Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung - Klaus Sarimski - E-Book

Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung E-Book

Klaus Sarimski

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Beschreibung

Die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung stellt eine besondere Herausforderung für das Bildungssystem dar. Die Sicherung des emotionalen und sozialen Wohlbefindens wird dabei oft zu wenig beachtet. Der Autor beschreibt in diesem Buch die Auswirkungen kognitiver, sprachlicher und motorischer Behinderungen, Hör- und Sehbehinderungen und autistischer Störungen auf die psychosoziale Entwicklung. Diese reichen von Einschränkungen in der sozialen Teilhabe über die soziale Ausgrenzung bis hin zu der Ausbildung psychischer Störungen. Besonderes Augenmerk gilt der Wechselwirkung der psychosozialen Fähigkeiten mit der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten und der exekutiven Funktionen. Forschungsbefunde zur sozialen Teilhabe, subjektiven Lebensqualität und der Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung werden für jeden Störungsbereich differenziert erläutert. Ein Überblick zu diagnostischen Verfahren zeigt auf, wie das soziale Wohlbefinden sowie der Entwicklungsstand der emotionalen und sozialen Kompetenzen vom Kindergarten- bis ins Schulalter eingeschätzt werden kann. Abschließend entwickelt der Autor ein Konzept zur Unterstützung des emotionalen und sozialen Wohlbefindens im Alltag und im Kontext von Kindertagesstätten oder Schulen. Es werden zahlreiche Möglichkeiten zur Prävention und Intervention vorgestellt. Das Buch gibt Fachkräften das notwendige Wissen an die Hand, um Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu unterstützen, in ihrem sozialen Umfeld dazuzugehören statt nur dabei zu sein.

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Klaus Sarimski

Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung

Prävention, Intervention und Inklusion

Prof. Dr. Klaus Sarimski, geb. 1955. 1980–1981 Psychologe in einer Frühförderstelle. 1981–2007 Psychologe in der Klinik und Ambulanz des Kinderzentrums München. Seit 2007 Professor für sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

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Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images / FatCamera

Satz: publish4you, Engelskirchen

Format: EPUB

1. Auflage 2019

© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2881-9; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2881-0)

ISBN 978-3-8017-2881-6

http://doi.org/10.1026/02881-000

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Inklusion von Kindern mit Behinderungen

1.2 Beurteilung der Qualität sozialer Teilhabe

1.3 Soziale Teilhabe in inklusiven Unterrichtssettings

1.4 Effekte der inklusiven Förderung im Vorschulalter

1.5 Aufbau des Buches

Teil I: Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen

2 Psychosoziale Entwicklung

2.1 Emotionswissen und Empathie

2.2 Emotionsregulation

2.3 Einfluss des Elternverhaltens

2.4 Soziale Kompetenzen

2.5 Selbstregulationsfähigkeiten

2.6 Kommunikative Fähigkeiten

2.7 Sozial-emotionales Wohlbefinden

2.8 Soziale Ausgrenzung und Mobbingerfahrungen

Teil II: Forschungsstand der sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung

3 Hörschädigung

3.1 Klassifikation, Ursachen und frühe Versorgung

3.2 Sprachentwicklung und pragmatische Kompetenzen

3.3 Psychosoziale Entwicklung

3.4 Soziale Teilhabe

3.5 Psychische Störungen

4 Sehbehinderung und Blindheit

4.1 Formen und Ursachen von Sehschädigungen

4.2 Psychosoziale Entwicklung

4.3 Soziale Teilhabe

4.4 Psychische Störungen

5 Störungen des Spracherwerbs

5.1 Formen, Häufigkeit und Verlauf

5.2 Psychosoziale Entwicklung

5.3 Soziale Teilhabe

5.4 Psychische Störungen

6 Cerebrale Bewegungsstörungen

6.1 Formen und Schweregrade

6.2 Psychosoziale Entwicklung

6.3 Soziale Teilhabe

6.4 Psychische Störungen

7 Intellektuelle Behinderung

7.1 Klassifikation, Prävalenz und Ursachen

7.2 Psychosoziale Entwicklung

7.3 Soziale Teilhabe

7.4 Psychische Störungen

8 Autismus-Spektrum-Störung

8.1 Diagnosekriterien, Klassifikation und Prävalenz

8.2 Psychosoziale Entwicklung

8.3 Soziale Teilhabe

8.4 Psychische Störungen

Teil III: Diagnostik des emotionalen und sozialen Wohlbefindens

9 Diagnostische Verfahren

9.1 Screening: Einschätzung des sozialen und emotionalen Wohlbefindens

9.2 Beurteilung emotionaler und sozialer Kompetenzen im Kindergartenalter

9.3 Beurteilung emotionaler und sozialer Kompetenzen im Schulalter

9.4 Beurteilung der Fähigkeiten zur Selbstregulation und pragmatischen Sprachkompetenz

9.5 Beurteilung autistischer Verhaltensmerkmale

Teil IV: Unterstützung des emotionalen Wohlbefindens und der sozialen Teilhabe

10 Pädagogisch-psychologische Interventionen

10.1 Struktur- und Prozessqualität von pädagogischen Einrichtungen

10.2 Soziales Klima und Prävention von Ausgrenzung

10.3 Förderung von sozial-emotionalen und kommunikativen Kompetenzen

10.4 Anpassungen und Schwerpunkte bei Kindern mit Behinderungen

10.5 Individualisierte, intensive Interventionen

10.6 Unterstützung durch Integrationshelfer und Schulbegleiter

10.7 Konsultative Beratung durch externe Fachkräfte

10.8 Unterstützungs- und Kompetenzzentren Inklusion

Schlusswort

Literatur

|9|1 Einleitung

Es ist normal, verschieden zu sein. … Dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst wird, das ist ein Ziel, um das es uns gehen muss. In der Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja die bestraft wird. Es ist eine schwere, aber notwendige, eine gemeinsame Aufgabe für uns alle, diese Benachteiligung zu überwinden.

Dieses Zitat aus einer Rede des verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus dem Jahre 1993 hat angesichts der umfassenden sozial- und bildungspolitischen Debatte über „Inklusion“ nichts von seiner Aktualität verloren.

1.1 Inklusion von Kindern mit Behinderungen

Inklusion als umfassendes Konzept hat die volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zum Ziel. Zentral ist der Gedanke, nicht Individuen an gesellschaftliche Strukturen anzupassen und zu einer „Normalisierung“ zu zwingen, sondern gesellschaftliche Strukturen auf Verschiedenheit auszurichten und Differenz als Normalfall anzusehen. Die 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen schreibt fest, dass Menschen mit Behinderung das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe haben.

Inklusion in Bildungseinrichtungen bedeutet: Alle Kinder sollen gemeinsam zur Schule gehen – egal ob sie blind sind oder gehörlos sind, im Rollstuhl sitzen oder Verhaltensprobleme haben, egal ob sie langsam lernen oder kein Handicap haben. Der Begriff der „Inklusion“ geht dabei über den Begriff der „Integration“ hinaus. Während das Prinzip der Integration Kinder mit Behinderungen in ein bestehendes System aufnimmt, verlangt Inklusion, das System zu verändern: Alle Kindertageseinrichtungen und Schulen sollen demnach so ausgestattet werden, dass sie jedem Kind gerecht werden können. Das schließt nicht nur Kinder mit Behinderungen ein, sondern auch Kinder, die in Armut leben, schlecht Deutsch sprechen, psychische Probleme oder chronische Krankheiten haben.

