Null Peilung in Kyoto - Sabine Engel - E-Book

Null Peilung in Kyoto E-Book

Sabine Engel

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was eine Geisha ist, muss ihm niemand erklären. Schließlich hängen die Mädchen der gleichnamigen Bar auch in Erikas Pommesbude ab. Aber wieso seine heimliche Freundin Kiko auf Drängen ihrer Eltern lieber Geisha wird, als wie geplant zu Toby zu ziehen und in Deutschland Medizin zu studieren, kann er echt nicht verstehen. Nur eines ist klar: Er muss nach Japan, um Kiko zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Impressum

Eiskalter Atem

Toby

6 Jahre früher

Skizzen

6 Jahre früher

Kiko

5 Jahre früher

Haikus

Schneeglöckchen wachsen

Metaphern

Schrei laut

Ralf

5 Jahre früher

Sechs Jahre früher

Fünf Jahre früher

Batman

Die Vögel zwitschern

Mr. Bird

2 Jahre früher

Im Hof

Mentale Wüste

Erikas Pommesbude

4 Jahre früher

Frauen aus der Geisha-Lounge

Krieg um Öl

Wieder Zuhause

1 Jahr früher

Alles anders

Ein halbes Jahr früher

Account gelöscht

Grelles Neonlicht

Irgendwo in Japan

Urknall

Energie

Aufbruch

Ralf

Sonnenfinsternis

Landung

Null Peilung

Ankunft

Schwerlos vor Glück

Lost in Translation

Ginza

Wenn nichts mehr bleibt

Sakura

Akihabara

Gier nach Geld

Yoyogi Park

Fremd wie ein Alien

Cosplay Zuku

Nachtleben

Gefroren was war

Kapselhotel

Geschmeidig

Slipper

Klare Frühlingsluft

Shinkansen

Sakura

Alles weg

Kinder verhungern

Bankautomat

Zuhause

Wintersonne

Gescheiterter Held

Mission gescheitert

Wut

Friseur

Der Alte

Gans und Sperling I

Weg

Ryokan

Schwarze Winternacht

Karin

Rucksack

Make-up

Rucksack zurück

Kikos Adresse

Kimono

Kikos Mutter

Zweifel zerfressen

Internet Café

Obi

Goethe-Institut

Blätter verwittern

Gion

Auftritt

Wiedersehen

Wiedersehen II

Stumm

Verabredung

Völlig weggebeamt

Gleißende Supernova

Kyoto

Onsen

Treffen

Frühling

Am Boden

Zeit als Dimension

Sake

Zen Garten

Gans und Sperling II

Zum Shinto-Schrein

Tokio-Kyoto

Einsame Liebe

Aufstieg

Reinigung

Wunsch

Geisha

Erfüllung

Pommes Currywurst

Sushi und Sake

Kunde

Abschied

Brief

Schillernd und leicht

Ein Jahr später

Eisblumen

Impressum

Copyright 2018

© Sabine Engel

Text: Sabine Engel

Kirchstraße 20, 14532 Stahnsdorf

[email protected]

Umschlaggestaltung: Sabine Engel

Bilder: ©luismolinero & ©utako068 / Fotolia

Alle Rechte vorbehalten.

Eiskalter Atem.

Nebelschwaden verhüllen

Den Sinn meines Seins.

Tobys Herz ist schockgefroren. Kalt wie die letzten Eiszapfen, die noch draußen vom Fenstersims hängen. Eine unachtsame Bewegung und es zerspringt zu tausend Scherben. Aber sein Vater kapiert wieder nichts.

„Leg die Rechnungen auf den Küchentisch, ich kümmere mich später darum“, ruft Ralf aus dem Atelier. Sein Kopf taucht in der Tür hinter einem Stapel Umzugskartons auf. In der Hand hält er eine Rolle braunes Klebeband. „Kannst du mal bitte mit anfassen?“

Aber Toby kann sich nicht bewegen. Er kann kaum Luft holen.

„He, alles in Ordnung mit dir?“, erkundigt sich Ralf.

Was für eine blöde Frage. Die kann auch nur einem Erwachsenen einfallen. Nichts ist in Ordnung. Gar nichts. Aber das versteht sein Vater nicht. Und auf eine Diskussion hat Toby jetzt echt keine Lust. Besser, er setzt schnell eine gute Miene auf. Eine Maske, hinter der er sich verstecken kann. Zumindest, bis er nachgedacht hat. Bis er weiß, was das alles zu bedeuten hat. Ausgerechnet jetzt.

Das erzwungene Lächeln tut scheußlich weh. Toby lässt die Rechnungen auf den Küchentisch fallen. Nur den dünnen Stapel Briefe aus hellblauem Luftpostpapier stopft er schnell in seine Hosentasche. Die gehen seinen Vater nichts an.

Als er sich an den Kartons vorbei durch den Flur zwängt, müht sich sein Vater gerade mit einer großen braunen Box ab.

„Ich glaube, die ist etwas schwer geworden.“ Ralf reckt den Rücken und ringt sich ein kurzes Lachen ab. „Deine Mutter hat einfach zu viele Skizzen gemacht.“

Als der Deckel des Umzugskartons aufspringt, quellen die obersten Blätter schon heraus. Es sind alte Kohlezeichnungen. Ein Blick aus dem Fenster des Ateliers. Eine Katze, die im Sonnenschein döst. Toby zusammen mit seinem Vater beim Spielen am Fluss. Und ein paar Augenblicke später Toby mit einer Flasche in der Hand. Das war früher. Vor vielen Jahren.

„Wir können doch nicht alle behalten“, flüstert Ralf.

Toby hebt die Zeichnungen auf. Er sagt nichts. Was auch?

Sechs Jahre früher

„Du musst den Korken richtig festdrücken, damit deine Nachricht nicht nass wird.“

Papa schaut zu, während Toby den Korken mit aller Kraft in den engen Flaschenhals presst.

„Ich glaube, das reicht.“ Mama sieht von ihrem Block auf und lacht.

Sie haben einen Ausflug an die Ruhr gemacht. Mama hat ein paar Skizzen gezeichnet, während Toby und sein Vater Federball gespielt und auf der Wiese Ringen geübt haben. Es gab Schokokuchen, Kirschen und Eistee für alle. Doch nun ist es Zeit für den Heimweg.

„Dann los!“, ruft Mama.

Toby holt aus und wirft die Flasche. So weit er kann. Sie fliegt hoch durch die Luft und landet mit einem Platschen im Wasser. Nicht gerade mittig im Fluss. Aber immerhin hat sie es über die großen Steine geschafft, die am Ufer aus dem Wasser ragen.

„Guter Wurf“, lobt Papa und klopft Toby auf die Schulter.

Die Flasche schaukelt auf den Wellen und lässt sich langsam von der Strömung forttragen.

„Meinst du, jemand findet meine Nachricht?“ fragt Toby. Er hat das mal in einem Film gesehen. Doch nun ist er sich nicht mehr sicher, ob die Flasche es überhaupt irgendwohin schafft. Sie dicht hält. Und am Ende aus dem Wasser gefischt wird.

„Na, klar. Was hast du denn geschrieben?“

„Das ist ein Geheimnis. Ich möchte nur wissen, wo sie jetzt hin schwimmt.“

Mama und Papa tauschen einen Blick. Sie lächeln.

„Nun“, holt Papa aus. „Die Ruhr fließt in den Rhein. Der Rhein trägt deine Nachricht durch Holland in die Nordsee. Von dort schwimmt sie an Frankreich und England vorbei in den Atlantik.“

„Und dann?“

„Dann steht ihr die ganze Welt offen.“

„Die ganze Welt? Kann sie auch nach Spanien schwimmen? Oder Afrika?“

„Sogar bis nach Hawaii.“ Papa grinst.

„Geht ihr Männer schon mal zu den Fahrrädern. Ich packe noch eben meine Zeichensachen ein und räume unser Picknick zusammen“, schlägt Mama vor.

Toby hört gar nicht mehr zu. Während er mit Papa vorläuft, suchen seine Augen den Fluss ab. Aber die Flasche ist bereits verschwunden.

Viel zu viele Bilder. Manche erzählen ganze Geschichten. Andere sind nur Fetzen aus alten Erinnerungen. Wortlos sammelt Toby die Zeichnungen ein und stopft sie zurück zu den anderen in den Karton. Bevor Ralf etwas einwenden kann, sichert er alles mit Klebeband.

Zusammen mit seinem Vater hievt er die Box auf den Stapel zu den anderen. Der Stapel wächst und wächst. Seit Toby eben zum Briefkasten hinunter gegangen ist, sind mindestens zwei Kisten dazu gekommen. Ein stummes Zeugnis für das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit.

Zeit als vierte Dimension ist echt ein Betrug. Beim Ort ist das anders. Der Ort ist natürlich auch eine Dimension. Drei Dimensionen sogar. X, y, z. Aber im Ort kann man stehen bleiben, sich vor oder zurück bewegen. Abbiegen. Rechts, links. Oben, unten. Nur nicht in der verdammten Zeit. Sie läuft weiter. Vorwärts. Egal, was du denkst. Egal, was du willst. Oder fühlst. Eine Umkehr auf der Zeitachse ist nicht möglich. Ein unumstößliches Naturgesetz. Die Vergangenheit ist gelaufen. Aus und vorbei. Was bleibt ist nicht mehr als ein paar schwarz-weiße Skizzen.

„Danke.“ Ralf wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Du kannst direkt ein paar Kartons mitnehmen und schon mal in deinem Zimmer anfangen. Übermorgen kommt der Umzugswagen. Glaub mir, bald wird alles besser.“ Er klopft Toby betont zuversichtlich auf die Schultern. Ein typischer Erwachsener, der tut, als könnte er die Wunden einfach heilen. Oder zumindest übermalen. So wie die Mädchen in seiner Klasse ihre Pickel abdecken.

