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Oles großes Ziel ist es, ein Held zu werden. Deshalb möchte er mit seinem Opa zusammen einen Schatz finden. Doch dann ist Opa plötzlich nicht mehr da. Ole ist tieftraurig. Und dann soll er auch noch alleine ins Zeltlager fahren! Aber es kommt alles anders: Im Zeltlager lernt er die ständig plappernde India kennen. Sie halten zusammen Wache, retten gemeinsam ein Ferkel vor dem Grill und spüren dem komischen Kaplan nach, der irgendetwas im Schilde führt. Als dann auch noch plötzlich Oles Schatzkarten verschwinden, kann nur noch das Schwein helfen ... Ein schweinestarkes Buch zum Lachen und Liebhaben!
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2013
Sabine Engel
MISSION MIT SCHWEIN
Illustriert von Bernd Lehmann
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe:
Copyright © 2013 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur druckfertig, Frau Julia Balogh, 10435 Berlin.
Lektorat: Verena Zemme, Miesbach
Umschlag- und Innenillustrationen: Bernd Lehmann, Köln
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-2533-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Josefine Theis (1919-2008)
Prolog
Zu viel Blau!
Indiana Jones hat Höhenangst
Es rumst nicht nur in Oles Kopf
Zwei Einbrecher mit ungewöhnlicher Beute
Wer will schon ins Ferienlager?
Ein Karamellbonbon für die Seele
Kaplan Beelzig gefriert das Lächeln
Ein komischer Zufall
Ole wird alles zu viel
Auf Martin ist kein Verlass
Wer ist jetzt die Petze?
Im Lager herrschen harte Regeln
Nicht nur Patrick gruselt sich
Opa ist ein Schwein
Ein Floß ist keine Schrottmühle
Schwein gehabt
Schönen Gruß vom Kaplan
Von wegen Männersache
Land in Sicht!
Zum Gipfel geht’s bergauf
In der Höhle
Nicht nur Indie hört Stimmen
Ein Verräter wird verraten
Und das für hundert Euro?
Gemeinsam geht es schneller
Haltet den Dieb!
Freunde
Ole, Ole, Ole!
Jetzt geht der Spaß erst richtig los!
Epilog
Ole hockt unter der Drechselbank in meiner Werkstatt. Er blättert lustlos durch die vergilbten Seiten meines Buchs über die großen Entdecker. Ole liebt dieses Buch. Das weiß ich. Aber jetzt pfeffert er es in die Ecke, sodass die alten Seiten böse rascheln. Auch der selbst gebaute Drache bekommt einen kräftigen Hieb. Ole ist stinksauer und furchtbar wütend auf mich. Nein, schlimmer noch, Ole ist tief enttäuscht von mir.
Ich kann ihn gut verstehen. Ausgerechnet ich, sein Opa und bester Freund, habe ihn verlassen. Armer Ole. Am liebsten würde ich ihm durch die zerzausten blonden Haare streicheln, auch wenn er das eigentlich nicht mag. Ich habe ihm einmal die Geschichte von Thomas Baker erzählt. Den hätten wütende Kannibalen beinahe mit Haut und Haar aufgefressen, weil er die Haare eines Eingeborenen berührt hatte. Baker wusste nicht, dass das Berühren der Haare damals auf den Fidschiinseln eine besonders schlimme Beleidigung war. Ole fand die Geschichte lustig. Seitdem droht er jeden zu fressen, der ihm durch die Haare fahren will. Ich glaube nicht, dass er es wirklich ernst meint. Aber man weiß ja nie.
Vielleicht sollte ich ihm lieber zum Trost ein Karamellbonbon anbieten und ihm sagen, wie stolz ich auf ihn bin. Egal, ob er einen Schatz findet oder nicht. Aber leider geht das nicht. Nie wieder. Denn ich bin tot.
Tot sein ist nicht schlimm. Ich habe ein langes glückliches Leben gehabt und den besten Enkelsohn, den man sich wünschen kann. Wir lagen auf einer Wellenlänge, wie man so sagt. Wir waren seelenverwandt, ein Zweiergespann, Ole und ich. Jetzt gibt es nur noch Ole, einen einsamen Ole in einem schrecklichen dunklen Beerdigungsanzug, der viel zu groß ist für einen so zierlichen Jungen.
