dessen Stamm ein schwarzes, pelziges Wesen klettert. „Und da, noch eines.“
Hinter ihr erscheint Jana und reibt sich die Nase. „Wo?“
„Mami?“, ruft Tim verschlafen aus dem Wagen. „Sind wir endlich da?“
„Fast, mein Kleiner“, antwortet Bea und grinst mich an. „Jule, komm besser aus dem Regen. Der scheint dir nicht zu bekommen.“ Sie schnappt sich zwei Koffer und folgt unserem Fahrer ins Hostel.
Mein Jüngster ist bereits wieder eingeschlafen, sodass ich ihn wie früher aus dem Auto hebe und die Stufen bis zum Eingang hinauftrage. Sein Körper schmiegt sich an meinen, und warmer, feuchter Atem pustet mir in den Nacken.
Vielleicht hat Bea ja recht. Manchmal bin ich viel zu verspannt. Dabei ist doch gar nichts Schlimmes passiert. Ich habe drei wundervolle, gesunde Kinder, einen verständnisvollen Mann und die beste Freundin, die man sich vorstellen kann. Statt irgendwo in einer stickigen asiatischen Metropole zu hocken, machen wir eben in Vancouver unseren Zwischenstopp. Beautiful British Columbia im Regen. Sei es drum. Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind und ich einen starken Kaffee getrunken habe, sehen wir weiter. Jetzt will ich nur noch eines: duschen und schlafen.
Während wir auf unseren Zimmerschlüssel warten und Bea freiwillig mit Janas Hilfe die Formulare ausfüllt, sitze ich mit Tim auf dem Schoß auf einem Sofa in der Lobby und schreibe Björn eine kurze Nachricht. „Unplanmäßiger Zwischenstopp in Vancouver. Brauche Geburtsurkunden der Kinder und Einverständniserklärung von dir für die Weiterreise.“
„Vancouver??? Dachte, ihr wolltet über Bangkok fliegen“, kommt umgehend die Antwort. „Was in aller Welt macht ihr in Kanada?“
Tja, wenn ich das nur wüsste.
Die notarielle Beglaubigung von Björns Einverständniserklärung allein braucht zwei Tage, weitere drei Tage dauert der Versand quer über den Atlantik bis nach Vancouver. Doch noch vor dem Frühstück des fünften Tages ist der Brief endlich da. Als ich die Treppe hinab zum Speisesaal laufe, entdecke ich den FedEx-Boten am Tresen der Rezeption. Wenig später halte ich die Dokumente in der Hand, vollständig und mit einer lustigen Grußkarte von Björn. Endlich geht es weiter.
Wie sich herausstellt, ist British Columbia oder BC, wie die Einheimischen es liebevoll nennen, die westlichste Provinz von Kanada und somit gar kein schlechter Ausgangspunkt für einen Flug nach Australien. Außerdem regnet es nicht immer. Zumindest nicht im Sommer.
„Sagen wir, es hätte uns schlimmer treffen können“, stelle ich fest und nehme Tim die Cornflakes ab.
„So gefällst du mir schon besser.“ Bea mustert mich über den Rand ihrer Kaffeetasse. „Die letzten Tage habe ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“
Dabei habe ich mich so bemüht, meinen Frust hinter meinem Lächeln zu verbergen und statt zu murren, brav hinter meinen Kindern und Bea her zu trotten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, innerhalb der kürzesten Zeit alle Highlights von Vancouver abzugrasen. Einen halben Tag habe ich artig im Museum of Anthropology die Totempfähle der Haida People bewundert, bin nun bestens bewandert in ihrer Mythologie und kenne die Geschichte des schlauen Raben fast auswendig, der einst die Menschen aus ihrer engen Muschel hinaus in die weite Welt lockte. Zugegeben, beim Anblick des großen Holzbären mit den freundlichen Grinse-Lippen und den dicken schwarzen Brauen verflüchtigte sich meine Anspannung tatsächlich vorübergehend, meldete sich jedoch noch am selben Nachmittag zurück, als ich Tim und Jana über wackelige Hängebrücken durch die Baumwipfel des Botanischen Gartens folgen musste. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mit Bea zu tauschen, die mit Stina am Boden warten durfte.
