Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung - Klaus Sarimski - E-Book

Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung E-Book

Klaus Sarimski

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Beschreibung

Familienorientierung und Lebensweltbezug gelten in der Frühförderung von Kindern mit Behinderung seit längerem als handlungsleitende Konzepte. Beziehungen zwischen Eltern und Kind sollen unterstützt und die Ressourcen der Eltern gestärkt werden. Wie gelingt es jedoch, familienorientierte Prinzipien konsequent in die Praxis zu übertragen? Die erfahrenen Autoren stellen die Erfolgsbedingungen einer Frühförderung in und mit der Familie dar. Dabei gehen sie auf die besondere Situation der betroffenen Familien ein, nennen spezifische Herausforderungen und arbeiten die wichtigsten Bausteine einer familienorientierten Frühförderpraxis heraus - von der Gestaltung des Erstgesprächs bis zum Ablauf eines Hausbesuchs. Mit vielen Fallbeispielen, Tipps und Checklisten!

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Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 17

Prof. Dr. Klaus Sarimski war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung an der PH Heidelberg.

Prof. Dr. Manfred Hintermair war bis 2016 Professor für Psychologie in der Fachrichtung Hörgeschädigtenpädagogik an der PH Heidelberg.

Prof. Dr. Markus Lang ist Professor für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik an der PH Heidelberg.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03067-5 (Print)

ISBN 978-3-497-61498-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61499-8 (EPUB)

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von © panthermedia.net – Robert Kneschke

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

1Familienorientierung im System der Frühförderung

1.1Aufgaben, Organisationsformen und Finanzierung von Frühförderung

1.2Entwicklung der Konzeption von Hilfen

1.3Wie ist dieses Buch aufgebaut?

2Die Situation von Familien mit behinderten Kindern im Kleinkindalter

2.1Die Bedeutung einer Behinderung für die Familien

2.2Die Belastungssituation von Familien

2.3Was Familien hilft, ihr Leben mit einem behinderten Kind zufriedenstellend zu gestalten

2.4Die besondere Rolle von Fachleuten und professionellen Hilfen für die Familien behinderter Kleinkinder

3Planung und Koordinierung der Frühfördermaßnahmen

3.1Ressourcen und Bedürfnisse der Familien

3.2Soziale Netzwerkkarte im Erstgespräch

3.3Familiärer Alltag als Kontext der Förderung

3.4Alltags- und Lebensweltorientierung in der Praxis

3.5Hausbesuch als Setting familienorientierter Förderung

3.6Videogestützte Interaktionsberatung

3.7Umgang mit Verhaltensproblemen

3.8Koordinierung der Frühfördermaßnahmen

4Kooperation zwischen Eltern und Fachkräften

4.1Partnerschaftliche Kommunikation mit den Eltern

4.2Einbeziehung der gesamten Familie

4.3Hindernisse für die Zusammenarbeit von Eltern und Fachkräften

5Eltern mit mehrfachen Belastungen

5.1Jugendliche Mütter

5.2Eltern mit psychischen Erkrankungen

5.3Eltern mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit

5.4Mehrfache Belastungen – komplexe Interventionen

6Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund

6.1Kinder mit Migrationshintergrund in Frühförderstellen

6.2Barrieren für die Inanspruchnahme von Hilfen und Zusammenarbeit

6.3Zur Bedeutung kulturspezifischer Haltungen und Einstellungen gegenüber Behinderungen

6.4Mögliche „Fallstricke“ in der Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund

6.5Heterogenität von Familien mit Migrationshintergrund

6.6Interkulturelle Kompetenz

6.7Verständigung mithilfe von Übersetzern

6.8Migration als soziale Benachteiligung oder familiäre Ressource?

7Familienorientierte Frühförderung in der Praxis – ein Ausblick

7.1Entwicklungsperspektiven der Frühförderung – „Kernaufgaben“ und „Kooperative Beiträge“

7.2Schnittstellen von Frühförderung, Frühpädagogik und Frühen Hilfen

7.3Ressourcen und Ausbildung

Literatur

Sachregister

1 Familienorientierung im System der Frühförderung

1.1 Aufgaben, Organisationsformen und Finanzierung von Frühförderung

Der Begriff der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder bezeichnet ein komplexes System früher Hilfen von der Geburt bis zum Schuleintritt. Es umfasst Diagnostik, Therapie und pädagogische Förderung der Kinder ebenso wie Beratung, Anleitung und Unterstützung der Eltern.

Einen entscheidenden Anstoß zum Aufbau von Frühfördereinrichtungen in den alten Bundesländern gaben die 1973 veröffentlichten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich ein weitgehend flächendeckendes Netz von Frühfördereinrichtungen im gesamten Bundesgebiet. Auch in der ehemaligen DDR existierten Strukturen früher Hilfen für Kinder mit Behinderungen, diese Hilfen wurden allerdings überwiegend in Krippen oder Kindergärten, seltener in den Familien selbst angeboten (Koch 1999). Derzeit existieren in Deutschland über 1000 regionale und überregionale Frühförderstellen sowie über 150 Sozialpädiatrische Zentren und vergleichbare klinische Einrichtungen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016).

Das heutige System der Frühförderung wurde mit der Einführung des SGB IX (Sozialgesetzbuch – neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei wurden Leistungen der medizinischen Rehabilitation und heilpädagogische Leistungen konzeptionell integriert und organisatorisch zu einer sogenannten Komplexleistung zusammengeführt.