Vor ihm, über den Boden verteilt, liegen die Reste unserer gemeinsamen Arbeit: unsere Notizen und natürlich das Tagebuch mit der Schatzkarte. Vierzig Jahre habe ich nach dieser Karte gesucht, bis Ole vor zwei Wochen zufällig das Versteck fand. Er wollte sich natürlich sofort auf die große Suche machen. Aber als Opa musste ich der Vernünftigere von uns beiden sein. Das erwarteten die Erwachsenen von mir. Also habe ich ihn auf die Sommerferien vertröstet. Hätte ich gewusst, dass…
Ach, am besten erzähle ich die ganze Geschichte von Anfang an. Sie beginnt mit dem Tag, als der neue Kaplan zu uns ins Dorf kam, der Tag, an dem Ole die Schatzkarte fand.
»Hefte raus, Klassenarbeit!«, ruft Frau Maier durch den üblichen Tumult. Mit einem Schlag ist es mucksmäuschenstill. »Gut, geht doch!«, sagt sie schmunzelnd. »Bevor es losgeht, möchte ich euch India-Chandra Schröder vorstellen. India-Chandra ist neu zugezogen und wird ab sofort in eure Klasse gehen. Ihre Mutter eröffnet hier in Mirafelden ein Yoga-Studio.«
Frau Maier deutet auf ein Mädchen mit langen hellbraunen Haaren in einem lilafarbenen Kleid, das ihr bis auf die Füße reicht. Unter dem Saum lugen zehn nackte Zehen hervor, die mit grellblauem Nagellack bemalt sind.
»Ey, gibt’s da, wo du herkommst, keine Schuhe?«, brüllt der starke Patrick. Er ist ein Jahr älter als die anderen und sehr cool. Er wirft mit einer geschickten Bewegung seine langen Ponyfransen aus der Stirn und schaut die Neue spöttisch an. Der Rest der Klasse lacht.
»Dafür hatten sie da zu viel Blau«, flüstert Marvin und deutet mit einem Nicken auf die leuchtenden Zehnägel des Mädchens.
Sein Zwillingsbruder Rufus verschluckt sich fast vor Lachen an seinem Kaugummi. Vielleicht hat auch Rufus gelästert und Marvin gekaut. Für Ole sehen die Brinkmann-Zwillinge vollkommen gleich aus, wie zwei sommersprossige Pfannkuchen mit blonden Locken. Weiß der Himmel, was die Mädchen an ihnen finden.
Die Neue mit dem komischen Namen tut Ole leid. Aber sie scheint sich nicht weiter an den Kommentaren zu stören. Mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen mustert sie Patrick von oben bis unten. Ihr Blick bleibt an Patricks Turnschuhen hängen.
»Immerhin mussten für meine Schuhe keine Kinder in stinkigen Fabriken schuften«, erwidert sie ruhig.
Ole hat keine Ahnung, was sie damit meint, und auch Patrick glotzt sie nur blöde an. Das ist neu. Ole kann sich nicht daran erinnern, dass irgendjemand oder irgendetwas Patrick jemals zuvor die Sprache verschlagen hat.
Frau Maier, die das Wortgefecht geflissentlich überhört hat, bugsiert das Mädchen in die Leseecke und wendet sich wieder ihrem ursprünglichen Thema zu. »Für die Arbeit tauscht Rufus bitte den Platz mit Lisa.«
Lisa Schmelig, ein Mädchen mit blonden Engelslocken und honigsüßem Lächeln, steht auf. Mit einem abfälligen Blick auf die blauen Fußnägel schiebt sie sich an der Neuen vorbei und lässt sich kerzengerade auf den Platz neben Marvin sinken.
»Und Patrick kommt nach vorne in die erste Reihe«, fährt Frau Maier fort.
»Mann, Frau Maier«, mault Patrick. »Ich setz mich doch nicht neben diesen kleinen Spinner. Was, wenn das ansteckend ist?«
Alle lachen. Es ist offensichtlich, wen Patrick meint, denn es gibt nur noch einen freien Platz in der ersten Reihe, und der ist direkt neben Ole.
»Patrick Hellrot, sei nicht albern!«, erwidert Frau Maier unbarmherzig. »Es würde dir nicht schaden, wenn du dir ein bisschen von Ole abgucken würdest.«
Mit diesen Worten tätschelt sie Ole die Schultern. Das ist peinlich. Ole versucht sich auf seinem Stuhl ganz klein zu machen. Er fühlt, wie er rot wird. Bestimmt hat er schon die Farbe einer überreifen Tomate.