Toby könnte schreien. Sein Vater ist so abgestumpft. Angepasst. Auf in ein neues Leben, und alles wird gut. Glaubt er das echt? Nach dem Tod von Tobys Mutter wird das gemeinsame Leben in Kisten verpackt. Die Erinnerungen werden verstaut. Der Körper landet im Sarg. Und dann? Reset! Wie bei einem Computer. Ein Tastenklick. Schon fängt ein neues Leben an. In einer neuen Wohnung. Beginn einer neuen Zeit. Toller Plan. Als könnten die Erinnerungen gelöscht, alle Gefühle einfach auf Null zurück gesetzt werden. Fragt Ralf sich nicht manchmal, was das bedeutet? Wenn alles mit dem Tod endet. Nicht nur das gemeinsame Leben. Die Erinnerungen. Auch alle Gefühle. Selbst die Liebe. Verpackt in Kartons.

Aber es stimmt ja. Nirgendwo heißt es, ‚Wollt ihr euch ewig lieben? Soll eure Liebe alles überwinden? Zeit und Raum. Sogar den Tod?‘ Nein, es heißt ‚bis dass der Tod euch scheidet.‘ Die Liebe wird in einem Vertrag zeitlich befristet. Kaum anders als ein Handytarif.

Damit sein Vater endlich Ruhe gibt, schnappt sich Toby ein paar leere Kisten und macht sich wortlos aus dem Staub. In seiner Hosentasche knistern die Briefe aus dünnem Luftpostpapier wie ein spöttisches Lachen.

„Toby, in der Küche liegt Post für dich.“

Mamas Stimme durchdringt die Musik, die aus ihrem Atelier hinaus die ganze Wohnung ausfüllt. Manchmal fragt er sich, wie Papa dabei arbeiten kann. Aber Papa sagt, ihn störe das nicht. Nur wenn er sich ganz doll konzentrieren muss, schließt er die Tür. Heute nicht. Die Tür zu Papas Büro steht offen.

„Wie war dein Tag?“, ruft er in den Flur.

„Alles cool! Jacko kommt gleich vorbei.“

„Okay. Dann koche ich ein paar Nudeln mehr.“

Toby streift die Mütze ab, lässt seine Jacke samt Rucksack fallen und stürmt in die Küche. Auf dem großen Tisch liegt ein blauer Briefumschlag. Das Papier ist super dünn. Es knistert geheimnisvoll. Auf der Briefmarke ist ein Haus mit mehreren Dächern übereinander. Sie sind in den Ecken leicht nach oben gebogen, als würde das Haus lächeln. Auch die Schrift auf dem Umschlag ist eigenartig. Sie ist ein bisschen krakelig. Wie von einem kleinen Kind. Aber die Adresse ist eindeutig. Der Brief ist für ihn. Für einen Moment ist Toby so überrascht, dass er gar nicht weiß, was er damit anfangen soll. Doch dann reißt er den Umschlag auf.

Im Zimmer ist es dunkel. Sogar das Licht, das durch das Fenster fällt, ist grau. Grau wie der Himmel. Grau wie der Schneematsch unten auf der Straße. Grau wie Tobys Leben. Nur die Umzugskartons nicht. Die sind braun. Toby schiebt sie in die Ecke, lässt sich auf sein Bett fallen und zieht den dünnen Stapel Luftpostpapier aus der Hosentasche. Die Briefe sind zusammengeschnürt. ‚Empfänger verzogen’ steht in krakeliger Handschrift auf dem obersten. Jemand hat die japanischen Schriftzeichen mühsam ins Deutsche übersetzt.

Das war der letzte Versuch, Kiko irgendwie noch zu erreichen. Per Schneckenpost. Eigentlich lächerlich. Es zeigt nur, wie verzweifelt Toby ist.

Seit dem einen Tag in den Sommerferien hat er keine Nachricht mehr von ihr bekommen. An diesem Tag hatten sie geskypt. Das taten sie sonst nie. Seitdem ist Kiko verschwunden. Ihr Account ist gelöscht. Auf Skype. Sogar auf WhatsApp. Und alle E-Mails kommen zurück. Recipient unknown. Als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt auch noch diese Briefe.

Warum nur? Einfach so?

Es gab doch so vieles, was sie miteinander verbunden hat. Kikos Geheimnis. Toby hat es gehütet. Bis heute. Denn nur ihm konnte sie ihre Sorgen anvertrauen. Er verstand als Einziger, dass sie später nicht das angepasste Leben einer japanischen Ehefrau führen wollte, so wie ihre Eltern es von ihr erwarteten. Zuhause die Kinder hüten und das Geld eines Ehemannes verwalten, der weit entfernt in der Stadt lebt, in der Nähe seiner Firma, die für ihn wichtiger ist als seine Familie. Nur Toby wusste, dass Kiko lieber Ärztin werden wollte, um selbstständig zu sein. Dass sie dafür seit Jahren Deutsch lernte. Denn Toby und Kiko hatten alles genau geplant. Kiko würde nach der Schule nach Deutschland ziehen, bei Toby wohnen und hier Medizin studieren. Das war Tobys und Kikos Geheimnis. Eines ihrer Geheimnisse.

Das andere hat mit Toby zu tun. Nur Kiko weiß, dass er heimlich Gedichte schreibt. Erst waren es einfache Reime. Kinderkram. Aber dann fanden sie eine Form. Einen Ausdruck. Sie wurden richtig gut. Und wichtig.

Lieber Toby,

warum sollen nur Mädchen Gedichte schreiben? Bei uns in Japan gibt es sehr bekannte Männer. Ihre Gedichte sind berühmt. Kennst du Hoshino Tatsuko? Er schreibt Haikus. Das sind Gedichte, die aus nur drei Zeilen bestehen. Mein Lieblingshaiku ist das von der Pusteblume. Es lautet:

Mit der Pusteblume

möchte ich leise reden

ganz allein

Ich glaube, ich habe es nicht gut übersetzt, denn der Rhythmus stimmt jetzt nicht mehr. Vielleicht gefällt es dir trotzdem. Ich muss immer lachen und weinen, wenn ich es lese. Ich lache, weil es komisch ist, mit einer Blume zu sprechen. Und dann macht es mich traurig, weil man sehr einsam sein muss, wenn man außer einer Blume niemanden zum Reden hat.

Deswegen bin ich auch froh, dass ich dir schreiben kann. Du verstehst mich. Weißt du, was meine Freundin gemacht hat, als ich ihr erzählt habe, dass in Deutschland auch Frauen Arzt werden? Sie hat mich ausgelacht und gesagt, ich sollte besser eine andere Sprache lernen, weil Deutsch mich noch auf dumme Ideen bringt. Vielleicht müssen wir tauschen. Du ziehst nach Japan und schreibst Gedichte. Ich ziehe zu deiner Familie und werde Ärztin.

Schickst du mir ein Gedicht von dir?

Deine Kiko

Der Reiz eines Haikus liegt in seiner Kürze. Die knappe Form verlangt nach klaren Bildern. Nach Struktur. Das ist gut. Denn während sich die Worte in Tobys Kopf zu Zeilen fügen, ordnen sich auch seine Gedanken.

Anfangs waren seine Gedichte natürlich noch sehr brav. Und schön. Doch dann entwickelten sie sich weiter. Heute werden sie oft ziemlich krass. Schreiben ist eben sein Ventil geworden. Gegen den Überdruck aus Gedanken. Gegen den Mist dieser Welt, der Tag für Tag aus den Nachrichten schallt. Umweltkatastrophen, Ungerechtigkeit, Kriege um Öl. Ein riesiger Gefühlssturm, der in Toby herumwirbelt. Ihn aufwühlt. Jede Stunde. Jede Minute. Ihn muss er bändigen. Die Wut aus seinem Kopf herausschreiben. Heimlich. Denn in den Augen seiner Kumpel wäre das total uncool.

Nicht einmal seinem besten Freund Jacko würde Toby die Gedichte zeigen oder auch nur erwähnen, dass er so etwas schreibt. Jacko würde ihn für einen verrückten Emo halten. Dabei ist Jacko wirklich ein prima Kumpel. Der beste, den Toby hat. Nur echte Kunst versteht er nicht. Und Gefühle schon mal gar nicht.

Anders als Kiko. Ihr konnte er seine Gedichte schicken. Alle Gedichte. Selbst dann noch, als sie sich veränderten. Wütend wurden. Verzweifelt. Und hässlich. Damals als seine Mutter krank wurde. Als ihr Körper immer schwächer wurde. Weniger und weniger. Sie vor seinen Augen langsam verschwand. Da musste er die Verzweiflung in Bilder packen. Sie zu Zeilen bändigen. Bevor sie auch ihn auffressen würde. Kiko verstand das.

Das wirklich Großartige ist, dass Toby sich nicht vor ihr verstecken muss. Er muss sich nicht cool geben. Aus irgendeinem Grund kann er ihr all diese Worte anvertrauen, ohne dass sie sich über ihn lustig macht, ihn nicht ernst nimmt.

Damals las sie jedes seiner Gedichte. Antwortete. Tröstete. Sie war für ihn da. Jederzeit. Seine Vertraute. Seine Muse. Wie bei einem der alten Künstler. Bis zum letzten Sommer.

Draußen im Flur hört Toby seinen Vater rumoren. Unzählige Gegenstände, behaftet mit gemeinsamen Erinnerungen, verschwinden in den Kartons. Alles Teile ihres Lebens. Stück für Stück werden sie verstaut. Auf Nimmerwiedersehen. Eingelagert. Und schließlich vergessen. Es ist, als wollte Ralf ihre Vergangenheit wegwerfen.