Anderentags waren wir im Space Center und Planetarium, dessen Eingang, der Himmel weiß warum, eine futuristische Krabbe in Kampfstellung bewacht. Wir sind in China Town durch wunderliche chinesische Apotheken gestreift, vorbei an Regalen mit Dingen, von denen ich nicht einmal sagen könnte, ob es sich um verdorbene Früchte oder getrocknete Lebewesen handelt, und ich habe in der folgenden Nacht Stina getröstet, die ihre Eindrücke zu fürchterlichen Albträumen verarbeitet hat. Wir haben moderne Kreuzfahrtschiffe gesehen und die alte St. Roch bewundert, die als erstes Schiff die eisige Nord-West-Passage durchsegelte. Hinter Bea, meinen Kindern und Horden von Touristen bin ich durch Gastown geschlendert, Vancouvers gerade mal hundert Jahre alte Altstadt, habe in English Bay Eis gegessen und die Robson Street erkundet.
Okay, ich gebe es zu, Vancouver ist schön, besonders wenn die Sonne hinter den Wolken hervorlugt. Aber jetzt reicht es mir.
„Willst du nach dem Frühstück mit den Kindern zum Strand gehen, während ich mich um die Flugtickets kümmere?“, schlage ich nun vor.
Bea sieht mich entrüstet an. „Nein, Jule, da helfe ich dir natürlich. Wo ist denn das nächste Reisebüro?“ Sie schaut mich an, als würde sie tatsächlich erwarten, dass ich die Antwort wüsste.
„Das Hostel hat freies WLAN.“ Ich deute in Janas Richtung, die, seitdem sie ihren Muffin in aller Eile verputzt hat, mit ihrem Handy verschmolzen ist und vermutlich gerade die neuesten Fotos unseres ungeplanten Umwegs mit ihren Freundinnen teilt. „Ich versuche es erst mal übers Internet. Ich werde mir gleich einen zweiten Kaffee holen, mich mit meinem Tablet in eines der Sofas da drüben kuscheln und mit der Fluggesellschaft chatten. Vielleicht können wir die Flüge irgendwie umbuchen oder so. Immerhin sind wir den letzten Teil der Reise bis nach Victoria gar nicht angetreten.“
„Bist du dir sicher, dass ich dir nicht dabei helfen soll? Wir sind in einem fremden Land. Da weiß man nie.“ Bevor ich antworten kann, winkt Bea einer Kellnerin. „Please, mehr Kaffee, here!“
„Ganz sicher“, seufze ich und hoffe, dass sie sich auf dem Weg zum Strand nicht verläuft. Sonst ist sie auf Jana angewiesen, deren Englisch hoffentlich ausreicht, um nach dem Weg zurück zu fragen.
Während Bea und die Kinder zum Strand aufbrechen, versinke ich in einem der tiefen Polster und versuche mein Glück bei der Airline. Leider ohne Erfolg. Eine Chat-Option gibt es nicht, also greife ich zum Telefon. Nachdem ich mich per Tastendruck durch das Menü navigiert und volle dreizehn Minuten in der Warteschleife fürchterliches Gedudel ertragen habe, spreche ich endlich mit einem echten Menschen. Leider kann mir dieser nicht helfen. Dass wir den Weiterflug von Vancouver nach Victoria verpasst hätten, findet er zwar bedauerlich, will uns deswegen jedoch noch lange nicht die ungenutzten Tickets nach Victoria BC gegen neue Flugscheine nach Australien eintauschen. Er wünscht mir dennoch einen schönen Tag und legt einfach auf.
Etwas benommen starre ich auf den Hörer und weiß im ersten Moment nicht, was ich tun soll. So etwas wäre mir früher nie passiert.
Dreizehn Jahre Mutter-Sein haben mein altes Ich einfach zernagt. Früher war ich anders. Selbstbewusst und voller Tatendrang. Aber dann kamen die Kinder. Und plötzlich drehte sich mein ganzes Leben nur noch um die Familie. Wie selbstverständlich wurden Rucksacktouren durch Asien durch Familienurlaube an der Nordsee ersetzt. Ausgehen zu zweit durch eine ganze Agenda von Kinderprogramm und Spielverabredungen. Freiheit durch Liebe. Irgendwann blickte mir aus dem Spiegel eine andere Frau entgegen, eine mit Flecken auf dem T-Shirt und Knete in den Haaren. Die Spiegelfrau wusste gute Mittel gegen Windeldermatitis, kaufte nur noch Bio-Milch, bastelte Marienkäferkostüme zu Karneval und Lebkuchenhäuser in der Weihnachtszeit. Sie aß Ravioli, weil die Kinder es mochten, statt SWR3 hörte sie Radio Teddy, und der Vater ihrer Kinder wurde ihr bester Freund.