»Ey, Ketchup-Gesicht, mach mal Platz«, schnauzt Patrick und macht sich neben ihm breit. Um ein bisschen Raum zu haben, baut Ole aus zwei Büchern eine kleine Wand auf dem Tisch zwischen sich und Patrick auf. Hoffentlich teilt Frau Maier endlich die Hefte aus, damit Patrick sich mit etwas anderem beschäftigen kann.
Endlich geht es los, und Frau Maier verkündet das Thema: »Die rechte Hand des heiligen Nikolaus. Mirafelden vor dem Zweiten Weltkrieg.«
Toll, das ist Oles Welt. Er muss nicht einmal nachdenken. Ohne Umschweife schreibt er los. »Vor langer Zeit war Mirafelden ein berühmter Wallfahrtsort. Menschen aus der ganzen Welt kamen hierher, um eine seltene Reliquie zu bestaunen. Reliquien sind Knochen von Heiligen, die vor langer Zeit gelebt haben. In Mirafelden war aber nicht irgendeine Reliquie, wir in Mirafelden hatten etwas viel Besseres. In unserer Kirche stand die ganze rechte Hand des heiligen Nikolaus. Die Knochen waren eingegossen in eine goldene Statue. Aber im Zweiten Weltkrieg verschwand ihr rechter Arm, also der, in dessen Hand die Knochen waren. Theo Baumgart, der damals in Mirafelden Pastor war, hatte den Arm mit einer Axt abgehackt. Einige Leute sagten, er hätte ihn gestohlen, schließlich war der Arm aus purem Gold. Aber in Wirklichkeit versteckte er ihn vor Dieben irgendwo an einem sicheren Ort. Leider verschwand Theo, bevor er jemandem erklären konnte, wo das Versteck war. Vermutlich starb er im Krieg. Das ist schade, denn seitdem kommen kaum noch Besucher ins Dorf. Niemand will nur die kaputte Statue ohne die Reliquie sehen. Die Statue wurde bis heute nicht repariert, denn das Gold, das man für einen neuen Arm brauchen würde, wäre viel zu teuer. Aber noch viel wertvoller sind die alten Knochen. Wenn jemand die finden würde, hätte er einen Schatz von unschätzbarem Wert.«
Ole ist zufrieden. Er könnte noch viel mehr schreiben, denn Theo war niemand anderes als Opas Bruder. Und der Schatz… Aber er ist sich nicht ganz sicher, ob er sich auf Frau Maiers Verschwiegenheit verlassen kann. Außerdem schielt Patrick die ganze Zeit über die Büchermauer. Besser, er ist vorsichtig. Schnell klappt Ole sein Heft zu und gibt es ab.
Beinahe hätte er ihn übersehen. Nur weil plötzlich das Sonnenlicht seinen Weg durch die alten Bäume hinter der Schule fand, hat er ihn erkannt, ein echter Geotrupes stercorarius. Ole liegt flach auf dem Bauch, mitten auf dem Schulhof, und beobachtet, wie der kleine Mistkäfer eine dicke Kugel vor sich herschiebt. Sein Panzer schillert bläulich schwarz. Vorsichtig stupst Ole den Käfer mit dem Zeigefinger an – und zieht gerade noch rechtzeitig die Hand weg, bevor ein großer Turnschuh den Käfer platt tritt. Der Schuh gehört zum starken Patrick.
»Mann, das war ein echter Geotrupes stercorarius!«, schreit Ole.
»Geo du mich auch!«, kreischt Marvin. Vielleicht ist es auch Rufus.
»Im alten Ägypten war der Mistkäfer ein Symbol für Tod und Wiedergeburt«, erklärt Ole.
»Tod!«, brüllt Patrick. »Da sind wir ja beim Thema!« Mit großer Geste schlägt er seine rechte Faust in die linke Hand. »Jetzt gibt’s Streberkeile.« Er lacht höhnisch.
Marvin und Rufus packen Ole an den Schultern und hieven ihn unsanft auf die Beine.
»Nicht abschreiben lassen, hä?«
Patricks Gesicht ist jetzt ganz nah vor Oles. Er kann seinen Atem riechen, er riecht nach Leberwurst.