Doch damit will Toby nichts zu tun haben. Das Bett unter ihm quietscht leise, als er das Gewicht verlagert. Was wäre die Zukunft ohne Vergangenheit? Was wäre die Welt ohne ihre Geschichte? Eines seiner besten Haikus handelt davon. Von einem einzigen Ereignis in der Vergangenheit, das bis in die Zukunft strahlt. Im doppelten Sinn. Und auf eine schreckliche Weise. Nicht alles im Leben ist eben schön. Das Gedicht steckt in einem dieser blauen Umschläge. Toby braucht ihn nicht zu öffnen. Er kann es auswendig.

Schneeglöckchen wachsen

Auf grüner Frühlingswiese.

Verstrahlte Unschuld.

Eine simple Metapher für so viel mehr. Verpackt in ein ausdrucksstarkes Bild. Der Kontrast zwischen den frischen, nach Frühling riechenden Schneeglöckchen und der unsichtbaren, bedrohlichen Strahlung könnte krasser nicht sein. Er spiegelt das Thema Unschuld und verweist gleichzeitig auf den Jahrestag der Katastrophe. Frühling. 11. März 2011. Zudem sind die Zeilen streng nach dem alten japanischen Silbenmaß geordnet. 5-7-5.

Es ist ihm einfach so in den Sinn gekommen, weil sie vor Kurzem in Geo über die Reaktorkatastrophe in Fukushima gesprochen haben. Angeblich ist die Gegend um das Kernkraftwerk immer noch verstrahlt. Nach all den Jahren. Auch wenn zwischen Kyoto und Fukushima 500 Kilometer liegen, das hat Toby natürlich sofort gecheckt, ist die Vorstellung einer unsichtbaren und ungreifbaren Gefahr wie Radioaktivität in Kikos Nähe ein Horror. Seine Wut war so groß. Gleichzeitig fühlte er sich unendlich hilflos. Aber Ralf verstand das nicht. Was hatte Toby auch erwartet? Als er ihm von der Macht der Kernkraftlobby erzählte, schüttelte Ralf nur den Kopf und meinte, dass sie ja auch den Strom nutzen würden und dass es immer ein Restrisiko gäbe. Erwachsenen-bla-bla. Als gäbe es keine Alternative zur Kernenergie. Nicht einmal den Stromanbieter wollte er wechseln. Als ginge ihn das alles nichts an.

Kiko hätte ihn sofort verstanden.

Leider hat das Gedicht sie nicht mehr erreicht.

Toby lauscht auf die Packgeräusche im Flur. Er starrt auf die Briefe in seiner Hand. Plötzlich beginnt sein Kopf zu dröhnen. Laut. Und immer lauter. Ungewohnte Emotionen steigen auf. Verlust. Einsamkeit. Angst. Sie wirbeln chaotisch durch sein Hirn. Pochen von innen gegen seine Schläfen. Panisch richtet er sich auf, greift unter das lose Brett der Fensterbank und zieht sein Notizbuch hervor. Ein kleines blaues Buch mit einer japanischen Malerei auf dem Umschlag. Ein Geschenk von Kiko. Auf dem Schreibtisch liegt sein Stift. Das Ende ist schon ziemlich abgekaut. Schnell steckt er ihn in den Mund. Manchmal hilft das Kauen.

Heute nicht. Was ist nur los?

Natürlich kennt Toby Verlust. Einsamkeit und Angst. Was blieb ihm sonst nach dem Tod seiner Mutter? Aber das mit Kiko ist anders. Seine Mutter war krank. Sie hatte keine Wahl. Keine Zukunft. Kiko hat eine Zukunft. Warum verbaut sie sich alles? Warum weist sie seine Hilfe, seine Freundschaft zurück? Ihre gemeinsamen Träume? Sie hätte alles von ihm haben können. Auch wenn sie sich nie richtig begegnet sind, ist Kiko Tobys beste Freundin. Und manchmal, in letzter Zeit, wenn er nachts nicht schlafen kann, ist sie auch noch mehr.

Doch jetzt ist sie weg. Unerreichbar auf allen Kanälen. Und draußen vor seinem Zimmer verpackt Ralf Tobys Leben in Kartons.

Toby fühlt sich wie gelähmt. Betäubt. Als würde zäher Schleim die Synapsen in seinem Hirn verstopfen. Kein klarer Gedanke findet mehr hindurch. Die schrecklichen Gefühle wirbeln umher. Doch sie erzeugen keine Wut. Mit Wut kennt er sich aus. Wut kann er bändigen. Doch diese Gefühle lassen sich nicht greifen. Toby versucht zu schreiben. Er kaut auf dem Stift. Schiebt ihn über das Papier. Aber heute ergeben die Worte keinen Sinn. Lassen sich nicht zu Versen ordnen. Stattdessen hinterlassen sie eine Leere. Eine fürchterliche, graue Leere. Toby schreibt, korrigiert, zählt die Silben. Aber es passt nicht zusammen. Nichts passt zusammen. Als hätte etwas den Sinn entzogen. Aus seinen Worten. Aus seinen Gedanken. Aus seinem ganzen Leben. Was bleibt, ist eine einzige Frage. Warum hat Kiko den Kontakt abgebrochen?

Schrei laut, wenn Du kannst.

Der kalte Wind bläst und nimmt

xxxxx

Es klopft.

„Kann ich herein kommen?“ Es ist Ralf. Wer sonst?

Toby springt erschrocken auf. Schnell wirft er das Buch unter das lose Brett der Fensterbank und knallt sie gerade rechtzeitig wieder zu. Erstaunlich schnell, wenn man bedenkt, dass er die letzte Stunde damit verbracht hat, stocksteif am Schreibtisch zu hocken und wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf sein Notizbuch zu starren.

Ralf betritt das Zimmer.

„Habe ich ‚herein’ gesagt?“, fährt Toby ihn an.

Es fehlte gerade noch, dass sein Vater die Gedichte sieht. Der Termin beim Seelenklempner wäre ihm sicher. Mindestens zwei solcher Visitenkarten hängen seit Mamas Tod am Kühlschrank. Vermutlich haben wohlmeinende Freunde sie Ralf in die Hand gedrückt. Für alle Fälle. Allzeit griffbereit. Und wofür? Am Ende landen auch sie in einer Umzugskiste. Sein Vater sollte lieber mal einen Termin für sich selbst machen. Sein Verhalten ist doch wohl das, was hier nicht normal ist.

„Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht ….“ Ralf hält ihm etwas unbeholfen eine Tasse Tee entgegen. „Hier, für dich.“

Als wäre er Mama. Es war einer von ihren Grundsätzen. Dass nichts im Leben so schlimm ist, dass man es nicht mit einer Tasse heißen Tee heilen kann. Früher hat Toby es tatsächlich einmal geglaubt. Das war bevor sie krank wurde. Krebs lässt sich nicht mit Tee heilen. So viel ist klar. Und das musste auch Mama schließlich einsehen.

„Schau mal, was ich beim Packen gefunden habe.“ Sein Vater versucht ein Lächeln. Dabei zieht er ein altes Foto aus der Tasche. Es zeigt Toby und Ralf in Batman-Kostümen. Mama hat es gemacht. Karneval. Toby war noch ein Kind. Sie sind zusammen nach Düsseldorf zum Umzug gegangen. Toby und Ralf als Batman, seine Mutter als Catwoman. Was soll das jetzt?

„Erinnerst du dich?“

„Ihr seht super aus.“ Mama verschwindet hinter ihrer Kamera. Kein Handy. Mamas Kamera ist ein altes, schweres Ding, fast so groß wie eine Playstation. „Stellt euch nebeneinander.“

Papa und Toby tragen Batman Kostüme. Mama ist Catwoman.

„Komm her, Bat-Son!“, ruft Papa und zieht Toby zu sich heran.

Gerade als Mama endlich den Auslöser drückt, klingelt es an der Tür. Das muss Jacko sein.

„Wo ist dein Kostüm?“, fragt Mama, als Jacko herein kommt.

Jacko zuckt grinsend die Schultern. Aber Toby ahnt, dass seine Eltern mal wieder keine Zeit hatten, sich darum zu kümmern.

„Dann bist du eben Bruce Wayne, Batmans bürgerliche Identität“, schlägt er vor.

„Das ist gut.“ Mama lacht.

„Ich werde mal nachsehen, ob ich noch eine Krawatte und vielleicht ein Hemd für dich finde“, beschließt Papa und verschwindet im Schlafzimmer.

Zehn Minuten später machen sich ein großer und ein kleiner Batman, Catwoman und Bruce Wayne lachend und singend auf den Weg zum Karnevalszug.

„Wie die Zeit vergeht“, flüstert Ralf mehr zu sich selbst.

Er spricht so leise, dass Toby ihn kaum hören kann. Aber das ist egal. Er weiß auch so, was jetzt kommt.

Sein Vater senkt die Stimme. „Warum fallen wir, Bat-Son?“, fragt er nun lauter.

Diese blöden Filmweisheiten sind so albern, dass Toby es kaum fassen kann. Sein Vater mimt den Superhelden. Doch im echten Leben flieht er vor der Realität.

Weil Toby entschlossen schweigt, antwortet Ralf schließlich selbst. „Damit wir lernen wieder aufzustehen.“

Es reicht. Toby knallt die Tasse auf den Tisch. Der Tee spritzt in alle Richtungen.