Nicht, dass alles schlimm gewesen wäre. Es macht nicht unglücklich, bedingungslos geliebt zu werden. Bestimmt nicht. Und umgekehrt liebe ich meine Kinder über alles und natürlich auch meinen Mann. Es ist nur anders. Denn ich habe mich darüber selbst verloren.
Als von einem ehemaligen Kollegen das Angebot kam, ein Praktikum in Australien zu machen, war es wie ein Weckruf. Vier Monate ab September. Ich konnte gar nicht anders als annehmen und hängte sogar noch zwei Monate Urlaub vorne an. Ganz sicher ist mein alter Job nie mein Traumberuf gewesen, und auf das Geld sind wir nicht angewiesen. Aber ich brauche die Aufgabe. Ich will wieder für etwas anerkannt werden, etwas das unabhängig von geputzten Fensterscheiben ist oder mit jedem Mittagessen, das nicht den Ansprüchen meiner Kritikerschar entspricht, entzogen werden kann. Ich will morgens sauber und gekämmt das Haus verlassen, in fleckenfreier Kleidung. Ich möchte über Erwachsenenthemen sprechen und am Monatsende mit Stolz den Stand meines eigenen Kontos abrufen. Deswegen bin ich hier. Oder besser gesagt, deswegen bin ich auf dem Weg. Denn noch bin ich in Kanada.
Ich halte immer noch das Telefon in der Hand. Nicht aufgeben! Aus einer Laune heraus wähle ich erneut, dieses Mal die Nummer der englischen Hotline.
Hier ist die Musik besser, und auch die Mitarbeiter sind deutlich freundlicher. Eine Jen verspricht, ihr Möglichstes zu tun, doch dann werden wir irgendwie unterbrochen. Ich drücke die Wahlwiederholung. Als nächstes spreche ich mit Ana, neben deren Akzent sogar Beas Gekrächze verblasst. Nachdem ich mich ein paar Minuten mit ihr abgemüht habe, bedanke ich mich, lege meinerseits auf und versuche erneut, Jen zu erreichen. Diese scheint jedoch verschwunden zu sein, stattdessen hilft mir nun Alice. Alice ist gut zu verstehen und sehr bemüht. Nach kurzer Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten verkündet sie, dass er ihr gestattet habe, uns kurzfristig neue Tickets nach Victoria auszustellen, dafür würde natürlich eine geringe Service-Gebühr anfallen, plus die Differenz zum ursprünglichen Ticketpreis. Das ist mir recht. Erleichtert stimme ich zu und freue mich schon auf Janas glückliches Gesicht, wenn ich ihr verkünde, dass wir morgen nach Australien weiterreisen. Erst als Alice davon schwärmt, wie traumhaft schön der 30-minütige Flug von Vancouver über die Strait of Georgia nach Victoria sei, wird mir klar, dass wir aneinander vorbeigeredet haben.
Für einen winzigen, den vergangenen dreizehn Jahren geschuldeten Moment überlege ich tatsächlich, das Praktikum abzusagen und einfach zurück nach Deutschland zu fliegen. Doch dann habe ich mich gefangen. Mir bleibt keine andere Wahl, als komplett neue Tickets zu kaufen. Also verbringe ich die nächste Stunde auf diversen Seiten kanadischer Reiseagenturen. Doch egal, wie ich es anstelle, unter 6800 Dollar ist nichts zu finden. Nur ein Reisebüro, das sich auf den Großraum Asien/Australien spezialisiert hat, wirbt auf seiner Webseite mit supergünstigen Angeboten, für die man jedoch persönlich in der Filiale erscheinen müsse. Obwohl sie neben dem Verkauf von Flugtickets auch anbieten, bei der Säuberung des Vorstrafenregisters behilflich zu sein, und sogar einen eigenen Link zum Thema Reisen mit Drogen haben, besorge ich mir an der Rezeption einen Stadtplan, werfe eine Jacke über und mache mich mit dem Bus auf den Weg zur Filiale am Commercial Drive.