»Erst ’ne Klasse überspringen, und dann keine so…so…soziale Verantwortung zeigen.«
Ole merkt, dass die Wörter »soziale Verantwortung« Patrick schwer über die Lippen gehen.
»Wer nicht selber lernt, der bringt es zu nichts«, erklärt Ole. Das sagt sein Papa auch immer.
Ein paar umstehende Mädchen kichern. Das treibt Patrick nur noch mehr an.
»Süßes oder Saures für den Klugscheißer?«, fragt er mit einem überlegenen Blick in die Menge.
»Ach lass ihn, der scheißt sich ja jetzt schon in seine Teddybär-Unterhosen«, frotzelt Rufus. Oder ist es Marvin?
Aber Patrick ist nicht mehr zu bremsen. Mit einem fiesen Grinsen schnappt er sich Oles Ranzen und rennt los.
»He, wo willst du hin?«, brüllt Rufus ihm hinterher.
Aber Marvin grinst nur. »Auf zur Dorfeiche!«, fordert er die Menge auf.
Rufus, Marvin und die Mädchen rennen Patrick johlend hinterher. Als schließlich auch Ole an der Dorfeiche ankommt, baumelt sein Ranzen oben in den höchsten Zweigen des alten Baums. Ein Fernglas hängt heraus, und langsam, ganz langsam schiebt sich noch etwas anderes aus der Seitentasche und segelt wie eine Feder herab. Bevor es den Boden erreicht, fängt Patrick es geschickt auf, wirft einen kurzen Blick auf das Papier in seiner Hand und krümmt sich vor Lachen. Ole weiß, was es ist. Am liebsten würde er jetzt im Boden versinken, aber er steht einfach nur da.
»Lass uns auch mal!«, brüllen Marvin und Rufus. Prustend und sich die Bäuche haltend reichen sie etwas, das aussieht wie ein Foto, an die Mädchen weiter, die prompt in wildes Gekicher ausbrechen.
»Baby-Indiana-Jones und sein verrückter Großvater!«, kreischt Lisa.
Marvin und Rufus wollen gerade die ersten Töne eines gemeinen Spottlieds trällern, als ein lauter Knall ihre Stimmen verschluckt. Der Knall kommt aus Richtung der Hauptstraße und wird vom tiefen Röhren eines Motors begleitet. Ein roter Sportwagen biegt schwungvoll um die enge Kurve. Am Steuer des Cabrios sitzt ein schwarz gekleideter Mann mit perfekt gestylter Frisur und modischer Sonnenbrille. Er parkt den Wagen mit quietschenden Reifen vor der Dorfkirche und steigt aus. Mit einem Lächeln wie aus einer Zahnpasta-Reklame winkt er den Kindern zu, als ein rockiger Klingelton einen Anruf auf seinem Handy ankündigt. Der Fremde zückt sein in der Sonne funkelndes Gerät und wirft einen Blick auf das Display. Sein Zahnpasta-Lächeln ist plötzlich wie weggeputzt.
»Mann, wer ist das?«, flüstert Patrick. Offensichtlich hat ihn der Auftritt des Fremden schwer beeindruckt.
»Das wird der neue Kaplan sein, Kaplan Beelzig.« Lisa ist wie immer bestens informiert. Ihre Mutter, Frau Schmelig, arbeitet im Pfarrbüro, wo sie seit Jahren über den gesamten Klatsch und Tratsch des Dorfes herrscht. »Ich muss sofort meiner Mutter erzählen, dass er angekommen ist!«, ruft sie und rennt los.
Die anderen Kinder folgen ihr oder machen sich ebenfalls auf den Heimweg. Während alle auseinanderströmen, nimmt das kleine Papier aus Oles Ranzen seinen unterbrochenen Flug wieder auf und gleitet sanft auf den staubigen Boden.
Ole hebt es auf. Es ist ein Foto von Opa und ihm. Es zeigt sie in ihren selbst gebastelten Abenteueruniformen vor dem Kirchenportal, ausgestattet mit Hut, Kompass, Seil und Hacke.
»Da wirst du wohl raufmüssen«, sagt eine Stimme. Sie gehört dem Mädchen mit dem komischen Namen. Sie hat ihre braun gebrannten Arme vor dem lila wallenden Kleid verschränkt und betrachtet Ole abschätzend. »Oder traust du dich nicht?«
Klar traut sich Ole. Es wäre nur einfacher, wenn seine Knie nicht so schlottern würden wie Pappeln in einem Orkan.