„Du kannst nicht alle Erinnerungen in Kisten packen, in eine neue Wohnung ziehen und so tun, als hätte es Mama nie gegeben“, schreit er. „Du bist so ein Versager!“

Ralf sagt nichts. Sein Gesicht ist blass, und er nickt stumm. Dabei hält er das Foto mit beiden Händen, als hätte es irgendeine Bedeutung. Welche ist Toby echt nicht mehr klar. Was hätte sein Vater denn gemacht, wenn er, Toby, gestorben wäre? Hätte er dann seinen Sohn begraben und statt der Bilder von Mama das Batman-Foto in einer Umzugskiste verschwinden lassen? Deckel drauf und fertig? Vermutlich!

Ohne zu wissen, warum, schnellt Tobys Hand vor und greift nach dem Foto. Es zerreißt in der Mitte. Egal. Wütend stopft er die zerknüllte Hälfte in die Tasche seiner Jeans.

Ralf sagt nichts dazu. Wie in Zeitlupe steckt er den restlichen Bildschnipsel zurück in seine Tasche, während sein Blick über die Briefe gleitet, die immer noch auf dem Bett liegen. „Was ist das?“

Mist! Toby greift nach einem Sweater, der über der Schreibtischlampe hängt, und wirft ihn aufs Bett. Gut gezielt. Mit einem Wurf sind die Briefe verschwunden.

„Nichts“, schnauzt er. Es klingt gereizt. Dabei will er gar nicht streiten. Aber sein Vater geht ihm einfach auf die Nerven.

Ralf nickt stumm, als würde er irgendetwas verstehen. Dieser Heuchler. Warum glauben Erwachsene immer, dass sich irgendjemand davon beeindrucken ließe? Toby muss sich auf die Lippen beißen, um Ralf nicht wieder anzufahren.

„Du musst packen“, stellt sein Vater sanft fest. Er nimmt einen der Kartons, die Toby eben in sein Zimmer geschleift hat, und faltet ihn zusammen. „Wollen wir mit deinem Schreibtisch anfangen?“

Bevor Toby auch nur etwas erwidern kann, landet der erste Stapel Bücher in der Kiste.

„Mann, lass das. Die brauche ich noch für die Schule.“

Das stimmt so nicht. Aber etwas Besseres fällt ihm gerade nicht ein. Ralf soll sich gefälligst von seinem Zimmer fern halten und nicht auch noch in seinen Sachen wühlen. Gibt es hier keine Privatsphäre mehr? Er ist doch kein Baby.

Sein Vater schaut auf. Irgendwie kann Toby den Blick nicht richtig deuten. Ist das etwa Mitleid? Ausgerechnet von ihm?

Plötzlich kommt Toby sein eigenes Zimmer furchtbar eng vor. Und nicht nur das Zimmer. Die ganze Wohnung. Die Kartons mit seinem in Kisten verpackten Leben machen ihn noch verrückt. Dazu Ralfs Blick. Er hat das Gefühl, der Enge entfliehen zu müssen. Schnell! Nur weg von hier. Raus. Wütend schiebt er sich an seinem Vater vorbei, zieht eine Jacke vom Haken und stürmt aus der Wohnung. Hinaus in den Hof.

Die Vögel zwitschern.

Mein Vater textet mich voll

Und rafft es doch nicht.

Im Hof ist es grau und kalt, ein Winternachmittag. Aber immerhin ist Toby allein. Nur Mr. Bird, die zottelige dreibeinige Katze der Nachbarn streift um die Mülltonnen auf der Suche nach einer lahmen Maus. Toby bückt sich und krault Mr. Bird zwischen den Ohren. Die Katze schnurrt und streift um seine Beine. Toby grinst. Schön, wenn mal einer nicht reden will. Mr. Bird legt sich auf den Rücken, reckt seine drei Beine hoch und lässt sich den verfilzten Bauch kraulen. Er schnurrt beruhigend tiefenentspannt aus seiner alten rauen Katerkehle. Das graue Fell fühlt sich warm und weich an. Das tut gut. Es ist, als würde die ganze Katzenwärme mit dem wohligen Schnurren durch Tobys Hand in seinen eigenen Körper fließen. Frieden pur.

„Meinst du, sie steht auf mich? Sie hat mir in Mathe zugelächelt.“

„Bestimmt.“

Toby ist sich zwar nicht sicher, ob Maya wirklich Jacko meinte oder ihr Lächeln eher Finn galt. Aber das würde er seinem Freund nie sagen. Verglichen mit Jacko ist Finn ein langweiliger Schönling in teuren Klamotten. Weiß der Himmel, was die Mädchen an ihm finden.

Jacko und Toby sitzen im Hinterhof auf den Treppenstufen. Vor ihren Füßen hat sich Mr. Bird auf den Rücken gerollt und lässt sich den Bauch kraulen.

„Wenn du ein Mädchen aus der Klasse haben könntest, wen würdest du nehmen?“

„Egal wen?“

Jacko nickt. Manchmal hat er wirklich schräge Ideen. Trotzdem denkt Toby einen Moment lang nach, was nicht so einfach ist, weil sich Kiko in seine Gedanken schleicht. Dabei ist offensichtlich, dass Jacko sie nicht gemeint haben kann. Jacko ahnt nichts von Kiko. Toby weiß selbst nicht, warum er so ein Geheimnis aus ihr macht. Jacko ist ein prima Kumpel. Er würde sich bestimmt nicht über Kiko lustig machen. Aber verstehen würde er es auch nicht. Und vielleicht würde er dann doch mal eine blöde Bemerkung fallen lassen. Wenn andere dabei sind.

Außerdem ist sie nicht so eine Freundin. Jedenfalls nicht in Jackos Sinn. Was eigentlich komisch ist. Denn wenn Toby darüber nachdenkt, ist ihm Kiko lieber als jedes andere Mädchen. Er schreibt mit ihr zwar nicht ganz so häufig wie mit Jacko. Dafür über ganz andere Themen. Mit Kiko geht es nie um Fußball und so. Es geht um wichtige Dinge. Wirklich wichtige. Kiko und Toby schreiben sich sogar von ihren Träumen. Und Hoffnungen. Oder erzählen dem anderen, was ihnen Angst macht. Toby kann Kiko Sachen schreiben, die er Jacko nie sagen würde. Nur leider ist Kiko eben nicht in ihrer Klasse. Und küssen wird auf die Entfernung schwierig.

„Vielleicht Emily. Sie hat schöne Augen. Und nett ist sie auch“, überlegt Toby laut. Außerdem ist sie nicht so oberflächlich wie Maya und ihre Clique. Aber das sagt er natürlich nicht. „Oder Lily, die ist ziemlich cool.“

Eigentlich ist es egal. Wirklich verliebt ist Toby in keine von beiden. Aber immerhin ist Jacko mit der Antwort zufrieden. Und Mr. Bird ist es sowieso egal.

Mr. Bird räkelt sich. Toby fällt auf, dass der Kater ein paar graue Haare bekommen hat. Vorne, an der Schnauze. Wie alt er wohl ist? Das Tier wälzt sich umständlich auf seine drei Pfoten und schaut Toby mit schief gelegtem Kopf an. Manchmal würde er gerne in Mr. Birds Kopf sehen. Der Gute denkt sich bestimmt auch seinen Teil. Er wird ihn vermissen. Mr. Bird ist echt ein cooler Kater.

In seiner Jackentasche findet Toby eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Reste einer Party. Eigentlich raucht er gar nicht. Aber jetzt kommt das ganz gut. Er klopft Mr. Bird zum Abschluss noch einmal auf den Rücken und zündet sich eine Kippe an. Langsam zieht er den Rauch ein. Der Kater mustert ihn fragend. Schließlich humpelt er davon.

Hinter Toby quietscht die Hoftür. Es ist Ralf. Schon wieder. Sein Vater schlendert betont lässig herüber und lehnt sich neben Toby an die Hauswand.

„Wir müssen in die Zukunft sehen“, erklärt er zum trillionensten Mal.

Toby hat das Gefühl auszurasten, wenn er diesen Satz noch einmal hören muss.

„Die alte Wohnung ist mit viel zu vielen Erinnerungen belastet. Ich kann das nicht mehr“, flüstert sein Vater.

Pech für Ralf. Denn Toby will nicht weg. Aber was soll er ihm sagen? Dass er sich seinen Erinnerungen stellen soll wie ein Mann?

„Es gibt keinen Reset“, murmelt Toby, wahrscheinlich mehr zu sich selbst. „Weder hier noch irgendwo sonst.“

Ralf sagt nichts. Er steht neben ihm und starrt auf die Mülltonnen. Sogar die Zigarette in Tobys Hand ignoriert er. Oder hat er sie noch gar nicht bemerkt? Toby nimmt einen tiefen Zug. Die Asche glüht orange-rot auf. Aber sein Vater reagiert nicht.

„Wollen wir eine Runde auf der Wii spielen?“, fragt Ralf stattdessen.

„Ich denke, du willst packen.“

„Wir spielen eine halbe Stunde und packen dann zusammen. Einverstanden?“, bietet er an. In seiner Stimme schwingt etwas. Hoffnung?

Eigentlich tut er Toby leid. Im Moment zumindest. Aber auf die Wii hat er jetzt echt keine Lust. Er schüttelt den Kopf und zieht noch einmal an der Kippe.

„Warst du heute im Stadion?“, fragt Ralf.

„Nee.“ Toby tritt die Zigarette aus.

Dieser gequälte Versuch einer Konversation nervt langsam und bringt ja auch nichts. Mr. Bird ist verschwunden. Der hat es richtig gemacht. Und vermutlich sollte Toby das jetzt auch besser tun. Ohne ein weiteres Wort lässt er Ralf stehen und macht sich davon.

Mentale Wüste.

