Flammen - Isabella Mey - E-Book
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Flammen E-Book

Isabella Mey

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Beschreibung

Zweiter Teil des gefühlvollen Fantasy-Liebesromans
Die quälende Sehnsucht nach dem Lord der Schatten bringt Inea zunehmend in seelische Bedrängnis. Vor allem nach den Geschehnissen auf seiner Burg gelingt es ihr kaum noch, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Leseprobe Als ich jetzt die Augen öffne, finde ich mich in dem Gang vor meinem Zimmer wieder. Torin sieht nicht zu mir herab, als er mit dem Fuß die Tür aufstößt und mich dann vorsichtig, als könne ich jeden Augenblick in tausend Scherben zersplittern, auf mein Bett legt. Doch meine Hände weigern sich, die Umklammerung um seinen Hals zu lockern, versuchen im Gegenteil Torins Kopf zu mir herabzuziehen, um das brennende Verlangen meiner Lippen nach den seinen zu stillen. Jetzt endlich blickt er mich an, doch die Qual und das Begehren in seinem Blick scheinen schier uferlose Kämpfe miteinander auszufechten. Unsere Pupillen verschmelzen förmlich miteinander, als sich sein Gesicht in unendlicher Langsamkeit dem meinen nähert. Wir keuchen um die Wette. Sein warmer Atem streicht über meine Wangen. In dem Augenblick, als seine Lippen zaghaft die meinen berühren, entweicht Torins Kehle ein gequältes Stöhnen. Gleichzeitig breitet sich ein elektrisierendes Prickeln über meinen gesamten Körper aus. Statt sich jedoch in gierigen Küsse zu verlieren, verharrt Torin schwer atmend, mit weit aufgerissenen Augen in dieser Stellung.

Flammentanz
Band I - Funken
Band II - Flammen
Band III - Feuer
Band IV - Brand
Band V - Glut (Finale)

Romantasy mit einem Hauch Erotik, ab 16 Jahren

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Inhaltsverzeichnis

Riesenfauchschabe

Messeturm

Ankunft auf der Burg

SkoʼFalkum

Skiknok und Flammen

Beratung

Falle

Labyrinth

Heimkehr

Leidenschaft

Leylas Schmerz

Besuch

Waldausflug

Abgehoben

Verschwunden

Leylas Plan

Ausweg

Atlatica

Suche

Mistad

Letztes Kapitel

Danksagung

Ode an meine Testleser

Glossar

Der Rat

Altatica

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

FLAMMENTANZ

Flammen

Isabella Mey

Band II

Bewundere das Schillern der Seifenblasen mit den Augen eines Blinden,

der wieder sehen kann, lausche dem Gesang eines Vogels mit den Ohren eines Tauben,

der wieder hören kann, wandere durch die Natur mit den Beinen eines Gelähmten,

der wieder gehen kann, und inhaliere den Duft einer Blume mit der Nase eines Kindes,

das zum ersten Mal die Welt entdeckt.

Riesenfauchschabe

Inea, Donnerstagmorgen

Die Nacht könnte nicht schlafloser ausfallen. Brennende Sehnsucht nach dem Lord der Schatten wechselt sich ab mit zermürbenden Erinnerungen an Begebenheiten, die ich bisher für absolut unmöglich gehalten hatte. Und nun stellt sich sogar heraus, dass ich selbst Teil einer magischen Welt bin, deren Existenz doch eigentlich nur der Feder eines Fantasy-Autors entspringen kann – so dachte ich zumindest. Aber das hat sich als großer Irrtum herausgestellt. Selbst Liliana besitzt magische Fähigkeiten – meine Tante, mit der ich viele Jahre zusammen­lebte, die mich aufzog wie ihre eigene Tochter – niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass sie etwas anderes sein könnte, als ein ganz normaler Mensch. Und mit Sicherheit stammten auch meine verstorbenen Eltern aus dieser mysteriösen Welt. Ich hätte allzu gerne mehr über sie erfahren – wie sie lebten und welcher Magierichtung sie angehörten.

Wäre es denn möglich, dass meine Mutter oder mein Vater die Magie des Feuers beherrschten, so wie ich?

So selten, wie dieses Talent offenbar auftritt, halte ich das für unwahrscheinlich. Laut Markusʼ Erklärungen bin ich sogar die erste und bisher einzige Feuermagierin. Ich muss diese Tatsache mehrmals im Kopf wiederholen, weil es mir noch immer so vollkommen unfassbar und irreal erscheint.

Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe, und es frustriert mich, dass Liliana meine Fragen zu diesen Themen nicht beant­worten darf. Aber wenigstens habe ich jetzt mit Markus und Torin zwei Magier gefunden, die offensichtlich keine Bestrafung zu fürchten haben, wenn sie mich in magische Geheimnisse einweihen. Auch den Grund dafür wüsste ich gerne. Ich be­schließe, den Besuch auf Torins Burg zu nutzen, um so viel wie möglich über diese geheimnisvolle neue Welt in Erfahrung zu bringen.

Endlich, irgendwann in den frühen Morgenstunden, siegt dann doch die Müdigkeit über meine Grübeleien und befördert mich ins Reich der Träume. Allerdings begegne ich dort schon wieder meinem Schattenmagier. In einem Chaos aus Funken und Flammen bin ich ihm viel zu nah, fühle seine Umarmung, ohne dass diese Geste die brennende Sehnsucht in meinem Inneren auch nur ansatzweise zu lindern vermag.

Hereinfallende Sonnenstrahlen kitzeln mich an der Nase und holen mich aus dem Schlaf. Das nassgeschwitzte Nachthemd pappt an meiner Haut. Ich schiebe mir die feuchten Haar­strähnen aus dem Gesicht und schäle mich schwerfällig aus der klammen Bettwäsche. Blinzelnd recke ich meine Glieder in der Hoffnung, das darin angesammelte Blei loszuwerden. Aber wahr­scheinlich handelt es sich eher um Uran, denn mein Kör­per fühlt sich so schwer an, dass nur der Gedanke an das eklig nasse Bett verhindert, mich dort wieder hineinzukuscheln. Ich angle mir meinen Bademantel und schlurfe wie fern­gesteuert Rich­tung Dusche. Bedauerlicherweise finde ich das Bade­zimmer jedoch verschlossen vor. Ich lehne den Kopf kraftlos gegen die Tür und seufze resigniert.

»Passwort!«, ertönt es prompt von drinnen.

O nein, bitte nicht heute!

»Ineachen …«, stöhne ich gequält in Erinnerung an die letzte Passwort-Aktion.

»Eingabe korrekt! Aus Sicherheitsgründen müssen wir je­doch zusätzlich Ihre persönlichen Daten überprüfen! Welchen Namen haben Sie Ihrem ersten Schmusetier gegeben?«

»Moritz! Lass den Quatsch und mach auf!«, jammere ich ent­nervt und poltere kraftlos mit der Faust gegen die Tür.

Tatsächlich öffnet sie sich plötzlich. So schnell hatte ich damit gar nicht gerechnet, und da ich noch immer an der Tür lehne, lande ich direkt in Moritzʼ Armen. Er trägt nichts als Boxershorts am Leib, was mir gleich doppelt unangenehm ist.

»Oh, so stürmisch heute, Ineachen! Aber hier sieht uns doch jeder! Was ist dir lieber – gehen wir zu mir oder zu dir?«

Nach der ersten Schrecksekunde schiebe ich ihn mit beiden Händen von mir fort und blicke wie erwartet in zwei Reihen weißer Zähne, die aus einem frech grinsenden Lausbuben­gesicht hervorstechen. Ich rolle mit den Augen, doch die Miene meines Gegenübers verfinstert sich merklich, während mich der Zwilling eingehend mustert.

»Du siehst ja schrecklich aus. Hattest du nächtlichen Besuch von Graf Dracula?«

Seine schonungslose Ehrlichkeit hätte er sich ruhig sparen können. Aber der Vergleich mit Dracula ist nicht ganz unpassend, wenn ich an Torins düstere Erscheinung denke.

»Äh … so ähnlich«, stammle ich, da Moritz das sowieso nicht ernst meint. »Ich muss dringend unter die Dusche!«

»Wenn du ganz offen und ehrlich meine Meinung hören willst, ohne es in irgendeiner Weise beschönigen zu wollen, dann unterbreite ich dir jetzt die schonungslose …«

»Nein, danke! Lass gut sein«, unterbreche ich meinen Mitbe­wohner hastig, während ich ihn aus dem Badezimmer schiebe. Auf ein detailliertes Exposé meines lädierten Anblicks verzichte ich herzlich gerne.

»Okay, wenn die Dusche deinen Blutvorrat wieder regene­riert hat, können wir ja da weitermachen, wo wir vorhin auf­gehört haben. Ich richte uns schon mal mein Bett gemütlich her.«

Moritzʼ linkes Auge verzieht sich zu einem neckischen Zwin­­kern, bevor die Tür – angestoßen durch meine linke Hand – vor seiner Nase zuknallt. Ich schließe ab und befreie mich sogleich von Bademantel und Slip, lasse die Textilien einfach auf die Fliesen gleiten und begebe mich lechzend wie eine Verdurstende unter den erfrischenden Wasserstrahl der Dusche. Als die feuchten Rinnsale über meine Haut hinabfließen, kehrt endlich wieder Leben in mich. Ich schließe die Augen und gebe mich dem erholsamen Genuss hin, da meldet sich in meinem Inneren unvermittelt das Brodeln meiner Magie.

Ach ja, ich sollte mich mal wieder entladen. Was wohl geschieht, wenn ich es unter der Dusche durchführe? Das muss ich ausprobieren.

Ich halte die Hände in den Wasserstrahl, rufe mir den Hexer ins Gedächtnis und schon fängt es fürchterlich an zu brodeln und zu dampfen in meinen Handflächen. Einzelne Funken vermischen sich mit kleinen Wasserfontänen, die die ver­dampfen­de Flüssigkeit in die Höhe schleudert. Es ist ein grandioses Schauspiel, das ich aber nicht lange genießen kann, denn innerhalb kürzester Zeit verwandelt sich nicht nur die Duschkabine, sondern der ganze Raum in ein Dampfbad. Die dichten Nebelschwaden ermöglichen kaum mehr als einen Meter Sichtweite. Ich stelle das Wasser wieder ab und lege die Hände aufeinander, um den Spuk zu beenden. Als ich jedoch aus der Dusche trete, rutsche ich prompt auf den nebelfeuchten Fliesen aus und lande unsanft auf meinen Gesäßmuskeln. Ich stöhne gequält auf.

Was für ein Tag … Ob Torin das eben auch gespürt hat durch die Körperverbindung?

Außer einem schmerzenden Hinterteil trage ich zum Glück keine größeren Verletzungen davon. Ich rapple mich wieder auf, rubble mich notdürftig trocken und taste mich dann vor­sichtig bis zum Fenster vor. Wahre Wolkenschwaden schweben nach draußen, kaum dass ich es aufreiße. Als sich der dichte Nebel endlich lichtet, kommen Föhn und Bürste zum Einsatz. Erst als das alles erledigt ist, fühle ich mich wieder der menschlichen Rasse zugehörig.

In meinen Bademantel gehüllt, kehre ich in mein Zimmer zurück und werfe einen Blick aus dem Fenster, um die heutige Kleiderwahl dem Wetter anzupassen. Der Sonnenstrahl beim Aufwachen muss ein Einzelgänger gewesen sein, denn eine nahe­zu lückenlose Wolkendecke lässt die blaue Farbe des Him­mels nicht einmal erahnen. Dann wird es an diesem Tag wohl eine lange Jeans werden!

Obwohl … wenn mich Torin heute mit in seine Burg nimmt …

Ich atme tief durch.

Nein! Es wäre unklug, sich für ihn aufreizend zu kleiden, und sicherlich würde er zornig darauf reagieren.

Trotz dieser Vernunftgedanken fällt es mir schwer, der Ver­su­chung zu widerstehen. Versunken in sehnsüchtigen Fantasien rund um meinen Schattenmagier, zwinge ich mich in eine lange Jeans und eine weinrote Bluse mit weitem Ausschnitt – so viel Weiblichkeit muss dann doch sein. Sehr gerne würde ich jetzt mein Spiegelbild nach Spuren meiner nächtlichen Unruhe un­ter­­suchen – habe ich dunkle Augenringe oder blutleere, blasse Gesichts­haut? Aber aus bekannten Gründen gibt das mein Spiegel­bild leider nicht her. Und da Schminken ohne Spiegel sowieso ein Ding der Unmöglichkeit ist, fällt auch diese Option flach, um mein Äußeres aufzuwerten – es sei denn, Beata würde mir dabei helfen.

Gleich darauf stehe ich vor ihrem Zimmer. Ihre Tür ist angelehnt.

»Beata?«, rufe ich in den Raum hinein.

Es regt sich nichts und ich erhalte keine Antwort, dafür aber legt sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. Ich fahre erschrocken herum und erblicke Moritz. Schon wieder!

»Schleich dich doch nicht so an! Irgendwann bleibt mir das Herz noch stehen vor lauter Schreck!«, protestiere ich.

»Ach was, das passiert nur alten Greisen und bis dahin hast du ja noch ein paar Tage«, entgegnet er frech grinsend.

Wenigstens habe ich mich inzwischen wieder so weit gefan­gen, dass ich mich den Scherzen der Zwillinge gewachsen fühle.

»Ein paar Tage?! Na warte!«, rufe ich empört und kneife Moritz kräftig in die Hüfte.

Er weicht lachend zurück, doch dann verfinstert sich seine Miene plötzlich.

»Oh, meine allerliebste Inea, ich muss dir eine furchtbare Schandtat beichten«, stammelt er reumütig. »Ich habe so lange umsonst auf dich gewartet in meinem Zimmer … und … na ja, meine Gelüste waren nicht mehr zu zähmen, da habe ich in der Zwischenzeit das andere weibliche Wesen unserer WG vernascht. Es tut mir unendlich leid und es wird auch niemals wieder vorkommen! Kannst du mir noch ein einziges, winziges Mal verzeihen?«

»Was?!«, platze ich ungläubig hervor.

Er sieht wirklich aus, als würde er gleich in Tränen aus­brechen, aber ich weiß natürlich, dass das alles nur Theater ist.

»Na, da will ich erst mal sehen, was Beata dazu sagt. Nie im Leben glaube ich, dass sie was mit einem von euch Zwillingen anfangen würde.«

Während ich das sage, steuere ich aufs Esszimmer zu, denn in ihrem Reich kann ich meine Freundin nicht entdecken. Moritz folgt mir mit hängenden Schultern, doch dann hebt er verwundert den Kopf.

»Beata? Wieso denn Beata? Ich meinte natürlich das Scho­koladen­häschen aus dem Kühlschrank. Du weißt schon, das Ostergeschenk deiner Kollegin – dieses entzückende Häschen mit dem hübschen Kleidchen auf dem Goldpapier. Es war so süß, ich habe es einfach nicht fertiggebracht, dieser Köstlichkeit zu widerstehen.«

Jetzt muss ich doch lachen. Ich habe tatsächlich einen Schoko­ladenosterhasen besessen, allerdings handelte es sich um das Geschenk eines Kindergartenkinds. Als sich jedoch he­raus­­stellte, dass die Hasendame mit Nugat gefüllt war, was ich nicht besonders mag, habe ich sie zum Schutz vor der Sommerhitze im Kühlschrank deponiert – für den Fall, dass mich doch einmal der Heißhunger auf Süßigkeiten überwältigt und ich dann in der größten Not auf diese Reserve zurückgreifen kann. Allerdings hatte ich den Hasen mittlerweile vollkommen vergessen.

»Den Osterhasen hast du wirklich aufgegessen? Wie lange lag er denn jetzt schon angeknabbert im Kühlschrank herum?«, überlege ich kichernd.

»Na, seit Ostern. Das sind, warte mal …« Moritz zählt an seinen Fingern, als wäre er ein Erstklässler, der das Rechnen übt, bricht dann aber abrupt ab. »Egal. Kannst du mir noch ein­mal vergeben, Ineachen?«

»Klar! Kein Problem, ich mag sowieso kein Nugat.«

Wir sind inzwischen am Esszimmertisch angekommen, der bereits für vier Personen gedeckt wurde. Jetzt kommt Beata mit einer Kanne Kaffee herein, gefolgt von Max mit einem Korb voller Brötchen. Nach ausgiebigen Guten-Morgen-Grüßen der Zwillinge setzen wir uns alle fast gleichzeitig hin. So langsam macht sich das schlechte Gewissen in mir breit, da ich in letzter Zeit herzlich wenig zum gemeinsamen Essen beigetragen habe – im Gegensatz zu meinen eifrigen Mitbewohnern. Ich nehme mir vor, nachher wenigstens den Abwasch zu erledigen.

Mir fällt auf, dass meine Freundin ihre glatten braunen Haare heute recht kunstvoll hochgesteckt hat. Außerdem har­moniert Beatas weit geschnittenes Top ausgesprochen gut mit ihren graublauen Augen. Ich deute es als positives Zeichen, dass sich meine Freundin offenbar wieder mehr um ihr Äußeres bemüht. Dabei fällt mir ein, warum ich nach Beata gesucht habe.

»Morgen, Beata«, beginne ich das Gespräch.

Ich muss ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen …

»Morgen, Inea. Hast du gut geschlafen?«

Oh, man sieht mir die Nacht also noch immer an, folgere ich aus ihrer Frage.

»Äh, nicht so gut. Warum?«, taste ich mich vorsichtig an das Thema heran.

»Nichts weiter … Ich frag nur«, lautet ihre nichtssagende Antwort.

Also muss ich doch direkter werden …

Aber Moritz kommt mir mal wieder zuvor: »Allerliebste Beata, besser ich erkläre dir, was deine Freundin soeben auf umständlichste Weise zu ermitteln versucht: Sie will wissen, ob sie noch immer einem Opfer des berühmten Vampirs gleicht oder ob ihre morgendliche Dusche diese Spuren beseitigen konnte. Da unser Hausgeist seine Spiegelphobie bislang noch nicht abgelegt hat, kann unsere Inea diese Information leider nicht selbstständig ermitteln und benötigt daher die objektive Meinung eines ihr zugetanen Mitbewohners. Um die Antwort darauf jedoch vorwegzunehmen, liebe Inea: Die Dusche und das Wellness-Dampfbad, von dem ganze Wolkenschwaden aus dem Badfenster entwichen, haben dich wieder so weit regeneriert, dass deinem Vampir der Speichel im Mund zu­sammenlaufen würde.«

Da bleibt mir komplett die Sprache weg und ich bringe es gerade mal fertig, mit den Augen zu rollen. Beata schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und fügt dann trocken hinzu: »Du siehst gut aus, Inea. Und man merkt auch nicht, dass du schlecht geschlafen hast.«

Sie versieht mich mit einem vielsagenden Blick und mir ist klar, dass sie schon ahnt, was mich die Nacht über beschäftigt hat.

Während unseres Gespräches hat Moritz inzwischen vier Eier nach dem Sitake-Eier-Trick gepellt und die einzelnen Schalen­bänder mit Sekundenkleber aneinandergefügt. Die nack­­ten Eier ruhen verzehrfertig in unseren Eierbechern.

»Was wird das? Ein Weltrekordversuch der längsten Eier­schale?«, wundere ich mich.

»Woher weißt du das?!«, ruft Max übertrieben erstaunt. »Ich werde jeden Tag ein Stück drankleben und irgendwann wirst du die Sitake-Brüder im Guinnessbuch der Rekorde wiederfinden! Genial, oder?«

»Gibt es denn dafür überhaupt einen Rekord?«, frage ich zweifelnd.

»Noch nicht, aber das lässt sich doch ändern«, erwidert der Zwilling bedeutungsvoll.

Ich schnappe mir Brötchen sowie Aufschnitt und beginne mit dem Verzehr. Dabei verschwimmt das Geplapper der Zwillinge zu einem Hintergrundrauschen, während meine Ge­danken zu Torin abtauchen – begleitet von wirren und wider­sprüchlichen Gefühlen. Erst als mich alle am Tisch verwundert anstarren, dränge ich mein inneres Durcheinander beiseite.

»Wir haben noch genug Brötchen da, du brauchst die Ser­viette nicht auch noch mitzuessen, Ineachen! Du solltest übrigens wissen, Papier lässt sich vom menschlichen Ver­dau­ungs­system nicht verwerten. Dafür benötigt man einen Kuh­pansen, in dem anaerobe Mikroorganismen die Zellulose zu Fettsäuren umsetzen.«

Oje, ich habe tatsächlich auf meiner Papierserviette herumgekaut!

Ich lasse sie auf den Teller fallen und bemühe mich, die Angelegenheit mit Humor zu nehmen. Aber ich bringe gerade mal ein gequältes »Äh« hervor. Die ganze Situation ist alles andere als leicht für mich und die quälende Sehnsucht nach einem Mann, mit dem ich nie zusammen sein werde, raubt mir meine Kraft und meine geistige Präsenz.

Das Klingeln an der Haustür reißt mich jäh aus meinen Gedanken und mein Herz schlägt schier Saltos.

Könnte das Torin sein? Kommt er jetzt schon, um mich abzuholen?

Ich verharre wie zum Fossil versteinert auf meinem Stuhl und bringe es nicht fertig, meine zittrigen Beine zum Aufstehen zu überreden. Zum Glück springt Max für mich ein und läuft zur Tür. Kaum fällt die hölzerne Schutzbarriere zum Hausflur weg, schallt die verärgerte Stimme unseres Nachbarn Leon Fried­rich Steinberg zu uns ins Esszimmer herüber.

»Sie brauchen es gar nicht zu leugnen! Es kommen keine anderen Hausbewohner dafür infrage! Ich habe bereits den Kammerjäger beauftragt und Sie werden die Rechnung dafür begleichen müssen! Dasselbige gilt für jede Umsatzeinbuße, die durch Ihr Verschulden zustande kommt!«

Ich verstehe überhaupt nicht, wovon er spricht. Da es sich bei dem Besuch doch nicht um Torin handelt, gibt mein Körper die Fossil-Starre wieder auf und ich begebe mich gemeinsam mit Beata und Moritz ebenfalls zur Tür, um den Grund für die Aufregung zu erfahren.

»Was ist denn eigentlich los?«, erkundige ich mich.

Herr Steinberg schnaubt verächtlich.

»Ihre schauspielerischen Leistungen lassen sehr zu wün­schen übrig, Fräulein DʼOrayla! Man kann Ihnen das schlechte Gewissen deutlich ansehen, wenn Sie mich fragen!«

Das wird mir langsam wirklich zu bunt! Außerdem wundert es mich, dass die Zwillinge heute verdächtig still bleiben, wo sie doch sonst um einen gewitzten Schlag­abtausch nie verlegen sind.

»Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich habe nicht die ge­ringste Ahnung, worum es geht! Wenn Sie mich bitte aufklären wür­den?«, erwidere ich genervt.

»Schaben! Es sind Kakerlaken im Haus!«, spuckt mir mein Nachbar förmlich entgegen.

»Aha«, mache ich verblüfft. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. »Aber in unserer Wohnung gibt es keine Scha­ben. Wie kommen Sie denn darauf, dass wir etwas damit zu tun haben?«

»Wie ich darauf komme? Ganz einfach! Gewiss kämen wir nicht auf eine derart widerwärtige Idee, solche Haustiere zu halten. Und da es sich nach meiner Recherche nicht um die hier in Deutschland heimische Blattella germanica handelt, sondern um irgendeine tropische Riesenschabe, liegt der Verdacht nahe, dass die Tiere ganz bewusst hier ins Haus gebracht wurden.«

»Oh …« Mehr fällt mir dazu nicht ein, denn es sähe den Zwil­lingen durchaus ähnlich, sich derartige Haustiere zuzulegen – und ein forschender Blick in das gleichermaßen breite wie verlegene Grinsen der Blondschöpfe erhärtet diesen Verdacht.

»Wie viele sind es denn?«, versuche ich, das Problem ein­zugrenzen.

»Mindestens zehn, wenn Sie mich fragen!«

»Das kann nicht sein!«, mischt sich Max jetzt doch ins Gespräch ein. »Uns sind nur Rosalie, Cinderella, Marie-Luise und Leon Friedrich ausgebüxt! Alle anderen Fauchschaben befinden sich noch im Terrarium!«

Ich hätte ein Vermögen dafür ausgegeben, wenn ich Leon Friedrich Steinbergs Gesicht hätte fotografieren können – exakt in dem Moment, als Max erwähnte, dass er eine seiner Schaben Leon Friedrich getauft hat. So unangenehm mir die An­ge­legenheit auch ist, ich kann einfach nicht anders, als laut loszuprusten, und selbst über Beatas ernstes Gesicht huscht ein flüchtiges Grinsen.

»Sie werden noch staunen, wie amüsant diese Angelegenheit für Sie wird!«, droht mein Nachbar sichtlich aufgebracht und wendet sich zum Gehen.

Ich überlege fieberhaft, wie ich die Situation noch retten kann, aber die Erleuchtung bleibt leider aus und so schließe ich frustriert die Tür.

»Oje …«, stöhne ich. »Was wird da jetzt wohl auf uns zukommen?«

»Ineachen, es tut uns wirklich leid! Wir hätten das Terrarium besser abdecken müssen, aber wir wussten nicht, dass die Tiere auch an Glas hochklettern können. Dabei sind wohl ein paar verloren gegangen«, gesteht Max dermaßen geknickt, dass ich ihm die Reue sogar abnehme.

Sicher wollten sie mir keine Schwierigkeiten bereiten, aber ich hätte es schon gut gefunden, wenn sie vorher meine Zustimmung eingeholt hätten, Schaben in ihrem Zimmer zu halten. Ich bin zwar nicht empfindlich, was Insekten angeht, aber diese Tiere gehören nicht unbedingt zu meinen Favoriten.

»Und was machen wir jetzt?«, will ich von den beiden wissen.

»Ähm, ich werde unsere Schätze zu einem Freund bringen und Moritz könnte solange unserem Nachbarn anbieten, nach den verloren gegangenen Tieren zu suchen«, bietet Max an.

»Ich glaube nicht, dass Herr Steinberg dich in seine heiligen Hallen hineinlässt, aber das Treppenhaus und den Keller könntest du gründlich absuchen.«

»Na gut, Ineachen. Das machen wir. Versprochen! Willst du unsere Schätze denn noch sehen, bevor wir sie weggeben?«, fragt Moritz ungewohnt kleinlaut.

»Nein, lieber nicht«, wehre ich ab.

Wir stehen noch immer alle versammelt hinter der Woh­nungs­­tür, als es abermals klingelt. Es ist jedoch niemand im Hausflur zu sehen, als ich öffne. Max greift zum Hörer der Gegen­sprech­anlage.

»Hier ist das Irrenhaus vom Dienst, Zimmer 08/15! Was können Sie für mich tun?«

Pause.

»Inea? Welche Inea? Wir haben hier drei davon!«

Augenblicklich verwandeln sich meine Knie in Schmierseife und mein Herz rast mit meinem Puls um die Wette. Ich bringe keinen Ton heraus, aber Max hat bereits den Summer gedrückt. Natürlich ist er neugierig, wer mich besuchen will.

Ist das jetzt Torin?

Bevor ich überhaupt zu einer Reaktion fähig bin, erspähe ich eine männliche Gestalt auf der Treppe und identifiziere sie als Markus.

»Ach, der Postbote! Ich warte schon sehnsüchtig auf das Paket mit den Mars-Mallows!«, ruft Moritz erfreut.

Die restlichen WG-Bewohner blicken so verständnislos drein, als hätte er eben marsianisch gesprochen.

»Äh, nein, heute gibt es kein Paket. Ich habe frei«, antwortet Markus, wie immer schelmisch grinsend.

Jetzt endlich geht mir ein Licht auf. Torin hat doch mein Zimmer durchsucht und irgendwie musste er ja reingekommen sein. Wie es scheint, ist ihm Markus dabei als angeblicher Post­bote behilflich gewesen.

»Soso, der Postbote …«, sage ich bedeutungsvoll, worauf Mar­kus mit einem Zucken der Augenbrauen und der Mund­winkel gleichermaßen reagiert.

»Schöne Männer haben hier keinen Zutritt. Das stört unser Balzverhalten und das ausgewogene Gleichgewicht der Ge­schlech­ter in dieser WG«, erklärt Moritz und blockiert mit ausgebreiteten Armen den Eingang.

Ich schüttle lachend den Kopf, während Beata den Neu­ankömmling neugierig mustert.

»Das ist aber schade, dann muss ich die Marshmallows wohl doch ganz alleine aufessen«, kontert Markus, während er jetzt tatsächlich eine ganze Tüte Mäusespeck in die Höhe hält.

»Wir sind bestechlich!«, ruft Max in einem Tonfall, als hätte er das Gegenteil davon ausdrücken wollen. Gleichzeitig greift sich Moritz die Tüte und eilt, gefolgt von seinem Bruder, mit der Beute davon. Die Zwillinge spielen laut kreischend Katz und Maus quer durch die ganze Wohnung, als wären sie zwei kleine Kinder, die sich um ihr Naschwerk streiten. Wir ver­folgen das skurrile Schauspiel eine Weile. Nachdem sich der Tumult gelegt hat, wende ich mich meiner Freundin und unserem Besuch zu. Beata mustert Markus mit Fragezeichen in den Augen. Ich bitte ihn herein und schließe die Tür.

»Ein Kollege?«, fragt meine Freundin.

»Äh, nein, das ist Markus. Und das ist meine Freundin Beata«, stelle ich die beiden einander vor.

Ich habe Markus in meinen Erzählungen beiläufig erwähnt, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich Beata auch seinen Namen genannt habe. Doch vor ihm möchte ich lieber nicht zu viel verraten.

»Hast du schon gepackt?«, fragt der Schattenmagier jetzt.

Oh, wie konnte ich das nur vergessen?!

Wahrscheinlich lag es daran, dass es mir noch immer viel zu unwirklich vorkommt, den Schattenlord auf seiner Burg zu besuchen. Aber jetzt ist Markus tatsächlich hier, um mich mit­zunehmen!

»Äh, nein«, stammle ich. »Wie lange bleibe ich denn weg?«

»Die Frage ist wohl eher: Wie lange haltet ihr es zusammen aus … Aber nimm einfach mal Sachen für drei oder vier Tage mit.«

Beata und ich tauschen bedeutungsvolle Blicke. Ihrer erzählt mir etwas in der Art wie: Ich wünsche dir alles Gute für den Aufenthalt mit dem Lord der Schatten, aber wo ist er? Ich würde ihn so gerne einmal sehen. – Okay, möglicherweise interpretiere ich doch etwas zu viel Information da hinein, aber diese Gedanken lägen zumindest nahe. Mein Blick dagegen soll ihr sagen: Ich bin schrecklich aufgeregt und kann noch gar nicht fassen, wo ich gleich landen werde! Hilfst du mir beim Packen?

»In Ordnung, dann lasse ich dich mal in Ruhe packen«, sagt Beata nach unserem stummen Dialog und verschwindet in ihrem Zimmer.

Verflixt! So war das aber nicht gemeint!

An unserer nonverbalen Augenkommunikation müssen wir noch arbeiten.

»Du hättest gerne ihre Unterstützung gehabt«, bemerkt Markus, während er mir in mein Zimmer folgt.

Na toll! Der hat mich verstanden, aber genau das wollte ich doch eigentlich vermeiden! Na ja, egal …

Ich brumme etwas Unverständliches und wende mich mei­nem Kleiderschrank zu. Schon allein deshalb, um Markus nicht auf den Gedanken zu bringen, dass ich mich für Torin be­sonders herausputzen möchte, greife ich relativ wahllos in meine Klamotten und staple von jeder Sorte Wäsche vier Exemplare auf einem Haufen. Dann stopfe ich den ganzen Berg in meine Reisetasche. Ich muss sicher nicht extra er­wähnen, dass ein Großteil davon aus Jeansstoff gefertigt wurde.

Was brauche ich noch?

Ich gehe ins Bad und packe Haarbürste, Zahnbürste sowie Zahnpasta in den Kulturbeutel und ziehe drei Handtücher aus dem Regal – die allerrudimentärste Grundausstattung.

Und wie sieht es mit einem Föhn oder Lockenstab aus?

Ich kehre zu Markus in mein Zimmer zurück. Dieser rekelt sich behaglich auf meiner Couch, als wäre er hier zu Hause.

»Gibt es auf dieser Burg eigentlich Strom?«, will ich wissen.

»Nö! Du solltest dich auf Brunnenwasser und ein Plumpsklo einstellen«, erklärt er. Doch der Schabernack, der mir aus seinem Gesicht entgegenspringt, lässt mich zweifeln, ob er das ernst meint.

»Wirklich?«, hake ich ungläubig nach.

»Ich schwöre!«

Wie zum Beweis hebt er seine linke Hand zum Schwur.

»Oh …«

Jetzt bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt dorthin möchte. Ich hatte es mir bislang eher romantisch vorgestellt, mit Torin auf einer Burg zu leben, aber wer weiß, in was für einem maroden, vorsintflutlichen Zustand sich das Gemäuer befindet. Doch allein der Gedanke an meinen Schat­ten­lord schiebt sofort alle Zweifel in den Hintergrund. In seiner Nähe könnte die Welt um uns herum im Chaos versinken und ich würde es noch nicht einmal bemerken.

»Wo ist er überhaupt?«, frage ich jetzt zusammenhanglos.

Aber da dieser dunkle Magier mal wieder in meinen Ge­danken herumspioniert hat, weiß er natürlich sofort, von wem ich spreche.

»Der wartet unten im Auto.«

Hätte ich mal besser nicht gefragt, denn nun bringt mich dieses verfluchte Zittern meiner Knie wieder aus dem Gleich­gewicht. Ich seufze innerlich, versuche, meine Konzentration auf Markus zu lenken. Aber so belustigt, wie er mich ansieht, weiß er ganz genau, was gerade in mir vorgeht. Zur Antwort strafe ich ihn mit einem düsteren Stirnrunzeln.

Dann tigere ich abermals ins Bad, um mir noch zwei Rollen Toilettenpapier zu holen – sicher ist sicher. Zum Schluss wandern noch Kerstin Giers erster Band von Silber und mein Smartphone in die Tasche.

»Das Smartphone solltest du besser hierlassen. Auf dem Weg durch das Tor wird es sonst kaputtgehen.«

»Was? Wieso denn das?«, rufe ich verblüfft.

»Ach, genau, das hatte ich ganz vergessen zu erwähnen: Du solltest auch keine Textilien mitnehmen, die Kunststoff ent­halten. Die lösen sich nämlich auf.«

»Hä?«, bringe ich verständnislos hervor.

»Ich erkläre es dir unterwegs, aber jetzt solltest du erst einmal deine Kleidung checken.«

Verwirrt gehe ich nochmals den Inhalt meiner Tasche durch. Die meisten Textilien bestehen zu hundert Prozent aus Baum­wolle, aber einige enthalten zusätzlich Polyester. Diese tausche ich aus. Leider besitze ich weder eine Holzbürste noch eine Holzzahnbürste, aber mir fällt ein, dass ich irgendwo noch einen Kamm aus Metall besitze und statt der Zahnbürste kommt wenigstens die Zahnseide mit – wenn sich davon der Plastik­behälter auflöst, ist das nicht tragisch, und ich bin ziemlich neugierig darauf, ob das auch tatsächlich passieren wird.

Aber drei Tage ohne richtiges Zähneputzen – allein das wird eine Herausforderung werden. Und da wäre ich auch schon beim nächsten Thema angelangt: »Was esse ich denn dort?«

»Es gibt Brot, Fleisch und Früchte, aber keine Süßigkeiten. Die müsstest du mitnehmen.«

Wie es aussieht, werde ich jede Menge Nervennahrung be-nötigen, daher plündere ich auch noch den Schokoriegel­vorrat aus dem Kühlschrank. Weil die Verpackungen verdächtig nach Kunststoff aussehen, stopfe ich die Leckereien sicher­heits­halber in Butterbrotpapiertüten und umwickle das Ganze mit einem Geschirrtuch.

»Fertig?«, fragt Markus, als ich damit in mein Zimmer zurück­kehre. »Wir sollten langsam aufbrechen, denn eine gewisse Person wird sicher gerade ziemlich ungeduldig.«

Das hätte er nicht sagen sollen, denn natürlich weiß ich ganz genau, auf wen er damit anspielt. Ich bin so aufgeregt, ihn wiederzusehen, dass vor lauter Gefühlswallung die Funken aus all meinen Poren hervorsprudeln und meine Haare zum Glühen bringen. Markus springt blitzartig von der Couch auf und starrt mich fassungslos an, als könnte er nicht glauben, was er da sieht. Es ist wohl eine Sache, von meiner Feuermagie zu wissen, aber eine andere, mich dann tatsächlich als lebendigen Feuer­werks­körper vor sich zu sehen.

»Wie machst du das bloß?!«, ruft er aus, noch immer voll-kommen perplex.

»Wenn ich das nur wüsste … Es kommt einfach so aus mir heraus«, erwidere ich schulterzuckend.

Ich lege die Hände zusammen und konzentriere mich auf das Prickeln, genau so, wie ich es erst gestern mit Torin im Wald getan habe.

Gestern!

Es kommt mir vor, als wäre das alles bereits Jahre her, als hätte ich Torin seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, berührt, geküsst …

Stopp! So wird das nie was mit den Funken!

Nur mit Mühe gelingt es mir, meine Aufmerksamkeit wieder auf das Kribbeln meiner Haut zu konzentrieren, aber dieses Mal bringe ich die Funken zum Erlöschen. Ich atme erleichtert durch. Es ist wohl alles eine Frage der Konzentration be-ziehungs­­weise des Ausrichtens der Gedanken.

Endlich bin ich reisefertig. Beata wartet bereits vor meiner Tür, sodass ich mich gleich hier von ihr verabschieden kann.

»Alles Gute, und lass dich nicht unterkriegen von den Männern!«, wünscht sie mir.

»Danke! Und du lass dich nicht zu sehr ärgern von den Zwillingen.«

»Mach dir keine Sorgen, die habe ich schon im Griff.«

In diesem Moment tritt Max in den Flur.

»Im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich das so anmerken darf!«, wirft der Blondschopf ein, wobei er einen beleidigten Schmollmund zieht. »Aber beim nächsten Hapki-Dingsbums-Training lässt du uns bitte auch mal gewinnen, damit unser Ego nicht ganz so viele Knicke erleidet!«

»Nur wenn ihr schön brav seid«, antwortet Beata streng.

»Brav? Dieses Wort muss ich nachher mal googeln. Was könnte das wohl bedeuten?«

Max kaut mit den Zähnen auf seiner Unterlippe herum, wäh­rend er fragend in die Runde schaut. Dabei bleibt sein Blick auf meiner gepackten Reisetasche haften. Auch Moritz gesellt sich jetzt zu uns.

»Inea, du verreist? Doch nicht etwa mit dem Postboten?!«, stößt Max verblüfft hervor.

»Äh, doch. Wie es aussieht, wird es ein viertägiger Survival-Abenteuerurlaub auf einer Burg.«

»Aha«, machen die Zwillinge im Chor.

»Das ist ja mal ganz was Neues. Aber für eine Horde Post­botenkinder wird es hier dann doch ein bisschen eng werden, meinst du nicht?«, gibt Moritz zu bedenken.

»Wir könnten Tisch und Stühle ins Wohnzimmer bringen und dann im Esszimmer ein Spielzimmer einrichten«, schlägt Max vor.

Markus grinst von einem Ohr zum anderen und denkt gar nicht daran, die Zwillinge bei ihrer Familienplanung zu unter-brechen.

»Halt, stopp! Markus ist nur ein Freund, der mich begleitet.«

»Aha, so nennt man das heutzutage. Aber das Spielzimmer könnten wir auch für uns einrichten, oder, Moritz?«

Der Angesprochene nickt begeistert.

»Äh, Beata – du passt doch auf, dass die beiden hier keinen Unsinn treiben, während ich weg bin?«, wende ich mich besorgt an meine Freundin.

Ich würde es den Zwillingen durchaus zutrauen, dass sie die Wohnung auf den Kopf stellen, und die Sache mit den Schaben ist bestimmt auch noch nicht ausgestanden.

»Natürlich! Du kannst dich auf mich verlassen«, versichert sie mir mit einem warnenden Seitenblick auf die beiden Blond­schöpfe.

»Aber, Bea! Aber, Ineachen, ihr kennt uns doch. Wir sind zu fast jeder Schandtat bereit. Und wenn uns diese süße Zucker-schnecke nicht immer so unsanft flachlegen würde, könnten wir viel Spaß zusammen haben«, mosert Moritz.

»Du, Brüderchen, wenn wir schön brav sind, dürfen wir auch mal oben liegen beim Hapki-Dingsbums, hat mir Bea ver­sprochen. Was brav wohl bedeuten mag?«

Der Antwort des Zwillings kommt die Türklingel zuvor. Wie auf Knopfdruck reagiert mein Körper mit weichen Knien und erhöhter Pulsfrequenz.

Ob das jetzt Torin ist?

Ich bin viel zu aufgeregt, um überhaupt zu reagieren, daher öffnet Max die Wohnungstür und Moritz greift zeitgleich zur Gegensprechanlange – wohl im Wettkampf darum, wer den Ankömmling zuerst an der Angel hat. Im Flur steht niemand, daher quäkt Moritz in den Hörer:

»Massagesalon DʼOrayla! Bitte wählen Sie die Eins für das Ganzkörperpflegeprogramm, die Zwei für die Intimmassage oder die Drei für eine persönliche Audienz mit der Eigen­tümerin.«

O Gott, wenn da unten Torin steht, glaubt er, ich wohne in einem Irrenhaus!

Gerade mal ein empörtes »Max!« bringe ich heraus, dann versagt meine Stimme.

Durch den Hörer glaube ich ein verächtliches Schnauben zu hören, was den Verdacht erhärtet, dass in diesem Augenblick tatsächlich der Lord der Schatten vor meiner Haustür wartet. Während Max bereits den Summer drückt, lauscht er weiter der Stimme aus dem Hörer.

»Markus soll mit Inea runterkommen, sagt dieser Mensch. Wer ist das denn, Inea-Mäuschen? Noch ein Freund, der dich nur begleitet?«, versucht Max herauszufinden.

»Ja, genau«, antworte ich einfach, ohne näher darauf ein­zugehen.

»Oh, ein Dreier? Oder kommen da noch mehr dazu?«, will Moritz wissen.

»Ach, Kinder! Lasst das doch mal!«, beschwere ich mich genervt. In meiner grenzenlosen Aufregung ist mir überhaupt nicht nach diesen Scherzen zumute.

»Also gut, Ineachen. Für dich versuchen wir ausnahmsweise mal ernst zu bleiben. Dann lass dich zum Abschied mal kräftig drücken«, lenkt Max ein und schließt mich überschwänglich in seine Arme.

Moritz sieht sich das nicht lange an, sondern schiebt seinen Bruder beiseite und umarmt mich nun seinerseits. Danach kommt Beata an die Reihe.

Kaum hat sich die Wohnungstür hinter Markus geschlossen, kommen mir schon wieder meine Nachbarn auf der Treppe entgegen, als hätten sie hier auf mich gelauert.

»Frau DʼOrayla! Sie wollen doch jetzt nicht etwa verreisen?! Der Kammerjäger ist unterwegs und wir erwarten, dass Sie die Verantwortung für den Schabenbefall übernehmen«, sagt Leon Friedrich in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet.

Das hat mir gerade noch gefehlt! Gibt es eigentlich irgendwo in meinem Leben einen Winkel ohne eine Baustelle?

»Hallo, Herr von Steinberg! Wie schön, Sie wiederzusehen. Wir haben doch im gleichen Semester studiert, erinnern Sie sich nicht?«, ruft Markus erfreut aus und reicht Leon Friedrich die Hand.

»Äh …«, stößt dieser mit einer ganzen Kompanie an Frage­zeichen in den Augen hervor und erwidert Markusʼ Gruß me­chanisch. Frau Besset steht gleichermaßen verdattert daneben.

»Es sind Schaben im Haus, habe ich gehört?«

»Äh, nein! Wie kommst du denn darauf, Markus?«, wundert sich Leon Friedrich empört. »Schatz, weißt du etwas von Scha­ben?«, flüstert er dann an seine Partnerin gewandt.

»Nein, um Gottes willen! Natürlich nicht«, haucht sie kaum hörbar zurück, während sie mit funkelnden Augen zu Markus schielt.

»Dann ist es ja gut. Man sieht sich.« Markus schlägt Herrn Steinberg zum Abschied freundschaftlich auf die Schulter. Das fällt allerdings so kräftig aus, dass er beinahe die Stufen hinauf­stolpert.

Ganz der Gentleman, nimmt Markus nun meine Tasche, legt seinen freien Arm um meine Schultern und geleitet mich die Treppe hinunter. Ich bin so perplex von dem, was gerade ge­sche­hen ist, dass ich mich mechanisch von ihm führen lasse. Außerdem rückt die Begegnung mit dem Lord der Schatten jetzt in greifbare Nähe, sodass ich es kaum noch aushalte vor Auf­regung.

Messeturm

Inea, noch immer Donnerstagmorgen

Meine Augen liefern mir offensichtlich ein Trugbild, denn der Mann, der vor der Haustür wartet, sieht zwar aus wie Torin, aber das kann er unmöglich sein! Bislang bin ich ihm ausschließlich in seinem Dracula-Gewand begegnet. Aber dieser Fremde trägt eine schwarze Jeans, die auch noch verdammt eng anliegt und dadurch die gut definierten Muskeln deutlich hervorhebt. Sein Oberkörper wird von einem schwar­zen Hemd bedeckt – okay, der Farbton passt sich noch immer seinem Schattendasein an, aber in dieser Aufmachung wirkt Torin nicht mehr wie eine dramatische Figur aus dem vor­letzten Jahrhundert, sondern wie ein äußerst attraktiver Mann der Neuzeit.

Und in seinem Blick lese ich genau das, was mit Sicherheit gerade auch meine Augen verraten – unbändige Sehnsucht und das drängende Verlangen, den anderen in die Arme zu schlie­ßen. Doch dann wandert Torins Blick abrupt zu meinem Be­gleiter, dessen Arm noch immer jovial um meine Schultern liegt. Ich bin dankbar dafür, denn ohne diese Stütze würden meine Beine jetzt komplett ihren Dienst versagen. Aber Torin scheint das anders zu sehen, denn in die Flugbahn der ver­nich­tenden Blitze, die er auf seinen Freund abfeuert, möchte ich keinesfalls geraten.

Ob der Grund dafür vielleicht … eventuell … möglicherweise … Eifersucht sein könnte?

Ein heftiges Flattern breitet sich von meinem Bauch auf den Rest meines Körpers aus.

»Gehen wir!«, befiehlt Torin herrisch und schreitet mit solch einer dynamischen Eleganz voraus, dass mir beim Anblick schwindelig wird.

Markus folgt ihm deutlich weniger elegant, was aber gewiss nur daran liegt, dass ich mich wie ein nasser Sack von ihm mitschleifen lasse. Mir fällt wieder ein, dass er sich den Knöchel verstaucht hatte, aber daran kann es nicht liegen, denn ohne mich hat er sich noch ganz normal bewegt. Seine Verletzung war wohl doch nicht so schlimm. Als wir um die Ecke des Hauses biegen, schrecke ich von einem lauten Gejohle zusammen. Mein Blick wandert hinauf zum Balkon, der zu unse­rem Wohnzimmer führt. Dort entdecke ich meine Mit­bewohner, die uns zuwinken und hysterisch kreischen, als wären wir berühmte Stars. Bei genauerem Hinsehen sind es jedoch nur die Zwillinge, die in ekstatische Hysterie verfallen zu sein scheinen. Beata dagegen sieht einfach nur neugierig zu uns herab. Ich winke allen zum Abschied zu und lasse mich dann von Markus zur Rückbank seines Sportwagens führen, Torin harrt bereits ungeduldig auf dem Beifahrersitz aus. Offenbar hat es Markus aber nicht besonders eilig, denn er lässt es sich nicht nehmen, sich von meinem Abschiedskomitee ausgiebig feiern zu lassen. Er versucht sich in einer Mischung aus Bauch- und Indianertanz und schickt Beata zum Abschluss einen Handkuss, den sie allerdings nicht erwidert. Dafür über­nehmen das die Zwillinge, sogar in mehrfacher Ausfertigung, begleitet von einem Schwall anzüglicher Kommentare.

»Markus! Schluss damit! Fahr los!«, befiehlt Torin missmutig.

Der humorvollere der beiden Schattenmagier steigt endlich ein und startet den Motor. Ungefähr eine Million Fragen schwir­ren durch mein Hirn, aber ich bin noch immer so geplättet von meinen Gefühlen und vor allem von Torins Erscheinung, dass ich eine Weile stumm dasitze, die vorbeirauschende Landschaft betrachte und darum kämpfe, mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Besser, ich unterhalte mich nur mit Markus – der Lord der Schatten bringt mich im Augenblick viel zu sehr aus der Fas­sung. Ob er sich für mich eingekleidet hat? Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, wo er doch so vehe­ment darauf bedacht ist, sich dieser Anziehung zwischen uns zu widersetzen. Bestimmt hat es einen ganz anderen Grund.Aber das kann ich ihn wohl kaum fragen.

Bislang verlief die Fahrt schweigend, doch dann ge­winnt die Neugier die Überhand. Ich atme tief durch und wende mich an Markus.

»Wie hast du das eben gemacht mit meinen Nachbarn? Ich meine, wieso hatten sie die Kakerlaken urplötzlich vergessen?«

»Ach, das … Du weißt doch, mein Talent liegt in der mentalen Beeinflussung. Ich habe nur die kleinen Krabbel­tierchen aus ihrer Erinnerung gelöscht! Obwohl, klein wa­ren sie nun wirklich nicht! Woher hast du die Riesenschaben?«

»Das sind doch nicht meine! Die Zwillinge haben sie mit­gebracht! Keine Ahnung, wo sie die herhaben! Aus dem Zoo vielleicht.«

»Die zwei sind schon ziemlich durchgeknallt. Mit denen wird euch sicherlich nie langweilig«, lacht Markus.

Da hat er natürlich recht, aber ich will jetzt nicht über die Zwillinge reden, sondern meine Fragen loswerden.

»Wohin fahren wir eigentlich?«

»Nach Frankfurt«, antwortet diesmal Torin und bereits der Klang seiner Stimme lässt mein Inneres schwingen wie eine Stimmgabel.

O nein, was soll denn erst werden, wenn ich mit ihm allein auf der Burg bin? Vielleicht war das doch keine so gute Idee …

Ich versuche das warme Prickeln zu ignorieren und mich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Vor lauter Gefühls­du­selei dringt erst jetzt der Inhalt seiner Aussage in mein Bewusstsein.

»Wieso Frankfurt? Ich dachte, du … äh … Sie wohnen auf einer Burg?«, stottere ich herum. Solange wir dieses diffuse Verhältnis nicht geklärt haben, weiß ich noch immer nicht, wie ich ihn ansprechen soll.

Torin hüllt sich in Schweigen, dafür antwortet Markus.

»Jaja, der Herr über die Schatten verlangt mit ›Ihr‹ und ›Lord‹ angesprochen zu werden, aber bei dieser besonderen Verbindung zwischen euch wäre das wohl kaum angebracht. Torin, das siehst du doch genauso? Die antiquierten Phrasen von Atlatica wirst du ihr wohl kaum zumuten, oder?«

»Nun gut, ich erkläre mich einverstanden! Doch das gilt nur unter uns, genau wie auch bei dir, Markus!«

»Da du sie ja ohnehin nicht in die magische Welt einführen willst, brauchst du nicht zu befürchten, dass deine Ehre unter einem jovialen Umgangston leiden könnte.«

Ich verstehe mal wieder nur die Hälfte von dem, was die beiden da miteinander besprechen – und das auch noch in einer Art, als sei ich gar nicht anwesend. Was dieses Atlatica sein soll, ist mir sowieso schleierhaft.

»Sie würde gerne wissen, worum es eigentlich geht!«, mi­sche ich mich nun doch ein.

»Es ist so, Inea«, beginnt Markus mit seiner Erklärung. »Auf Atlatica pflegen wir gewisse Umgangsformen. Viele der Magier stammen aus einem anderen Jahrhundert und es wird als Beleidigung empfunden, wenn jemand den Lord der Schatten duzt. Auch das Sie benutzen wir dort nicht. Die meisten von uns sprechen sich mit Ihr an. Durch diese Anrede drückt man seinen besonderen Respekt aus – das gilt vor allem gegenüber dem Vorsitzenden. Wenn wir aber unter uns sind, ist es aufgrund dieser Verbindung in Ordnung, Torin zu duzen.«

Welche Ehre …, denke ich voller Ironie. Da haben wir uns in aller Leidenschaft geküsst und ich erhalte danach die gnädige Erlaubnis, den Lord der Schatten zu duzen!

Gekränkt und verletzt starre ich aus dem Fenster. Meine ursprünglichen Fragen habe ich völlig vergessen. Wir passieren die Autobahnauffahrt und kaum haben wir die Überholspur erreicht, drückt Markus das Gaspedal durch, sodass ich mich fühle, als hätte ich gut das Doppelte an Gewicht zugelegt.

»Markus! Keine Raserei auf der Autobahn! Verstanden?!«, protestiert Torin sofort.

»Ach, ich habe ganz vergessen, dass jeglicher Spaß verboten ist, solange nicht überall auf der Welt Friede-Freude-Eier­kuchen-Stimmung herrscht«, beschwert sich Markus mit zynischem Unterton.

Dennoch drosselt er die Geschwindigkeit, schert rechts ein und tuckert nun mit achtzig Stundenkilometern hinter einem LKW her, was sich nach der Raserei anfühlt, als würden wir im Schneckentempo kriechen.

Der Lord der Schatten lässt sich nicht dazu herab, auf Markusʼ Provokation zu reagieren. Stattdessen herrscht dicke Luft im Wagen, die ausschließlich die Schallwellen der Motoren­geräusche transportiert. Da jetzt aber wieder die vielen drän­genden Fragen durch meinen Kopf zu schwirren beginnen, ver­gesse ich meinen verletzten Stolz und breche schließlich das Schweigen:

»Was machen wir denn in Frankfurt?«

»Dort befindet sich der Zugang …«, beginnt Markus, doch Torin fällt ihm ins Wort.

»Schweig, Markus! Dies muss ein Geheimnis bleiben.«

»Du nimmst sie mit auf deine Burg, vertraust ihr aber nicht?«

»Es steht nicht zur Debatte, ob ich ihr vertraue. Sie könnte in die Fänge der falschen Leute geraten, und du weißt doch selbst am besten, welche Mittel und Wege es gibt, ihr In­for­mationen zu entlocken!«

»Und wie willst du sie dann dort hinführen? Ihr die Augen verbinden? Das wäre doch viel zu auffällig.«

»Wir werden eine temporäre Blindheit wirken und uns alle in den Verschleierungszauber hüllen.«

Mal wieder reden die beiden über mich, als wäre ich nicht anwesend. Das ärgert mich und was sie da von tempo­rärer Blindheit erzählen , passt mir noch weniger.

»Darf ich denn wenigstens erfahren, wo sich die Burg befindet und was es mit diesem Atlatica auf sich hat?«, werfe ich missmutig dazwischen.

Ich will endlich befriedigende Antworten!

»Das können wir ihr doch erzählen – schließlich ist es nichts, was nicht ohnehin überall bekannt ist …«, sagt Markus an Torin gewandt.

Alle Magier wissen Bescheid, nur ich bin vollkommen ahnungslos!

Das fühlt sich überhaupt nicht gut an. Zwar bleibt eine Antwort des Schattenlords aus, aber ich glaube, ein kaum merk­liches Nicken zu erkennen. Markus scheint das ebenfalls als Zustimmung zu deuten, denn nun beginnt er endlich, mir ein paar Hintergrundinformationen zu liefern.

»In der Geschichte der Erde lebten immer wieder äußerst mächtige Magier. Bei einigen von ihnen handelte es sich um weltliche Regenten, die dir aus dem Geschichtsunterricht be­kannt sein dürften. Die Mehrzahl von ihnen bevorzugte es jedoch, die Fäden im Hintergrund zu ziehen. Die mächtigsten unter ihnen wurden Lords genannt. Allzu oft missbrauchten sie ihre magische Überlegenheit und regierten despotisch. Hin und wieder taten sich jedoch auch einflussreiche Magier mit gutem Herzen hervor. Der bekannteste und zugleich mächtigste unter ihnen war der von allen verehrte Lord Renan. Aber auch Renan bediente sich eines besonderen Machtinstruments: Er zeugte zwischen zehn und zwanzig Inkanta – die Überlieferungen sind sich nicht einig über die genaue Zahl. Zwischen einem Magier und seinen männlichen Nachkommen besteht immer eine ganz besondere Beziehung, die viel intensiver ist als bei nicht magisch begabten Menschen. Er kann nämlich seine Energien und magischen Kräfte mit denen seiner Söhne bündeln. Diese enor­me Macht ermöglicht es, Großes zu bewirken, aber natürlich auch, verheerende Zerstörung anzurichten. Renan erschuf jedoch gemeinsam mit seinen Söhnen zwei Inseln. Die eine taufte er Atlatica, die andere Inferior. Atlatica sollte das Paradies auf Erden werden, eine wundervolle Welt, die nur Magier, die sich besonders verdient gemacht hatten, besuchen durften. Inferior dagegen wurde zur Insel der Bestrafung. Da die diesseitigen Gefängnisse für uns Magier nichts taugen, hatte Re­nan die Insel Inferior so eingerichtet, dass dort keinerlei Zauber wirksam ist. Bislang hat es noch nie ein Gefangener geschafft, von dort zu fliehen.«

Hier legt Markus eine Pause ein, wohl um mir Zeit zu geben, das alles zu verdauen und Fragen zu stellen. Inzwischen haben wir Frankfurt fast erreicht, stecken aber im Stau, daher geht es nur im Schritttempo voran. Doch ich bin viel zu gefesselt von Markusʼ Erzählung, als dass mich das im Entferntesten stören könnte.

Da fällt mir wieder etwas ein, das Markus zu Beginn der Fahrt beiläufig erwähnt hat und das mir seltsam aufgestoßen war.

»Äh, Markus, du sagtest vorhin, dass viele der Magier aus einem anderen Jahrhundert stammen. Aber wie meinst du das denn? Lediglich kulturell oder …«

Ich traue mich schon gar nicht, den Satz zu beenden, weil mir die Alternative doch etwas absurd erscheint. Ob­wohl …

»Tja, weißt du, liebe Inea, die Magie hat noch andere Vor­züge, als nur die damit verbundenen Fähigkeiten. Bei allen ma­gisch begabten Menschen ist der Alterungsprozess erheblich verlangsamt – ab der Pubertät, wohlgemerkt. Der Körper von Schattenmagiern ist zudem widerstandsfähiger – dafür verfügen Lichtmagier über verbesserte Selbstheilungskräfte. Das hast du ja am Namenlosen gesehen.«

»Aha, und … wie alt seid ihr beide denn, wenn ich fragen darf?«

Jetzt bin ich aber wirklich gespannt!

»Hm, sagen wir mal so: Ich wurde im letzten Jahrhundert geboren, Torin ist wesentlich älter. Aber du musst wissen, dass diese Frage unter Magiern noch mehr verpönt ist als unter Nimags.«

Das muss ich erst einmal verdauen.

Torin ist über hundert Jahre alt?Er sieht gerade mal aus wie Anfang dreißig! Wie alt mag er wohl sein?! Mehr als zweihundert, fünfhundert oder gar tausend Jahre? Meine Fantasie kennt in dieser Beziehung keine Grenzen und mir wird schwindelig.

Ob ich selbst auch langsamer altern werde?

Da ich offenbar die einzige Magierin meiner Art bin, können mir die beiden Schattenmagier diese Frage wahrscheinlich nicht beantworten. Ein wenig enttäuscht über Markusʼ ungenaue Antwort lasse ich mich wieder in den Sitz sinken und denke noch einmal darüber nach, was ich soeben erfahren habe.

Ja, klar, in den Fantasyromanen, die ich bislang gelesen habe, werden die Helden häufig uralt, doch selbst mit so etwas konfrontiert zu werden, verursacht mir eine Gänsehaut.

»Was genau sind Nimags?«, fällt mir plötzlich das fremde Wort wieder ein, das Markus genannt hat.

»So nenne ich nicht magische Menschen! Meine ganz per­sön­liche Abkürzung dafür. Fast jeder Magier nennt sie anders, eine allgemeingültige Bezeichnung hat sich bislang nicht eingebürgert. Einige aus der jüngeren Generation sind sogar dazu übergegangen, den Begriff Muggels aus den Harry-Potter-Romanen zu übernehmen.«

Ich weiß noch nicht, ob ich das lustig finden soll oder nicht, aber auf jeden Fall wirkt es auf mich paradox, dass Begriffe aus Fantasyromanen in die Realität einfließen – eine Wirklichkeit, die mir selbst noch nicht besonders real erscheint.

Ich schiele zu Torin hinüber, um herauszufinden, wie er dazu steht, aber der Lord der Schatten mimt nach wie vor eine sitzende Statue aus schwarzem Marmor. Da ich den Platz hinter Markus belege, habe ich ihn recht gut im Blick.

»Atlatica klingt ein bisschen nach Atlantis. Hat das irgend­etwas miteinander zu tun?«, will ich wissen.

»Na ja, in jeder Sage steckt schließlich ein wahrer Kern. Ich weiß es zwar nicht mit Sicherheit, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass beides denselben Ursprung hat. Atlatica ist eine Insel von der Größe Irlands mitten im Atlantik – etwa auf halber Strecke zwischen New York und Madrid. Theoretisch könnte man auch mit dem Schiff dorthin fahren, wenn man einen Schlüssel für das Tor besäße, doch da das meist zu umständlich ist, existieren noch viele andere Zugänge auf dem Festland.«

»Aber wie kann dort eine so große Insel im Meer liegen, ohne dass sie von Satelliten erfasst wird oder ein Schiff mal zu­fällig draufstößt?«, wende ich ein.

»Beide von Renan erschaffenen Inseln sind Orte extremer Magie. Genau genommen bilden sie zwei Pole. Das Vakuum, das Renan auf Inferior schuf, bedingt eine Verdichtung der Magie auf Atlatica. Jetzt musst du wissen, dass Magie nichts anderes ist als eine besondere Form energetischer Schwingung, die demnach auf Atlatica erheblich höher und auf Inferior deutlich niedriger schwingt, als in unserer normalen Welt. Diese enormen Schwingungsdifferenzen bewirken, dass die beiden Inseln in einer anderen Dimension der Raumzeit existieren. Verstehst du?«

»Puh, das hört sich echt kompliziert an«, muss ich zugeben. »Bedeutet das, dass dort die Zeit auch anders vergeht, schneller oder langsamer?«

»Nein, das ist nicht der Fall. Zeitlich gibt es keinen Unter­schied. Du kannst es dir eher wie eine Parallelwelt vorstellen, als gäbe es in dieser hier eine zweite und eine dritte Erde, auf denen dann eben jeweils die beiden magischen Inseln zu finden sind. Diese beiden separaten Erden kannst du aber nur über die Tore erreichen.«

»Hm, und was wäre, wenn ich mit dem Schiff von Atlatica fortfahren würde? Käme ich dann auch ohne Tor in Europa an … oder wo würde ich dann landen?«

»Das ist eine gute Frage. Aber so, wie die Inseln im Meer von unserer Dimension aus unerreichbar sind, kann man umgekehrt auch nicht in die normale Welt gelangen. Man würde stattdessen übers Meer segeln, bis man an eine Grenze aus Licht gelangt, die sich nicht überwinden lässt – hier endet die von Renan erschaffene Magiedimension sozusagen im Nichts.«

Fasziniert lausche ich Markusʼ Ausführungen und bin froh, dass sie mich etwas von Torin und meiner stets präsenten Sehnsucht ablenken. Der Lord der Schatten starrt die ganze Zeit über mit vereister Miene durch die Frontscheibe. Doch davon lasse ich mich nicht beirren, lieber nutze ich Markusʼ er­fri­schende Auskunftsfreude, um noch mehr über diese fremde Welt zu erfahren.

»Und auf welche Weise gelangt man durch solch ein Tor auf die Inseln? Oder ist das ein Geheimnis?«

»Nein, das ist allgemein bekannt, nur manche Orte, an denen sich Tore befinden, sind geheim. Das Tor, durch das wir dich gleich bringen werden, führt direkt nach SkoʼFalkum: Torins Burg – eine äußerst sichere Festung, aber eben nur, solange Feinde die geheimen Zugänge nicht kennen. Um ein Tor in die andere Welt zu aktivieren, benötigt man einen besonderen ma­gi­schen Stein. Dieser war ursprünglich in ein Amulett ein­ge­arbeitet. Das Amulett, das die Tore zu Atlatica aktivieren kann, wird Atlinatica genannt, das für Inferior heißt Atlinferior.

Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass derjenige, der diese Schmuckstücke besaß, große Macht in Händen hielt, denn er allein war in der Lage, Menschen in die eine oder andere Welt zu befördern – ohne eine Möglichkeit zur Rückkehr. Dies löste in der Vergangenheit viele Kriege, Machtkämpfe und Unruhen aus, aber das ist alles eine sehr lange Geschichte. Erst 1995 erfolgte der große Umbruch und es bildete sich der Rat der Zwölf. Die beiden Amulette wurden in zwölf Splitter gespalten und jedes Ratsmitglied erhielt einen für Atlatica und einen für Inferior. Da sich die Macht somit auf mehrere Personen ver­teilte, konnte endlich Frieden einkehren, und seither herrscht auch ein gewisses Gleichgewicht.«

»Warum sind es gerade zwölf? Hat das einen Grund?«

»Ja, es sind immer drei Personen jeder Magierichtung und jedes Geschlechts vertreten, das heißt: drei Umbro, drei Femia-Soa, das sind die Männer und die Frauen der Schattenmagie, und dann entsprechend drei Inkanta und drei Femia-Tia. Sie alle werden unter ihresgleichen in den Rat gewählt. Beispielsweise wählen alle registrierten Femia-Tia drei Frauen der Lichtmagie für die Mitgliedschaft im Rat.«

»Ach, so ist das! Zumindest klingt es nach einem relativ ge­rech­ten System.«

Allmählich fügen sich so einige Puzzleteile zusammen.

»Und ihr beide seid auch Mitglieder des Rates, richtig?«, frage ich weiter. Ich vermute, dass die beiden Magier mir nur deshalb so viel über all das erzählen dürfen, weil sie selbst Teil dieses magischen Machtapparats sind.

»Genau. Und wir haben auch einen Vorsitzenden, das ist der­jenige, der hier vorne sitzt«, witzelt Markus mit diesem kleinen Wortspiel und schielt dabei grinsend zu seinem Freund hinüber. Dieser lässt sich jedoch zu keiner Reaktion verleiten.

Aha, daher stammt wohl die Bezeichnung Lord – weil er der Vorsitzende des Rats ist … oder hat er etwas mit den damaligen Lords zu tun?, überlege ich insgeheim.

Aber um Torin nicht in Rage zu versetzen, weil ich mal wieder alles falsch verstanden habe, frage ich lieber nicht nach.

»Und wie läuft das so ab im Rat? Hat der Vorsitzende mehr Macht als die anderen?«

»Sagen wir mal so, der Vorsitzende bestimmt, wo es lang­geht, und alle anderen folgen ihm wie Schäfchen. Aber wenn jemand mit einer Entscheidung nicht einverstanden ist, dann wird demokratisch abgestimmt. Das ist einfacher und effektiver, als wenn zu jedem Thema wilde Diskussionen entbrennen. Und es kommt sowieso nur dann zum Widerspruch, wenn jemand überzeugt ist, dass die Mehrheit nicht einverstanden sein könnte mit den Anweisungen des Lords.«

Das war mein Stichwort.

»Also wird der Vorsitzende auch Lord genannt?«, hake ich nach.

»Ja, genau! Das ist ein unsägliches Relikt aus der Geschichte der despotischen Lords. Wenn du mich fragst, ich hätte diesen Titel schon längst abgeschafft.«

Markus schielt provokant zu seinem Freund hinüber, der sich nun tatsächlich zu einer Antwort herablässt.

»Diesem Haufen ist nicht anders beizukommen. Entweder sie führen sich auf wie kleine Kinder oder sie intrigieren, um die eigene Machtposition auszubauen. Wenn der Vorsitzende keine natürliche Autorität ausstrahlt, würde innerhalb kürzester Zeit ein heilloses Chaos ausbrechen. Der Titel Lord sowie gewisse Rituale fördern die Ehrfurcht und die Ergebenheit der Rats­mitglieder. Das erleichtert die Führung. Auf dieser Erde be­stim­men viel zu viele einfältige Narren und Größenwahnsinnige die Geschicke anderer!«

O Mann! Das klingt doch sehr nach der Meinung eines selbst­herrlichen Despoten.

Aber da ich lieber noch mehr erfahren möchte, als Torins Missstimmung weiter anzufachen, halte ich meine Meinung zurück – vorerst. Auch Markus äußert sich nicht dazu; ent­weder, weil er keine Lust verspürt, seinen Freund in diesem Punkt weiter anzustacheln, oder aber, weil er sich im Augenblick zu sehr auf die komplizierten Fahrmanöver durch den regen Stadtverkehr konzentrieren muss. Wir fädeln uns gerade in die linke Spur des Kreisels ein – direkt an der riesenhaften Statue des Hammering Man und am Messeturm vorbei. Es dauert nicht lange, da haben wir einen Parkplatz gefunden. Ich frage mich gerade, ob dabei auch eine Art Magie im Spiel war, denn bei diesem Verkehrsaufkommen erscheint mir der freie Parkplatz fast wie ein kleines Wunder.

Gentlemanlike öffnet mir Markus die Autotür und lässt mich aussteigen. Torin dagegen würdigt mich keines Blickes, sondern marschiert wortlos voraus. Wir unterqueren die Haupt­verkehrs­straße durch unterirdische Gänge und tauchen dann neben dem imposanten Messeturm wieder auf. Torin wartet am Eingang des Gebäudes auf uns. Er blickt mir durchdringend in die Au­gen, als wir vor ihm zum Stehen kommen. Gleichzeitig schiebt Markus seinen Arm um mich und wispert mir zu:

»Keine Sorge, es ist nur temporär! Wenn wir auf der Burg sind, wird Torin den Zauber wieder lösen!«

Mir ist vollkommen klar, warum mich der Schattenlord mit seinen Blicken durchbohrt. Aber alles in mir wehrt sich da­ge­gen, mein Augenlicht zu verlieren. Ich bebe innerlich, während der Blick aus seinen dunklen Augen in den hintersten Winkel meines Seins eindringt. Torin hebt die Hand und ich kann nicht anders – meine Lider werden zentnerschwer und fallen zu. Dann ist der Spuk auch schon vorüber und ich wage es, die Augen wieder zu öffnen, in der Erwartung, nur noch Schwärze vorzufinden. Doch es hat sich nichts verändert, ich kann noch immer alles deutlich erkennen. Torin hat sich wieder umgedreht und schreitet voraus, durch die gläsernen Türen des Messe­turms.

»Komm, ich führe dich«, sagt Markus, hakt sich bei mir ein und schiebt mich auch schon vorwärts.

»Äh …«, setze ich an, um zu erklären, dass der Zauber nicht funktioniert hat, aber dann besinne ich mich eines Besseren, denn ich brenne darauf, dieses Tor zu sehen.

Die beiden Magier sind sich wohl so sicher über das Ge­lingen des Zaubers, dass keiner von ihnen auch nur auf die Idee kommt, mein Augenlicht zu überprüfen. Wahrscheinlich kam das bisher noch nie vor, aber da es mich selbst ja eigentlich auch nicht geben dürfte, hat dieses Phänomen wohl mit meiner besonderen Magieform zu tun.

Unter Markusʼ Führung passiere ich die gläserne Eingangs­tür. Niemand beachtet uns, als wir das Drehkreuz passieren. Der Verschleierungszauber hat bei mir also anscheinend schon gewirkt.

Komisch … Warum funktioniert ein Zauber, der andere aber nicht? Oder ist alles nur Zufall?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich absolut nicht blind werden wollte, mit Verschleierung komme ich dagegen gut zurecht. Ich stelle mich extra ein bisschen ungeschickt an und stolpere fast über meine Füße, bis wir den Aufzug erreichen. Damit den beiden mein neugieriger Blick nicht auffällt, starre ich stur zu Boden. Dennoch fühle ich mich nicht wohl dabei, so zu schauspielern. Aber jetzt ist es zu spät, um noch zurück­zu­rudern und sie auf ihren Irrtum hinzuweisen. Außerdem ist meine Neugier stärker als mein ungutes Gefühl. Die Aufzugs­türen klappen auf und wir treten ein. Ich fixiere noch immer den Boden, während ich aus den Augenwinkeln beobachte, wie sich die Türen schließen.

Aber statt einen der Knöpfe zu betätigen, fährt Torin mit der Hand über eine Wand des Aufzugs. Da gibt diese eine kleine Öffnung frei. Der Schattenlord bückt sich und macht sich an seinem Hosenbein zu schaffen – genau in meinem Blickfeld. Ich habe große Mühe, nicht direkt dort hinzustarren. Um seinen Knöchel schlingt sich ein ledernes Band, in das solide Taschen eingearbeitet sind. Dort holt Torin einen altertümlich wir­ken­den Schlüssel sowie einen grünlich funkelnden Stein hervor. Ich zwinge meinen Blick zu Boden, obwohl meine Augen nur allzu gerne verfolgen würden, was er mit diesen Gegenständen an­stellt. Schemenhaft nehme ich wahr, wie der Lord der Schatten den Schlüssel in die Wandöffnung einführt. Dann plötzlich setzt sich der Aufzug in Bewegung, saust so rasch nach unten, dass es sich beinahe anfühlt wie in einem Free-Fall-Tower. Ich schreie erschrocken auf und klammere mich hilfesuchend an Markus.

Und dann passiert es: Der Boden des Aufzugs verwandelt sich in eine wabernde, silbrig glitzernde Oberfläche, durch die wir hindurchfallen. Es fühlt sich an, als tauchte ich in warmes Wasser ein, meine Glieder werden schwer und gleichzeitig schwe­re­los … anders lässt sich diese Empfindung nicht beschrei­ben. Ein unangenehm grelles Licht blendet mich und ich muss die Augen schließen.

Ankunft auf der Burg

Inea, Donnerstagmittag

Als Nächstes spüre ich harten Boden unter mir. Es hat zwar keinen Aufprall gegeben, aber trotzdem knie ich plötzlich auf dem steinernen Untergrund im Vier­füßlerstand – diese Haltung hatte ich automatisch eingenommen, um meinen Sturz abzufangen. Markusʼ Arm liegt noch immer um meine Hüfte, während er neben mir in ähnlicher Pose kniet – zum Glück hat niemand einen Foto­apparat dabei, um dieses peinliche Bild festzuhalten. Torin dagegen baut sich erhaben vor uns auf. Ich erhebe mich um­ständlich. Bevor ich es verhindern kann, schweift mein Blick neugierig in dem Gemäuer umher und bleibt schließlich auf dem Gesicht des Lords der Schatten haften. Und genau in dieser Sekunde erkenne ich meinen Fehler, denn das düstere Funkeln seiner Augen trifft mich wie ein Blitzschlag.

»Du kannst sehen!«, donnert er hervor.

Da mir Leugnen zwecklos erscheint, nicke ich zaghaft und senke meinen Blick beschämt zu Boden. Ich komme mir vor wie eine Diebin, die sich heimlich hereingeschmuggelt hat. Jetzt wünschte ich, ich hätte doch etwas gesagt.

»Der Zauber hat nicht gewirkt?«, stößt Markus überrascht hervor. »Wie ist das möglich?!«

»Wie das möglich ist, interessiert mich nicht! Die wesentlich bedeutsamere Frage lautet, weshalb sie uns diese Tatsache ver­schwiegen hat und wie wir die Informationen wieder aus ihrem Gedächtnis löschen!«, herrscht Torin seinen Freund an.

»Äh … ich war nur neugierig«, stammle ich verlegen. »Aber so spannend war es ja gar nicht. Von mir aus könnt ihr die Er­in­nerung gerne aus mir herauslöschen, wenn das geht!«

Torin blitzt seinen Freund an und bedeutet ihm wortlos, mit seinem Zauber zu beginnen. Auch er hat sich inzwischen erhoben und steht mir nun gegenüber. Seine warmen Augen zwinkern mir aufmunternd zu. Ich spüre, dass etwas in meinem Geist passiert, fühle eine fremde Präsenz, die an mir zieht. Aber instinktiv wehre ich mich dagegen, denn es war gelogen, dass dieses Erlebnis nicht besonders spektakulär gewesen war. In Wirklichkeit würde ich die Erinnerung sehr gerne behalten und je mehr dieses Etwas an meinem Geist herumzerrt, desto in­ten­siver durchlebe ich die Ge­scheh­nisse, seit wir in den Fahrstuhl gestiegen sind, noch einmal in Gedanken.