Frühförderung bei schwerster Behinderung - Klaus Sarimski - E-Book

Frühförderung bei schwerster Behinderung E-Book

Klaus Sarimski

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Beschreibung

Die Frühförderung von Kindern, bei denen schon in den ersten Lebensjahren eine schwerste Behinderung zu erkennen ist, stellt alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen. Das Buch schildert zunächst den Alltag der Familien und die Probleme der sozialen Teilhabe. Die Frühförderung muss sich auf die Unterstützung der Kommunikation, der Umwelterfahrung und Mobilität der Kinder ebenso konzentrieren wie den Erwartungen der Eltern an eine die Bedürfnisse der gesamten Familie berücksichtigende Beratung gerecht werden. Das Buch berücksichtigt auch Kinder mit besonderen medizinischen Pflegebedürfnissen und nimmt die Unterstützung der Kinder in Kindertagesstätten in den Blick.

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Der Autor

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski hat bis 2021 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit den Schwerpunkten sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik gelehrt.

Klaus Sarimski

Frühförderung bei schwerster Behinderung

Ein familienorientiertes Konzept für die Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041508-9

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-041509-6

epub:        ISBN 978-3-17-041510-2

Inhalt

 

 

 

Statt eines Vorwortes: Michael, Andreas und Christine

1   Zielgruppe, Lebensqualität, Entwicklung

1.1   Zielgruppe

1.2   Lebensqualität

2   Familiärer Alltag: Aktivitäten, soziale Beziehungen und Belastungen

2.1   Alltagsaktivitäten in der Familie und kindliche Beteiligung

2.2   Eltern-Kind-Interaktionen

2.3   Belastungserleben von Eltern

2.4   Erleben der Geschwister

3   Unterstützungsbedarf und Förderung der Kinder

3.1   Mit den Eltern kommunizieren

3.2   Die Welt entdecken

3.3   Sich in der Welt bewegen

3.4   Sehen und Hören: Früherkennung von Beeinträchtigungen

3.5   Essen geben – eine Herausforderung in der Pflege

4   Familienorientierte Beratung

4.1   Prinzipien familienorientierter Beratung

4.2   Erwartungen der Eltern bei schwerster Behinderung des Kindes

4.3   Zufriedenheit mit familienorientierter Unterstützung

4.4   Praxis familienorientierter Beratung bei schwerster Behinderung

5   Herausforderungen bei besonderen Pflegebedürfnissen

5.1   Versorgung mit einer Ernährungssonde

5.2   Versorgung mit einer Trachealkanüle

5.3   Unterstützungsbedarf der Eltern

6   Integration in Kindertagesstätten

6.1   Einstellungen von Eltern und Fachkräften

6.2   Soziale Teilhabe am Gruppengeschehen

6.3   Unterstützung der sozialen Teilhabe in der Praxis

Literatur

Statt eines Vorwortes: Michael, Andreas und Christine

 

 

 

Michael

Michaels Eltern wenden sich bereits während der stationären Erstversorgung an das Kinderzentrum in München, als eine Fachärztin für Humangenetik die Diagnose eines Cornelia-de-Lange-Syndroms stellt. Der Junge wird im Alter von neun Wochen erstmals vorgestellt.

In den ersten Wochen zu Hause bereiten eine vegetative Instabilität und ausgeprägte Probleme bei der Ernährung die größten Sorgen. Für mehrere Monate wird er überwiegend per Sonde ernährt und kann erst allmählich – mit Unterstützung einer erfahrenen Physiotherapeutin – an die orale Ernährung herangeführt werden. Zunächst zeigt er kaum Interesse an der Umwelt und am Kontakt mit seinen Eltern. Schnell wird klar, dass auch sein Hörvermögen eingeschränkt ist; er wird mit einem Hörgerät versorgt. Mit acht Monaten beginnt er den Kopf zu heben, wenn er angesprochen wird, und einen Arm in die Richtung auszustrecken, wenn ein Mobile über ihm baumelt oder ihm eine kleine Rassel angeboten wird. Allmählich nimmt er Blickkontakt auf, wenn die Eltern sich über ihn beugen. In der Beratung geht es von Beginn an darum, die Wahrnehmung der Eltern für Signale von Umweltinteresse und Kommunikationsbereitschaft Michaels zu stärken und ihnen zu helfen, positive Entwicklungsperspektiven aufzubauen. Beide Eltern setzen sich intensiv mit der Realität der Behinderung von Michael und den Auswirkungen der Behinderung auf die Entwicklung ihrer Familie auseinander.

Andreas

Andreas wird erstmals mit zwei Jahren im Kinderzentrum München vorgestellt. Es handelt sich um einen Jungen mit COFS-Syndrom, ein genetisch bedingtes Fehlbildungssyndrom, das mit einer schwersten Behinderung einhergeht. Andreas ist hochgradig hörbehindert. Er nimmt noch keinen Blickkontakt auf, kann sich noch nicht drehen oder fortbewegen.

In einer ersten Interaktionsbeobachtung versucht die Mutter, ihm in Rückenlage kleine Spielsachen anzubieten. Sie berührt ihn mit einer Rassel, drückt sie ihm in die Hand, schüttelt sie mit ihm gemeinsam. Er zeigt keine Aufmerksamkeitsreaktion. Daraufhin lässt sie das Spielzeug über seinen Körper wandern, tippt mit der Rassel mehrfach seinen Brustkorb an, legt sie ihm dann in die andere Hand. Er hält sie nicht fest. Sie legt sie resigniert beiseite mit dem Kommentar: »Na, dann halt nicht.«

Schnell wird deutlich, dass die Mutter bislang keinen Weg gefunden hat, ihn für die Umgebung zu interessieren oder einen Kontakt zu ihm aufzubauen. Sie hat sich ganz auf die Grundpflege zurückgezogen, versorgt ihn, so sagt sie, »wie eine Puppe«. Die Familiensituation ist sehr angespannt. Der Vater zeigt kein Interesse an seinem Sohn, der große Bruder versucht zwar immer mal wieder, Kontakt mit ihm zu finden, kann aber »mit ihm nichts anfangen«, wie er sagt. Die Mutter fühlt sich sehr allein gelassen, bleibt fast immer zu Hause. Eine Unterstützung durch die Großeltern hat sie nicht, weil diese weit entfernt wohnen.

In der Beratung geht es hier zunächst darum, der Mutter zu helfen, wie sie Kontakt zu Andreas finden kann. Es gilt, den Blick der Mutter für kleine Veränderungen in seiner Körperspannung oder Haltung zu schärfen, an denen sich erkennen lässt, dass er etwas in seiner Umgebung wahrnimmt. Mindestens ebenso wichtig ist es aber, ihre tiefe depressive Reaktion über die Behinderung ihres Kindes anzusprechen, den Vater für eine Beteiligung an der Pflege von Andreas zu gewinnen und soziale Unterstützung für die Familie zu mobilisieren.

Christine

Christine wird mit zwölf Monaten erstmals im Kinderzentrum vorgestellt. Auch sie ist in ihrer motorischen und kognitiven Entwicklung sehr stark beeinträchtigt, ohne dass die medizinischen Untersuchungen die Ursache eindeutig klären können. Christine macht noch keine Ansätze zum Drehen oder Aufrichten. Sie hat zwar gerade zu lächeln begonnen, aber es kommt immer wieder zu ausgedehnten Schreiphasen, ohne dass ein Anlass erkennbar ist oder die Mutter sie trösten kann. Das Verhalten beim Essen ist sehr wechselhaft. Teilweise akzeptiert sie die Flasche oder fein pürrierte Kost aus dem Gläschen, teilweise verweigert sie das Essen ganz.

Die Mutter ist allein erziehend. Der Vater hat sie einige Monate nach der Geburt von Christine verlassen, weil er sich von der Auseinandersetzung mit der Behinderung und den täglichen Belastungen, die das Essengeben, die Pflege und die intensive Physiotherapie mit sich bringen, überfordert fühlte. Die Mutter hat sich ganz auf die Versorgung von Christine konzentriert und versucht mit größtem Engagement, den Alltag zu bewältigen und ihr Anregungen für ihre Entwicklung zu geben. In der Beratung geht es darum, sie dabei zu unterstützen – aber auch darum, Entlastungen zu finden, wie sie ihre Bewältigungskräfte aufs Neue mobilisieren kann, und über Zukunftsperspektiven zu sprechen, was zu einer befriedigenden Lebensqualität für sie und für Christine beitragen könnte.

Michael, Andreas und Christine sind drei Kinder, die mir aus meiner Tätigkeit als Psychologe im Kinderzentrum München gut im Gedächtnis geblieben sind und die ich einige Zeit lang auf ihrem Weg begleiten konnte. Die kleinen Skizzen beschreiben die Ausgangssituation, auf die sich die Frühförderung dieser drei Kinder einzustellen hatte.

In diesem Buch soll es um ein familienorientiertes Konzept der Frühförderung bei schwerster Behinderung gehen. Sie werden als Leser erfahren, was eine schwerste Behinderung ausmacht, wie der Alltag in Familien aussieht, in denen Kinder mit schwerster Behinderung aufwachsen, welche Möglichkeiten es gibt, ihre soziale Teilhabe zu unterstützen, und wie eine Beratung dieser Familien angelegt sein kann – bis hin zu der Frage, was Frühförderung beitragen kann, damit sich Kinder mit schwerster Behinderung nicht nur in ihrer Familie, sondern auch später in einer Kindertagesstätte zugehörig und wohlfühlen.

Wenn man in die Literatur schaut, findet man eine Reihe von Berichten von Eltern – meistens Müttern –, die ihre Erfahrungen im Alltag mit ihrem Kind mit schwerster Behinderung schildern, ihre Sorgen und ihre Hoffnungen. Als Beispiel sei auf das Buch von Sandra Roth verwiesen, einer Journalistin, die ihre Auseinandersetzung mit der Behinderung ihrer Tochter in eindrucksvoller Weise unter dem Titel »Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl« beschreibt (Roth, 2013).

Andreas Fröhlich, ein von mir hochgeschätzter Kollege, hat in seinen Publikationen unter dem Titel »Basale Stimulation« über viele Jahre ein sonderpädagogisches Konzept für die Arbeit mit Menschen mit schwerster Behinderung entwickelt, das von einer wertschätzenden Haltung und einem großen Einfühlungsvermögen in ihr Erleben der Welt und ihre besonderen Bedürfnisse geprägt ist (z.B. Fröhlich, 2012, 2015; Mohr et al., 2019).

Erfahrungsberichte von Eltern und ein Verständnis für den umfassenden Unterstützungsbedarf von Menschen mit schwerster Behinderung, das sich aus solchen Quellen gewinnen lässt, sind für Fachkräfte, die mit der Frühförderung von Kindern mit schwerster Behinderung betraut sind, sehr wertvoll. Dieses Buch soll diese Grundlagen für ihre Arbeit um ein familienorientiertes Konzept ergänzen, mit dem die Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung und ihrer gesamten Familie unterstützt werden kann. Es wird somit nicht um eine Übungssammlung zur Frühförderung oder die Schilderung von Therapiekonzepten gehen, sondern um einen Leitfaden, an dem sich Fachkräfte in Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren oder Therapiepraxen orientieren können, um den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder, ihrer Eltern und Geschwister gerecht zu werden. Ich hoffe, dass der Band einen Beitrag leisten kann, der diesen Fachkräften in ihrer praktischen Arbeit nützlich ist.

München, im Sommer 2021Prof. Dr. Klaus Sarimski

1          Zielgruppe, Lebensqualität, Entwicklung

 

 

 

In diesem Kapitel erfahren Sie, um welche Kinder es geht und wie sich ihr Unterstützungsbedarf beschreiben lässt. Darüber hinaus wird erläutert, an welchen Kriterien sich die Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung und ihren Familien ablesen lässt und wie sich die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion und der familiären Alltagsaktivitäten in ein allgemeines Entwicklungsmodell einordnen lässt, das der Frühförderung von Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen zugrunde liegt.

1.1       Zielgruppe

Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit schwerster Behinderung wird in der internationalen Fachliteratur unterschiedlich definiert. Einige Autoren sehen einen komplexen und lebenslangen Unterstützungsbedarf in allen alltäglichen Lebensbereichen als zentrales Merkmal an, andere Autoren definieren sie als Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit sehr schweren intellektuellen und motorischen Behinderungen in Verbindung mit Sinnesbeeinträchtigungen. In vielen Fällen bestehen zusätzliche gesundheitliche Probleme.

Versuche der Definition mittels standardisierter Beurteilungsverfahren

In der englischsprachigen Literatur wird von Personen mit einer schwersten intellektuellen und mehrfachen Behinderung (»profound intellectual and multiple disabilities; PIMD) bzw. schwersten Lernstörungen (»profound and multiple learning disabilities; PMLD) gesprochen (Maes et al., 2021). Nakken & Vlaskamp (2007, S.85) formulieren:

«Individuals with PIMD have two key defining characteristics: (a) profound intellectual disability and (b) profound motor disability. They also have a number of additional severe or profound secondary disabilities or impairments.«

Autoren, die diese Begriffe verwenden, beziehen sich in der Regel auf die medizinischen Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-V. Dort ist eine schwerste intellektuelle Behinderung definiert als solche, bei der der Intelligenzquotient unter 20–25 liegt, während er bei Menschen mit schwerer intellektueller Behinderung (»severe intellectual disabilities«, »severe global learning disabilities«) im Bereich zwischen IQ 35 und IQ 50 liegt. Um den Grad der motorischen Einschränkungen dieser Kinder zu beschreiben, verwenden die Autoren häufig das »Gross Motor Function Classification System«, das sich in der Klassifikation von Kindern mit einer Cerebralparese bewährt hat. Dabei wird der Schweregrad in fünf Stufen eingeteilt. Bei sehr schwerer und mehrfacher Behinderung liegt in der Regel ein Grad IV oder V vor, d.h. die Kinder und Jugendlichen sind nicht zu einer selbständigen Fortbewegung in der Lage.

Eine Abgrenzung des Personenkreises mittels standardisierter Testverfahren ist jedoch fragwürdig. Intelligenztests sind aufgrund der schweren Einschränkungen der motorischen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen und einer zusätzlichen Hör- oder Sehbehinderung in der Regel nicht valide durchführbar. Das bedeutet, dass ihre kognitiven Funktionen nicht eindeutig beurteilbar sind. Auch zusätzliche Sinnesbeeinträchtigungen sind nur schwer durch objektive Testverfahren zu beurteilen, da die meisten der dafür verwendeten Verfahren eine aktive Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen und in vielen Fällen auch sprachliche Reaktionen auf Testaufgaben voraussetzen.

In der internationalen Fachdiskussion besteht Einigkeit, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit intellektueller Behinderung nicht nur die Intelligenzleistungen, sondern auch die adaptiven Kompetenzen zu erfassen. Sie umfassen die »funktionalen« Fertigkeiten, über die ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener bei der Bewältigung des Alltags verfügt. Zur Beurteilung der adaptiven Kompetenzen können z.B. die »Vineland Adaptive Behavior Scales« (VABS) verwendet werden, deren dritte, aktualisierte Auflage auch in einer deutschen Fassung zur Verfügung steht (Sparrow et al., 2021).

Bei einer schwersten Behinderung liegen die kognitiven, sprachlichen und adaptiven Fähigkeiten unter dem Entwicklungsniveau einjähriger Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung (z.B. Ware, 1996; Nakken & Vlaskamp, 2007). Diese Definition soll deutlich machen, dass ein ausgeprägter Hilfe- und Unterstützungsbedarf vorliegt und die Entwicklungsschritte in den sensomotorischen und vorsprachlichen kommunikativen Fähigkeiten, die ein Kind im ersten Lebensjahr vollzieht, als eine Orientierungshilfe für die Einschätzung des Unterstützungsbedarfs bei Menschen mit schwerster Behinderung gelten können.

Kompetenzen und Entwicklungsschritte bei schwerster Behinderung lassen sich auf diesem Entwicklungsniveau durch adaptive Kompetenzskalen, die für Kinder, Jugendliche und Erwachsene jeden Alters entwickelt wurden, nicht ausreichend differenzieren. Daher wurden im englischsprachigen Raum für diese Zielgruppe spezifische Kompetenzinventare, z.B. von Kiernan & Jones (1982; »Behaviour Assessment Battery«), entwickelt. Eine aktualisierte Bearbeitung dieser Skalen ist in den Niederlanden in Vorbereitung. Die Skalen sind in fünf Bereiche gegliedert: emotionales und kommunikatives Verhalten, Sprachverstehen, allgemeine Kommunikation, visuelles Verhalten, exploratives Verhalten. Insgesamt umfassen sie 100 Items, die auf den komplexen Unterstützungsbedarf dieser Zielgruppe abgestimmt sind. Zur Beurteilung der konvergenten Validität überprüften Wessels et al. (2020) die korrelativen Zusammenhänge zu der Einschätzung mit herkömmlichen Skalen zur Beurteilung der kommunikativen und motorischen Fähigkeiten bei 52 Kindern (mittleres Alter: 3;1 Jahre) und 26 Erwachsenen (mittleres Alter: 34;2 Jahre) mit schwerster Behinderung (PIMD). Das Einschätzungsverfahren erwies sich als gut tauglich für diese Zielgruppe, ist allerdings (noch) nicht in einer deutschen Version zugänglich.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgten im deutschsprachigen Raum Fröhlich & Haupt (2004) mit dem »Leitfaden zur Förderdiagnostik bei schwerstbehinderten Kindern«. Auch hier ist eine aktualisierte Neuauflage in Vorbereitung (Schäfer et al., i. V.). Die Fähigkeiten, die mit den einzelnen Items erfasst werden, beziehen sich auf die Entwicklungsspanne bis zum Ende des ersten Lebensjahres bei unbeeinträchtigter Entwicklung. Sie sind in neun Bereiche gegliedert (Tab. 1) und in einem vierstufigen Modell angeordnet; die Niveaueinteilung entspricht etwa der Entwicklung in den vier Quartalen des ersten Lebensjahres:

•  Niveau 1: hohe Abhängigkeit von einer Bezugsperson, Aufnahme von Information aus der Umwelt nur durch unmittelbaren Körperkontakt

•  Niveau 2: aktive Benutzung der Fernsinne Hören und Sehen

•  Niveau 3: erste Selbständigkeit im Spielen und Fortbewegen

•  Niveau 4: Entwicklung von basalen sozialen Kompetenzen (z.B. Nachahmen)

Tab. 1: Entwicklungsbereiche der Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern (Fröhlich & Haupt, 2004)

Entwicklungsbereiche der Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern (Fröhlich & Haupt, 2004)

Eine Orientierung über die präverbalen Kommunikationsfähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerster Behinderung bietet das »Pre-Verbal Communication Schedule« (PVCS; Kiernan & Reid, 1987), das in einer Kurzform als Kopiervorlage in dem Band »Kinder-Diagnostik-System, Band 2: Geistige Behinderung und Tiefgreifende Entwicklungsstörung« (Sarimski & Steinhausen, 2007) in deutscher Sprache zugänglich ist. Es handelt sich um einen Erhebungsbogen mit 82 Items, mit denen folgende Funktionen des kindlichen Kommunikationsrepertoires dokumentiert werden können: Suche nach Aufmerksamkeit, Mitteilung von Wünschen und Bedürfnissen, Ablehnung, positive und negative soziale Kontaktaufnahme, Abstimmung gemeinsamer Aufmerksamkeit, motorische und vokale Imitation, Verständnis für nonverbale Kommunikation und Verständnis von sprachlichen Äußerungen. Bei den meisten Items werden die Eltern gebeten, sie als zutreffend, teilweise zutreffend oder nicht zutreffend zu beurteilen; wenige Items erfordern eine direkte Beobachtung der Reaktionen des Kindes auf eine gestellte Aufgabe. Die Dokumentation ergibt ein differenziertes Bild, welche Mittel ein Kind zu den einzelnen kommunikativen Funktionen einsetzt.

Chatwick et al. (2019) befragten Sprachtherapeuten in England zu ihren Erfahrungen beim Einsatz dieses und anderer standardisierter Erhebungsinstrumente zur Beurteilung der kommunikativen Fähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerster Behinderung (PIMD). Sie fanden es nützlich, solche Beurteilungsverfahren bei der Förder- und Therapieplanung einzubeziehen, sahen es aber als erforderlich an, sie durch informelle Beobachtungen der Fähigkeiten der Kinder im Alltag zu ergänzen.

Umfassender Unterstützungsbedarf

Statt eine schwerste Behinderung anhand der Ergebnisse von standardisierten Untersuchungsinstrumenten zu definieren, lässt sich schwerste Behinderung auch über den Unterstützungs- und Hilfebedarf der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in den verschiedenen Lebensbereichen beschreiben. Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung sind Kinder, die in ihren alltäglichen Lebensvollzügen wie Nahrungsaufnahme, Verdauung, Atmung, Ein- und Durchschlafen, Bewegungsmöglichkeiten, Erkunden der Umwelt und Verständigung mit den Bezugspersonen in gravierendem Maße beeinträchtigt sind und bei denen ein lebenslanges hohes Maß an sozialer Abhängigkeit besteht. Ihnen ist meist keine Verständigung über Lautsprache möglich (vgl. Fröhlich et al. 2007).

Nach Fröhlich (2014) gehört eine körperliche Beeinträchtigung, die Störung der Bewegungsentwicklung, zentral zu dem, was schwerste Behinderung genannt wird. Darüber hinaus ist bei Menschen mit schwerster Behinderung die Fähigkeit, die Welt und sich selbst mit ihren Sinnen aufnehmen und daraus Sinn entnehmen zu können, in hohem Maße beeinträchtigt – sei es, weil ein Sinnesbereich stark reduziert ist oder ganz ausfällt, z.B. bei Blindheit oder Gehörlosigkeit, oder weil die Verarbeitung von Wahrnehmungseindrücken und das Denken durch eine schwere Schädigung des Gehirns massiv beeinträchtigt und damit die Orientierung in der Welt verändert ist. Menschen mit schwerster Behinderung sind schließlich in ihrer Fähigkeit, Sprache aktiv und passiv zu erlernen, sehr begrenzt. Oft bleibt es bei einfachsten Austauschprozessen, die nicht selten ihre Bezugspersonen vor große Herausforderungen stellen, wenn sie die Verhaltensweisen deuten und verstehen wollen. Die eingeschränkte Selbstpflegekompetenz ist nach Fröhlich (2014) ein weiteres Charakteristikum; Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit schwerster Behinderung sind in der Regel auf Hilfe beim Waschen, Toilettengang, aber auch beim Essen angewiesen.

Menschen mit schwerster Behinderung benötigen zudem meist kontinuierliche Behandlungsmaßnahmen und Hilfsmittel:

•  Physiotherapie (zur Erleichterung von Atmung und Verdauung, Verbesserung ihrer Bewegungsmöglichkeiten und Vorbeugung von Kontrakturen),

•  orthopädische Hilfsmittel (Stützapparate, angepasste Sitzschalen, Rollstühle),

•  eine medikamentöse Versorgung (z.B. zur Behandlung einer Epilepsie) und

•  evtl. technische Kommunikationshilfen (»Unterstützte Kommunikation«).

Diese qualitative Beschreibung des Personenkreises, wie sie Fröhlich für den deutschen Sprachraum wegweisend formuliert hat, entspricht Definitionen, die sich in der internationalen Fachliteratur finden. So definieren z.B. Samuel & Pritchard (2001, 39) den in England gebräuchlichen Begriff der »Profound and Multiple Learning Disabilities« (PMLD):

»Children and adults with profound learning disability have extremely delayed intellectual and social functioning with little or no apparent understanding of verbal language and little or no symbolic interaction with objects. They possess little or no ability to care for themselves. There is nearly always an associated medical factor such as neurological problems, physical dysfunction or pervasive developmental delay. In highly structured environments, with constant support and supervision and an individualized relationship with a carer, people with profound learning disabilities have the chance to engage in their world and to achieve their optimum potential (which might even mean progress out of this classification as development proceeds). However, without structure and appropriate one-to-one-support such progress in unlikely.«

Ursachen und Häufigkeit von schwerster Behinderung

Schwerste Behinderungen können im Rahmen eines genetischen Syndroms eintreten, d.h. anlagebedingt sein, oder durch eine schwere pränatale Infektion entstehen. Zu den genetischen Syndromen, die mit einer sehr schweren Behinderung einhergehen, gehören z.B. das Cornelia-de-Lange-Syndrom, das Cri-du-Chat-Syndrom, das Angelman-Syndrom und das Rett-Syndrom (Sarimski, 2014). Weitere Ursachen sind cerebrale Schädigungen, wie sie infolge einer schweren Hirnblutung oder eines Sauerstoffmangels in der Neugeborenenperiode auftreten können; ihr Risiko ist bei sehr unreif geborenen Kindern besonders hoch. Schwerste Behinderungen können schließlich auch postnatal durch eine Hirnschädigung (z.B. als Schädel-Hirn-Trauma nach Verkehrsunfällen oder im Rahmen eines Ertrinkungsunfalls) eintreten.

Eine repräsentative Untersuchung von 461 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer schweren oder schwersten intellektuellen Behinderung (IQ < 35, bzw. IQ < 20) zeigt, dass mehr als 35 % auf genetische Syndrome, etwa 14 % auf perinatale Infektionen und 8 % auf angeborene Stoffwechselerkrankungen zurückzuführen waren (Arvio & Sillanpää, 2003). Bei etwa einem Drittel der Stichprobe ließ sich die Ursache der Behinderung nicht eindeutig klären.

Ergebnisse zur Häufigkeit von Behinderungen liegen aus flächendeckenden epidemiologischen Untersuchungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus Skandinavien vor. Sie erlauben eine quantitative Angabe zum Anteil der Kinder mit schwerer und schwerster Intelligenzminderung (IQ < 35 bzw. IQ < 20, wie sie nach der ICD-10 unterschieden werden). So fanden Arvio & Sillanpää (2003) in einem Distrikt Finnlands unter mehr als 340.000 Einwohnern 461 Bewohner (0.13 %) mit einer solchen Diagnose. Eine norwegische Studie (Stromme & Valvatne, 1998) ermittelte eine Häufigkeit von 0.12 %. Wenn man diese Zahlen auf Deutschland überträgt, kann davon ausgegangen werden, dass pro Geburtsjahrgang mindestens 800–1000 Kinder zu den Kindern mit schwerer und schwerster intellektueller Behinderung gehören.

Repräsentative Daten zur Häufigkeit von schweren und schwersten Behinderungen im Kindesalter liegen im deutschen Sprachraum nicht vor. Eine Orientierung, wie häufig diese Behinderungen sind, lässt sich aber aus Erhebungen gewinnen, die in Förderzentren (Kindergärten und Schulen) durchgeführt wurden. Eine solche Erhebung wurde z.B. in Schulkindergärten, die an Förderzentren für Kinder mit Förderbedarf im Bereich der geistigen oder körperlichen Entwicklung bzw. für Kinder mit Hör- oder Sehbehinderungen angeschlossen sind,durchgeführt (Sarimski, 2016). Sie bezieht sich auf Baden-Württemberg – ein Bundesland, in dem die Institution der Schulkindergärten, die an Sonderschulen angegliedert sind, aus historischen Gründen bis heute sehr breit etabliert ist. An der Erhebung beteiligten sich 258 Gruppenleiterinnen (50.7 % aller Gruppenleiterinnen in den betreffenden Förderschwerpunkten), davon konnten 238 Fragebögen in die Auswertung einbezogen werden. Die Angaben der Gruppenleiterinnen aus diesen 238 Gruppen beziehen sich auf insgesamt 1811 Kinder. Die Ergebnisse lassen sich in folgende Aussagen zusammenfassen:

Eine Studie zur Bildungsrealität von Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung, die im gleichen Bundesland durchgeführt wurde, macht ebenfalls deutlich, dass bei vielen Kindern in Förderzentren ein umfassender Unterstützungsbedarf vorliegt. Bei 165 Schülern, die an Schulen für Körperbehinderte und an Schulen für Geistigbehinderte (von den Lehrkräften) als schwerstbehindert eingeschätzt werden, gaben die Eltern bei über 90 % eine Beeinträchtigung der Sprache, bei 77 % eine schwere körperliche Behinderung, bei etwa 50 % eine Seh- oder Hörbehinderung an (Klauß, 2006). Etwa 10 % teilten mit, dass ihr Kind Probleme mit der Nahrungsaufnahme hat.

Die Zahl der Kinder mit schwerster Behinderung, die in Kindertagesstätten mit inklusivem Konzept oder allgemeinen Schulen gefördert werden, ist niedrig; verlässliche Zahlen liegen dazu allerdings nicht vor. Pädagogische Fachkräfte in allgemeinen Kindergärten und Schule stehen einer Aufnahme von Kindern mit schwerster Behinderung überwiegend skeptisch gegenüber. Hindernisse für eine inklusive Förderung werden in fehlender Barrierefreiheit der Einrichtungen, mangelnder räumlicher Ausstattung und – vor allem – fehlender Qualifikation des Personals gesehen (Sarimski, 2021a).

Zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen

Zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen sind bei schwerer intellektueller Behinderung häufig. Die meisten Studien zu dieser Frage wurden bei Erwachsenen durchgeführt. Van Timmeren et al. (2017a) veröffentlichten eine systematische Übersicht über zwanzig Studien (Abb. 1). Danach liegt bei schwerer intellektueller Behinderung in 70 % der Fälle eine epileptische Erkrankung vor. Die Häufigkeit von Sehbeeinträchtigungen liegt bei durchschnittlich 56 %, von Hörbeeinträchtigungen bei 21 %. In vielen Fällen werden diese Sinnesbehinderungen nicht adäquat erkannt, weil es schwierig ist, die entsprechenden Untersuchungen wegen fehlender Fähigkeit zur Mitarbeit der Probanden durchzuführen, und/oder die Beobachtungen atypischer oder gänzlich fehlender Reaktionen auf visuelle oder akustische Reize fälschlich auf die Schwere der kognitiven Behinderung zurückgeführt werden.

Abb. 1: Zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Menschen mit schwerer intellektueller Behinderung (Van Timmeren et al., 2017a)

Zu den weiteren gesundheitlichen Problemen gehören in vielen Fällen Einschränkungen der Lungenfunktion, die z.B. durch eine Langzeitbeatmung nach sehr unreifer Geburt (BPD) oder häufige Aspiration bei der Nahrungsaufnahme entstehen können. Diese gesundheitliche Einschränkung wurde bei 21 % berichtet. Ein Gastro-ösophagealer Reflux (GÖR), der die Nahrungsaufnahme und das Wohlbefinden in unterschiedlichem Grade beeinträchtigt, ist bei durchschnittlich 16 % der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer schweren intellektuellen Behinderung zu diagnostizieren. Eine Dysphagie (Schluck- und Essprobleme) liegt bei etwa 30 % der Menschen mit schwerster Behinderung vor, in der Regel in Verbindung mit anderen Symptomen einer Cerebralparese.

Nicht selten handelt es sich um eine Multimoribidität, wie eine ergänzende Studie von Van Timmeren et al. (2017b) zeigte. Sie werteten die Akten von 99 Erwachsenen mit schwerer und mehrfacher Behinderung aus. In dieser Stichprobe traten bei 37 % eine Kombination aus Epilepsie, Cerebralparese und Sehbehinderungen auf.

Dass auch bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer intellektueller Behinderung zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen häufig sind, zeigt eine Studie von Zijlstra & Vlaskamp (2005). Sie werteten die medizinischen Diagnosen von Kindern mit schwerer intellektueller Behinderung in drei Zentren in den Niederlanden aus. Danach bestand bei mehr als 80 % eine zusätzliche Seh- und bei ca. 30 % eine zusätzliche Hörbehinderung. Bei fast 50 % bestanden schwerwiegende Essprobleme, bei fast 40 % eine Einschränkung der Lungenfunktion.

Gesundheitliche Beeinträchtigungen dieser Art beeinträchtigen die Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung und stellen besondere Anforderungen an ihre Eltern. Sie erfordern eine fachliche Unterstützung durch ein multi-disziplinäres Team und müssen bei der familienorientierten Frühförderung berücksichtigt werden.

1.2       Lebensqualität

Angesichts der lebenslangen Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen mit schwerster Behinderung ist das Ziel der Behandlungs- und Fördermaßnahmen die Sicherung einer möglichst hohen Lebensqualität.

Beim Begriff der »Lebensqualität« handelt es sich um ein multidimensionales Konstrukt; sie hängt sowohl von individuellen Ressourcen als auch Umweltfaktoren ab (Cummins, 2005). Kerndimensionen von »Lebensqualität« sind körperliches Wohlbefinden, materielles, soziales und emotionales Wohlbefinden sowie die Verwirklichung des Entwicklungspotentials und die Beteiligung an Aktivitäten im Alltag (z.B. Felce & Perry, 1995).

Lebensqualität bei schwerster Behinderung

Was Lebensqualität für Menschen mit schwerster Behinderung bedeutet, ist nicht einfach zu bestimmen. Grundsätzlich unterscheiden sich nach Ansicht von Eltern und Betreuern von Menschen mit schwerster Behinderung die Komponenten, die Lebensqualität ausmachen, nicht in Abhängigkeit vom Grad der Behinderung (Petry et al., 2005). Einige Indikatoren, die bei Menschen, die nicht behindert sind, relevant sind – Einkommen, sozialer Status, berufliche Verwirklichung, Autonomie – sind jedoch auf ihre Lebenssituation nicht anwendbar. Andere Aspekte, die für Menschen ohne schwere Behinderungen keine wesentliche Bedeutung haben, haben dagegen einen starken Einfluss auf die Lebensqualität dieser Zielgruppe – z.B. die gesundheitliche Versorgung oder die Verfügbarkeit von Hilfsmitteln und Unterstützungsmaßnahmen (Brown et al., 2013).

Petry et al. (2007) organisierten eine Expertendiskussion von Fachleuten aus den Niederlanden, aus Belgien, Deutschland, England und Irland zu der Frage, welche Dimensionen die Lebensqualität dieser Zielgruppe ausmachen und wie diese sinnvoll strukturiert werden können. In einem Konsensus-Prozess identifizierten die Autoren insgesamt 176 Indikatoren (Aktivitäten und Unterstützungsmaßnahmen), um das körperliche Wohlbefinden (Mobilität, Gesundheit, Hygiene, Ernährung, Ruhephasen), das materielle Wohlbefinden (Wohnumwelt, technische Hilfsmittel), das sozial-emotionale Wohlbefinden (Kommunikation, Behandlungsmaßnahmen, Schutz vor Gefahren, familiäre Bindungen, soziale Beziehungen und Teilhabe) sowie Verwirklichung des Entwicklungspotentials (Anregungen zur Entwicklung von Kompetenzen) und die Beteiligung an Aktivitäten im Alltag (Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten) zu beschreiben.

Eine fachliche Herausforderung besteht in der Art und Weise, wie diese Lebensqualität zuverlässig beurteilt werden kann. Kinder, Jugendliche und Erwachsene ohne schwere intellektuelle Behinderung können nach ihrer subjektiven Lebensqualität gefragt werden. Dies ist bei Menschen mit schwerster Behinderung nicht in der gleichen Weise möglich. Hier bleibt nur der Weg, ihre Bezugspersonen nach ihrer Einschätzung zu fragen. Wenn dabei Eltern befragt werden, ist diese Einschätzung jedoch nicht unbeeinflusst von ihrem eigenen psychischen Wohlbefinden und der Belastung, die sie selbst erleben.

Petry et al. (2009) entwickelten einen Fragebogen mit 55 Items, gegliedert in sechs Skalen, um über die Befragung von Bezugspersonen die Lebensqualität bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerster Behinderung in Betreuungsinstitutionen einzuschätzen. Dabei zeigte sich, dass die Lebensqualität in hohem Maße von der gesundheitlichen Situation abhing; gesundheitliche Komplikationen, Ernährungsschwierigkeiten und die Abhängigkeit von Medikamenten waren in der Regel mit einer niedrigeren Lebensqualität assoziiert. Darüber hinaus war der Ausprägungsgrad von Verhaltensauffälligkeiten mit der wahrgenommenen Lebensqualität assoziiert. Außerdem ließen sich Zusammenhänge zur Art und zu Qualitätsmerkmalen der Betreuungseinrichtung identifizieren.

Maes et al. (2007) sahen nach einer Literaturübersicht zur Effektivität von Interventionen zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit schwersten und komplexen Behinderungen Interventionen zur Optimierung der gesundheitlichen Versorgung, zur Förderung sozialer Beziehungen durch eine Anleitung der Betreuungspersonen in der Gestaltung responsiver Interaktionen sowie zur Förderung der Beteiligung an Aktivitäten in einer anregenden Umgebung als vordringlich an.

Lebensqualität im Kindesalter

Gomez et al. (2016) entwickelten einen Fragebogen zur Beurteilung der Lebensqualität von Kindern, mit dem über insgesamt 156 Items Aspekte der sozialen Inklusion, Selbstbestimmung, des körperlichen, emotionalen und materiellen Wohlbefindens, der sozialen Beziehungen und der Möglichkeiten zur Realisierung des eigenen Entwicklungspotentials abgefragt wurden. Der Fragebogen wurde in einer Stichprobe von mehr als 1000 Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung erprobt.

Die Sicherung von gesundheitlicher Stabilität, die Unterstützung von Kontaktbereitschaft zur Umwelt, Eigeninitiative, sozialen Beziehungen zu Erwachsenen und anderen Kindern sowie sozialer Teilhabe am Alltag sind zentrale Ziele, um die Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung zu fördern und sie körperliches und emotionales Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit erleben zu lassen. Wohlbefinden, Selbstbestimmung und soziale Partizipation im Rahmen ihres Entwicklungspotentials zu fördern – dies entspricht den Leitideen der Pädagogik für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit intellektueller Behinderung.

Die Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung ist untrennbar verbunden mit der Lebensqualität ihrer Eltern und Geschwister. Das bedeutet, dass sich die Frühförderung sowohl auf die Förderung des Wohlbefindens und der sozialen Teilhabe des Kindes beziehen muss als auch auf die Unterstützung der Eltern bei der Bewältigung der besonderen Herausforderungen, die die schwere Behinderung ihres Kindes für ihren Alltag und ihre psychische Stabilität mit sich bringt (Abb. 2).

McNcube et al. (2018) wählten emotionales Wohlbefinden (»Happiness«), Möglichkeiten zur Verwirklichung des Entwicklungspotentials und zur Beteiligung an Aktivitäten sowie die Qualität sozialer Beziehungen zu Peers als Indikatoren für die Lebensqualität. Sie befragten 246 Eltern von Kindern mit schwerer intellektueller Behinderung im Alter zwischen vier und 19 Jahren und verglichen die Einschätzungen mit denen von Eltern von Kindern ohne Entwicklungsstörungen. Erwartungsgemäß schätzten die Eltern der ersten Gruppe die Lebensqualität ihrer Kinder niedriger ein. Innerhalb dieser Gruppe erhielten jüngere Kinder, Kinder mit höherem Niveau adaptiver Fähigkeiten und geringer Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten eine günstigere Einschätzung. Als weiterer Einflussfaktor ließ sich eine allgemeine positive Lebenseinstellung der Eltern identifizieren, die als »Optimismus« erhoben worden war. Je stärker sich die Eltern selbst psychisch belastet fühlten und je weniger zufrieden sie mit der pädagogischen Förderung ihrer Kinder waren, umso niedriger schätzten sie auch die Lebensqualität ihrer Kinder ein.

Abb. 2: Lebensqualität von Kindern mit schwerster Behinderung

Woran lässt sich nun emotionales Wohlbefinden bei sehr jungen Kindern mit schwerster Behinderung erkennen? Was macht hier das Gefühl sozialer Zugehörigkeit und Verbundenheit aus? Was bedeutet in dieser Entwicklungsphase soziale Teilhabe an Alltagsaktivitäten zur Realisierung des Entwicklungspotentials zur Selbstbestimmung? Wie lassen sich physiologische Grundbedürfnisse (Ernährung, Atmung, Schmerzfreiheit) sichern als Grundlage für Wohlbefinden, Selbstbestimmung und Partizipation?

Einordnung in ein systemisches Entwicklungsmodell

Die Sicherung des körperlichen Wohlbefindens – mit anderen Worten der Schutz vor Gefahren –, Anregungen durch Teilhabe an Aktivitäten im Alltag und entwicklungsförderliche Interaktionen in stabilen emotionalen Beziehungen mit den Bezugspersonen sind Voraussetzungen für den Erwerb von kognitiven, sprachlichen, motorischen und sozialen Kompetenzen im Kindesalter. Sie stellen die zentralen Ansatzpunkte für die Frühförderung von Schlüsselkompetenzen dar, die sich bei Kindern mit schwerster Behinderung als Aufmerksamkeit für die Umgebung, Eigeninitiative und soziale Beteiligung beschreiben lassen. Wie gut es Eltern gelingt, die Kinder beim Erwerb dieser Kompetenzen zu unterstützen, hängt von ihrer psychischen Stabilität und ihren sozialen Ressourcen ab (Abb. 3).

Abb. 3: Entwicklungszusammenhänge bei Kindern mit und ohne Behinderungen (adaptiert nach: Sarimski, 2017)

Ein solches systemisches Verständnis von Entwicklung liegt allen modernen Konzepten familienorientierter Frühförderung zugrunde (Guralnick 2011, 2019; Sarimski, 2017). Motivation zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt, Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen zur Selbstregulation und soziale Fähigkeiten können sich danach nur im Kontext sozialer Beziehungen in der Familie und in den sozialen Alltagserfahrungen des Kindes entwickeln. Eltern haben um ein Vielfaches mehr Gelegenheiten, Entwicklungsanregungen zu setzen, als es Fachkräfte in einer Förderstunde oder in einer Kindertagesstätte können. Es ist die Vielfalt von Aktivitäten, die sich zwischen den Förderstunden ergeben – nicht die einzelnen Stunden, in denen die Fachkraft anwesend ist –, in denen Entwicklungsförderung stattfindet.

Die Entwicklungsprozesse werden in diesem Verständnis bestimmt von Anlagen und Dispositionen des Kindes, der Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen und den Lerngelegenheiten, die es innerhalb der Familie, in den sozialen Beziehungen zu weiteren Bezugspersonen und später in sozialen Gruppen erhält. Die Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen und der Entwicklungsimpulse im Alltag hängen ihrerseits von den persönlichen und sozialen Ressourcen der Eltern ab.

Insbesondere die sensible Reaktionsbereitschaft der Eltern auf kindliche Interaktionsbeiträge und Bedürfnisse erweist sich bei Kindern mit Behinderungen als wesentliche Unterstützung für die Entwicklung (Dyches et al., 2012; Mahoney & Nam, 2011). Eltern können sich jedoch nur dann auf die besonderen Bedürfnisse ihres Kindes einstellen und ihm Anregungen für seine Entwicklung im Alltag bieten, wenn sie sich den Herausforderungen ihrer Lebenssituation gewachsen fühlen. Dies bedeutet, dass elterliche Belastungen, die Sorgen und Nöte der Eltern von den Fachkräften bei der Diagnostik und Planung von Fördermaßnahmen beachtet werden müssen.

Familiäre Lebensqualität

Das übergeordnete Ziel der Maßnahmen der Frühförderung ist es, das emotionale Wohlbefinden, die Teilhabe an Aktivitäten und die Qualität von sozialen Beziehungen des Kindes zu unterstützen. Im Sinne des systemischen Entwicklungsmodells ist die Lebensqualität der gesamten Familie untrennbar damit verbunden.

Auch familiäre Lebensqualität stellt ein multidimensionales Konstrukt dar. Sie umfasst:

•  körperliches und psychisches Wohlbefinden aller Familienmitglieder

•  ausreichendes Familieneinkommen

•  befriedigenden familiären Zusammenhalt

•  Zugang der Eltern zu Informationen und Unterstützungen

•  ausreichende Gelegenheiten zur persönlichen Weiterentwicklung aller Familienmitglieder

•  ausreichende Gelegenheiten zu Freizeitgestaltung und Teilhabe an Aktivitäten im sozialen Umfeld.

Im Kontext der Entwicklung und Evaluation familienorientierter Konzepte der Frühförderung wurden im internationalen Raum verschiedene Fragebögen zur Messung familiärer Lebensqualität entwickeln, die die genannten Indikatoren in jeweils recht ähnlicher Weise einbeziehen. Dazu gehören z.B. die »Beach Center Family Quality of Life Scale« (Hoffman et al., 2006), das »Family Quality of Life Survey« (Brown et al., 2006) und die »Family Quality of Life Scale« (McWilliam & Casey, 2013).

Im deutschen Sprachraum entwickelte Tröster (2005) einen Fragebogen zur familienbezogenen Lebensqualität (FLQ), den er bei Müttern von chronisch kranken Kindern erprobte. Der Fragebogen enthält 24 Items, die sich in drei Subskalen gliedern lassen: Entlastung und Selbstverwirklichung, Energie und Aktivität, sozialer Rückhalt in der Familie. Zur Überprüfung der Validität wurden bei 184 Müttern Zusammenhänge zu krankheitsbedingten Anforderungen, Funktionsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, mütterlicher Belastung und den bevorzugten Bewältigungsstrategien der Mütter untersucht. Der Fragebogen eignet sich auch zur Identifikation individueller und sozialer Ressourcen als Determinanten der Lebensqualität von Müttern von Kindern mit schwersten Beeinträchtigungen.

Eine der wenigen Studien, die sich spezifisch der Lebensqualität von Familien mit Kindern mit komplexen Behinderungen widmeten, stammt aus Frankreich. Rousseau et al. (2020) legten den Eltern von 77 Kindern mit schwerer und mehrfacher Behinderung im Alter von vier bis elf Jahren einen Fragebogen zur Beurteilung der Lebensqualität sowie Fragebögen zum Belastungserleben und zu Bewältigungsansätzen vor. Die Eltern gaben Belastungen ihrer Gesundheit, Einschränkungen in ihren alltäglichen Aktivitäten sowie erhöhte finanzielle Kosten als wichtigste Beeinträchtigungen für ihre Lebensqualität an. Die Familienkonstellation oder das Bildungsniveau der Eltern hatten dabei keinen signifikanten Einfluss. Eine ausgedehnte tägliche Betreuungsdauer, häufige nächtliche Unterbrechungen des Schlafs und besondere Pflegebedürfnisse des Kindes (Abhängigkeit von technischen Hilfen) trugen zu einer besonders hohen subjektiven Belastung bei.

Auch eine deutsche Untersuchung, die vom Kindernetzwerk in Kooperation mit der AOK durchgeführt wurde, macht deutlich, dass die Behinderung des Kindes umfassende Belastungen für die Familie mit sich bringt. Bundesweit wurden fast 1600 Eltern von Kindern mit körperlichen und geistigen sowie mehrfachen Behinderungen befragt (»Familie im Fokus«; Kindernetzwerk, 2015). Danach geben z.B. die Hälfte der Mütter (und knapp 20 % der Väter) an, dass sie ihre Arbeitszeit aufgrund der Geburt eines behinderten Kindes reduziert haben. 26 % der Mütter haben die Erwerbsarbeit vorübergehend ganz eingestellt; diese Zahl ist deutlich höher als in einer Vergleichsgruppe von Müttern, deren Kinder keine Behinderung haben. Abbildung 4 zeigt, welche anderen Belastungen von den Eltern geschildert werden.

Abb. 4: Belastungen von Familien mit chronisch kranken/behinderten Kindern (Kindernetzwerk, 2015)

In den folgenden Kapiteln wird es nun darum gehen, wie die spezifische Lebenssituation eines Kindes mit schwerster Behinderung in seiner Familie aussieht, welche spezifischen Herausforderungen sich durch seinen umfassenden Unterstützungsbedarf bei den Alltagsaktivitäten stellen, welche Auswirkungen sich auf