Abgestumpfte Nullchecker

Heucheln Int’resse.

Erikas Pommesbude liegt auf der anderen Seite der Straße. Jacko ist schon da. Er hat einen der Stehtische erobert. Als er Toby sieht, reißt er die Arme hoch und schwenkt seinen schwarz-gelben Schal.

„He, wo hast du gesteckt?“, ruft er und beginnt, mit tiefer Stimme zu grölen. „Schala lala schalalalala.“ Sein viel zu enges Fußballshirt rutscht nach oben und entblößt seinen kräftigen Bauch. Aber das stört Jacko nicht. Begeistert hüpft er auf und ab.

Toby gesellt sich zu ihm. „Was geht?“

„Mann, warum warst du nicht im Stadion?“ Jacko boxt ihm in die Seite. Offensichtlich ist er in Feierlaune.

Vielleicht wäre es doch eine gute Idee gewesen hinzugehen. Aber jetzt ist es zu spät. Das Spiel ist gelaufen.

„Keinen Bock“, murmelt Toby und zuckt die Schultern.

„Du hast was verpasst. Es war super. Drei zu eins.“ Wieder hüpft Jacko auf und ab, wobei er versucht, Toby mitzuziehen. „So sehen Sieger aus, schalalalala,….“

„Eh, lass das.“

Aber Jackos gute Laune ist ansteckend. Sogar Erika lacht hinter ihrer Theke.

„Deutscher Meister wird nur der BVB“, singt Jacko laut und stürmt die Stufen hinab auf den Schulhof.

Ein paar Oberstufenschüler schauen ihm nach und feixen.

Toby rennt hinterher. Er nimmt die letzten Stufen mit einem Sprung, sodass er direkt neben seinem Freund landet.

„Was ist? Seid ihr etwa Bayern-Fans?“, ruft er den älteren Schülern zu.

„Schalke“, grinst einer.

„Dann sehen wir uns morgen im Stadion.“ Toby bemüht sich, eine kämpferische Miene aufzusetzen. Er hat seinen Arm um Jacko gelegt, der voller Stolz seinen neuen gelb-schwarzen Schal hebt. Ein Geschenk von Toby zum letzten Geburtstag.

Die Großen lachen. „Zieht euch mal warm an. Dortmund hat in dieser Saison keine Chance.“

„Pah!“, ruft Jacko. „Euch zeigen wir’s.“

Auf dem Weg nach Hause schwenken sie gemeinsam den Schal und singen die Hymne. Wahrscheinlich klingt es etwas schief. Singen war noch nie ihre Stärke, und seitdem sich ihre Stimme verändern, ist es nicht besser geworden. Aber darauf kommt es ja nicht an. Nach der Hymne stimmt Toby ‚You’ll never walk alone‘ an. Dann singen sie gemeinsam ‚Leuchte auf‘. Und noch ein paar andere Songs. Erst als sie vor Tobys Haustür ankommen und ihnen beim besten Willen kein weiteres Lied mehr einfällt, geben sie auf.

„Gehen wir morgen zusammen zum Spiel?“, fragt Jacko.

„Klar. Mein Vater kommt auch mit.“

Jacko wickelt seinen Schal wieder um den Hals und winkt zum Abschied. „Super. Mit deinem Dad wird’s immer lustig.“

„Das Übliche?“, fragt Erika.

Toby wagt ein vorsichtiges Grinsen. „Pommes rot-weiß, was sonst?“

Sie schmunzelt und wirft eine Schaufel Pommes Frites in die Friteuse.

Hinter Toby öffnet sich die Tür erneut. Kalte Winterluft mischt sich mit der warmen, Fett durchtränkten Atmosphäre in Erikas Bude. Drei stark geschminkte Frauen in ultra-kurzen Röcken stöckeln herein. Toby hat sie schon öfter hier gesehen. Sie arbeiten gleich nebenan in der Geisha-Lounge, einer Tabledancebar. Ihre pinken Lippen leuchten etwas zu grell, und die langen Fingernägel sind garantiert künstlich. Dabei wären sie ohne diese Aufmachung bestimmt ganz hübsch. Auch wenn Toby wahrscheinlich nicht viel mit ihnen anfangen könnte. Ob sie Haikus mögen? Allein der Gedanke ist komisch. Jacko würde behaupten, Toby sei zu anspruchsvoll. Ihn scheint so etwas nicht zu stören. Bewundernd strahlt er ihnen entgegen.

„Hallo Erika, dreimal Pommes Spezial“, ruft eine der Frauen. Sie trägt glänzende schwarze Stiefel, die bis über ihre Knie reichen. „Aber mach schnell. Unsere Pause ist schon fast wieder um.“

Erika nickt und wirft weitere Schaufeln voller Pommes ins heiße Fett.

Toby beobachtet, wie Jacko den BVB-Schal unauffällig unter dem Tisch verschwinden lässt. Die Siegerparty ist vorbei. Offenbar wird es Zeit für eine neue Rolle. Jacko grinst ihm zu. Dann stützt er lässig einen Arm auf den Tisch und taxiert die Frauen von oben bis unten. Auf Toby wirkt es angesichts von Jackos Größe und den paar Härchen, die sich seit Kurzem auf seinem Kinn kräuseln, eher lustig. Jedenfalls nicht sehr cool. Aber die Frauen finden ihn offenbar süß und zwinkern ihm zu. Selbst ohne Absätze wären sie größer als er. Mit Absätzen überragen sie ihn locker um einen ganzen Kopf.

Jacko setzt einen Blick auf, den er wohl für weltmännisch hält. „Kann ich euch zu einem Drink einladen?“

Aus welchem Film ist das denn? James Bond? Aus Jackos Mund klingt es jedenfalls fürchterlich. Toby würde sich am liebsten wegdrehen. Doch die Frauen lachen.

„Lass mal stecken, Kleiner“, sagt die Frau mit den schwarzen Stiefeln.

„Warte noch ein paar Jahre.“ Ihre Freundin stöckelt herüber, beugt sich weit vor und tätschelt Jacko die Haare. Weil sie so groß ist, starrt Jacko ihr genau in den Ausschnitt. Die beiden anderen kichern. Aber Jacko schwebt im Himmel. Wenn er schnurren könnte, würde er das jetzt tun.

„He! Komm wieder zu dir, Casanova. Deine Bestellung ist fertig“, spottet Erika und stellt einen Teller mit einer dampfenden Currywurst auf die Theke, daneben Tobys Pommes rot-weiß.

Jacko grinst. Wenn es ums Essen geht, ist er gleich wieder nüchtern. „Bin schon da“, ruft er.

Auf dem Weg zur Theke drückt er sich extra nah an den Frauen vorbei. Dabei tut er so, als würde er sie von hinten antanzen. Mit wilden Armbewegungen schiebt er seine Hüfte vor und summt irgendetwas. Manchmal hat Jacko einfach keine Bremse. Für ihn ist das ganze Leben ein einziger Spaß. Eine gigantische Kirmes. Obwohl ihm gar nicht danach ist, muss Toby jetzt doch lachen.

Jacko bringt beide Teller mit und stellt die Pommes vor ihm ab. „Mann, habe ich Hunger“, ruft er und verschlingt die ersten drei Stücke seiner Currywurst mit einem einzigen Bissen.

Hunger? Den hat Toby ganz sicher nicht. Wahrscheinlich hat er nur aus Gewohnheit bestellt. Ohne nachzudenken. Egal. Gewöhnlich gehen Pommes mit Mayo und Currysoße immer. Aber heute ist eben kein gewöhnlicher Tag. Jetzt, wo die volle Schale vor ihm auf dem Tisch steht, ist Toby bereits satt. Lustlos fischt er eine lange Pommes mit den Fingern heraus und stochert in der Mayo.

„Was macht der Umzug? Schon gepackt?“, fragt Jacko mit vollem Mund.

„Nee.“ Das ist wirklich das falsche Thema. Sofort sinkt Tobys Stimmung wieder gen Null.

Aber Jacko begreift es leider nicht. Das Essen betäubt wie immer seinen Verstand. „Ich werde euch vermissen“, schmatzt er. „Und die Damen bestimmt auch. Dein Vater ist doch jetzt praktisch Stammgast in der Geisha-Lounge.“ Er lacht, als hätte er einen Witz gemacht.

Auch die Frauen kichern. Können die überhaupt etwas anderes?

Normalerweise hätte Toby jetzt mit einem guten Spruch gekontert. Aber sein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt. Die ganze Wut steigt in ihm auf und findet keinen Weg heraus. Ein Monster aus Schleim, das von ihm Besitz ergreift. Seine Mutter ist tot. Doch für seinen Vater geht das Leben weiter. Tastenklick. Reset. Schon wird sie ersetzt. Kiko hat ein neues Leben begonnen. Ohne Toby. Klick. Auch er ist ersetzt. Neue Wohnung. Neue Farbe. Neues Leben. Klick. Klick. Klick. Und alle lachen.

Ist er der einzige, der sich Gedanken macht? Der nicht alleshinnimmt? Und weitermacht wie bisher. Der das Leben hinterfragt? Diese ganze Oberflächlichkeit wird ihn noch erdrücken. Die Frauen kichern. Erika schmunzelt. Und Jacko lacht. Das ist zu viel. Ohne ein weiteres Wort lässt Toby Jacko, seine Pommes und die anderen einfach stehen und haut ab.

Der Krieg um das Öl

Verstärkt die Macht der Reichen.

Ich könnte kotzen.