Die statistischen Daten, die die Bertelsmann Stiftung im Jahre 2015 zur Inklusion im deutschen Schulsystem zusammengetragen hat (vgl. Klemm, 2015), zeigen, |10|dass sich die Förderquoten und die Zahl der davon inklusiv unterrichteten Schüler in den einzelnen Bundesländern und in Abhängigkeit von den Förderschwerpunkten noch deutlich unterscheiden. Der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtzahl der Schüler variiert in den einzelnen Bundesländern zwischen 5.3 % und 8.3 %. Den größten Anteil daran haben Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen (38.8 %), gefolgt von Schülern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (16.0 %) und Emotionale und soziale Entwicklung (15.2 %).

Diese Zahlen haben sich bei einer Nacherhebung aus dem Schuljahr 2016/17 kaum verändert. Von allen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchten in diesem Schuljahr 39.3 % eine allgemeine Schule (Klemm, 2018). Der Anteil der inklusiv beschulten Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, Hören, Sehen und Körperliche und motorische sowie Emotionale und soziale Entwicklung liegt dabei zwischen 30 % und 50 %. Von den Schülern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung werden nur 7.9 % inklusiv unterrichtet.

Bildungsforscher und Bildungspolitiker, die die Weiterentwicklung von Bildungseinrichtungen zu inklusiven Kindertagesstätten und Schulen fordern, haben gute rechtliche und ethische Argumente. Aber wie sieht die Forschungslage aus?

Was sagt die Forschung zu der Frage, ob der Besuch einer inklusiven Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Behinderungen für ihr emotionales und soziales Wohlbefinden günstiger ist als das – in Deutschland traditionell sehr differenzierte – Angebot an sonderpädagogischen Förderzentren?

Und welche Unterstützungssysteme brauchen inklusive Kindertageseinrichtungen und Schulen, um den vielfältigen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen gerecht zu werden?

Es geht in diesem Buch nicht um eine differenzierte Analyse des Forschungsstandes zur Leistungsentwicklung von Schülern mit Behinderungen an unterschiedlichen Bildungsorten. Es geht auch nicht um die Frage, welche methodischen und didaktischen Konzepte geeignet sind, die schulischen Lernergebnisse von Kindern mit intellektueller Behinderung, Sprachbehinderung, motorischen Behinderungen, Hör- und Sehschädigung oder den sozial-emotionalen Störungen im Rahmen einer Autismus-Spektrum-Störung bestmöglich zu fördern. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, welchen Unterstützungsbedarf die Kinder und Jugendlichen mit diesen Behinderungen haben, um größtmögliche soziale Teilhabe, Anerkennung und emotionales Wohlbefinden erleben zu können. Mit anderen Worten – es geht um den Unterstützungsbedarf, den Kinder und Jugendliche in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung haben, wenn sie unter den Bedingungen einer intellektuellen, sprachlichen, motorischen oder Sinnesbehinderung aufwachsen.

Dass Kinder und Jugendliche mit „manifesten“ Behinderungen, d. h. Einschränkungen in den körperlichen Strukturen und Funktionen – wie es die Internationale |11|Klassifikation von Gesundheit und Behinderung (ICF) in ihrem bio-psychosozialen Verständnis formuliert –, spezifische Unterstützungsbedürfnisse haben, stellt kaum ein Vertreter inklusionspädagogischer Zielsetzungen infrage. Psychische Gesundheit ist eng verknüpft mit den Aktivitäten und der sozialen Teilhabe, die ein Kind in seiner sozialen Umwelt erlebt. Sie hängt nicht nur von seinen eigenen Kompetenzen ab, sondern ebenso von der Passung zwischen den individuellen Anlagen und Fähigkeiten des Kindes und den sozialen Anforderungen, vor denen es im Lebensalltag steht, sowie von der Unterstützung, die es in seiner Umwelt erhält, um diese Anforderungen zu bewältigen.

Im Grunde ist die Frage, wie es um das emotionale und soziale Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen steht, auch ganz unabhängig von der Frage, an welchem Bildungsort ein Kind in den Kindergarten oder in die Schule geht. Sie ist für Kinder und Jugendliche, die ein sonderpädagogisches Förderzentrum besuchen, genauso bedeutsam wie für Kinder und Jugendliche, die einen inklusiven Kindergarten oder eine inklusive Schule besuchen.

Leider wird diese Frage in der pädagogisch-psychologischen Fachdiskussion bisher unzureichend berücksichtigt. Dennoch: Das Bedürfnis nach sozialer Teilhabe, Anerkennung und emotionalem Wohlbefinden gehört ebenso zu den Grundbedürfnissen jedes Kindes und Jugendlichen wie das Bedürfnis nach Autonomie und Entfaltung der eigenen Fähigkeiten. Emotionales Wohlbefinden, Selbstbestimmung, soziale Teilhabe, befriedigende soziale Beziehungen und die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung sind Kerndimensionen von Lebensqualität. Dies gilt für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen gleichermaßen.

1.2 Beurteilung der Qualität sozialer Teilhabe

Der Forschungsstand zur Leistungsentwicklung von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen vermittelt ein relativ einheitliches Bild zu den Effekten der Teilhabe am inklusiven Unterricht auf die Entwicklung der schulischen Fertigkeiten. Allerdings ist weniger als die Hälfte der Kinder mit besonderem Förderbedarf diesem Förderschwerpunkt zuzuordnen. Die einschlägigen Literaturübersichten kommen zu der Schlussfolgerung, dass integrierende Schulformen zumindest gleichwertige, häufig aber bessere Lernergebnisse bei lernbehinderten Schülern bewirken (u. a. Peetsma et al., 2001; Bless & Mohr, 2007; Lindsay, 2007; Ruijs & Peetsma, 2009; Kocaj et al., 2014).

Auch Schüler mit leichter oder mittelgradiger intellektueller Behinderung machen in integrativen Settings zumindest im Bereich der Sprachentwicklung und beim Lesen- und Schreibenlernen im Fach Deutsch bessere Fortschritte als Schüler mit vergleichbaren Voraussetzungen, die separiert, d. h. in einem Förderzentrum, unterrichtet werden (Sermier Dessemontet et al., 2011). Auch wenn die Zahl der |12|hierzu vorliegenden Studien gering ist, scheinen sich ihre sprachlichen Fähigkeiten und schulischen Leistungen günstig zu entwickeln, wenn sie eine allgemeine Schule besuchen und dort gemäß ihren Bedürfnissen gefördert werden. Für Kinder mit Sinnesbehinderungen oder motorischen Behinderungen liegen ebenfalls keine Forschungsergebnisse vor, die einen negativen Effekt der integrativen Beschulung auf die Entwicklung der Schulleistungen belegen würden.