Betont entspannt schlendert er zum Stamm. Was soll schon passieren? Wenn Patrick da raufkommt, kann er es auch. Oder? Das klingt logisch. Auf der anderen Seite kann Patrick auch super Fußball spielen. Ole hingegen wird immer als Letzter in die Mannschaften gewählt, noch nach den Mädchen. Er hasst Fußball und nicht nur Fußball, sondern alle Sportarten. Klettern sogar ganz besonders.
»Vielleicht hast du Höhenangst«, überlegt das Mädchen laut. »Es gibt viele Menschen, die unter Höhenangst leiden. Die meisten haben ein Trauma aus ihrer Kindheit, weißt du? Auf der anderen Seite, was kann dir hier, in einem Dorf am Ende der Welt, schon Schlimmes passiert sein?«
Mann, die gibt ja überhaupt keine Ruhe. Bevor sich noch irgendwelche Zweifel den Weg in Oles Gedanken erschleichen, schlingt er entschlossen seine Arme um den untersten Ast und zieht sich daran hoch. Es sieht bestimmt nicht sehr elegant aus, aber alles in allem geht es einfacher, als er dachte.
Vorsichtig schiebt er sich langsam höher. Unter seinen Füßen wackeln die Äste. Aber Ole bemüht sich tapfer, weiterzuklettern. »Bleib ganz ruhig«, flüstert er sich selbst zu. Das hilft. Er ist schon ziemlich weit gekommen und fühlt sich wie ein einsamer Eroberer, ein Held wie Edmund Hillary, der als erster Mensch den Mount Everest bestieg. Das ist gut.
Unten plappert das Mädchen. Aber hier oben wird ihre Stimme durch die vielen Blätter gedämpft. Bevor Ole sich’s versieht, hat er tatsächlich noch ein paar weitere Äste erklommen, immer auf den nächsten Schritt konzentriert. Nur nicht nach unten gucken.
Es ist heiß. Obwohl die Blätter eigentlich Schatten spenden sollten, läuft ihm der Schweiß von der Stirn und rinnt direkt in seine Augen. Auf dem Mount Everest wäre es jetzt kühl. Aber hier oben, in der Krone von Mirafeldens Dorfeiche, braucht Ole dringend eine Pause. Von dem Ast aus, auf dem er gerade steht, kann er genau durch die Kirchenfenster gucken. Wenn er sich ganz vorsichtig hinsetzt, kann er vielleicht einen Moment verschnaufen und Pfarrer Göttlich zuschauen.
Gegenüber in der Kirche führt Pfarrer Göttlich den neuen Kaplan gerade durch das Hauptschiff. Ole kann sehen, wie sie vor der Statue des heiligen Nikolaus anhalten und den abgehackten Arm betrachten. Kaplan Beelzig fährt vorsichtig mit dem Finger über die scharfe Kante, wo der rechte Arm jetzt fehlt.
Ole hat genug verschnauft. Mit seinen schmutzigen Händen versucht er, sich den Schweiß aus den Augen zu wischen – und stößt dabei an seine Brille. Sie rutscht über die verschwitzte Nase, über die Nasenspitze und herunter. Nein! Hastig versucht Ole sie zu halten, sie im Fallen abzufangen, aber seine Finger greifen ins Leere. Die Brille ist weg. Den Geräuschen nach saust sie durch die Blätter nach unten, wobei sie auf dem Weg den ein oder anderen Zweig streift.
»So ein Mist!«, brüllt Ole und verliert beinahe selbst das Gleichgewicht. Erst in letzter Sekunde kann er sich gerade noch am Stamm festhalten, sonst wäre auch er abgestürzt, der Brille hinterher.
»Mach dir keine Sorgen. Ich hab sie!«, ruft eine Stimme hinauf. Es ist wieder dieses nervige Mädchen. »Sie ist nur ein wenig verkratzt. Ich glaube, du kannst sie noch benutzen.«
Haha. Die ist lustig. Ohne Brille ist Ole praktisch blind. Alles schwimmt vor seinen Augen. Vorsichtig versucht er, nach unten zu blinzeln. Aber dort gähnt nur ein verschwommener Abgrund mit einem verwaschenen lila Fleck. Und der dreht sich. Ole ist schwindelig. Ihm wird speiübel. Kalter Schweiß bildet dicke Perlen auf seiner Stirn. Sein Herz flattert wie ein Vogelschwarm. Ole presst die Augen fest zusammen. Jetzt hilft nur noch ein Wunder.