Zuhause wickelt Ralf gerade Mamas Lieblingsgeschirr in dicke Lagen aus grauem Papier. Als Toby hereinkommt, schaut er auf. „Da bist du ja.“

„Ich geh packen.“

„Brauchst du Hilfe?“

Lieber nicht. Toby schüttelt stumm den Kopf und verschwindet in seinem Zimmer. Er zieht den ersten Karton zu sich heran. Was nun? Wahllos reißt er einen Armvoll T-Shirts aus dem Schrank und stopft sie zu den Büchern, die Ralf schon gepackt hat. Dann zieht er den Pullover vom Bett und wirft ihn hinterher. Dabei fällt sein Blick wieder auf die Briefe. Sie sind alle noch ungeöffnet. Das heißt, sie haben Kiko nie erreicht. Aber wer hat dann ‚Empfänger verzogen‘ auf den Umschlag gekritzelt? Das passt doch alles nicht zusammen!

Verwirrt lässt sich Toby auf das Bett fallen. Zum tausendsten Mal nimmt er sein Handy und scrollt durch Kikos letzte Nachrichten. Dann weiter hoch. Zurück in der Zeit. Bis er ein Foto findet. Das war vor etwa einem Jahr.

Kikos C2 Zertifikat. Sie hat es natürlich sofort fotografiert und ihm geschickt. Das heißt, sobald sie im Sommer ihren Schulabschluss gemacht hat, kann sie sich in Deutschland an der Uni einschreiben. Drei lachende Smileys hat sie darunter gesetzt. Nur noch ein paar Monate! Dann wird sie zu ihm kommen. Tobys Herz klopft so laut, dass es bestimmt jeder hören kann. Zum Glück ist er gerade allein. Es ist ja auch albern. Jetzt schon nervös zu werden. Und das wegen Kiko. Sie ist doch nur eine gute Freundin. Allerdings eine ziemlich gute. Selbst über die Entfernung. Und sie sieht Hammer aus. Zumindest auf ihrem Profilbild.

Erst letzte Nacht hat er von ihr geträumt. Dabei ging es eigentlich gar nicht um das Zertifikat. Also nicht direkt. Eher darum, dass sie sich sehen und endlich zum ersten Mal einander gegenüberstehen würden. Im Traum hat Toby Kikos Hand genommen. Sie in sein Zimmer geführt. Und …. Seltsam, was sich das Unterbewusstsein so vorstellt.

Toby hat Kiko schon gesagt, dass sie bei seiner Familie wohnen kann. Er würde sogar in seinem Zimmer Platz machen. Es ist eigentlich ziemlich groß. Ein zweites Bett passt locker noch hinein. Wenn er nur mal aufräumen würde. Natürlich muss er es noch mit seinen Eltern besprechen. Aber Papa arbeitet, und Mama hat sich gerade hingelegt. Ihr geht es heute nicht gut. Eigentlich geht es ihr schon seit einer Woche ziemlich mies. Oder länger? Bestimmt ist es die Grippe. Das meint jedenfalls Papa. Besser er wartet einen günstigeren Moment ab. Es ist ja auch noch etwas Zeit bis zum Sommer.

Toby antwortet Kiko mit applaudierenden Händen. Eigentlich fehlt jetzt noch etwas Arztmäßiges. Aber das Spritzen-Emoji sieht fies aus. Und der Krankenwagen ist auch blöd. Ein Herz? Nein! Lieber wählt er einen Blumenstrauß. Papa sagt immer, wenn es um Frauen geht, sind Blumen nie verkehrt.

Das war vor einem Jahr. Und dann kam alles ganz anders. Toby scrollt wieder zurück. Richtung Gegenwart.

Kikos letzte Nachricht ist von Juli. Sie hatte gerade ihren Schulabschluss gemacht. Das war nur ein paar Wochen vor dem Tod seiner Mutter. Jetzt ist Februar.

Toby liest den Text. Wie schon so oft zuvor. Kiko schreibt, dass ihre Eltern kein Medizinstudium unterstützen würden. Das war ja klar. Und dass sie mit ihnen reden will. Irgendwann musste sie ihren Umzug nach Deutschland ja planen. Toby hatte sich nichts dabei gedacht, auch wenn so ein Gespräch bestimmt nicht angenehm ist. Besonders nicht in Japan. Die Japaner ticken ein bisschen anders. Kiko hat ihm einmal erklärt, dass der Sinn eines japanischen Satzes erst mit dem letzten Wort entschieden wird. So bliebe man flexibel und könnte das Satzende an die Reaktion seines Gegenübers anpassen. An seine Gefühle. Um ihn nicht zu verletzen. Angeblich soll das nämlich unhöflich sein. Oder so ähnlich. Wie um alles in der Welt soll man da Klartext reden?

Natürlich wollte Toby Kiko sofort antworten. Ihr Mut machen. Sie auf das neue Leben in Deutschland einstimmen. Aber irgendetwas kam dazwischen. Und bevor er schreiben konnte, rief sie an.

Toby konnte es kaum fassen, als ihr Profilbild plötzlich auf dem Bildschirm seines Notebooks erschien. Wie mechanisch nahm er den Anruf an. Im ersten Moment war er völlig verwirrt. Er konnte gar nichts sagen. Aber dann hörte er ihre Stimme. Zart und irgendwie zerbrechlich. Ganz anders als die Mädchen in seiner Klasse. Fast schüchtern. Leise. Toby war wie gebannt. Von ihrer Stimme. Und auch von ihrem Bild, das einen Moment später erschien und sich etwas ruckartig über seinen Bildschirm bewegte. Die Verbindung war leider ziemlich mies. Er erinnert sich noch genau daran.

„Wie geht es deiner Mutter?“

„Nicht gut.“

„Das tut mir leid.“

Toby nickt. Was soll er auch dazu sagen? Dass er darüber nicht sprechen will? Und jetzt schon gar nicht. Auf dem Display vor ihm ist Kiko. Und ihr Anblick verschlägt ihm fast die Sprache, auch wenn das Bild ein bisschen wackelt. Er könnte jetzt eh nichts Vernünftiges sagen. Sein Herz pocht. Seine Finger fahren immer wieder durch die langen Ponyfransen. Er muss sich zusammenreißen, um sich in seinem Stuhl entspannt nach hinten zu lehnen und nicht total verrückt herumzuzappeln. Aber es ist auch egal. Er muss nicht super cool wirken. Alles ist egal. Solange Kiko nur da ist. Im Moment ist sie wirklich der einzige Lichtblick in seinem Leben.

Er hat noch nicht mit seinem Vater gesprochen. Seitdem es Mama jeden Tag schlechter geht, gab es keinen günstigen Moment mehr für ein Gespräch. Und nun ist es bald ganz vorbei. Auf der anderen Seite wird Mamas Atelier dann nicht mehr gebraucht. Was bliebe, wäre nur noch mehr Leere in ihrem Leben. Es wäre zumindest ein kleiner Trost, den Raum zu füllen. Kiko könnte ihr eigenes Zimmer haben, und Toby kann sich keine bessere Verwendung dafür vorstellen. Ein wenig Licht in diesem beschissenen Sommer.

„Hast du schon deinen Flug gebucht?“, fragt er, um das Thema auf etwas Schönes zu lenken.

Nur noch ein paar Wochen, dann kann er Kiko endlich sehen. Richtig sehen. Sie in den Arm nehmen. Ihren Duft einatmen. Wenigstens ein Hauch von Glück spüren. Stopp! Zurück zum Flug.

„Wann und wo soll ich dich abholen? Wirst du viel Gepäck mitnehmen?“

Kiko senkt den Blick. Und schweigt.

„Was ist denn los?“

„Toby, ich ….“ Sie zögert. Oder ist es wegen der schlechten Verbindung?

Doch dann hebt sie den Kopf und schaut genau in die Kamera, sodass Toby für einen Moment in ihren braunen Augen versinkt.

„Meine Eltern schlagen vor, dass ich einen traditionellen Beruf erlerne.“

Was? Erschrocken wacht Toby aus seinen Träumen auf. Das klingt nicht gut. Trotzdem versucht er, ruhig zu bleiben. Obwohl seine Nerven zu zittern begonnen haben.

„Was heißt das?“, fragt er. Seine Stimme klingt rau.

„Du weißt, bei uns hat die Familie einen hohen Wert. Wir achten die Meinung unserer Eltern.“

„Du kannst sie ja achten. Deswegen musst du nicht alles tun, was sie wollen, oder?“ Toby hat das Gefühl, dass Kikos Worte ihm die Luft zuschnüren.

„Als Tochter habe ich die Pflicht, die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen. Gerne zu erfüllen. In Japan nennen wir das ‚giri‘.“

Gerne? Um Toby herum beginnt sich alles zu drehen. Der Boden unter seinen Füßen wackelt, als wollte er im nächsten Moment wegbrechen.

„Aber es ist dein Leben“, ruft er. „Du wolltest Medizin studieren. Das war immer dein Traum. Das müssen deine Eltern doch verstehen.“

„Meine Eltern versuchen, die Harmonie zu bewahren. Sie möchten nur das Beste für mich.“

„Und du? Was willst du?“

„Ich denke an ihre Ehre.“

Toby würde am liebsten schreien. Er sitzt längst schon nicht mehr cool zurückgelehnt in seinem Stuhl. Stattdessen hängt er mit der Nase fast vor dem Bildschirm. Als könnte er im nächsten Moment hindurch greifen und Kiko schütteln. Sie muss wieder zu Vernunft kommen.

„Sie haben mir einen Weg gezeigt, unabhängig zu sein und trotzdem einer langen Tradition zu folgen.“

„Und was wird aus unseren Plänen? Du wolltest doch zu mir ziehen. Bei mir wohnen.“

Kiko neigt den Kopf und schweigt, während sich in Toby ein ganzer Sturm zusammen braut. Kann sie nicht wenigstens etwas sagen? Ihm erklären, was das alles soll.