Schon im Bus wird mir klar, warum Reisen nach Asien ein großes Geschäft sein müssen. Um mich herum entdecke ich kaum ein europäisches Gesicht, dafür mehr oder weniger schmale Mandelaugen und kurze Stupsnasen. Keiner meiner Mitfahrer ist älter als 25. Überhaupt sind hier in Vancouver alle ziemlich jung. Jung, sportlich und irgendwie total entspannt. Nicht nur im Vergleich zu mir. Yoga-Hosen sind angesagt, dazu schlichte T-Shirts und Sonnenbrillen. Der Kaffee in der Hand ein absolutes Must-have. So schlendern sie allein oder zu zweit durch die Straßen und spielen Sommer bei gefühlten 15 Grad Ende Juni.
Auch die junge Mitarbeiterin in meinem Reisebüro hat eindeutig asiatische Züge. Sie lächelt freundlich und nippt an ihrem Milchkaffee. Flüge nach Australien würde sie mir gerne anbieten. Doch günstig wird es im Moment leider nicht.
„Ferienzeit“, entschuldigt sie sich und zeigt auf ein paar Angebote auf ihrem Rechner, die noch weit jenseits meiner schlimmsten Albträume liegen. „Da wollen alle ihre Familien besuchen.“
„Aber wir müssen hier weg. Bitte. Können Sie nicht noch einmal nachschauen?“, flehe ich. „Vielleicht gibt es einen Flug, den niemand will. Eine Airline kurz vor dem Konkurs, eine schlechte Verbindung, ganz egal, wir nehmen alles.“
Das Mädchen dreht ihren Bildschirm von mir weg, tippt auf ihrer Tastatur, bewegt die Maus. Zwischendurch trinkt sie immer wieder einen Schluck Kaffee. Ob sie wirklich Flüge sucht oder ihre E-Mails checkt, kann ich leider nicht erkennen. Nach einer ganzen Weile richtet sie sich wieder an mich.
„Sorry.“ Sie schüttelt bedauernd den Kopf. „Aber wenn Sie bis September warten, sieht es besser aus. Ab Mitte August bekommen wir fast täglich neue Angebote. Und wenn Sie sich für unseren Newsletter anmelden, zahlen Sie bei der ersten Buchung pro Flug sogar zehn Dollar weniger.“
„Wow.“
„Ja, toll, nicht wahr?“, wischt sie meine Ironie einfach beiseite.
„Nur was soll ich in der Zwischenzeit machen?“
Ich weiß selbst nicht, warum ich diese Frage überhaupt stelle. Aber mein Gegenüber lächelt. „Vancouver ist herrlich, besonders im Sommer. Wussten Sie, dass Vancouver eine der schönsten Städte der Welt mit der höchsten Lebensqualität ist?“
„Nein, das wusste ich nicht“, erwidere ich höflich, denn um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht.
„Nummer drei auf dem Mercer Index.“
„Tja, nur leider habe ich keine Wohnung in der dritt-lebenswertesten Stadt der Welt gemietet, sondern in Australien.“
Das Mädchen nickt verständnisvoll. „Ja, es ist nicht leicht, hier etwas zu finden. Seit den Olympischen Spielen sind die Mietpreise explodiert. Aber mit etwas Glück finden Sie über den Sommer ein Sublet. Manche Studenten sind froh, wenn sie ihr Apartment untervermieten können. Und es ist ja nur für kurze Zeit.“
Irgendwie bin ich zu verwirrt, um zu protestieren. „Wo soll ich so jemanden finden?“, frage ich stattdessen.
„Oh, die University of British Columbia hat eine Miet-Hotline. Da können Sie anrufen. Aber besser ist es natürlich, die Angebote online zu checken, wegen der Fotos.“
Sie schreibt etwas auf einen Zettel und schiebt ihn mir zu.
Langsam tickert die Botschaft zu mir durch. Entweder ich kaufe die Flugtickets zu den derzeit verfügbaren Konditionen und verschulde mich für die nächsten zehn Jahre, oder ich brauche einen Plan B.
Mein Praktikum beginnt erst zum ersten September. Eigentlich wollte ich solange mit den Kindern in Melbourne ausspannen, durch das australische Victoria tingeln, die Sonne genießen und Urlaub machen. Aber vielleicht hat Bea recht. Ich sollte mein Schicksal entspannter nehmen, mich in meine Sweatpants werfen und einen Coffee to go trinken. Dann werden wir uns eben eine nette Wohnung in Vancouver mieten und die Zeit in Kanada überbrücken. Bis September sind es noch zwei Monate. Ich werde die vorausbezahlte Miete für unser Apartment in Melbourne zurückfordern und die ersten Leasingraten für das Auto. Damit müssten wir gut über die Runden kommen, bis die günstigen Flugangebote für den Herbst herauskommen. Es gibt wirklich schlimmere Orte auf dieser Welt als Beautiful British Columbia.