■ „§ 30 (1) Die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung […] werden als Komplexleistung in Verbindung mit heilpädagogischen Leistungen (§ 56) erbracht.“

■ „§ 30 (2) Sie umfassen des Weiteren nichtärztliche therapeutische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten durch interdisziplinäre Frühförderstellen.“

Regionale Frühförderstellen sichern eine gemeinde- und familiennahe Grundversorgung für Kinder und deren Familien. Sie arbeiten sowohl mobil als auch ambulant. In Interdisziplinären Frühförderstellen (IFF) können Kinder direkt von ihren Eltern oder auf Veranlassung von Kinderärzten bzw. niedergelassenen Therapeuten, Psychologen oder Pädagogen vorgestellt werden. Im Rahmen einer interdisziplinären Diagnostik ist dort zu klären, ob das Ausmaß der Beeinträchtigung eine Frühförderung als Komplexleistung rechtfertigt; daraufhin ist in Kooperation von Ärzten und Pädagogen ein individueller Förder- und Behandlungsplan zu erstellen. Voraussetzung für die Finanzierung einer solchen Komplexleistung ist, dass sie von fachübergreifend arbeitenden Diensten und Einrichtungen durchgeführt wird.

Spezielle (überregionale) Frühförderstellen gibt es für blinde und sehbehinderte sowie für gehörlose und hörbehinderte Kinder. Sie sind in der Regel an entsprechende Förderschulen angegliedert und versorgen ein größeres Einzugsgebiet. In ihnen sind häufig Sonderpädagogen tätig, die spezifische Förderangebote für Kinder mit den genannten Behinderungen entwickeln und die Eltern beraten, wie sie den besonderen Bedürfnissen der Kinder mit Seh- oder Hörschädigungen gerecht werden können. Ergänzt werden diese Frühförderangebote durch Angebote sonderpädagogischer Beratungsstellen, die vor allem in Baden-Württemberg mobile und ambulante Hilfen für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungsformen anbieten. Auch diese Beratungsstellen sind an Förderschulen angegliedert.

Sozialpädiatrische Zentren sowie Fachabteilungen für Neuro- und Sozialpädiatrie an Kliniken sind überregional ausgerichtete Institutionen, die die Arbeit der wohnortnahen Frühförderstellen in besonders schwierig gelagerten Fällen in Diagnostik und Therapie unterstützen und ergänzen sollen. Sie sind ärztlich geleitet, verfügen über interdisziplinäre Teams und betreuen einen größeren Einzugsbereich. Sie sind ermächtigt, Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren zu behandeln. In einem Sozialpädiatrischen Zentrum können Kinder durch Überweisung von niedergelassenen Ärzten angemeldet werden. Niedergelassene Ärzte (vor allem Kinderärzte) sowie frei praktizierende Therapeuten, Psychologen und Heilpädagogen sind Kooperationspartner, mit denen Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren zusammenarbeiten. Sie bieten den Kindern und ihren Familien jedoch keine umfassende Betreuung an.

Da das Netz von Frühfördereinrichtungen ausgebaut werden konnte, ist die Zahl der betreuten Kinder seit 1980 erheblich gestiegen. Nach Schätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2016) liegt die Zahl der Kinder, die in Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren versorgt werden, bei ca. 112.000 (2,3% aller Kinder unter sieben Jahren).Nicht eingerechnet sind dabei Kinder, die in sonderpädagogischen Beratungsstellen betreut werden. Ihre Zahl liegt allein in Baden-Württemberg, dem Bundesland, in dem diese Beratungsstellen einen flächendeckenden Versorgungsauftrag für Kinder mit allen Formen von Behinderungen haben, nochmals bei über 40.000.

Die Finanzierung von Frühförderleistungen ist unterschiedlich geregelt. Personal- und Sachkosten sonderpädagogischer Beratungsstellen und überregionaler Frühförderstellen für Kinder mit Seh- oder Hörschädigung werden in vielen Bundesländern von den Kultusministerien getragen. Die Zuständigkeit und Kostenverteilung für Leistungen in Interdisziplinären Frühförderstellen wurden im Jahre 2001 durch die „Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ (FrühV) im Grundsatz vom Bundesgesetzgeber geregelt. Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 5 FrühV) werden von der Krankenkasse, heilpädagogische Leistungen (§ 6 FrühV) von der Sozial- bzw. Jugendhilfe (je nach Behinderungsart) übernommen. Allerdings wurden wichtige Aspekte wie die Regelungen zur Ermittlung von Leistungsentgelten, die Verfahren über die Beantragung von Leistungen, Vereinbarungen über Mindeststandards in der personellen Besetzung sowie die Finanzierung von „Overhead“- (z. B. Verwaltungs- und Koordinations-)Leistungen den Bundesländern überlassen. Die Rahmenvereinbarungen zur Umsetzung der Frühförderverordnung variieren von Bundesland zu Bundesland in erheblichem Maße. Durch die Vergütungsstrukturen werden die Leistungen der Frühförderstellen nicht ausreichend gedeckt, sodass viele Frühfördereinrichtungen unterfinanziert sind (Engel et al. 2012).

1.2 Entwicklung der Konzeption von Hilfen

In der Aufbauphase des Frühfördersystems wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Behinderung wesentlich mildern oder einer drohenden Behinderung vorbeugen zu können, umso größer sei, je öfter und je früher ein kleines Kind eine fachliche Förderung oder Behandlung erhält. Da die Ressourcen für eine flächendeckende intensive Versorgung durch Fachleute begrenzt waren, wurden Eltern angeleitet, als Ko-Therapeuten die von den Fachleuten entwickelten Programme zu Hause durchzuführen.