„Verstehst du nicht? Wir möchten alle unser Gesicht wahren“, erklärt sie schließlich, als sei damit alles gesagt.

Toby schnaubt. „Nein! Nein, das verstehe ich nicht.“

In ihm breitet sich etwas aus. Es ist grau und kalt wie ein Wintertag. Er fühlt sich leer. Ausgelaugt. Als hätte jemand auch noch den letzten Schimmer seiner Hoffnung geraubt. Das letzte Fünkchen Licht durch Dunkelheit ersetzt. Enttäuschung, Wut und Hilflosigkeit vermischen sich zu einem einzigen Brei.

Kiko will noch etwas sagen, aber Toby mag es nicht mehr hören. Kann es nicht mehr ertragen. Jedes neue Wort wäre nur ein weiterer Stich in seiner Seele.

„Dann hoffe ich, du hast noch ein schönes und ehrbares Leben“, unterbricht er sie und schlägt den Laptop zu.

Nachher tat es ihm leid. Ein bisschen zumindest. Er hatte Kiko nicht einmal gefragt, was sie stattdessen machen würde. Als er ihr endlich schrieb, kam die Frage zu spät. Plötzlich war ihr Account gesperrt. Die E-Mails kamen nicht mehr an und seine Briefe einfach zurück. Nicht einmal entschuldigen konnte er sich bei ihr. Jetzt steht er da wie ein Idiot.

Wenn er nur wüsste, wo sie steckt. Irgendwo muss sie doch sein. Niemand verschwindet einfach so. Oder hasst sie ihn so sehr, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte? Nein! Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Nicht wegen eines blöden Streits. Die Japaner mögen vielleicht anders ticken. Aber Kiko ist immer noch Kiko. Sie würde ihre Freundschaft nicht einfach aufgeben. Es muss einen anderen Grund geben. Irgendetwas, das sie von ihm fern hält.

Auf der Suche nach einem Hinweis scrollt Toby erneut durch die letzten Nachrichten. Eigentlich müsste er sie bald auswendig kennen. Aber vielleicht hat er trotzdem etwas überlesen. Einen Hinweis, den er nicht ernst genommen hat, gedacht hat, es wäre ein Scherz. Vielleicht schreibt sie etwas von einer Weltreise. Warum nicht, jetzt wo die Schule bei ihr vorbei ist? Bestimmt ist sie irgendwo, wo es kein Internet gibt. Keinen Empfang.

Während er die Zeilen überfliegt, fällt ihm auf, wie ungewöhnlich vorsichtig ihre Formulierungen geworden sind. Selbst für Kiko. Noch viel umständlicher als sonst. Warum sieht er das erst jetzt? Er dachte immer, dass Kiko ihre Eltern auf ihre Entscheidung vorbereiten wollte. Dass es bei ihrem Gespräch darum ging. Aber nun ist er sich nicht mehr sicher. Wollte sie wirklich ihre Eltern vorbereiten? Oder ihn, Toby? Hat sie über die letzten Wochen im Sommer versucht, ihm etwas mitzuteilen? Etwas, das er einfach überlesen hat?

In einer Nachricht schreibt sie, dass sie den Wunsch ihrer Eltern verstehen will. Eine typische Kiko Formulierung. ‚Verstehen wollen’. Was soll das heißen? Was gibt es daran zu verstehen? Oder bedeutet ‚verstehen wollen‘ so etwas wie respektieren? Oder, schlimmer noch, gehorchen?

Toby liest weiter. Sie schreibt über die traditionellen Werte und Pflichten der Familie gegenüber. Die ganze Nachricht handelt davon. Von Pflichten und Tradition. Von Scham und Ehre. Vom Streben nach Harmonie. Toby hat es damals wahrscheinlich überlesen. Er konnte damit nichts anfangen. Auch jetzt hat er keinen Schimmer, was das bedeuten soll. Sie schrieb öfter von solchen Themen. Toby nannte es insgeheim ihre japanische Tugenden. Hier, an einer Stelle, erwähnt sie sogar den in der alten japanischen Tradition verwurzelten Beruf der Geisha. Toby hat es für einen Scherz gehalten. Was Geishas mit Tradition zu tun haben, ist natürlich klar. Das älteste Gewerbe der Welt eben. Das gibt es wohl überall. Obwohl hier in Deutschland wahrscheinlich niemand den aufgebrezelten Frauen der Tabledancebar einen traditionellen Beruf bescheinigen würde. Allein der Gedanke ist komisch. Aber jetzt klingt Kikos Nachricht eigentlich gar nicht mehr witzig. Nur kann das nicht sein. Das kann sie doch nicht wirklich ernst meinen.

Toby liest, scrollt auf und ab und liest wieder. Ratternd wie ungeschmierte Zahnräder drehen sich die Gedanken in seinem Hirn. Und plötzlich rastet etwas ein. Ein Bild wird schärfer und immer klarer. Er liest noch einmal. Und noch einmal, nur um ganz sicher zu gehen. Aber es steht da. Eindeutig. Es stand die ganze Zeit in seinem Handy. Doch erst heute versteht Toby, was Kiko ihm damit sagen wollte. Es ist nicht nur so, dass ihre Eltern gegen das Medizinstudium sind. Ihre Mutter verlangt, dass Kiko ihr nacheifert. Das ist eindeutig. Nur bislang hat Toby geglaubt, Kiko solle heiraten, Kinder bekommen und so. Aber in einer der letzten Nachrichten steht noch etwas anderes. Ein kleiner Nebensatz. Hinter all dem Gerede über die Geisha in der japanischen Gesellschaft. Über die Scham, die Eltern zu enttäuschen. Die Pflicht und die Ehre, ihren Wünschen zu entsprechen. Da steht es. Kikos Mutter hatte früher einen traditionellen Beruf. Soll das heißen, dass sie selbst eine Geisha war? Scheiße. Ja! Und jetzt verlangt diese Frau, dass Kiko ihr nacheifert? Dass Kiko eine Geisha wird?!

Entsetzt lässt Toby das Handy sinken. Er liegt auf dem Bett und starrt wie betäubt an die Decke. Geisha statt Ärztin. Geisha! Ausgerechnet Geisha. Wie konnte er das die ganze Zeit übersehen? Und wie können die eigenen Eltern Kiko so etwas antun?

Auf der anderen Seite sind die Nachrichten voll von solchen Meldungen. Eltern, die ihre Töchter verkaufen. Unglaublich, dass eine Gesellschaft so etwas Grausames zulassen kann. Und doch passiert es. Jetzt sogar genau vor seinen Augen. Hat Kiko deswegen den Kontakt zu ihm abgebrochen? Nicht aus Wut über sein Verhalten, sondern aus Scham? Oder wurde sie sogar dazu gezwungen?

Dann waren ihre letzten Nachrichten womöglich eine Bitte. Ihr Anruf ein letzter Hilferuf. Und er? Was hat er getan?

Er hat einfach aufgelegt. Und Kiko ihrem Schicksal überlassen.

Toby wird heiß und kalt zugleich. Entsetzen packt ihn. Lähmt für einen Moment seine Sinne. Sie hat ihn um Hilfe gebeten. Doch er hat es nicht verstanden. Er hat dagesessen und den Beleidigten gespielt.

Seine Hände zittern. Ein fürchterlicher Gedanke schießt ihm durch den Kopf. Sie hat ihn nicht verlassen. Er war es. Er war es, der sie im Stich gelassen hat. Und jetzt ist es zu spät.

Toby würgt. Plötzlich ist ihm speiübel. Zornig schlägt er sich mit den Fäusten gegen den Kopf. Am liebsten würde er seinen Schädel gegen die Wand rammen. Verdient hätte er es. Doch wem würde es helfen?

„Kiko!“, schluchzt er.

Natürlich kann sie ihn nicht hören. Niemand kann ihn hören. Niemand kann ihm helfen, während ihm langsam das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wird. Er kann Kiko nicht mehr erreichen. Wahrscheinlich wird sie abgeschirmt. Von ihren Eltern. Ihrer Mutter. Der Account wurde gelöscht. Alle Briefe wurden abgefangen und zurück geschickt. Ist doch klar, dass ihre Mutter nicht will, dass Toby für Kiko da ist. Dass ihre Tochter eine andere Wahl hat. Ob Kiko in einer Bar tanzt? Wie die Geisha-Lounge? Allein bei dem Gedanken ziehen sich Tobys Gedärme zusammen.

Er springt auf. Auf weichen Knien wankt er zum Fenster. Verzweifelt hebelt er das lose Fensterbrett auf und greift in sein Geheimfach. Das Foto von Kiko liegt zwischen den Seiten seines Notizbuchs. Er hat es von ihrem Profilbild abziehen lassen. Sie ist hübsch. Sehr hübsch. Viel zu hübsch für diese Welt. Lange, dunkle Haare rahmen ihr zartes Gesicht ein. Sanfte Augen schauen direkt in die Kamera. Sie sieht verletzlich aus.

Zusammen mit dem Foto lässt er sich auf das Bett fallen. Wenn er sich vorstellt, wie geifernde Männer sie anstarren, würde er am liebsten auf die Bühne springen, Kiko in seine Arme nehmen und mit ihr verschwinden. Zurück nach Deutschland. Hier hätte sie eine Zukunft. Es ist ihm doch egal, was schon geschehen ist. Für Toby ist sie immer noch Kiko. Seine Kiko.

Grelles Neonlicht

Verbrennt meinem Schmetterling

Die gestutzten Flügel.