Deutlich weniger überzeugend sind die Forschungsergebnisse zu Effekten auf die soziale Teilhabe. Koster et al. (2009) definieren soziale Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf in vier Kriterien (vgl. Abb. 1):

Soziale Teilhabe von Schülern im allgemeinen Unterricht zeigt sich in

positiven Kontakten/Interaktionen zwischen ihnen und ihren Klassenkameraden;

Akzeptanz durch die anderen Kinder der Klasse;

positive Beziehungen/Freundschaften zwischen ihnen und ihren Klassenkameraden;

und der Wahrnehmung der Schüler selbst, dass sie von ihren Klassenkameraden akzeptiert werden. (S. 135)

„Freundschaften und positive Beziehungen“ richtet den Blick dabei auf die sozialen Netzwerke, die sich für ein Kind mit besonderem Förderbedarf gebildet haben. „Positive Kontakte und Interaktionen“ fokussieren eher auf Beobachtungen in Spiel-, Freizeit- und Unterrichtssituationen und die Einbeziehung bzw. soziale Ausgrenzung, die sie in diesen Situationen erfahren. „Akzeptanz“ durch die Klassenkameraden zeigt sich darin, dass die anderen Kinder der Gruppe die Fähigkeiten und Hilfebedürfnisse des Kindes kennen und bereit sind, sich darauf einzustellen bzw. es zu unterstützen. „Wahrnehmung von Akzeptanz“ hat dagegen zu tun mit dem eigenen Erleben des Kindes von Zugehörigkeit bzw. den Gefühlen von Ausgrenzung oder Einsamkeit.

Abbildung 1: Kriterien für das Gelingen sozialer Teilhabe von Kindern mit Behinderungen (Koster et al., 2009)

|13|Grundsätzlich lassen sich diese Kriterien sozialer Teilhabe – positive Kontakte, Freundschaften, Erfahrung von Akzeptanz und Erleben von Zugehörigkeit – mit folgenden Instrumenten untersuchen:

a)

soziometrische Befragung aller Mitglieder einer Gruppe;

b)

direkte, nicht-teilnehmende Beobachtung in der Gruppe;

c)

Befragung von pädagogischen Fachkräften zu ihren Beobachtungen und Einschätzungen;

d)

Befragung der Kinder und Jugendlichen selbst.

Bei soziometrischen Befragungen werden die Kinder einer Gruppe z. B. gebeten, die (drei oder fünf) Kinder zu benennen, mit denen sie am liebsten spielen oder zusammenarbeiten, sowie diejenigen, mit denen sie dies nicht möchten. Die Verteilung der Benennung gibt dann Aufschluss darüber, welche Stellung ein Kind mit einer Behinderung in seiner Gruppe hat – ob es als Spiel- oder Arbeitspartner geschätzt wird, ob es weitgehend ignoriert oder aktiv aus den sozialen Kontakten ausgegrenzt wird. Mit direkten Beobachtungen (im Freispiel, im Unterricht oder außerhalb des Gruppen- und Klassenzimmers) lässt sich erfassen, wie häufig soziale Kontakte zwischen dem Kind und anderen Kindern der Gruppe entstehen, welche Dauer sie haben, von wem sie initiiert werden, in welchen Situationen des Tages sie auftreten und welche spezifischen Verhaltensweisen der Kinder zum Entstehen solcher Kontakte beitragen.

Bei der Befragung von Fachkräften werden einzelne Statements vorgegeben, die sich als zuverlässige und valide Indikatoren für Kontakte, Freundschaften, die Selbstwahrnehmung der Kinder und die Akzeptanz durch ihre Klassenkameraden erwiesen haben. Die Fachkräfte werden gebeten, jeweils auf einer mehrstufigen Skala einzuschätzen, inwiefern das einzelne Statement auf ein Kind ihrer Beobachtung nach zutrifft. Aus diesen Einschätzungen lassen sich dann Summenwerte für den Grad der sozialen Teilhabe bilden. Die Befragung der Kinder selbst kann mit Fragebögen, leitfadengestützten Interviews einzeln oder in kleinen (Fokus-)Gruppen erfolgen. Die Items des Fragebogens oder Themen des Interviews beziehen sich auf die Erfahrungen, die das Kind im Kontakt mit Gleichaltrigen macht, auf seine Zufriedenheit mit seinen sozialen Beziehungen und Teilhabemöglichkeiten sowie auf sein emotionales Wohlbefinden im Alltag.

1.3 Soziale Teilhabe in inklusiven Unterrichtssettings

Studien zum Vergleich der sozialen Integration von Schülern mit Lernstörungen finden dabei durchweg ein erhöhtes Risiko für soziale Ausgrenzung in der Gruppe. Metaanalysen ermitteln starke Effekte, d. h. der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich des Lernens hat einen starken Einfluss darauf, ob ein Kind in sei|14|ner Gruppe sozial anerkannt oder ausgegrenzt wird (Kavale & Forness, 1996; Haeberlin et al., 1999; Bossaert et al., 2013).

Dies zeigte sich z. B. in einer deutschen Studie, die Huber (2009) unter dem provokativen Titel „Gemeinsam einsam“ vorlegte. Es handelte sich um eine Untersuchung bei 650 Grundschulkindern aus Nordrhein-Westfalen. Huber kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelklassen ein dreimal so hohes Risiko haben, zum Außenseiter zu werden, wie Kinder ohne Förderbedarf. Fast 50 % dieser Schülergruppe wurden in soziometrischen Befragungen von ihren Mitschülern abgelehnt, nur 15 % gehörten zu den „beliebten“ Kindern in der Klasse.

Huber und Wilbert (2012) ergänzten diesen Befund, indem sie bei 463 Schülerinnen und Schülern von 3. und 4. Klassen mit integrativem Unterrichtskonzept den sozialen Status erhoben und den Schülern einen standardisierten Fragebogen zur Selbsteinschätzung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen vorlegten. 32 % der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden von den Mitschülern abgelehnt. Je höher der Förderbedarf war, umso höher war der Anteil der Ablehnungen bei den soziometrischen Wahlen. Die Schüler selbst fühlten sich signifikant schlechter in die Klassengemeinschaft integriert und von ihrer Lehrkraft akzeptiert als die Schüler ohne Förderbedarf. Nach den Ergebnissen einer weiteren Studie von Krull et al. (2014), die 448 Schülerinnen und Schüler einbezogen, ließ sich eine solche signifikant höhere soziale Ablehnung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereits bei Erstklässlern nachweisen.

Ellinger und Stein (2012) gaben einen Überblick über die Effekte inklusiver Beschulung bei Schülern mit sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten und integrierten dabei Ergebnisse, die bei Schülern mit Förderschwerpunkt Lernen gewonnen wurden. Es lassen sich danach keine eindeutig positiven Effekte der integrativen Förderung auf das Sozialverhalten und emotionale Wohlbefinden dieser Schülergruppe nachweisen. Hinsichtlich der Leistungsmotivation und des Selbstkonzepts waren die Ergebnisse bei Schülern in Förderschulen besser, was damit erklärt wird, dass sich die Schüler hier in ihrer Selbsteinschätzung nur mit anderen Schülern mit ähnlichem Förderbedarf vergleichen. Abschließend wiesen die Autoren darauf hin, dass sich die Lehrkräfte häufig überfordert sehen, wenn sie neben ihren regulären Aufgaben der Unterrichtsorganisation auch den besonderen Unterstützungsbedürfnissen verhaltensauffälliger Schüler gerecht werden sollen.