„Beautiful British Columbia, Beautiful BC.“ Ich bete mein neues Mantra auf dem gesamten Rückweg, und als ich endlich wieder im Hostel ankomme, habe ich mich selbst von meinem Plan überzeugt. Fast zumindest. Weil ich weder Bea noch meine Kinder irgendwo entdecken kann, kuschle ich mich wieder auf mein Sofa in der Lobby und schreibe eine E-Mail an die Wohnungsverwaltung in Australien, in der ich unsere Situation erkläre, vorschlage, das Apartment für Juli und August anderweitig zu vermieten und mir die bereits gezahlte Miete für die beiden Monate zurückzuerstatten. Dann tippe ich den Namen der Webseite ein, den mir die Asiatin aus dem Reisebüro notiert hat, und durchforste das Angebot nach einer geeigneten Bleibe in Beautiful Vancouver.
Zwei Stunden später ist tatsächlich alles gut. Oder fast. Zumindest habe ich den Karren wieder auf den rechten Pfad geschoben. Lässig bummle ich in meiner Yoga-Hose und mit einem im Hostel geborgten Kaffeebecher in der Hand zum Strand von Jericho Beach. Meine Familie zu finden, ist nicht sehr schwierig. Als erstes erkenne ich Tim, der mit dickem Pulli aber nackten Füßen in der niedrigen Brandung steht und Steine ins Wasser wirft. Auf dem Sandstrand hinter ihm, mit dem Rücken an einen großen Baumstamm gelehnt, sitzen Bea, Stina und Jana. Bea hebt ihre Sonnenbrille leicht an, um mich zu mustern.
„Warum trägst du bei dieser Wolkendecke eine Sonnenbrille?“, erkundige ich mich.
„Es ist Sommer!“
„Aber doch nicht hier.“
Stina zieht Jana die Kopfhörer aus dem Ohr, weicht geschickt dem Ellbogen ihrer Schwester aus und zeigt auf mich. „Mami ist wieder da!“
„Und sie hat ein Apartment für uns gefunden“, ergänze ich.
„Wieso ein Apartment? Ich dachte, du besorgst Flugtickets“, kreischt Jana.
„Wir müssen unsere Pläne ein wenig anpassen“, erkläre ich vorsichtig. „Im Moment sind die Flüge viel zu teuer.“
„Du hast es versprochen!“ Schieres Entsetzen knistert in ihrer Stimme. „Strand und Sonne. Ein cooles Apartment mit Pool. In Australien.“
„Lass uns doch erst mal hören, was deine Mam gefunden hat“, beschwichtigt Bea. „Apartments mit Pool gibt es bestimmt auch in Vancouver.“
Aber Jana ist bereits wieder in ihre Handywelt versunken. Ihre Daumen zucken wild über die Tastatur. Vielleicht ist es besser so. Denn was den Coolnessfaktor unserer neuen Wohnung angeht, bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Von einem Pool stand in der Anzeige jedenfalls nichts.
Bea klopft einladend neben sich auf den Sand. „Lass hören.“
Mittlerweile hat auch Tim mich entdeckt und rennt auf uns zu.
„Was haltet ihr davon, wenn wir den Sommer hier verbringen und uns Kanada angucken, bevor wir nach Melbourne weiterfliegen?“, frage ich meine Jüngsten. „Wusstet ihr, dass Vancouver regelmäßig zur drittschönsten Stadt der Welt gewählt wird?“
„Wer, wir?“, hakt Stina nach, und ihr Blick wandert von mir zu Bea.
„Wir alle“, seufze ich. „Bea und die Kuckucks.“
Stina nickt und verdreht die Augen hinter ihren Brillengläsern wie immer, wenn sie nachdenkt.
„Bea und die Kuckucks?“ Meine Freundin kichert. „Das klingt wie eine dieser grellen Rock ’n’ Roll Bands aus den 50ern.“
„Gibt es in Kanada auch Haie?“ Tim lässt sich in meinen Schoß fallen. „Ich habe den ganzen Tag noch keinen einzigen gesehen.“
„Was ist mit Papa?“, will Stina wissen.