Die Realisierung dieses Konzeptes stieß auf vielfältige Probleme. So zeigte sich, dass viele Eltern angesichts ihrer alltäglichen Belastungen kaum in der Lage waren, zeitliche und persönliche Ressourcen für die Übernahme dieser Ko-Therapeuten-Aufgabe zu mobilisieren. Zudem erlebten sie den Konflikt zwischen dieser Rolle und ihren primären Aufgaben als Eltern häufig als belastend. Langzeitstudien zum Verlauf der Entwicklung von Kindern mit bestehender oder drohender Behinderung belegten zudem, dass der Entwicklungsverlauf weniger von systematischen Förderprogrammen abhängt als von einer förderlichen Beziehung und Interaktion zwischen Kind und Eltern (Shonkoff et al. 1992; Hauser-Cram et al. 2001). Entwicklungsförderung gelingt, wenn die erwachsenen Bezugspersonen ihre Beziehung zum Kind so gestalten, dass seine Eigenaktivität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt angeregt wird und es – vor allem im gemeinsamen Spiel – Impulse erhält, die Entwicklungsfortschritte in der „Zone der nächsten Entwicklung“ selbst anzustoßen (Weiß 2005; Sarimski 2009).

Diese veränderte Sichtweise führte dazu, dass elterliche Bedürfnisse, Sorgen und Nöte stärker in den Blick der Fachleute gerieten. Das bedeutete, die Maßnahmen der Frühförderung nicht mehr allein auf die unmittelbare Förderung des Kindes, sondern auf die Unterstützung der Gesamtfamilie in ihrem sozialen Umfeld auszurichten. Der Begriff des „Empowerment“, der seit den 1990er Jahren in der Fachdiskussion sowohl im Bereich der Pädagogik für Menschen mit Behinderung als auch der Gesundheitspsychologie einen immer höheren Stellenwert erlangte, wurde zur handlungsleitenden Idee. Danach gilt es, Eltern entwicklungsgefährdeter Kinder anzuleiten, wie sie sich der eigenen Lebenssituation wieder „bemächtigen“ können. Familienorientierung, Lebensweltbezug und Netzwerkförderung wurden damit zu zentralen Aspekten der Konzeption (Weiß 2005).

Dass die Kooperation mit den Eltern ein integraler Bestandteil der Frühförderung ist, ist kein neuer Gedanke (Thurmair/Naggl 2010). Die Wirksamkeit der Frühförderung ist in hohem Maße davon abhängig, inwieweit es gelingt, die Eltern mit ins Boot zu holen und deren entwicklungsförderliche Ressourcen zu aktivieren und zu stärken. Dazu bedarf es einer Haltung, die die Eltern als Hauptbezugspersonen ihres Kindes wahrnimmt und wertschätzt, auch dann, wenn die Eltern große Probleme im Umgang mit dem Kind haben. Bei der gemeinsamen Erstellung des Förder- und Behandlungsplanes wird sichergestellt, dass die Fragen und Probleme der Eltern berücksichtigt werden. In der Zusammenarbeit soll neben der fachlichen Beratung zur Förderung des Kindes auch Raum für persönliche Fragen und Probleme der Eltern sein. Dies birgt aber auch Konfliktpotenzial, dessen Lösung eine hohe Professionalität der Fachkräfte erfordert (Höfer/Behringer 2009).

In der Praxis findet sich bei vielen Frühförderstellen ein differenziertes Angebot von Hilfen für die Familien. So wird in einigen Frühfördereinrichtungen die Begleitung in der Bewältigung der Behinderung sowie die Erziehungsberatung zur Stärkung des Familiensystems im Sinne eines familientherapeutischen Konzepts integriert (Retzlaff 2010). In anderen Einrichtungen hat die Netzwerkarbeit, z. B. in Form von Elterngruppenarbeit, einen hohen Stellenwert. Dies wird mit der Erwartung verknüpft, dass die Eltern der Kinder im Kontakt mit anderen betroffenen Eltern praktische und emotionale Unterstützung für die Bewältigung ihrer besonderen Lebenssituation finden. Immer mehr Frühförderstellen bieten ihren Mitarbeitern auch die Möglichkeit, sich im Rahmen von Fortbildungen Methoden der videogestützten Interaktionsberatung anzueignen und sie für die Unterstützung förderlicher Eltern-Kind-Beziehungen im Alltag zu nutzen. So geht es im Konzept der „Entwicklungspsychologischen Beratung“ (Ziegenhain et al. 2004) oder im „Marte-Meo-Konzept“ (Bünder et al. 2010) darum, die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind zu verbessern, die Eltern für die Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren und ihre Ressourcen zu stärken, problemgerechte Lösungen für alltägliche Herausforderungen zu finden.

Trotz dieser vielfältigen Ansätze lässt sich feststellen, dass die handlungsleitenden Ideen der Familienorientierung nicht überall konsequent zu Ende gedacht und in der alltäglichen Arbeit umgesetzt werden. Dafür sprechen die Ergebnisse verschiedener Befragungen von Eltern zu ihrer Zufriedenheit mit den Angeboten der Frühförderung (u. a. Speck/Peterander 1994; Chatelanat 2002; Lanners 2002; Pretis 2014, 2015). Auch wenn sich die Eltern selbst meist als zufrieden mit der Frühförderung schildern und in den Fachkräften einen verlässlichen Ansprechpartner finden (Pretis 2015), scheint sich die Beratung doch vorwiegend auf Fragen zur Förderung des Kindes zu beziehen. Erhebungen zur Arbeitssituation zeigen zusätzlich, dass die Fachkräfte für die Beratung der Eltern nur ein recht geringes Maß an Zeit einplanen. Nach einer Befragung durch Krause (2012) nimmt sich zwar die Mehrzahl der Pädagogen pro Kontakt 10 bis 15 Minuten Zeit für Gespräche mit den Eltern, fast die Hälfte der befragten Frühförderer gibt jedoch an, nur bis zu maximal zwei Stunden je halbes Jahr für Elterngespräche aufzubringen, die nicht unmittelbar im Kontext der Kindförderung stehen. Daraus schließen wir, dass ein Bedarf besteht, familienorientierte Förderung zu konzeptualisieren und die Fachkräfte mit konkreten fachlichen Empfehlungen für ihre Praxis zu versorgen. Die damit verbundenen Veränderungen der individuellen Arbeitsweisen können – so meinen wir – nicht nur zu einer größeren Zufriedenheit der Eltern, sondern auch zu einer größeren Zufriedenheit der Fachkräfte selbst mit ihrer beruflichen Tätigkeit beitragen.

Diese Einschätzung wird gestützt durch die Auswertung von Interviews mit 44 Fachkräften aus Frühförderstellen, die Sarimski et al. (2014) vornahmen. Bei grundsätzlich positiver Einstellung zur Familienorientierung zeigten sich erhebliche individuelle Unterschiede in der Praxis hinsichtlich der Orientierung an den familiären Bedürfnissen und der Unterstützung der Eltern bei der Förderung ihrer Kinder im Alltag. Kindbezogene Förderung und Beratung der Eltern wird als Spannungsfeld erlebt; Problemfelder zeigen sich v. a. darin, inwieweit Prioritäten der Eltern erfragt und gemeinsame Förderaktivitäten mit den Eltern gestaltet werden.

Wünschenswert wäre es, über die Ergebnisse von Befragungen von Eltern und Fachkräften hinaus einen fundierten Einblick in die Praxis zu gewinnen, z. B. durch direkte Beobachtungen des Geschehens in den einzelnen Förderstunden. Angesichts der Heterogenität der zu betreuenden Kinder und Familien in den verschiedenen Systemen der Frühförderung und der unterschiedlichen Rahmenbedingungen, ist es nicht verwunderlich, dass solche Arbeiten bislang weitgehend fehlen. Eine explorative Studie zur Praxis familienorientierter Arbeit in Frühförderstellen für sehbehinderte und blinde Kinder wurde von Sarimski und Lang (2018) vorgelegt. Es wurden Beobachtungsdaten erhoben zur Rolle der Fachkraft, zur Beteiligung der Eltern an den Förderaktivitäten, zu den Themen der Beratung, die im Rahmen der Förderstunden stattfindet, sowie zum Einsatz von familienorientierten Strategien im Vorgehen der Fachkräfte, um die aktive Beteiligung der Eltern an der Förderung zu stärken. Die Auswertung von 49 Frühförderstunden zeigte, dass die Fachkräfte etwa 50% der Zeit auf die direkte Förderung des Kindes verwendeten. Im Gespräch mit den Eltern wurden vor allem Fragen zur Förderung und zum Entwicklungsverlauf des Kindes thematisiert. Probleme der Erziehung und Belastungen der Eltern wurden in weniger als 10% der Beobachtungszeit behandelt. Ein Coaching der Eltern in entwicklungsförderlichen Interaktionsweisen konnte nur in etwa 7% der Zeit beobachtet werden.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu „Aufgabenfeldern in der heilpädagogischen Früherziehung“ in der Schweiz wurden 121 Fachkräfte nach ihrer Einschätzung verschiedener Aufgabenfelder hinsichtlich ihrer subjektiven Bedeutung und des dafür geschätzten Zeitaufwandes befragt. Zudem wurden sie gebeten, während fünf Arbeitstagen an acht zufällig ausgewählten Zeitpunkten pro Tag ihre aktuelle Arbeitstätigkeit zu protokollieren. Auf diese Weise ließ sich eine Beurteilung des effektiven Zeitaufwandes für die verschiedenen Arbeitsfelder vornehmen und mit den subjektiven Einschätzungen der Fachkräfte vergleichen (Lütolf et al. 2015). Im Rahmen der Datenanalyse konnten ca. 3800 Messzeitpunkte einbezogen werden. An 52% der Zeitpunkte waren die Fachkräfte im Aufgabenfeld „Förderung des Kindes“ tätig. Demgegenüber konnten 14% der Zeitpunkte dem Aufgabenfeld Elternberatung und -begleitung zugeordnet werden. Die tatsächliche Zeit, die für Elternberatung und -begleitung verwendet wurde, erwies sich damit als wesentlich geringer als erwartet. Die Fachkräfte hatten geschätzt, dass dieses Arbeitsfeld etwa 25% ihrer Tätigkeit ausmache.

Ähnliche Ergebnisse zeigten sich in Forschungsstudien in den USA, bei denen die Forscher die Möglichkeit hatten, Videoaufzeichnungen auszuwerten, die ihnen von den Fachkräften aus ihrer täglichen Praxis zur Verfügung gestellt wurden. Sie analysierten die zeitliche Verteilung der drei Hauptkomponenten der Frühförderung – 1. Förderung durch direkte Arbeit mit dem Kind, 2. Unterstützung von entwicklungsförderlichen Eltern-Kind-Interaktionen und 3. Beratung der Eltern zu den Fragen, die ihnen Sorgen bereiten – sowie die qualitativen Merkmale der Kommunikation zwischen den Fachkräften und den Eltern. Diese Studien zeigen zusammenfassend, dass das Geschehen während der Förderstunden ganz überwiegend von den Fachkräften gesteuert wird. Nur ein geringer Teil der gemeinsamen Zeit wird darauf verwendet, die Eltern-Kind-Interaktion zu beobachten und aktiv zu unterstützen und die Eltern zu beraten, wie sie die Förderung in ihren Alltag mit dem Kind integrieren und ihr Zutrauen in die eigene Kompetenz zur Bewältigung der vielfältigen Anforderungen stärken können (McBride/Peterson 1997; Roggman et al. 2001; Hebbeler/Gerlach-Downie 2002; Brady et al. 2004; Peters et al. 2004; Peterson et al. 2007; Campbell/Brooks Sawyer 2007, 2009; Salisbury et al. 2010; Basu et al. 2010). Auch diese Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass ein traditioneller, kindorientierter Ansatz der Förderung unverändert im Vordergrund zu stehen scheint.

In einem integrierten Konzept familienorientierter Frühförderung geht es nicht um eine einseitige Abkehr von kindorientierter Förderung zugunsten einer Ausrichtung der frühpädagogischen Arbeit allein auf die Beratung der Eltern und die Bedürfnisse der Familie. Selbstverständlich wird der Sonder- oder Sozialpädagoge, der Ergotherapeut, der Physiotherapeut oder der Sprachtherapeut auch weiterhin seine Aufgabe darin sehen, den Förderbedarf eines Kindes differenziert zu untersuchen und individuelle Förderangebote für das Kind auf der Grundlage seiner jeweiligen fachspezifischen Kompetenzen zu planen und durchzuführen. Es bedarf dazu spezifischer Fachkenntnisse über die durch die jeweilige Behinderung bedingten Besonderheiten der Entwicklung sowie effektiver Strategien der Förderung.

Eine Fachkraft in der Frühförderung blinder Kinder muss z. B. wissen, wie die Umgebung gestaltet werden sollte, damit sich das Kind in ihr orientieren kann, welche Kompetenzen aufgebaut werden müssen, um das fehlende Sehvermögen zu kompensieren. Eine Fachkraft in der Frühförderung hörgeschädigter Kinder muss wissen, wie Dialoge mit einem Kind gestaltet werden können, das auf ein Hörgerät oder ein Cochlea-Implantat angewiesen ist oder mit dem gebärdensprachlich kommuniziert wird. Eine Fachkraft in der Frühförderung von Kindern mit einer geistigen Behinderung muss wissen, wie Lern- und Verarbeitungsprozesse bei diesen Kindern erleichtert werden können.

Es geht jedoch immer darum, eine Balance zu finden zwischen einer fachspezifisch begründeten Förderung des Kindes und einer konsequenten Stärkung der elterlichen Bewältigungskräfte, sodass die Förderbedürfnisse des Kindes bestmöglich befriedigt werden, ohne die Möglichkeiten der Eltern und Familien zu übersteigen.

Tipp

Systematische und ausführliche Hinweise zur Frühförderung von hörgeschädigten Kindern finden sich in Hintermair/Sarimski (2014); zur Frühförderung blinder Kinder in Sarimski/Lang (2020) sowie zu einem breiten Spektrum von Förderschwerpunkten im „Handbuch interdisziplinäre Frühförderung“ (Sarimski 2017a).

1.3 Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Familien, in denen Kinder mit einer Behinderung aufwachsen, kommen auf ganz unterschiedliche Weise mit dieser besonderen Herausforderung zurecht. Es gibt mittlerweile eine Fülle von Forschungsarbeiten, die sich damit beschäftigen, welche Bedingungen dazu beitragen, dass eine Familie einen für sich zufriedenstellenden Weg findet, mit dieser Belastung umzugehen. Von diesen Eltern lässt sich für uns als Fachkräfte in der Frühförderung unendlich viel lernen. Wir haben versucht, die Forschungsergebnisse in einem ersten Teil so zusammenzufassen, dass der Leser einen Überblick über die bedeutsamen Einflussfaktoren gewinnt (Kap. 2). Im Anschluss daran beschreiben wir, wie familienorientierte Prinzipien vor dem Hintergrund dieses Wissens in der praktischen Zusammenarbeit konsequent umgesetzt werden können (Kap. 3 und 4).

Auch für Fachkräfte, die die Bedürfnisse des Kindes und der Eltern sehr sensibel wahrnehmen, kann diese Umsetzung spannungsvoll und konfliktreich sein. Z.B. dann, wenn die Eltern komplexen Belastungen in ihrer Lebensgestaltung ausgesetzt und deshalb für die Empfehlungen der Fachkraft schwer zu erreichen sind, oder wenn die Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund durch kulturspezifische Hindernisse erschwert wird. Wir haben diesen Problemen deshalb jeweils ein zusätzliches Kapitel gewidmet (Kap. 5 und 6). Im Schlusskapitel nehmen wir zur Rolle der familienorientierten Frühförderung im Kontext der Entwicklungsperspektiven des Systems Frühförderung Stellung. Diese Perspektiven lassen sich als Kernaufgaben und kooperative Beiträge (Weiß 2005) beschreiben (Kap. 7).