In den Niederlanden und Norwegen wurden umfangreichere Studien zur sozialen Teilhabe von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen in integrativen Settings durchgeführt, in denen soziometrische Methoden und direkte Beobachtungen der sozialen Kontakte miteinander kombiniert wurden (Pijl et al., 2008; Pijl & Frostad, 2010; Koster et al., 2010). Die holländische Studie bezog sich dabei auf 234 Kinder (darunter 26 Kinder mit intellektuellen Behinderungen, 97 Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung, 47 Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen |15|und 36 Kinder mit motorischen Behinderungen) und 353 Klassenkameraden in der Primarstufe (erste bis dritte Klasse). Die norwegische Studie umfasste 491 Schüler der vierten und 498 Schüler der siebten Klasse, darunter 79 Schüler mit unterschiedlichen Behinderungen. Zu diesen Kindern gehörten 21 Kinder mit mittelgradigen oder schweren intellektuellen Behinderungen.

Diese Studien kamen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Kinder mit Behinderungen hatten signifikant weniger Freunde, gehörten seltener zu festen Netzwerken in der Klasse, hatten weniger soziale Interaktionen mit ihren Klassenkameraden (und mehr Interaktionen mit den Lehrkräften) und waren weniger gut akzeptiert als die anderen Kinder in ihren Klassen. Allerdings waren die Schüler selbst mit ihren sozialen Beziehungen in der Klasse nicht weniger zufrieden als die Schüler, bei denen kein Förderbedarf vorlag, d. h. sie erlebten die objektiv beobachtbaren Unterschiede subjektiv nicht als Benachteiligung.

Es ergaben sich in der holländischen Studie – entgegen der Erwartung der Autoren – keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behinderungsformen. In der norwegischen Studie zeichneten sich dagegen Differenzen zwischen den einzelnen Teilgruppen ab. Schüler mit Verhaltensstörungen und mit schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen waren häufiger sozial isoliert als die anderen Teilgruppen.

In der holländischen Studie wurden die direkten Beobachtungen zusätzlich mit den Einschätzungen der Lehrkräfte verglichen. Diese gaben positivere Einschätzungen zu den Beziehungen der Kinder mit Behinderungen in der Gruppe und zur Zahl von Freundschaftsbeziehungen zwischen ihnen und ihren Klassenkameraden ab, als sich aus der direkten Beobachtung bzw. der Befragung der Kinder ergaben. Das Urteil der Lehrkräfte allein ist offenbar kein zuverlässiges Kriterium für die Qualität der sozialen Beziehungen zwischen Kindern mit und ohne Behinderung.

Diese Forschungsergebnisse machen deutlich, dass die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungen durch die Aufnahme in die Regelschule keineswegs gewährleistet ist. Allerdings fehlt es an Studien, die die soziale Partizipation in inklusiven Settings mit der sozialen Partizipation in separierenden Settings bei Schülern mit ähnlichen Ausgangsbedingungen direkt miteinander vergleichen. Die Befunde dürfen somit nicht als Beleg interpretiert werden, dass die sozialen und emotionalen Schulerfahrungen von Schülern in allgemeinen Schulen schlechter wären als die Schulerfahrungen von Schülern, die ein Förderzentrum besuchen.

Bei der Interpretation von Forschungsbefunden sind auch selektive Zuweisungsprozesse zu beachten. In der Regel bringen Schüler, die in eine allgemeine Schule aufgenommen werden, günstigere Entwicklungsvoraussetzungen, eine höhere Lernmotivation, bessere Arbeitshaltung und soziale Anpassungsfähigkeit mit als Schüler, die in ein Förderzentrum aufgenommen werden. Bei jenen Schülern liegen oft zusätzliche (z. B. intellektuelle) Behinderungen vor oder es haben sich be|16|reits vor Schuleintritt gravierende soziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten ausgebildet, die aus Sicht der Lehrkräfte eine Integration in die allgemeine Schule erschweren.

Soweit überhaupt vergleichende Untersuchungen vorliegen, beziehen sie sich meist auf Schüler mit Lernbehinderungen. Ihre Ergebnisse sind nicht einheitlich. Bakker und Bosman (2003) untersuchten die Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen und den sozialen Status bei 419 Kindern mit Lernbeeinträchtigungen, die eine allgemeine Schule besuchten, und 149 Kindern in Förderzentren. Beide Gruppen hatten weniger Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und äußerten sich weniger zufrieden mit ihren sozialen Beziehungen als Schüler mit unbeeinträchtigtem Lernvermögen. Es fand sich in dieser Hinsicht kein Unterschied in Abhängigkeit vom Bildungsort. Nach den Ergebnissen von soziometrischen Befragungen wurden die Kinder, die Förderzentren besuchten, von ihren Klassenkameraden positiver bewertet als die Schüler, die in allgemeine Schulen integriert waren.

In Bezug auf Schüler mit intellektueller Behinderung liegen ebenfalls einige Studien vor. Schüler, die in eine allgemeine Schule integriert sind, haben mehr soziale Kontakte zu Kindern, die in ihrer Entwicklung nicht beeinträchtigt sind, und initiieren von sich aus mehr soziale Interaktionen als Schüler, die ein Förderzentrum besuchen (Fryxell & Kennedy, 1995; Kennedy et al., 1997; Freeman & Alkin, 2000).

Cole und Meyer (1991) und Fisher und Meyer (2002) belegten in zwei longitudinal angelegten Vergleichsstudien, dass Schüler mit intellektueller Behinderung in inklusiven Settings größere Fortschritte in ihren sozialen Kompetenzen machten als Kinder in separierten Settings. Buckley et al. (2006) verglichen die adaptiven Kompetenzen von Schülern mit Down-Syndrom, die eine allgemeine Schule vs. ein Förderzentrum besuchten, im Alter von 11 bis 20 Jahren. Es fanden sich keine Unterschiede in den lebenspraktischen und sozialen Kompetenzen zwischen beiden Gruppen. Lediglich für die kommunikativen Fähigkeiten zeigte sich ein Effekt des Bildungsortes. Jugendliche im Alter von 18 bis 20 Jahren hatten einen höheren Stand in den expressiven Sprachfähigkeiten (und in den Lese-/Schreibkompetenzen) erreicht als Jugendliche, die ein Förderzentrum besuchten.

Hardiman et al. (2009) baten die Eltern und Lehrkräfte von je 13 Schülern, die inklusive Klassen vs. ein Förderzentrum besuchten, um eine Einschätzung der Verhaltensauffälligkeiten und sozialen Kompetenzen der Kinder. Es fanden sich auch hier nur wenige signifikante Unterschiede. Die Lehrer gaben bei den inklusiv beschulten Kindern mehr hyperaktive Verhaltenssymptome an. Die Eltern der Kinder, die inklusiv beschult wurden, schrieben ihnen mehr soziale Kompetenzen zu; aus Sicht der Lehrkräfte bestand in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen beiden Gruppen.