Das Wunder lässt nicht lange auf sich warten. Eine tiefe und sehr beruhigende Stimme schleicht sich in Oles Ohr. Auch wenn er die einzelnen Worte nicht versteht, tönt der tiefe Ton von Pfarrer Göttlich bis herauf zu Oles Ast. Er scheint mit diesem Mädchen zu sprechen. Ole spürt einen Anflug von Hoffnung. Vielleicht kann Pfarrer Göttlich die lange Leiter aus der Kirche holen. Wenn Ole Glück hat, schafft er es vielleicht noch rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause, bevor jemand etwas merkt und Mama sich wieder Sorgen macht.
Doch die Leiter ist leider viel zu kurz.
Tatütata, tatütata, tatütata. Froh, in dem verschlafenen Nest endlich gebraucht zu werden, rückt der gesamte erste Zug der Freiwilligen Feuerwehr Mirafelden aus. Wer es nicht mehr rechtzeitig zur Wache geschafft hat, rennt direkt zum Dorfplatz, wo sich bereits eine beachtliche Menschenmenge unter der alten Eiche versammelt hat.
Feuerwehrmann Martin, ein braun gebrannter Naturbursche von etwa zwanzig Jahren, drängt sich durch die Schaulustigen. Im Laufen zieht er seine Jacke an, erteilt aber schon Anweisungen. »Paule, stell den Wagen weiter drüben ab. Ja, so ist’s besser!«, brüllt er, während er sich die Knöpfe zuknöpft. »Leiter raus, schnell.« Martin ist ganz in seinem Element. »Höher! Geht’s nicht noch ein Stück, Jungs? Das wäre doch gelacht.«
Frau Hellrot, ein in die Jahre gekommenes und auffallend blondes Dorfmädchen, steht mitten in der Menge. »Das ist unser Martin, dein großer Bruder«, erklärt sie Patrick überflüssigerweise und reckt sich vor Stolz.
Ole hört die aufgeregten Stimmen. Er kann sich bestens vorstellen, was unter ihm los ist. Sehen kann er zum Glück nichts. Am liebsten würde er gar nicht mehr hinunterkommen. Opa könnte ihm jeden Tag ein paar Scheiben Brot mit dem ferngesteuerten Hubschrauber hinauffliegen. So könnte er es ein bis zwei Wochen hier oben aushalten oder zumindest so lange, bis Opa einen Flaschenzug konstruiert hätte, um Ole nachts, wenn keiner zuguckt, heimlich hinunterzulassen. Das wäre bestimmt tausendmal besser, als jetzt mit der Feuerwehr geholt zu werden, während das gesamte Dorf die Aktion live verfolgt. Ole kneift die Augen zusammen. Vielleicht ist alles nur ein böser Traum, aus dem er gleich erwacht. Leider ist es kein Traum.
Mit sportlichem Tritt erklimmt Martin die Leitersprossen. »So, da wäre ich«, erklärt er plötzlich direkt vor Ole. »Die Feuerwehr, dein Freund und Helfer in jeder Not. Kannst du alleine die Leiter runterklettern?«
Ole versucht, die Augen zu öffnen. Er will antworten, bekommt aber keinen Ton aus seiner trockenen Kehle. Stattdessen nickt er stumm, doch offensichtlich nicht überzeugend genug. Denn schon spürt er zwei kräftige Hände, die sich um seine Taille schlingen.
»Kein Problem, ich trag dich«, entscheidet Martin.
Ole fühlt sich fürchterlich, aber keine Minute später spürt er immerhin wieder festen Boden unter seinen zittrigen Beinen. Um ihn herum steht die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes. Ole will nur noch weg, am besten zu Opa, in seine Werkstatt. Da ist die Welt in Ordnung. Doch er hat keine Chance, unzählige Beine und Bäuche bilden eine dichte, undurchdringliche Wand und versperren den Weg.
Irgendwo hinter dieser Wand erklingt Pfarrer Göttlichs tiefer Bariton. »Macht Platz für die Mutter«, dröhnt er durch die Menge.