Irgendwo in Japan. Draußen wird es gerade hell. Ein zierliches Mädchen mit langen schwarzen Haaren kniet auf dem Boden einer kleinen Kammer. Um sie herum liegen Schuhe, Wäsche, Haarspangen unordentlich über den Boden verstreut. Jemand hat alles achtlos fallen gelassen. Das Mädchen seufzt. Sie ist viel zu müde, um zu arbeiten. Am liebsten würde sie schlafen wie die anderen. Sie ist erschöpft von der letzten Nacht, weil sie wach bleiben musste, um auf die älteren Mädchen zu warten. Aber sie ist eben die Jüngste im Haus. Das Warten gehört zu ihren Aufgaben, genau wie das Aufräumen, das Wäsche waschen. Alles. Das Mädchen schiebt sich die Haare aus dem Gesicht und beginnt, die Schuhe ordentlich zu Paaren nebeneinander zu ordnen. Dann sammelt sie die schmutzige Wäsche ein. Sie muss sich beeilen. Gleich werden die anderen aufstehen. Dann muss sie fertig sein, um das Frühstück zu servieren.

Toby starrt an die Decke.

„Ich bin dann weg“, klingt Ralfs Stimme gedämpft aus dem Flur.

Hinter ihm fällt die Wohnungstür ins Schloss.

Toby muss gar nicht fragen, wohin sein Vater geht. Er steht langsam auf. Durch das Fenster beobachtet er, wie Ralf aus der Haustür tritt und die Straße überquert. Einen Moment später verschwindet sein Vater im gegenüberliegenden Hauseingang hinter einem dunklen Vorhang. Die Neonreklame über dem Vorhang markiert den Eingang zur Geisha-Lounge.

Bilder drängen sich in Tobys Hirn. Grelle, grauenvolle Szenen. Aber er darf die Augen nicht davor verschließen. Niemals wird er so gleichgültig werden. Abgestumpft. Doch die Bilder sind kaum auszuhalten.

Kiko, halbnackt, in hohen Lackstiefeln. Männeraugen begaffen ihre Beine. Ihr zarter Mund verschwindet unter einer dicken Schicht aus pinkem Lippenstift. Er ist leicht geöffnet, während sie tanzt und ihren Körper um eine Eisenstange windet. Die Kerle starren auf ihre Brüste, als wollten sie sie bei lebendigem Leib verzehren. Kerle wie Jacko. Wie sein Vater.

Hilflos schlägt Toby mit der Faust gegen das Fenster. So fest er kann. Es dröhnt, aber die Scheibe hält. Doppelt verglast. Besser wäre es gewesen, das Glas wäre zerbrochen. Hätte seine Haut aufgeschlitzt. Das Blut heraus gelassen. Dann könnte er jetzt wenigstens etwas anderes spüren. Schock. Schmerzen. Stattdessen brennen sich Bilder in Tobys Hirn. Kiko, die tanzt. Kiko, die sich quält. Halbnackt. Und er ist schuld. Schuld an ihrem Schicksal. Sie hat ihn um Hilfe gebeten. Und was hat er getan? Nichts. Er hat nicht reagiert. Hat sie einfach im Stich gelassen. Er hat versagt.

Die Schuld raubt ihm die Luft zum Atmen. Zerquetscht sein Herz. Sie treibt das Leben aus seiner Brust. Bis sich alles leer anfühlt. Zurück bleibt seine Hülle. Ausgebrannt.

Regungslos steht er da. Und spürt nichts. Keine Trauer. Keine Wut. Keine Schmerzen. Die Welt um ihn herum hat ihre Bedeutung verloren. Die falsche Dimension Zeit hat nicht nur angehalten. Sie ist verschwunden. Im Nichts. Raum und Zeit haben aufgehört zu existieren.

Ohne Kiko ist sein Leben nichts mehr wert. Selbst seine Gedichte verlieren ohne Kiko ihre Bedeutung. Sinnentleert. Alles ist starr. Bewegungslos. Kalt und schwarz. Das Ende.

Er weiß nicht, wie lange er so da steht. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, beginnen Raum und Zeit erneut zu wachsen. Ein Urknall. Er breitet sich in Toby aus. Verdrängt die Leere mit einer Hitze, einer Intensität, die er seit Monaten nicht mehr gespürt hat. Vielleicht sogar noch nie.

Er starrt auf das Foto in seiner Hand. Und auf einmal wird Toby alles klar. Viel zu lange hat er gewartet. Gedacht. Geschrieben. Doch das reicht jetzt nicht mehr. Er braucht Kiko. Alles in ihm drängt ihn zu ihr. Seine Gedanken kreisen nur noch um sie. Er hat seine Augen nicht verschlossen. Seine Sinne nicht betäubt. Er sieht. Er fühlt. Er leidet. Wenn er Kiko nicht für immer verlieren will, muss er nun handeln. Er muss sie wieder finden. Egal, wo. Egal, was es kostet. Er will sie sehen. Sehen, wie sie lächelt. Er möchte ihren Geruch einatmen. Und dann …. Wie aus einem bösen Traum wird er sie wach küssen. Ob sich ihre Haare weich anfühlen? Und ihre Lippen?

Schnell schiebt Toby den letzten Gedanken beiseite. Unsinn. Es geht hier um Kiko, nicht um ihn. Er ist ihr Freund. Ihr bester Freund. Ihn hat sie um Hilfe gebeten. Jetzt muss er handeln. Wer, wenn nicht er? Wann, wenn nicht jetzt? Er wird Kiko zeigen, dass er sie nicht ihrem Schicksal überlässt. Gleichgültig ist. Nein! Er ist für sie da. Wird es immer sein. Er wird sie retten. Sie aus dieser abscheulichen Welt befreien. In seine Arme schließen. Festhalten. Beschützen. Für immer. Und Ewig!

Energie durchströmt

Meinen Kopf wie ein Urknall,

Entmachtet das Nichts.

Toby spürt Erregung, die seinen Körper durchflutet. Pure Energie, die durch seine Adern pumpt. Sein Herz peitscht wild und treibt das Adrenalin in jede Zelle seines Körpers. Es ist wie ein Rausch. Er fühlt sich frei. Ungebunden. Stark. Plötzlich weiß er, was er tun muss.

Sein Vater ist noch nicht zurück. Toby stürmt aus seinem Zimmer in die einsame Wohnung. Fast wäre er gegen ein paar Umzugskartons geprallt. In der Dunkelheit sind sie kaum zu erkennen. Erst in der Küche schaltet er das Licht ein. Die bunte Deckenlampe, die seine Mutter vor ein paar Jahren auf dem Trödel gekauft hat, ist schon eingepackt. Am Kabel baumelt stattdessen eine kahle Glühbirne. Der ganze Raum ist merkwürdig leer. Sein Inhalt ist in braunen Kartons verschwunden. Nur ein paar Möbel stehen noch herum. Das Licht der nackten Glühbirne taucht alles in ein fahles Licht. Surreal. Aber auf dem Tisch entdeckt Toby die Brieftasche seines Vaters. Komisch, dass Ralf sie nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat er in der Geisha-Lounge schon eine Art Kundenkonto. Grausame Bilder wollen in ihm aufsteigen, aber Toby drängt sie zurück. Es gibt jetzt Wichtigeres.

Er schlängelt sich um einen Stapel Kartons herum und an zwei Stühlen vorbei bis zum Tisch. Dort zögert er kurz. Nur einen Moment. Soll er es wirklich tun? Er hält inne. Aber er will sich ja keine neuen Sneaker kaufen. Es geht um ein größeres Ziel. Die Rettung eines Menschen. Das ist es wert. Das ist alles wert.

In zwei Sekunden ist die Sache entschieden. Das schlechte Gewissen verstummt. Toby zieht die Kreditkarte seines Vaters aus der Brieftasche und stürmt zurück in sein Zimmer.

Mit dem Arm schiebt er Stifte, Zettel, Bücher von seinem Schreibtisch. Die Sachen fallen polternd auf den Boden. Egal. Toby klappt den Laptop auf. Schon ist er online.

Wann geht der nächste Flug nach Japan? Kiko wohnt in Kyoto. Dort wird er seine Suche beginnen. Aber Kyoto hat keinen Flughafen. Mist. Dann wird er eben nach Tokio fliegen und von dort aus weitersehen. Das kriegt er schon hin.

Jetzt den Flug buchen. Heute Abend geht noch einer. Es gibt sogar freie Plätze. Toby kann das Ticket direkt bei der Airline buchen. Das ist praktisch. Er hatte keine Ahnung, dass das so einfach ist. Bislang haben seine Eltern sich immer um die Planung des Urlaubs gekümmert. Das Bezahlen funktioniert mit der Kreditkarte. Klar. Aber warum wollen die unbedingt sein Geburtsdatum wissen? Das ist nicht gut. Er ist noch keine 18. Eher 16 und ein paar Monate. Streng genommen ist er noch minderjährig. Darf er etwa nicht alleine reisen? Die Fluggesellschaft bietet einen Service für allein reisende Kinder an. Aber so klein ist er nun auch nicht. Das letzte, was Toby gebrauchen kann, ist eine Stewardess, die ihn den ganzen Flug über bemuttert. Womöglich muss er noch einen dieser albernen gelben Brustbeutel mit sich herumtragen, in dem sein Ticket und die Notfallnummern stecken. Falls er verloren geht. Oberpeinlich. Nein, besser er behauptet, er sei 18. Ob die das nachprüfen? Das Risiko muss er eingehen. Und er braucht seinen Reisepass. Ohne Pass kommt er nicht ins Land. Wahrscheinlich nicht einmal ins Flugzeug. Mist, den Pass hat Ralf bestimmt schon in einer Umzugskiste verstaut. Die Frage ist, in welcher.