Insgesamt lassen sich die Befunde als Hinweis auf positive Effekte der inklusiven Beschulung auf die sozialen Kontakte und die soziale Kompetenz von Schülern |17|mit intellektueller Behinderung deuten. Sie beziehen sich jedoch auf sehr kleine Stichproben. Dabei ist zu bedenken, dass eine geringere Zahl sozialer Kontakte oder ein niedrigeres Niveau sozialer Kompetenzen (aus Sicht der Eltern und Lehrkräfte) nicht unbedingt mit einer geringeren subjektiven Zufriedenheit der Schüler selbst gleichzusetzen ist. McCoy und Banks (2012) und Schwab et al. (2015) fanden keinen systematischen Unterschied im schulischen Wohlbefinden zwischen Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, die Integrationsklassen besuchten bzw. einzeln in Regelklassen integriert waren. Das schulische Wohlbefinden war dagegen mit emotionalen und sozialen Verhaltensproblemen assoziiert. Schüler, die aus Sicht der Lehrkräfte mehr emotionale Probleme, Verhaltensprobleme oder hyperaktive Symptome zeigten, äußerten sich weniger zufrieden hinsichtlich ihrer emotionalen und sozialen Situation in der Klasse.

Emotionale und soziale Verhaltensauffälligkeiten von Kindern bringen offenbar – unabhängig vom Bildungsort – ein erhöhtes Risiko für die sozialen Beziehungen zu den Mitschülern mit sich. So haben Kinder mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung und Kinder mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten besonders große Schwierigkeiten, soziale Beziehungen zu den Mitschülern zu entwickeln, und bleiben oft in der Klasse isoliert (De Monchy et al., 2004; Frostad & Pijl, 2007; Chamberlain et al., 2007).

1.4 Effekte der inklusiven Förderung im Vorschulalter

Einige Studien, die in inklusiven Kindertagesstätten durchgeführt wurden, belegen – ähnlich wie die Befunde in inklusiven Schulen –, dass Kinder mit Behinderung auch dort nur in eingeschränktem Maße soziale Teilhabe erleben. Suhonen et al. (2015) beobachteten das Spielverhalten von 89 Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder intellektueller Behinderung und 124 Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in integrativen Kindertagesstätten in Finnland zweimal im Abstand von einem Jahr. Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder intellektueller Behinderung zeigten zu beiden Zeitpunkten signifikant weniger soziales Spiel als die anderen Kinder der Gruppe.

Ferreira et al. (2017) untersuchten die soziale Akzeptanz, das soziale Netzwerk und die Freundschaftsbeziehungen von 86 Kindern mit Behinderungen in inklusiven Kindertagesstätten in Portugal. Nach den soziometrischen Befragungen wurden vier Kinder von den anderen Kindern der Gruppe als Kontaktpartner ignoriert und 34 Kinder aktiv sozial ausgegrenzt. Die Kinder, die sozial ausgegrenzt wurden, unterschieden sich von den anderen in zweierlei Hinsicht. Es handelte sich häufiger um Kinder mit schwereren Behinderungen und sie zeigten nach Einschätzung der Erzieherinnen ein deutlich höheres Maß an externalisierenden Verhal|18|tensstörungen. Beide Studien machen deutlich, dass auch im Vorschulbereich der Besuch einer inklusiven Kindertagesstätte allein nicht gewährleistet, dass Kinder mit Behinderungen die gleiche soziale Teilhabe erleben wie nicht behinderte Kinder. Vor allem bei Kindern mit intellektueller Behinderung und/oder sozial-emotionalen Auffälligkeiten besteht offenbar bereits in diesem Alter ein erhöhtes Risiko für soziale Ausgrenzung.

Vergleichende Untersuchungen im Vorschulalter zeigen jedoch auch positive Effekte des Besuchs inklusiver Kindertagesstätten. In inklusiven Kindertagesstätten erleben Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen mehr soziale Interaktionen mit anderen Kindern und haben eine günstigere Chance auf die Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen (Buysse et al., 2002). Auf die soziale oder sprachliche Entwicklung hat der Besuch einer inklusiven Einrichtung dagegen nur bei Kindern mit schwerer Behinderung einen positiven Effekt, während Kinder mit leichteren Entwicklungsstörungen in inklusiven und separierten Settings in dieser Hinsicht gleich große Fortschritte machen (Rafferty et al., 2003).

Wendelborg und Tossebro (2013) untersuchten die soziale Teilhabe von 254 Kindern mit körperlichen und intellektuellen Behinderungen in Förderzentren und in allgemeinen Kindergärten. Sie befragten die Eltern und Erzieher nach ihrer Einschätzung der sozialen Beziehungen der Kinder in der Gruppe. Auch in dieser Studie zeigten sich signifikante Unterschiede. Bei Kindern mit intellektueller Behinderung, die ein Förderzentrum besuchten, wurde die soziale Partizipation am Gruppengeschehen niedriger eingeschätzt. Den stärksten Einfluss auf die soziale Partizipation hatte jedoch – in beiden Settings – der Schweregrad der Behinderung.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich somit für die Vorschul- wie auch die Schulzeit die Schlussfolgerung ziehen, dass Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen auf spezifische Unterstützungsmaßnahmen angewiesen sind, damit die soziale Teilhabe gelingt. Einschränkungen der Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen unter den Bedingungen einer Behinderung sind dabei von zentraler Bedeutung. Dies gilt in inklusiven wie auch in separierenden Kindergarten- und Schulsettings gleichermaßen.

1.5 Aufbau des Buches

Die Prävalenz von psychischen Störungen ist – wie im Folgenden belegt werden wird – bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen erhöht. Dies begründet einen dringlichen Versorgungsbedarf mit differenzierten, individuell auf den jeweiligen Unterstützungsbedarf des Kindes oder Jugendlichen abgestimmten Prä|19|ventions- und Interventionskonzepten. Er besteht unabhängig von der Frage, ob alle Kinder mit Behinderungen künftig inklusive Kindertagesstätten und Schulen besuchen werden oder für bestimmte Gruppen weiterhin alternative Angebote erhalten bleiben sollen. Die Sicherung und Förderung von sozialer Teilhabe, sozialer Anerkennung und emotionalem Wohlbefinden sowie die Prävention von und Intervention bei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind eine gemeinsame Aufgabe von (Sonder-)Pädagogen, Psychologen und Kinder- und Jugendpsychiatern.

Um eine bestmögliche Lebensqualität für Kinder mit Behinderungen zu erreichen und solche Präventions- und Interventionskonzepte in die Praxis umzusetzen, bedarf es eines fundierten Überblicks über die psychosoziale Entwicklung unter den Bedingungen einer Behinderung als Basis für die Entwicklung von Unterstützungskonzepten.

Im ersten Teil dieses Bandes soll zunächst ein Überblick gegeben werden über die Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen, ihre Einflussfaktoren und ihre Bedeutung für das emotionale und soziale Wohlbefinden von Kindern im Allgemeinen. Die Fachliteratur zu diesem Bereich der Entwicklungspsychologie und klinischen Kinderpsychologie ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. In diesem Buch soll deshalb keine umfassende Diskussion der vielfältigen Forschungsergebnisse geführt werden (vgl. dazu z. B. Kullik & Petermann, 2012). Vielmehr geht es um einen Überblick über empirisch gesicherte Befunde, die zum Verständnis beitragen sollen, welche Auswirkungen eine Behinderung auf die psychosoziale Entwicklung haben kann.