Abschließend sei erwähnt, dass wir auf die jeweilige Nennung der männlichen und weiblichen Bezeichnungen der Fachkräfte zugunsten der Lesbarkeit des Textes verzichtet haben; wenn von Fachkräften der Frühförderung, Mitarbeitern, Kollegen oder Übersetzern gesprochen wird, sind jeweils beide Geschlechter gemeint.

2 Die Situation von Familien mit behinderten Kindern im Kleinkindalter

Alle vorliegenden Studien zu Entwicklungsverläufen behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder belegen, wie sehr die Entwicklung sozialer, kognitiver und sprachlicher Kompetenzen der Kinder mit befriedigenden familiären Beziehungen in Zusammenhang steht und ihre Integration in die Gesellschaft beeinflusst (Bradley/Corwyn 2004; Collins et al. 2000; Guralnick 2011, 2019; Sarimski 2009, 2017a).

Eine familienorientierte Frühförderung setzt deshalb fundiertes Wissen über die Rolle und Aufgaben, die Familien beim Prozess der Behinderungsbewältigung zukommen, voraus. Dazu gehört es, zu verstehen, was es für Eltern bedeutet, wenn eine Behinderung bei ihrem Kind festgestellt wird und welche möglichen Belastungen und Lebenserschwernisse für sie damit verknüpft sein können. Wichtig ist es aber vor allem, den Eltern aufzuzeigen, welches Wissen mittlerweile durch viele Studien darüber vorhanden ist, was Familien mit behinderten Kindern hilft, ein zufriedenstellendes Leben führen zu können. Dabei spielt die Arbeit der professionellen Fachkräfte, die im Rahmen der existierenden Frühförderangebote die Familien ein Stück ihres Lebensweges begleiten, eine besondere Rolle. Hierbei haben sich immer deutlicher nicht allein auf die Behinderung des Kindes zugeschnittene Förderangebote, sondern eine auf die Bedürfnisse der ganzen Familie ausgerichtete Beratung und Unterstützung als hilfreich und effektiv erwiesen. Es zeigt sich, dass die Zufriedenheit der Eltern mit der Frühförderung in Zusammenhang steht mit der Qualität, Bedürfnisorientierung und Differenziertheit des vorhandenen Angebots.

Im Folgenden sollen deshalb bei der Beschreibung der Situation von Familien mit behinderten Kleinkindern an verschiedenen Stellen immer knapp zusammengefasst wesentliche Erkenntnisse einer Studie mit eingebunden werden, die sich mit Eltern geistig behinderter, hörgeschädigter und blinder bzw. sehbehinderter Kinder befasst. In dieser Studie wurden Eltern sehr junger Kinder aus einer gezielt familienorientierten Perspektive befragt, wie sie ihren Alltag erleben, welchen Belastungen sie sich ausgesetzt sehen, was ihnen hilft, diese Belastungen zu bewältigen und von welcher Seite sie welche Unterstützung bekommen, insbesondere welche Unterstützung sie von den professionellen Fachkräften erhalten, und wie sie damit zufrieden sind. Diese Studie wurde in den Jahren 2009 bis 2011 aus Mitteln der Pädagogischen Hochschule Heidelberg finanziert („Familienbedürfnisse und familienorientierte Beratung in der Frühförderung behinderter Kleinkinder – FamFrüh“). In einer Reihe publizierter Beiträge finden sich dazu genauere statistische Angaben und Analysen (Hintermair et al. 2011, 2012a, b; Lang et al. 2012; Sarimski et al. 2012a, b, c).

2.1 Die Bedeutung einer Behinderung für die Familien

Die Diagnose einer Behinderung trifft Eltern in der Regel unvorbereitet. Wenn nicht durch Ereignisse während der Schwangerschaft bzw. durch vorgeburtliche Diagnostik bereits Verdachtsmomente aufkommen, gehen Eltern davon aus, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringen. Entsprechend intensiv sind die Gedanken und Gefühle, die Eltern nach der Diagnosestellung bewegen. Äußerungen von Eltern zeigen die Dramatik des Ereignisses. So die Aussage einer Mutter, nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Kind gehörlos sei: „Mein Gehirn arbeitet noch. Aber meine Seele ist in tausend Stücke zersprungen“ (zitiert nach GIB ZEIT 1999, 13). Die Äußerungen von Müttern, die Kinder mit anderen Behinderungen haben, gehen in die gleiche Richtung: „Diese Diagnose war für mich wie ein Todesurteil […]“; „Die Mitteilung der Diagnose war für uns ein Weltuntergang […]“; „Die ersten acht Wochen nach Mitteilung der Diagnose waren für mich wie ein Albtraum“ (zitiert nach Sarimski 2012a, 16f.)

Die Ängste und Sorgen der Eltern sind vielfältiger Natur. Die Eltern merken sehr schnell, dass mit dieser Diagnose weitaus mehr verbunden ist als nur die Sorge um das Kind und seine Entwicklung. Was sie über kurz oder lang feststellen, sind zum Teil drastische Veränderungen in der Gestaltung ihres Alltags und ihrer Lebensentwürfe. Die Welt hat sich von einem auf den anderen Tag grundlegend in ihren Wertigkeiten und in ihren Erfordernissen verändert, mögliche Probleme tun sich oft gleichzeitig an verschiedenen Fronten auf. Die eigene psychische Not findet häufig nicht gleich die erwünschte Resonanz im engsten familiären Kreis, der Partner oder die Partnerin müssen selbst erst ihr Leben neu ordnen und können am Anfang nicht immer gleich den erhofften Rückhalt geben. Das familiäre Umfeld verhält sich in ungewohnter Weise, da es ebenfalls selbst nicht recht weiß, wie mit der neuen Situation umzugehen ist, die Reaktionen von Freunden und Bekannten bleiben vielfach unberechenbar, Beziehungen brechen ab. Die eigene Zukunft und die des Kindes werden als unsicher wahrgenommen, nichts scheint über den nächsten Tag hinaus planbar und vor allem vorstellbar zu sein. Oft sind auch die Kontakte zu den Fachleuten nicht zufriedenstellend und lassen viele Eltern verzweifelt, ratlos und enttäuscht zurück.

Ohne hier ein zu negatives Bild der Situation malen zu wollen: Wer Elternberichte von der Anfangszeit mit der Behinderung eines Kindes liest, findet solche Probleme immer wieder genannt (Eckert 2002; Hintermair/Hülser 2004; Walthes et al. 1994). Es zeigt sich auf jeden Fall: Die Behinderung eines Kindes greift tief in das Leben der betroffenen Familien ein und wird zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der eigenen zukünftigen Lebensplanungen. So kann die Situation von Eltern eines Kindes mit Behinderung nach der Diagnosestellung recht gut mit dem Begriff des sog. „kritischen Lebensereignisses“ gefasst werden, der in der Literatur beschrieben wird (Fillipp/Aymanns, 2009). Wer mit einem solchen Ereignis konfrontiert wird, sieht sich einer Situation ausgesetzt, die ihn zum einen relativ unvorbereitet, also mehr oder weniger wie aus heiterem Himmel, trifft, die ihm zum anderen emotionale Anstrengungen abverlangt, um seine aus dem Gleichgewicht geratene innere Balance wiederfinden zu können; einer Situation, die ihn schließlich auch dazu herausfordert, die Koordinaten seines Lebens neu zu justieren und neue Lebensperspektiven unter veränderten Voraussetzungen zu finden. Kritisches Lebensereignis heißt aber eben „kritisch“ und nicht „aussichtslos“; der Begriff konnotiert somit, dass der Ausgang offen ist und demnach in vielfältiger Weise beeinflusst werden kann. Das ist die große Chance und gleichzeitig die große Herausforderung für eine familienorientierte Frühförderung.

Das kritische Lebensereignis „Behinderung“ trifft alle Menschen in vergleichbarer Weise und bedeutet einen massiven Eingriff in ihre alltägliche Lebensführung. Die Integration der Behinderung ihres Kindes in ihr Lebenskonzept und mithin in ihren Alltag, das ist es, was Eltern leisten müssen (Hintermair 2007).

Bei dieser Bewältigungsarbeit stellen Eltern oft fest, dass in der Gesellschaft bestimmte kulturelle und soziale Einstellungs- und Handlungsmuster anzutreffen sind, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben und in der Begegnung mit konkreten Personen wie auch Institutionen sichtbar werden. Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften bereits die Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung positiv verändert haben, ist hier, gerade auch durch Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 in Deutschland, nochmals ein deutlicher Wandel dahin gehend zu erhoffen, dass Menschen mit Behinderungen vor allem in ihren Besonderheiten und weniger in ihren Defiziten wahrgenommen werden.

Die große Aufgabe, die für die Familien in der Zeit nach der Diagnosestellung ansteht, ist die Neuordnung ihres alltäglichen Lebens: Dabei geht es vorwiegend darum, das eigene Leben und das der ganzen Familie unter veränderten Bedingungen positiv in die Zukunft hinein zu gestalten. Entsprechend kommt den Fachleuten aus einer familienorientierten Perspektive die anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe zu, Unterstützung anzubieten, die eben nicht nur das Kind mit Behinderung, sondern die ganze Familie und deren Umfeld im Auge behält.

Dass den Familien eine Neuorientierung gelingen kann, zeigen Aussagen von Eltern älterer Kinder mit einer Behinderung, die sichtbar machen, dass eine zufriedenstellende Lebensführung mit einem Kind mit einer Behinderung in jeder Hinsicht möglich ist (Miller 1998). Dabei geht es nicht darum, das Ziel „Akzeptanz der Behinderung“ so zu verstehen, dass die Behinderung des Kindes irgendwann „nicht mehr weh tut“, sondern dass die Familie Möglichkeiten findet und entdeckt, sich ihr Leben mit ihrem behinderten Kind so einzurichten, dass es ein erfülltes und zufriedenstellendes Leben ist.

Emily Perl Kingsley, Mutter eines Kindes mit Trisomie 21, hat diese Veränderungen, die zu bewältigen sind, in einem mittlerweile vielfach zitierten Brief im Internet beschrieben (Kingsley 1987). Die Geschichte lautet „Willkommen in Holland“. Emily Perl Kingsley erzählt darin von ihren Erfahrungen im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes, indem sie den Ereignissen und ihren Gefühlen in Metaphern Ausdruck gibt: Sie hatte sich, wie alle Mütter, ursprünglich auf eine Reise nach Italien vorbereitet. Italien, das Land, wo alle hinwollen, die einen Urlaub an der Sonne verbringen möchten (= der Wunsch nach einem Kind ohne Behinderung). Während des Fluges gab es jedoch eine Flugplanänderung, die dazu führte, dass das Flugzeug in Holland landen musste (= bei dem Kind wird eine Behinderung festgestellt). Die Mutter wehrte sich anfänglich dagegen, in Holland bleiben zu müssen, fing dann aber an, sich mit Holland anzufreunden (= sich auf die Behinderung einzustellen). Sie stellte für sich – und stellvertretend für viele andere Betroffene – fest, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt: „Ihr geht also wieder los und kauft euch einige neue Reiseführer, ihr lernt neue Redewendungen und ihr trefft Menschen, von denen ihr gar nicht gewusst habt, dass es sie gibt. Der wichtige Punkt ist, dass ihr nicht in einer schmutzigen, abscheulichen Gegend seid, wo Pest, Hunger und Krankheiten herrschen. Ihr seid einfach nur in einer anderen Gegend als ihr geplant habt. Es geht hier langsamer zu als in Italien, weniger spritzig als in Italien, aber nachdem ihr dort eine Weile gelebt habt und wieder Luft holen konntet, entdeckt ihr allmählich, dass Holland Windmühlen hat. Holland hat Tulpen, Holland hat Rembrandts“ (zitiert nach GIB ZEIT 2001, 19f.).

Übertragen auf die Aufgaben einer familienorientierten Frühförderung, ergibt sich daraus eine Reihe von Fragen, auf die gemeinsam in der praktischen Arbeit mit den Familien Antworten gefunden werden müssen:

■Was wissen wir über die inneren Prozesse, die bei den Eltern ablaufen, nachdem sie in Holland gelandet sind?

■Was wissen wir darüber, welche Hilfen Eltern möglicherweise in besonderem Maße brauchen, um Holland attraktiv zu finden und nicht ein Leben lang Italien nachzutrauern?

■Was wissen wir über die Kompetenzen, die Eltern vielleicht bereits mitbringen, um auch ein Leben in Holland zufriedenstellend gestalten zu können?

■Wie können Eltern diese Kompetenzen gewinnbringend in die Beziehungsgestaltung mit ihrem behinderten Kind einbringen?

Ein familienorientiertes Vorgehen in der Frühberatung versucht, genau auf all diese Fragen gemeinsam mit den Eltern Antworten zu finden; man sollte versuchen, auszuloten, wie man Holland näher kennenlernen und schön finden kann und erkennen, dass später Aufenthalte sowohl in Italien als auch in Holland möglich sind.

In der FamFrüh-Studie (Projekt „Familienbedürfnisse und familienorientierte Beratung in der Frühförderung behinderter Kleinkinder“) wurde der Frage nachgegangen, über welche persönlichen Kompetenzen Eltern behinderter Kleinkinder verfügen, welche Unterstützung sie erfahren und welche Rolle dies für die Beziehung zu ihrem Kind sowie für die Familie spielt. Weiter wurde die Qualität des Frühförderangebots, das die Eltern zum Zeitpunkt der Befragung erhalten, überprüft, und welchen Stellenwert dies für das elterliche Belastungserleben hat. Ebenso wurden Kompetenzen und Verhaltensprobleme der Kinder erfasst.

125 Eltern füllten einen umfangreichen Fragebogen aus, 87 von ihnen konnten auch ein Jahr später nochmals für eine zweite Befragung gewonnen werden, um mögliche Veränderungen festzustellen. Bei der Erstbefragung waren 66 Eltern von Kindern mit einer geistigen Behinderung, 37 Eltern von Kindern mit einer Hörschädigung sowie 22 Eltern blinder bzw. sehbehinderter Kinder beteiligt, das mittlere Alter der Kinder lag zu diesem Befragungszeitpunkt bei 2,6 Jahren.

Inhaltlich wurden Informationen zu folgenden Bereichen erhoben:

■Elterliches Belastungserleben: Hier wurde ein Fragebogen verwendet, der konkret Belastungen der Eltern-Kind-Interaktion im Alltag erfasst. Weiter kam ein Fragebogen zur Anwendung, der nach familiären Belastungen (alltäglichen Belastungen, Zukunftssorgen, finanziellen Belastungen, Problemen in der Partnerschaft) fragte.

■Elterliche Kompetenzen: Um allgemein in Erfahrung zu bringen, wie stark Eltern sich selbst einschätzen, wurde ein Fragebogen zum allgemeinen Selbstwirksamkeitserleben vorgegeben. Ergänzend dazu wurde ein kurzer Fragebogen eingesetzt, der gezielt die spezifischen Kompetenzen der Eltern im Umgang mit ihrem behinderten Kind erfragte.

■Soziale Unterstützung der Eltern: Mit einem Kurzfragebogen wurden Informationen eingeholt, wie die Eltern die emotionale und praktische Unterstützung durch Partner, Familie, Verwandte, Freunde und Bekannte sowie Fachleute erleben.

■Kindprobleme/-kompetenzen: Mit zwei orientierenden Fragebögen wurden erstens verschiedene Verhaltensmerkmale der Kinder (Ausdauer, Reaktionsbereitschaft, Impulsivität) erfasst sowie zweitens kindliche Kompetenzen in den Bereichen Spielverhalten, Motorik und Sprache.