Im zweiten Teil wird dann der Forschungsstand zur sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern mit einer Hör- oder Sehschädigung, einer Sprachentwicklungsstörung, einer motorischen oder intellektuellen Behinderung sowie einer schweren sozial-emotionalen Störung (Autismus-Spektrum-Störung) differenziert dargestellt. Dabei gilt es, die gesamte Entwicklungsspanne vom frühen Kindesalter bis zum Jugendalter in den Blick zu nehmen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen mit der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten und der exekutiven Funktionen. Jedes Teilkapitel wird abgeschlossen mit Forschungsbefunden zur sozialen Teilhabe und subjektiven Lebensqualität sowie der Prävalenz von psychischen Störungen unter den Bedingungen der jeweiligen Behinderung.

Im dritten Teil werden dann diagnostische Verfahren vorgestellt, die Sonderpädagogen, Psychologen und Kinder- und Jugendpsychiater einsetzen können, um den Entwicklungsstand der einzelnen Kompetenzbereiche, das emotionale und soziale Wohlbefinden der Kinder sowie psychische Störungen einzuschätzen. Dieser Teil soll den Fachkräften einen Leitfaden für die Auswahl geeigneter Verfahren in der Praxis anbieten.

|20|Im vierten Teil wird ein Konzept zur Unterstützung des emotionalen und sozialen Wohlbefindens und der sozialen Teilhabe von Kindern mit Behinderungen entwickelt. Dabei geht es um eine Kombination von Maßnahmen, die aufeinander aufbauen, sodass der Praktiker auf verschiedenen Stufen auswählen kann, welche Maßnahmen zur Prävention und Intervention jeweils angezeigt sind. Dieses Konzept umfasst Maßnahmen, die innerhalb des Kontextes der Kindertagesstätte und Schule von pädagogischen Fachkräften umgesetzt werden können, ebenso wie Maßnahmen, die spezifische Fachkompetenz von Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiatern erfordern. Standardisierte und manualisierte Präventionskonzepte zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen, die in den letzten Jahren von Psychologen und Sonderpädagogen entwickelt wurden, werden in ihrer Wirksamkeit und Tauglichkeit für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen ebenso kommentiert wie das Vorgehen bei individualisierten Interventionen. Kindergarten- und schulinterne Maßnahmen wie die Unterstützung durch Assistenzkräfte (Integrationshelfer) und die Chancen und Probleme, die bei der Kooperation zwischen Pädagogen, Sonderpädagogen und Fachkräften aus anderen Einrichtungen als Beratungspartnern entstehen, werden abschließend diskutiert.

|21|Teil I:Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen

|23|2 Psychosoziale Entwicklung

Die psychosoziale Entwicklung lässt sich in emotionale Kompetenzen – Emotionswissen, Fähigkeit zur Emotionsregulation – und soziale Kompetenzen gliedern. Soziale Kompetenzen umfassen die Kontrolle über impulsive Reaktionen sowie die Planung und Steuerung sozial angemessenen Verhaltens. Beide Kompetenzbereiche lassen sich unter dem Begriff der „Selbstregulationsfähigkeiten“ zusammenfassen. Sie entwickeln sich im Kontext der Interaktionen des Kindes mit seinen Eltern und anderen Kindern und sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche soziale Teilhabe, die Entwicklung von Freundschaften sowie das soziale und emotionale Wohlbefinden eines Kindes. Schwierigkeiten bei der Entwicklung dieser Kompetenzen sind mit einem erhöhten Risiko für die Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen assoziiert.

Der Erwerb von emotionalen und sozialen Kompetenzen wird von Denham et al. (2014) im sogenannten Prisma-Modell zusammenfassend beschrieben. Effektivität in sozialen Interaktionen zeigt sich danach in einem hohen Status in der Gruppe, guten Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen sowie einer hohen Selbstwirksamkeit. Diese Ziele werden erreicht durch soziales Verhalten (kooperieren, zuhören, sich unterhalten, Hilfe suchen), verantwortungsbewusstes Entscheiden (Situationen analysieren, Ziele setzen und Problemlösen), emotionale Kompetenzen (Emotionsverständnis, Perspektivenübernahme, Empathie) sowie Fähigkeiten zur Selbstregulation (Regulation von Emotionen, Kognitionen und Verhalten). Die Abbildung 2 illustriert vor diesem Hintergrund mögliche Zusammenhänge zwischen psychosozialer Entwicklung und der Entwicklung psychischen Wohlbefindens, bzw. psychischer Störungen unter den Bedingungen einer Behinderung.

2.1 Emotionswissen und Empathie

Zur Entwicklung emotionaler Kompetenzen gehört das Wahrnehmen von Emotionen bei sich selbst und bei anderen Menschen, die Berücksichtigung der Wünsche und Motive anderer Personen und die sozialverträgliche Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Sie zeigt sich in der Entwicklung von Mitgefühl (affektive Empathie), der Fähigkeit zur Reflexion über die eigenen Emotionen und der Ent|24|wicklung effektiver Strategien zu ihrer Regulation. Gute Fähigkeiten, Emotionen auszudrücken, zu erkennen, zu regulieren und bei anderen Menschen zu verstehen, begünstigen positive soziale Beziehungen, die Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstregulationsfähigkeiten, welche schließlich für schulischen Erfolg und das persönliche Wohlbefinden entscheidend sind.

Abbildung 2: Zusammenhänge zwischen Behinderung, psychosozialer Entwicklung, emotionalem und sozialem Wohlbefinden und psychischer Störung

|25|Emotionale Kompetenzen (Petermann & Wiedebusch, 2016)

Eigener mimischer Emotionsausdruck

Erkennen des mimischen Emotionsausdrucks anderer Personen

Sprachlicher Emotionsausdruck

Emotionswissen und -verständnis

Selbstgesteuerte Emotionsregulation

Die Entwicklung von Emotionen beginnt bereits in den ersten Wochen nach der Geburt. Zunächst erlebt der Säugling noch undifferenzierte Gefühle der Unzufriedenheit und Freude, die sich dann durch die Orientierung am Ausdrucksverhalten der Bezugspersonen in primäre Emotionen (Trauer, Freude, Angst/Furcht, Ärger/Wut) sowie sekundäre Emotionen (z. B. Scham, Stolz, Schuld) ausdifferenzieren. Für die Entstehung von sekundären Emotionen sind die Selbstreflexion, die Kenntnis von sozial anerkannten Verhaltensnormen oder die Fähigkeit zum sozialen Vergleich mit Gleichaltrigen notwendig. Sie entwickeln sich daher erst ab dem dritten Lebensjahr.

Die Fähigkeit, Emotionen anhand von Mimik, Körperhaltung, Gestik oder Ton der Stimme zu erkennen, ist für erfolgreiche soziale Interaktionen von großer Bedeutung. Zunächst werden Freude, später dann Trauer und Wut, danach erst Überraschung und Angst akkurat erkannt. Dies gelingt Kleinkindern zunächst bei vertrauten Erwachsenen und ihren Geschwistern, später auch bei fremden Personen und auf Fotos. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres verstehen sie auch die Bedeutung einfacher Emotionswörter.

Ab diesem Alter lernen sie im Dialog mit den Erwachsenen, über emotionale Erfahrungen zu sprechen und die Gefühlswelt des anderen besser zu verstehen, um darauf entsprechend reagieren zu können. Die Differenzierung des sprachlichen Emotionsausdrucks ist somit eng mit der Entwicklung kommunikativer Fähigkeit verbunden. Studien haben gezeigt, dass der sprachliche Emotionsausdruck in den späteren Jahren umso differenzierter entwickelt ist, je mehr und je intensiver die Bezugspersonen mit Kleinkindern über Emotionen sprechen.

Im weiteren Verlauf der Entwicklung lernen Kinder dann, Ursachen und Auslöser von Emotionen zu erkennen und zu verstehen. Vorschulkinder können den primären Emotionen passende Auslöser zuordnen und verstehen bereits, dass sich verschiedene Personen in ihren emotionalen Reaktionen auf eine Situation und ihren emotionalen Erfahrungen unterscheiden. Sie bilden quasi für jede Emotion eine Art „Skript“ aus, d. h. eine Vorstellung, mit welchen Ursachen und Folgen eine Emotion verbunden sein kann. Auch diese Entwicklung vollzieht sich im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktionen bei Familiengesprächen am Tisch, beim Vorlesen von Bilderbüchern oder beim Erzählen von Geschichten sowie in der alltäglichen Interaktion mit ihren Geschwistern und Freunden.

|26|2.2 Emotionsregulation

In einer Übersicht von Kullik und Petermann (2012) wird folgende Definition von „Emotionsregulation“ vorgeschlagen:

Bei der Emotionsregulation werden spezifische Strategien eingesetzt, um positive oder negative Emotionen zu regulieren. Eine solche Regulation kann external oder internal, willentlich oder automatisch stattfinden. Die Regulation erfolgt in Form von Initiierung, Beibehaltung, Hemmung oder Modulation einer Emotion und ihrer Begleiterscheinungen … Sie ist auf ein Ziel ausgerichtet und bezieht sich auf die Form, die Intensität, den Ausdruck oder die Dauer des emotionalen Zustandes. (S. 25)

Unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten ist dabei der Übergang von der externalen (d. h. von den Eltern gelenkten) zur internalen Regulation besonders bedeutsam. Während Kinder in den ersten beiden Lebensjahren noch stark auf eine Co-Regulation ihrer Affekte durch die Eltern angewiesen sind, entwickeln sich die internalen Regulationsfähigkeiten am Ende des Kleinkindalters. Im Vorschulalter eignen sich die Kinder neue (vor allem kognitive) Regulationsstrategien an. Dabei spielt die Sprache als Mittel der psychologischen Distanzierung von dem unangenehmen Erleben eine wichtige Rolle. Kognitive Strategien können helfen, einen unerwünschten Ausdruck von Emotionen zu hemmen bzw. zu ersetzen (z. B. durch Selbstinstruktionen wie „Bleib ruhig“, „Das schaff ich schon“) oder die Bewertung einer Situation zu verändern (z. B. „Das hat er nicht böse gemeint“ oder „Nachher bekomme ich …“). Auf diese Weise können Kinder bereits in diesem Alter wirksam ihre innere Erregung beeinflussen, wenn sie mit unangenehmen Ereignissen konfrontiert sind.

Kinder und Jugendliche (wie auch Erwachsene) mit einer gut funktionierenden Emotionsregulation verfügen über ein breites Repertoire und Wissen über die Effektivität solcher Emotionsregulationsstrategien. Das erlaubt ihnen, emotions- und situationsspezifisch abzuwägen, welche Strategie eine bestehende Emotion positiv verändern und somit das längerfristige Erreichen eines Ziels ermöglichen kann („reflexive Emotionsregulation“).

Im Entwicklungsverlauf bis ins Jugendalter nimmt die Fähigkeit und Häufigkeit der Selbstregulation zu. Jugendliche sind in der Lage, eine größere Anzahl von Informationen zur Bewertung komplexer Situationen zu nutzen und ihre Bewertungen flexibel anzupassen, sie verfügen über mehr Emotionsregulationsstrategien und differenzierteres Wissen, welche Strategien in der jeweiligen Situation Erfolg versprechen.

Die Fähigkeit zum Ausdruck und zur Regulation eigener Emotionen ist ein signifikanter Prädiktor für die soziale Anpassung im weiteren Verlauf des Kindesalters. |27|Kleinkinder mit Schwierigkeiten im Bereich der Emotionsregulation zeigen im Kindergarten und später in der Schule weniger soziale Fertigkeiten und sind bei den Gleichaltrigen weniger beliebt.

Strategien zur Emotionsregulation (Petermann, 2017)

Kognitive Umbewertung: Sie verfolgt das Ziel, den Einfluss des emotionalen Erlebens auf die eigenen Ziele zu verringern und die damit verbundenen Belastungen zu reduzieren

Versuche der Problemlösung: Sie zielen darauf ab, das belastende emotionale Erleben zu beseitigen oder zum eigenen Vorteil zu verändern

Akzeptanz der Emotionen: Das bedeutet, sich aktiv mit dem emotionalen Erleben auseinanderzusetzen und zu bewältigen, ohne die damit einhergehenden Emotionen in ihrer Qualität und Intensität verändern zu wollen

Unterdrückung des Gefühlsausdrucks: Dabei werden bereits wahrgenommene Gefühle nicht oder nur in verringerter Ausprägung geäußert

Vermeiden von Situationen, bei denen negative Gefühle wahrscheinlich auftreten

Grübeln als ständige Beschäftigung mit erlebten Gefühlen, ihren Ursachen und Folgen

Gute Fähigkeiten, die eigenen Emotionen zu regulieren, sind entsprechend mit einem geringeren Ausmaß an internalisierenden und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten assoziiert. In der klinischen Forschung zeigt sich zudem, dass einzelne Regulationsstrategien mit besserem oder schlechterem Gelingen der psychischen Anpassung und höherem, bzw. geringerem Wohlbefinden assoziiert sind. So gehen Unterdrücken, Vermeiden und Grübeln eher mit depressiven oder ängstlichen Störungsbildern einher, während eine Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und der eigenen Bewertung der auslösenden Situationen sowie die Suche nach möglichen Lösungen für Probleme günstigere Voraussetzungen für die psychische Stabilität darstellen.

2.3 Einfluss des Elternverhaltens

Emotionale Kompetenzen werden zunächst im unmittelbaren Kontext der alltäglichen Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Eltern erworben. Die Kinder orientieren sich im Umgang mit Emotionen am Vorbild der Eltern. Die Art und Weise, wie Eltern in Abhängigkeit von ihren eigenen Fähigkeiten zur Emotionsregulation auf die Gefühle ihres Kindes eingehen, fördert oder hemmt die Entwicklung von Kompetenzen zur Emotionsregulation. Eine negative emotionale Grundstimmung in der Familie, die sich in problematischen Erziehungsverhaltensweisen, einer angespannten Beziehungsqualität und in einem geringen familiären |28|Zusammenhalt äußert, erschwert zusätzlich die Entwicklung kindlicher Kompetenzen und gefährdet ihre psychosoziale Anpassung.

Der vielfach belegte Zusammenhang zwischen psychopathologischen Symptomen der Eltern und internalisierenden oder externalisierenden Verhaltensstörungen der Kinder wird u. a. über Defizite in der elterlichen Emotionsregulation vermittelt. Dabei wirken Prozesse des Modelllernens, der emotionsbezogenen Erziehungspraktiken und Aspekte des emotionalen Familienklimas zusammen. Eltern, die selbst aufgrund ihrer Biografie oder einer eigenen psychischen Störung über weniger Kompetenzen zur Emotionsregulation verfügen, zeigen weniger förderliches Erziehungsverhalten. Ihre Kinder verfügen meist über eine wenig angepasste und flexible Emotionsregulation und reagieren auf emotionsauslösende Situationen sehr schnell und intensiv.

Eltern, die über wirksame Strategien zur Emotionsregulation verfügen, sind dagegen eher in der Lage, ihre Kinder in der Bewältigung von alltäglichen sozialen Anforderungen und Belastungen zu unterstützen (vgl. Abb. 3). Wenn es ihnen jedoch selbst schwerfällt, ihre Emotionen zu regulieren, fühlen sie sich durch negative Gefühle ihres Kindes belastet und überfordert und neigen eher dazu, sein Verhalten als böswillig zu betrachten. Sie reagieren auf Ärger oder Ängste des Kindes eher mit bagatellisierenden Verhaltensweisen, d. h. sie spielen die Bedeutung emotionsauslösender Situationen herunter, oder reagieren mit strafendem oder feindseligem Verhalten, damit das Kind seine negativen Gefühle unterdrückt (Ulrich & Petermann, 2017). Die Kinder lernen in diesem Fall nicht, die sozialen Zusammenhänge ihrer Gefühle zu verstehen, sie angemessen auszudrücken und sich wirksame Strategien zu ihrer Regulation anzueignen.

Eine sichere Bindung des Kindes zu seinen Eltern, Feinfühligkeit der Eltern für die Bedürfnisse des Kindes und ein stabiles emotionales Familienklima stellen das Fundament für den Erwerb emotionaler und sozialer Kompetenzen dar. Elterliche Feinfühligkeit („sensitives Elternverhalten“) setzt voraus, dass die Eltern ihrerseits emotional verfügbar sind, um Gefühle des Kindes wahrnehmen und sich in sein Erleben hineinversetzen zu können. Besonders in den ersten Lebensjahren sind die Kinder auf die elterliche Unterstützung für den Erwerb von sozial-emotionalen Kompetenzen angewiesen.

Feinfühliges Elternverhalten und eine positive Grundstimmung in der Interaktion mit dem Kind fördern die Entwicklung von Emotionsverständnis und Emotionsregulationsfähigkeiten, prosozialer Verhaltensweisen, der Fähigkeit, impulsives Verhalten zu kontrollieren („effortful control“) und soziale Regeln zu beachten, sowie des Zutrauens, neue Situationen zu bewältigen und mit anderen Menschen zurechtzukommen.

|29|Elterliche Co-Regulation beim Umgang mit Emotionen geht einher mit einer geringeren Stressbelastung der Kinder und größerer Ausdauer bei der Auseinandersetzung mit herausfordernden Aufgaben. Andererseits erhöht eine hohe elterliche Belastung mit der Folge einer emotionalen Distanzierung, übermäßigen Kontrolle oder unangemessen strengen Lenkung des Kindes das Risiko für die Entwicklung internalisierender oder externalisierender Verhaltensauffälligkeiten der Kinder.

Abbildung 3: Einflüsse auf die Entwicklung der Kompetenzen zur Emotionsregulation (nach Ulrich & Petermann, 2017)

2.4 Soziale Kompetenzen

Altersgerecht ausgebildete Fähigkeiten zur Emotionsregulation, sozial-kognitive Kompetenzen zur adäquaten Verarbeitung von Informationen in sozialen Situationen und soziale Fertigkeiten, um soziale Herausforderungen sozial verträglich zu bewältigen und eigene Ziele zu verwirklichen, wirken zusammen bei der Gestaltung von befriedigenden Beziehungen zu anderen Menschen. Sie senken das Risiko für die Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter.

Auch soziale Kompetenzen konnten in verschiedenen Studien als Prädiktor für den späteren Erfolg in der Schule identifiziert werden. Kinder mit hoher sozialer Kompetenz wählen angemessene und effektive Verhaltensstrategien aus, sind in |30|ihrer Peergruppe akzeptiert und haben befriedigende Freundschaftsbeziehungen. Kinder mit geringer sozialer Kompetenz zeigen gehäuft aggressive, die Gruppe störende Verhaltensweisen oder sind sozial zurückgezogen. Sie finden wenig Anerkennung in der Gruppe, werden ignoriert oder ausgegrenzt.

Um in sozialen Situationen erfolgreich handeln zu können, muss ein Kind seine Aufmerksamkeit steuern und über sozial-kognitive Kompetenzen verfügen.

Sozial-kognitive Kompetenzen umfassen die Fähigkeit, soziale Hinweisreize zu erkennen, Absichten anderer Menschen zutreffend einzuschätzen und Zusammenhänge ihres Verhaltens zu verstehen. Zu ihnen gehört die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen, Handlungsoptionen für die Lösung sozialer Konflikte zu bewerten und eigene Wünsche und Vorschläge mitzuteilen. (Crick & Dodge, 1994, S. 76)

Unterschiede in der Fähigkeit zur Verarbeitung sozialer Informationen sind mit problematischen Verhaltensweisen im sozialen Alltag assoziiert. So zeigen z. B. aggressive Kinder die Neigung, in Situationen, in denen die Handlungsintentionen einer anderen Person nicht eindeutig sind, voreilig eine feindselige Handlungsabsicht zu unterstellen und in aggressiver Form darauf zu reagieren. Gute sozial-kognitive Kompetenzen gehen mit einer größeren Popularität der Kinder in der Gruppe einher. Dies zeigt sich sowohl in Lehrerbefragungen als auch in Studien, die soziometrische Verfahren zur Bestimmung der sozialen Stellung eines Kindes in seiner Gruppe verwendeten.

Als Vorläufer der Entwicklung sozial-kognitiver Kompetenzen gelten daher die Fähigkeit der Aufmerksamkeitsabstimmung mit einem Interaktionspartner („joint attention“), Nachahmungsfähigkeiten sowie das Erkennen von Emotionen bei anderen Menschen und Empathiefähigkeit. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich die Fähigkeit, soziale Informationen zu verarbeiten und sich Gedanken, Wünsche, Vorstellungen oder Wissen von anderen vorzustellen (Perspektivenübernahme; Theory of Mind; vgl. Abb. 5). Über diese sozial-kognitive Kompetenz verfügen Kinder etwa ab dem Alter von 4 Jahren. Sie ist eng mit der Entwicklung kommunikativer Kompetenzen verknüpft. Eingeschränkte sprachliche Fähigkeiten zum Dialog mit den Eltern, Geschwistern und anderen Kindern erschweren die Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme.